die stadt
sie lehnt die erde ab und meint jede berührung mit ihr
sei eine abwärts gerichtete zärtlichkeit
sie überläßt ihre toten den einheimischen tieren
und ihre gebeine den fremden winden
ihre grenzen sind verseuchte mülldeponien
die zu festungen mutiert sind
die stadt lebt von den fortgegangenen
und vom fleisch ihrer erzählungen
dem fremden wird an der grenze ein wort beigebracht
fortan pflegt er seine verblendung
die einwohner lassen sich verleugnen
sie tragen kein organ mehr zur bespitzelung
der heimkehrer wird in ein glashaus gestellt
mit einem maulkorb und muß sich alles anhören
die stadt lauscht vergnügt dem klagelied der blinden
nachts wandert sie durch ihre gassen
und achtet auf die schritte der fremden
SAID
Das Astronautenpaar Ikaros und Dedalos
fliegen immer noch zur Sonne.
Ich fotografiere ihre Reise.
Morgen, Mittag, Abend und Nacht
klaren auf wie Licht, Wasser, Luft und Feuer.
Eine rote Sonne trennt
die Erde in Wasser und Himmel,
Kleinode und Träume.
Die Geschichte der Katastrophe ist mit Hieroglyphen illustriert.
Ikaros und Dedalos fliegen im Weltall.
Ich dokumentiere meinen Weg.
Asher Reich
Aus dem Hebräischen von Tuvia Rübner
Wer nicht nach Hause kann, kann nirgendwo hin
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Zur Einladung des Dichters SAID an Asher Reich
Es gibt Worte, die sich ins Gedächtnis fräsen.
Im Roman Lazarus von Aleksandar Hemon (2009) setzt sich der amerikanisch-bosnische Möchtegern-Schriftsteller Vladimir Brik 100 Jahre später auf die Spur von Lazarus Averbuch, einem 19-jährigen Flüchtling aus einem russischen Schtetl, den im Jahr 1908 Chief Chippy, Polizeichef von Chicago, als vermeintlichen Anarchisten erschoss. Das Buch berichtet von Judenpogromen, Verlusten, Angst und Ängsten, Armut und Krieg. Dennoch: ein „Schelmenroman“.
Die Rezension dieses Romans über einen historisch belegten Polizeiübergriff in den USA hörte ich im Autoradio, ganz nebenbei, bis im österreichischen Hörfunkprogramm ÖI dieser eine Satz kam, der aus dem Text heraus brach und seitdem jeder Verdrängung trotzt:
Wenn Du nicht nach Hause kannst, kannst Du nirgendwohin, und Nirgendwo ist das größte Land der Welt, ja die Welt selbst.
In allen Traditionssträngen der Überlieferung aus und über Palästina, nicht anders als im heutigen Israel, in der Westbank und im Gazastreifen, in den drei Welten Jerusalems wie in den islamischen Nachbarstaaten, gilt das „Ein Haus haben“ als eines der wertvollsten Güter. Unverletzlich ist – mit Schalom grüßen sich die einen, mit Salaam die anderen – der Hausfrieden, so unverzichtbar wie der Segen, der über diesem Haus liegt und der über allen leuchten soll, die aus diesem Haus hervorgehen. Und über jenen, die in diesem Haus ein- und ausgehen.
Das Alte Testament gibt im 5. Buch Mose, Kapitel 22, Vers 8 sogar die Anweisung:
Wenn Du ein neues Haus baust, so mache ein Geländer ringsum auf deinem Dache, damit du nicht Blutschuld auf dein Haus ladest, wenn jemand herabfällt.
Jedem Haus soll nichts anderes als Heil widerfahren.
Beide Schriftsteller, der Israeli Asher Reich und der Exiliraner SAID, bezeichnen sich nicht als „politische Lyriker“, und beide würden gründlich missverstanden, wenn Ihr gemeinsamer Lyrikband Das Haus, das uns bewohnt als politische Literatur gelten sollte.
„Wir sind der Staat am Ende seiner Tage“, schreibt Asher Reich. „Wörter die sich bitter wehrten“ kennt auch SAID, der sich „der Glückliche“ nennt, obwohl ihm nicht anders als Asher Reich Haus, Heimat und tradierte Denkstrukturen zur unerträglichen Obsession wurden. Ihr entzogen sich beide. „Wir reden von der Zukunft“, sagt SAID (und er spricht von der Arbeit der Dichter), „wir legen Bausteine für den künftigen Pfad“.
So bleiben die Dichter Meister im Umgang mit der nicht erfüllten Erlösung. Sie gleichen frühen Propheten und Sehern.
In seinem Nachwort zum Gedichtband Bildrauschen des Lyrikers und Priesters Georg Maria Roers schreibt SAID: „Wir sind beide Gefangene des Wortes“:
Offensichtlich müssen wir uns erst ausliefern, um dann die Freiheit zu erlangen. Menschen nehmen zuerst Zuflucht bei der Poesie; diese reißt sie dann aus ihrem Biedermeier-Schlaf heraus – ohne Rücksicht auf die Folgen.
SAID und Asher Reich: sie sind in ihrem poetischen Dialog ganz sicher „Gefangene des Wortes“, aber zugleich sind sie in ihrer Selbsterfahrung als Ausgelieferte auch befreit zum Wort, ganz sicher beauftragt zum Wort, auch zu den Wörtern über „das haus das uns bewohnt“.
Erlösung als Verheißung, auch als Belohnung für Rechtgläubigkeit und rechtgläubiges Verhalten wurde in den jeweiligen Gesellschaften, in den „drei Welten“ Palästinas zur Religion, hier und dort auch zur Ideologie und zur Kampfparole, und wir wissen aus schmerzlicher Erfahrung auch: diese Religionen wurden und werden zu oft zur Politik und Politik wurde zur Gewalt. „Die Nacht liegt auf der Lauer“ schreibt SAID in einem seiner Gedichte.
Gedichte sind nicht politische Manifeste, sie sind nicht Resolution und Analyse, nicht Reportage und Dokumentation. Sie sind ganz sicher eine Zufluchtsstätte für Menschen in ihrem Widerstand gegen Wahrheits- und Politik-, Gottes- und Dogmenbesitzer, ein Ort des Rückzugs im Weltgeschrei.
Im Jahr 2008 hatte SAID, der in München lebt, die Idee, mit dem am 5. September 1937 in Jerusalem geborenen Lyriker Asher Reich ein „israelisch-iranisches Poetengespräch“ zu führen: bewusst in deutscher Sprache und mit Gedichten beider Autoren.
Hans Maier würdigte SAID in seinem Nachwort zum Gedichtband Psalmen, der im Jahr 2007 erschien, als einen Dichter, „legitimiert, eine Brücke zu schlagen zwischen Kulturen und Sprachen, Religionen und Gottesbildern“.
Das Profil, das Motiv des Schriftstellers SAID zeichnet Hans Maier mit den Sätzen nach:
Er hat Persien früh verlassen, Gewalt im Islam ist ihm aus eigener Erfahrung bekannt, von der europäischen Welt, in der er seit Jahrzehnten lebt, hat er Geduld und Toleranz gelernt. Doch die ältere Welt, in der er aufwuchs, lässt ihn nicht los, die islamische Kindheit bleibt Teil seines Gedächtnisses und seiner Poesie.
Sind SAIDS Psalmen weltliche Gebete an einen abgründigen Gott, auf den sich nach Auschwitz, Hiroshima, Srebrenica nicht mehr bauen lasse, so widmet er seine Gedichte im vorliegenden Band der Atempause zwischen Flucht und Ankunft, Verzweiflung und Hoffnung, Wahnsinn und Vernunft. Mehr noch: im zunächst tastenden, dann zupackenden Austausch über die fernen Landschaften der Erinnerung wie über die naheliegenden Mühen der Ebene (Brecht) entsteht ein Duett der Worte:
wörter die seit jahren auf der flucht waren
auf der suche nach eigenen lügen
liegen nun am straßenrand
und horchen auf die hilfssprache der heimkehrer
sie entkleiden sich und warten auf abstrahierte zeichen
entstanden aus der zwiesprache mit sensiblen schritten
(SAID)
Asher Reich wuchs in einem Palästina auf, das damals unter britischem Protektorat stand: im orthodoxen Stadtviertel Mea Shearim, beschützt vor den Modernismen vermeintlicher Beliebigkeit, streng religiös erzogen und konzentriert auf das Studium der Heiligen Schriften. Seinen Aus- und Aufbruch als 18-Jähriger aus Stadtviertel und orthodoxem Denken beschrieb er später als einen „Sprung über die Zeit, auf einen anderen Planeten“.
In seinem Gedicht „Ouvertüre zu viert“ lesen wir:
Wer da? Bitte einzutreten. Ich bin nicht allein.
Meine Wunde ist bei mir. Mir scheint, sie ist bei mir seit
Ich so groß wie Zittergras war.
Dennoch erinnert sich Asher Reich an eine ganz anders empfundene Kindheit, ganz ähnlich jenen Grundprägungen SAIDS, wie sie Hans Maier entdeckt und wie er sie mit einem Psalm SAIDS belegt:
lass mich dem gott der kindertage treu bleiben
der licht und linderung spendete
und uns erhörte im niemandsland
zwischen ankunft und flucht
Asher Reich schreibt:
… es war mir vergönnt, noch bevor ich drei Jahre alt war, zu den Worten und Klängen der Gebete und der Thora zu schreiten. In diesem Schreiten verbrachte ich die Wüste meiner Kindheit und lebte halb in einer verzauberten, verbalen Welt.
Reich lebt heute in Tel Aviv, sein Werk umfasst neben Lyrik auch Hörspiele, Erzählungen und den autobiografischen Roman Erinnerungen eines Vergesslichen.
Auch SAID, der iranische Offizierssohn, in seiner Kindheit stark geprägt von seiner streng-islamischen Großmutter, erlebte durch seine Entscheidung für das Exil einen „Sprung auf einen anderen Planeten“.
das haus
mit dem krummen rücken zur welt
ist geschwätzig geworden seit damals
vor der tür kauert der stein
der den gast vertrieben hat
1995/1996 Vizepräsident des westdeutschen PEN-Zentrums und Beauftragter für das „Writers-in-prison“-Comitee, dann unter Protest zurückgetreten, trat SAID im Mai 2000 die Nachfolge von Christoph Hein als Präsident des PEN-Zentrums in Deutschland an, übrigens von einer überwältigenden Mehrheit der Delegierten gewählt – in einer nicht nur für die im PEN-Zentrum organisierten Schriftstellerinnen und Schriftsteller konfliktreichen Zeit.
SAID wie Asher Reich haben sich – unter Schmerzen und nicht ohne Trauer – von den Prägungen ihrer Kindheit befreit, ohne sie zu verlieren und ohne sie zu verleugnen.
„Meine Zimmerdecke weint“, schreibt Asher Reich, „und es ist nicht der Wind und nicht ein Gast der nebenan schläft.“
Atmest Du im 100-jährigen Tel Aviv auf, weil das Leben so schön ist und der Strand und das Stadtleben so schrill sind und weil die weißen Häuser aus dem Bauhaus-Musterkoffer der frühen deutschen Emigranten sich so heiter zusammen fügen, die Stadt bewohnbar machen, ganz anders als die Zementarchitektur der himmelwärts rostenden und im Erdgeschoss bereits zerfallenden und nie vollendeten Häuser in den Ländern am Ende des Mittelmeers, so zeigt Dir – Augenblicke später – ein Freund die Bars und Diskotheken, in denen junge Israelis in die Luft gesprengt wurden oder verbrannten, und er berichtet darüber, wie es hier aussah, als die roten Signallichter blitzten und die Sirenen heulten.
Jeder weiß, dass es so wieder sein kann, sagt er.
In der Jerusalemer via dolorosa begegnen dem Reisenden am Abend Zivilbeamte im Laufschritt, alle mit einer blauen Regenjacke bekleidet: die gezogenen Revolver offen in der Hand; um die Ecke stehen schwerbewaffnete Militärs. „Die Nacht liegt auf der Lauer“, schreibt SAID.
Sogar in Yad Vashem, Meditationshain und Welt-Friedhof zugleich, begleiten Jugendliche mit Gewehren ihre Gruppe; Gnade ihnen und uns jeder Gott, wenn es zu einer Schießerei kommt.
In Yad Vashem wirst Du verstummen. Die Vögel zwitschern in den Bäumen des Hains der Gerechten. Und innen überlagern sich die Stimmen der Augenzeugen mit ihren Lebens- und Todeserinnerungen an den Holocaust. In jeder Ecke der Schall mündlich überlieferter Lebensprotokolle und die Bilder von Menschen, die gezeichnet, aber ungebeugt geradeaus in die Kamera blicken.
Silvesternacht am See Genezareth. Einige Raketen steigen auf. Mag sein, dass Christen den Jahreswechsel feiern. In der Dämmerung taumeln schwarze Kampfhubschrauber wie müdschwere Hummeln knapp über dem Wasserspiegel heran und ziehen weiter zu den Golanhöhen. Dort wird oft geschossen, sagt jemand.
Die road-maps der Nahost-Politik sind schwer entzifferbar, in Westjerusalem werden andere Geschichten erzählt als in Ostjerusalem; wer länger in diesem Land weilt, hört immer mehr und versteht doch immer weniger, und auf der Mauer vor dem Checkpoint Bethlehem schreit ein Scrafitto: „Die Mauer muss weg!“ Und daneben lese ich: „ich bin ein Berliner.“
Wie ist es möglich, dass Asher Reich in seinem Gedicht „Zerbrechlicher Stoff“ von einer Liebe singt, „frei von zeit und fest für schwere Tage“?
Wie ist es dann möglich, dass SAID auf Asher Reich mit Liebesgedichten antwortet? Mit sinnlichen und zärtlichen Zeilen, mit einer Zartheit gegen „lauernde Nächte“?
Mit diesem Gedichtband Das Haus, das uns bewohnt will SAID ein „Zeichen setzen“: er bat seinen israelischen Schriftstellerkollegen Asher Reich, ihm Gedichte zu schicken. Dann sah er seine eigenen Gedichte durch, fügte neue hinzu. „Wir schreiben und treten vor das haus“, wollte er diesen Band zunächst nennen.
Es ist nicht möglich, vor das Haus zu treten. Es bewohnt die, die es verlassen haben. Häuser wie Denkstrukturen gleichen Obsessionen. Sind sie existent, können sie bei Tag wie bei Nacht quälen – sind sie verloren, zerstört, von Bulldozern abgeräumt, gibt es kein Entkommen für den Geist. Oder doch? In seinem Gedicht „Das Buch“ sagt Asher Reich:
Alle Propheten hatten das Buch verlassen um weit weg zu prophezeien. Könige flohen ins Exil. Die Engel flogen zurück in die Höhlen des Firmaments.
Von seinem Lager erhob sich Gott traurig und knipste uns das Licht aus.
Und SAID stellt dem Dichter Asher Reich wie einen Spiegel sein Gedicht gegenüber:
das offene haar der trauer
der schwere psalmengang
das leise murmeln der dinge
von dem gestrengen friedfertigen
der von den engeln abgetrennt sein will
draußen heiligenbilder ohne wildgetier
fertigfremden und fahnen
drinnen asche ohne rätsel
abfall und gnade
Nicht jedes Gedicht von SAID ist eine direkte Antwort auf den Text aus Jerusalem. Wer genau hin sieht, entdeckt neben solchen direkten Antworten und Spiegelungen größere Themengruppen, zu denen er Asher Reichs Texte zusammenfasst. Ihnen stellt er seine Texte wie ein Echo, wie einen Zwischenruf, wie eine leise Frage gegenüber.
Reichs „Fragebogen an den Todesengel“ („Bist Du groß, ist deine Stimme leis oder umgekehrt? Bist du das Ende oder der Anfang?“) füllt SAID mit seiner Vision von den gemaßregelten Engeln aus, die „ihre zeugungsstätte mit einem gläsernen logbuch“ verlassen, „um in den krieg zu ziehen“.
Weiß Asher Reich im Gedicht „Jerusalem und du“, „seit deiner Rückkehr nach Jerusalem ist die Stadt wieder eins, in ihr willst du Stein sein, bauen und gebaut werden in ihr in dieser düsteren Zeit“, fügt SAID seine Widmung für Bozorg Alavi, den in 1904 Teheran geborenen und 1997 in Berlin gestorbenen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, hinzu:
„in deinem 85. lebensjahr, im jahr 42 der verbannung, weigert sich eine regierung deinen paß zu verlängern. wozu brauchst du regierungen? sie verlängern nur die wartezeit. und dort, am einlaß, fragt der tod nach einem paß?“
„Schüttel ab, was war, steh auf und komm“ schreibt Asher Reich in seinem Telegramm: „Nacht. Jerusalem. Ich denke an Dich. Stop.“
Und SAID ruft leise zurück:
„Früher einmal wusste das Gras um die Anmut des Wartens und erkannte die Schritte des Schnitters.“
SAIDS Gedichte dürfen im Iran nicht veröffentlicht werden, dennoch ergab es sich, dass sie – irgendwann, irgendwo – in Teheran rezitiert wurden. Er blieb in München, aber er erfuhr, welch starke Wirkung seine Texte auf das iranische Publikum hatten, vor denen es staatlich und religiös bewahrt werden soll.
So kehrten seine Worte heim. Vielleicht als ein Haus, ein Ort für freie Gedanken und freies Denken, das nun andere bewohnt, die es nicht kannten, oder jene, die dort nicht mehr zuhause sind, wo sie sind.
SAIDS Heimat, „ein nahes land ein fernes land das auch in meiner abwesenheit blüht und sich nicht verhärtet“, zeigt er wie eine aus Hoffnung und Zuversicht entstandene Skizze, flüchtig im Strich, präsent in der Erinnerung, „gleichwohl glaube ich nur an jenen fluß der zwei leiber verbindet und an die klänge der annäherung“.
„Hier innen gibt es Harmonie, Glück des Wahrwerdens“, schreibt Asher Reich in seinem Gedicht „Das lange Gedicht“, „beim Warten auf uns selbst ist Poesie mehr als alles“.
Das Kompositionsprinzip SAIDS für diesen Gedichtband Das Haus, das uns bewohnt und seine Einladung zum Gespräch mit dem israelischen, in Israel lebenden und an Israel leidenden Schriftstellerkollegen Asher Reich leuchtet in seinem 23. Text besonders hell auf:
„mein beruf ist anstrengend“, schreibt er, und: „ich muß die anima der dinge suchen, ich habe die pflicht sie zu betrachten und ihr verhältnis zueinander neu zu ordnen… ich muss die vögel beruhigen die nachts um meinen schlaf schwirren und muss sie schützen vor dem willkürlichen licht“
Einreiseverbote und Auftrittsverbote: sie lassen den Maestro der nonverbalen Kommunikation zwischen den verfeindeten Welten im Nahen Osten Daniel Barenboim so wenig verstummen wie dieses poetische Gespräch zwischen Asher Reich und SAID.
„Komm, komm, es ist schwer zu kommen“, weiß der Dichter aus Jerusalem, „heute habe ich kein Tor und habe niemand, der mir eins öffnen würde“.
SAID sagt ganz leise in seinem letzten Gedicht:
die stadt läuft hinter mir her
und übersieht die blicke der wechselnden einheimischen
sie meint sie altere nicht
inzwischen hat sie doch den schatten verloren
und behauptet mein wort sei ihr schatten genug
dabei überhört sie mich und meine rede
„Seitdem“, so schreibt Asher Reich in seinem letzten Gedicht für diesen Gedichtband an SAID, „ward das Firmament zur Wechselkulisse, den Umständen angepasst, und die Religionen waren Kriegsmaschinen, oder im Gegenteil“.
Oder im Gegenteil!
Christoph Lindenmeyer, Nachwort
Asher Reich, der sich der Orthodoxie wie in einem „Sprung über die Zeit“ entzog und der zehn Jahre jüngere SAID, der seit 1965 im Münchener Exil lebt, führen einen Dialog über verfeindete Welten – Kulturen, Sprachen und Religionen – hinweg.
Zwei Dichter wollen ein Zeichen setzen – im Vertrauen auf die prophetische Kraft der Poesie. Ein israelischer und ein iranischer Autor, Asher Reich und SAID, suchen das „Poetengespräch“ in jeweils 40 Gedichten, die aufeinander antworten oder sich ineinander spiegeln, die sich wie Echos, wie Zwischenrufe oder Fragen lesen lassen.
„Die Münder meiner Wunden wissen etwas zu erzählen über mich. Der Trug der Wahrheit: der Faden zwischen mir und den anderen.“ (Asher Reich)
Asher Reich und SAID, zwei weithin bekannte Dichter, die sich keineswegs als politische Lyriker missverstanden wissen wollen, widersetzen sich der drohenden Gewalt des Theokratischen, das zunehmend Land und Denken beherrscht.
Das Haus, das uns bewohnt ist ein gemeinsames Buch, Baustein des Zukünftigen, ein Haus aus Sprache.
„wörter die seit jahren auf der flucht waren auf der suche nach eigenen lügen liegen nun am Straßenrand und horchen auf die hilfssprache der heimkehrer sie entkleiden sich und warten auf abstrahierende zeichen entstanden aus der zwiesprache mit sensiblen schritten.“ (SAID)
Stiftung Lyrik Kabinett, Klappentext, 2009
(…)
Zwiesprache zwischen Dichtern
2009 verliess Said vorübergehend sein „Niemandsland“ und errichtete im Dialog mit dem israelischen Lyriker Asher Reich Das Haus, das uns bewohnt. Der so betitelte Band enthält Gedichte, die der in einem orthodoxen Jerusalemer Quartier aufgewachsene Reich auf Saids Einladung hin an den deutsch-iranischen Kollegen sandte, damit dieser den Texten eigene Dichtungen zur Seite stellen konnte. Diskursiver und fester in der eigenen Herkunft verortet als Saids karge Wortbilder, bietet Reichs Dichtung nicht zuletzt auch eine Art Ankerpunkt beim Versuch, in der Zwiesprache dieser zwar unterschiedlichen, doch einander nicht fremden lyrischen Temperamente den gemeinsamen Nenner zu finden. Eine inspirierende interpretatorische Herausforderung, die dem Leser gleichsam zwei Sonnen – nämlich den eigenen Blick und den poetischen Reflex, durch den die Texte sich gegenseitig beleuchten – für die Jagd nach dem schattenhaften Sinn des Gedichts beschert.
Zwei Dichter, der eine im Iran geboren, der andere in Israel, sprechen miteinander in Versen. Mehr als ein bloßes Kunstgespräch, ist ihr Dialog doch weit entfernt von politischer Lyrik. Die Stimmen könnten in ihrem Ton verschiedener kaum sein. Hier Saids knappe, stets auf Bild und Klang ruhende Sprache, dort der lang schwingende Erzählton Asher Reichs. Und doch finden die beiden Dichter immer wieder zusammen, entdecken Ähnlichkeiten oder die Feinheit der Unterschiede, „mein beruf ist anstrengend“, schreibt Said, „ich muss die anima der dinge suchen / ich habe die pflicht sie zu betrachten / und ihr Verhältnis zueinander neu zu ordnen“. Und Asher Reich antwortet: „Hier innen gibt es Harmonie, / Glück des Wahrwerdens, / beim Warten auf uns selbst ist Poesie mehr als alles.“ Zuweilen rutschen die beiden Dichter ein wenig zu sehr ins Pathos ab, meist aber schwingen sie virtuos zwischen Religion und Politik, zwischen Rede und Klang hin und her. Ein Buch der Skepsis, das gleichwohl an die Kraft der Liebe und des dichterischen Wortes glaubt.
Nico Bleutge, Stuttgarter Zeitung, 12.3.2010
− Israelisch-iranisches Poetengespräch im Jüdischen Museum. −
Als der iranische Schriftsteller Said im Juli 2008 einen Artikel für die Tageszeitung Die Welt schreibt, ist er wütend. Zusammen mit dem israelischen Poeten Asher Reich wollte er Gedichte vortragen – als Zeichen der Versöhnung. Doch die lange geplante Lesung auf dem Berliner Beirut-Festival wurde abgesagt. Die libanesische Botschaft hatte ihr Veto eingelegt. Said dürfe zwar lesen – allerdings nur alleine. Was genau das Problem war, sagte man Said nicht. Der Dichter, der unter der Herrschaft des Schahs im Jahr 1965 nach München kam und als Gegner der islamischen Republik in Deutschland blieb, ist enttäuscht, dass in Berlin ein solches Zeichen der Versöhnung nicht möglich ist.
Said und Reich, den israelischen und den iranischen Schriftsteller verbindet ein Dichter-Dialog. 2009, rund ein Jahr nach der geplatzten Lesung, erschien ihr gemeinsames Werk Das Haus, das uns bewohnt, in dem sich der Dialog über 94 Seiten erstreckt. Said initiierte dieses gedruckte Gespräch. Er bat Asher Reich, der in einem orthodoxen Viertel Jerusalems aufwuchs, dies mit 18 Jahren verließ und heute in Tel Aviv lebt, ihm Gedichte zu schicken. Für das Buch stellte Said diesen Texten eigene, thematisch passende Werke gegenüber. So fragt Reich im „Fragebogen an den Todesengel“: „Bist du das Ende oder der Anfang?“ Said antwortet mit einem Gedicht zu „gemaßregelten engeln“.
Eine „Behausung“ haben sich beide Schriftsteller mit den Texten geschaffen. Ein Haus, das gebaut ist aus der Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit, mit Themen wie Religion, Liebe, Flucht, Heimat und Hoffnung.
Beide Autoren wollen Menschen mit ihren Versen verbinden, sich hinwegsetzen über Hasstiraden und Hetze. „Schüttel ab, was war, steh auf und komm“, schreibt Asher Reich in seinem Gedicht „Telegramm“. Die Gedichte scheinen ein Zufluchtsort der freien Gedanken zu sein.
Macht das Said, der 2000 bis 2002 Präsident des Deutschen Pen-Zentrums war, und Asher Reich zu politischen Dichtern? In seinem Nachwort zu Das Haus, das uns bewohnt streitet der Journalist und Autor Christoph Lindenmeyer das ab. Es sei nicht ihr Ziel, die Lyrik als politisches Mittel zu nutzen.
Said und Reich, der Iraner und der Israeli, sprechen zwar die gemeinsame Sprache der Dichtung. Es sind jedoch zwei ganz unterschiedliche Dialekte, Formen der Dichtung, die sich in ihrem gemeinsamen Werk Seite für Seite gegenüberstehen. Said verzichtet durchweg auf Groß- und Kleinschreibung, Zeichensetzung und Titel. Minimalistisch und klar auf den Punkt gebracht, wirkt seine Dichtung mit Blick auf Reichs Werke, die direkt auf der gegenüberliegenden Seite stehen.
Mit ihrem gemeinsamen Haus aus Dichtung haben Asher Reich und Said somit einen Ort geschaffen, an dem sie sich abseits der Feindschaft der Kulturen und Religionen austauschen können. Angetrieben von dem Gedanken, mit den Gedichten einen Zufluchtsort zu bieten, werden sie nun, drei Jahre nach der Absage, in Berlin endlich zusammen lesen.
Sonja Gillert, Berliner Morgenpost
SAID liest das Gedicht „Manchmal gehen meine Schuhe“ aus beim 2. Hochstadter Stier 2010.
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