DER MILCHSTRASSE GLEICH
Der Milchstrasse gleich,
die sich weitet so weich
in wandernde Himmel hinüber
wie die Wirklichkeit nach dem Fieber,
so leuchtet und dehnt
sich in meiner Seele, die Welten ersehnt,
der Menschheit Befreiung.
Das All glänzt rein und frisch und satt,
ein Tautropfen auf einem Blatt.
Übersetzt von Günter Deicke
Ich bin 1905 in Budapest geboren und gehöre der griechisch-orthodoxen Konfession an. Mein Vater, Áron József, wanderte aus, als ich drei Jahre alt war, und mich gab die Kinderschutzliga zu Pflegeeltern nach Öcsöd. Hier lebte ich bis zu meinem siebenten Lebensjahr und arbeitete schon damals wie die armen Dorfkinder im allgemeinen, ich hütete die Schweine.
Als ich sieben Jahre alt war, brachte mich meine Mutter, Borbála Pőcze, zurück nach Budapest und ließ mich in die zweite Klasse der Elementarschule einschreiben. Mich und meine beiden Schwestern erhielt unsere Mutter mit Waschen und Reinemachen. Sie arbeitete in Häusern, blieb dort von früh bis spät, und ich schwänzte ohne elterliche Aufsicht die Schule und trieb allerlei Unfug. Im Lesebuch für die dritte Klasse fand ich aber eine interessante Geschichte über König Attila, und ich zwang mich zum Lesen. Die Märchen von dem Hunnenkönig interessierten mich nicht nur darum, weil auch ich den Namen Attila führte, zumal meine Zieheltern in Öcsöd mich Pista nannten. Sie hatten nämlich mit den Nachbarsleuten beraten – ich war Ohrenzeuge – und festgestellt, daß es den Namen Attila nicht gebe. Das erschütterte mich sehr, ich hatte das Gefühl, man habe meine Existenz in Zweifel gezogen. Die Entdeckung der Märchen von König Attila muß von nun an – so glaube ich – Einfluß auf alle meine Bestrebungen gehabt haben, vielleicht hat mich letzten Endes eben dieses Erlebnis zu der Literatur geführt. Es machte mich zu einem Denker, einem Menschen, der die Meinungen anderer Leute anhört, sie aber bei sich überprüft; zum Menschen, der auf den Namen Pista hört, bis nicht bewiesen wird, daß er – wie er selbst meint – Attila heißt.
Als ich neun Jahre alt war, brach der Weltkrieg aus, und es ging uns immer schlechter. Ich hatte meinen Anteil am Schlangestehen vor den Läden; es kam vor, daß ich abends um neun vor dem Lebensmittelgeschäft in der Reihe der Wartenden Stellung bezog und am Morgen um halb acht, als ich schon an der Reihe gewesen wäre, mir erklärt wurde, das Fett sei alle. Ich half meiner Mutter, so gut ich konnte, ich verkaufte Wasser im Kino Világ, stahl Holz und Kohle auf dem Bahnhof Ferencváros, damit wir heizen konnten; ich fabrizierte farbige Papierrädchen und verkaufte sie an bessergestellte Kinder. In der Markthalle trug ich Körbe und Pakete, und so weiter. Im Sommer 1918 wurde ich durch die Kinderferienaktion König Karls zur Erholung nach Abbazia geschickt. Da war meine Mutter schon kränklich, sie hatte ein Gebärmuttergeschwür; ich meldete mich selbst bei der Kinderschutzliga und kam so für kurze Zeit nach Monor. Nach Budapest zurückgekehrt, verkaufte ich Zeitungen und machte mit Briefmarken, blauem, weißem und Postgeld Geschäfte wie ein kleiner Bankier. Während der rumänischen Besetzung war ich Brotjunge im Kaffeehaus Emke. Zwischendurch ging ich nach beendeten fünf Klassen Elementarschule in die Bürgerschule.
Um Weihnachten 1919 starb meine Mutter; zu meinem Vormund bestellte das Waisenamt meinen Schwager, den vor kurzem verschiedenen Dr. Ödön Makai. Einen Frühling und einen Sommer lang diente ich auf den Schleppdampfern Vihar, Török und Tatár der Atlantica Seeschiffahrts AG. Damals legte ich privat die Prüfung in der vierten Klasse der Bürgerschule ab. Danach schickten mich mein Vormund und Dr. Sándor Giesswein zu den Salesianern nach Nyergesújfalu als Priesterzögling. Hier verbrachte ich nur zwei Wochen, da ich doch ein Orthodoxer und kein Katholik bin. Nun kam ich nach Makó ins Internat Demke, wo ich bald einen Freiplatz erhielt. Im Sommer unterrichtete ich für Kost und Quartier in Mezőhegyes. Die sechste Klasse des Gymnasiums absolvierte ich durchwegs mit Vorzüglich, obgleich ich wegen Pubertätsschwierigkeiten mehrere Male versuchte, mir das Leben zu nehmen, denn mir stand weder damals noch vorher ein Freund, der mich aufgeklärt hätte, zur Seite. Damals erschienen bereits meine ersten Gedichte. Als ich siebzehn war, brachte Nyugat Gedichte von mir. Man hielt mich für ein Wunderkind, und ich war doch nur ein Waisenkind. Nach der sechsten Klasse verließ ich das Gymnasium und das Internat, weil ich mich in meiner Einsamkeit sehr untätig fühlte. Ich lernte nicht, ich behielt die Lektion schon nach der Erklärung der Lehrer im Kopf, mein durchwegs vorzügliches Zeugnis war ein Beweis dafür. Ich ging als Flurwächter und Tagelöhner zur Feldarbeit nach Kiszombor und verdingte mich dann als Hauslehrer. Auf Antrieb zweier meiner lieben Lehrer beschloß ich dann doch, das Abitur abzulegen. Ich durfte ein vereinigtes Examen von der siebenten und achten Klasse ablegen und bestand das Abitur ein Jahr früher als meine ehemaligen Klassenkameraden. Zum Lernen standen mir aber nur drei Monate zur Verfügung, und so kam es, daß mein Zeugnis für die siebente Klasse aus lauter Gut und das für die achte Klasse aus lauter Genügend bestand. Besser fiel mein Abiturzeugnis aus. Genügend bekam ich nur in Ungarisch und Geschichte. Da wurde ich schon wegen Gotteslästerung, die ich mit einem Gedicht begangen hatte, angeklagt. Der oberste Gerichtshof sprach mich frei.
Danach war ich eine Zeitlang Bücheragent in Budapest, sodann – während der Inflation – Angestellter im Privatbankhaus Mauthner. Nach der Einführung des Hintz-Systems teilte man mich der Buchhaltung zu, und nicht viel später betraute man mich mit der Überprüfung der Wertpapiere, die am Kassentag ausgeliefert werden durften. Meinen Arbeitseifer beeinträchtigte einigermaßen, daß die älteren Kollegen mir zu meinen eigenen Arbeiten auch noch einen Teil ihrer Arbeit aufhalsten, die übrigens auch sonst keine Gelegenheit versäumten, mich wegen meiner Gedichte, die in den Blättern erschienen, zu ärgern. „Als ich so alt war, schrieb ich auch Gedichte“, sagten sie alle. Das Bankhaus machte später Bankrott.
Ich beschloß, endgültig Schriftsteller zu werden und mir eine bürgerliche Beschäftigung zu verschaffen, die in enger Beziehung zur Literatur stand. Ich ließ mich an der philosophischen Fakultät der Szegeder Universität für die Fächer Ungarisch, Französisch und Philosophie einschreiben. Ich belegte 52 Stunden die Woche, und 20 Kolloquien bestand ich mit Vorzüglich. Ich hatte Freitisch. Aus dem Honorar meiner Gedichte bezahlte ich mein Quartier; sehr stolz machte es mich, daß mein Professor Lajos Dézsi mich zu selbständiger Forschungsarbeit für fähig erklärte. Vollends verdarb mir indessen die Laune, daß Prof. Antal Horger, bei dem ich in ungarischer Sprache die Prüfung hätte machen müssen, mich zu sich beschied und mir vor zwei Zeugen – ich weiß auch heute noch ihre Namen, beide sind bereits Mittelschullehrer – erklärte, daß aus mir, solange er lebe, niemals ein Mittelschullehrer werde, „denn einem Menschen“, so sagte er, „der solche Verse schreibt“ – und dabei hielt er mir eine Nummer des Blattes Szeged unter die Nase –, „können wir die Erziehung der zukünftigen Generation nicht anvertrauen“. Oft spricht man von der Ironie des Schicksals; hier ist sie tatsächlich im Spiel, denn mein Gedicht „Reinen Herzens“ wurde recht berühmt: sieben Artikel sind darüber erschienen, und Lajos Hatvany erklärte es wiederholte Male für das Dokument der ganzen Nachkriegsgeneration „für die kommenden Zeiten“. Ignotus aber „liebkoste, streichelte, summte und murmelte dieses wunderschöne Gedicht in der Seele“ – so schrieb er im Nyugat – und bestimmte dieses Gedicht zum Musterstück der neuen Lyrik in seiner „Ars poetica“.
Im nächsten Jahr – ich war damals 20 – ging ich nach Wien, inskribierte an der Universität und lebte davon, daß ich beim Eingang des Rathauskellers Zeitungen verkaufte und die Zimmer der Wiener ungarischen Akademiker sauber machte. Als Direktor Antal Lábán davon erfuhr, machte er dem ein Ende, gab mir Freitisch im Collegium Hungaricum und verhalf mir zu Schülern; ich unterrichtete die beiden Söhne von Zoltán Hajdu, Generaldirektor der Anglo-Österreichischen Bank. Aus Wien kam ich aus einem Elendsquartier, in dem ich vier Monate lang nicht einmal ein Laken hatte, direkt in das Schloß Hatvany als Gast nach Hatvan. Sodann versah mich die Dame des Hauses, Frau Albert Hirsch, mit Reisegeld, und ich fuhr Ende des Sommers nach Paris. Hier immatrikulierte ich an der Sorbonne. Den Sommer verbrachte ich an der südfranzösischen Küste in einem Fischerdorf.
Dann kam ich nach Pest, hörte zwei Semester an der Universität, legte aber das Lehrerexamen nicht ab, denn – eingedenk der Drohung Antal Horgers – hatte ich keine Hoffnung, eine Lehrerstelle zu bekommen. Dann stellte mich bei seiner Gründung das Außenhandelsinstitut als ungarisch-französischer Korrespondent an, als Referenz kann ich wohl Herrn Sander Kóródi, meinen ehemaligen Generaldirektor, angeben. Dann trafen mich aber so unerwartete Schläge, daß ich, sosehr mich das Leben auch abgehärtet hatte, zusammenbrach. Die Sozialversicherung wies mich zuerst in ein Sanatorium ein und versetzte mich dann in den Krankenstand mit Neurasthenia gravis. Ich trennte mich vom Amt in der Einsicht, daß ich ein junges Institut nicht belasten dürfe. Seitdem lebe ich von meiner Schriftstellerei. Ich bin Redakteur der literarischen und kritischen Zeitschrift Szép Szó. Außer meiner ungarischen Muttersprache schreibe und lese ich französisch und deutsch, korrespondiere ungarisch und französisch und bin im Maschineschreiben perfekt. Ich konnte auch stenographieren und würde es nach einem Monat Übung wieder können. Ich verstehe etwas von der Typographie der Presse, ich kann präzise formulieren, halte mich für ehrlich und glaube, daß mein Auffassungsvermögen rasch ist; bei der Arbeit bin ich zäh.
Attila József
Deutsch von Géza Engl
Kleine Völker und Sprachgemeinschaften sind im Wettbewerb der Weltliteratur stets im Hintertreffen, obgleich schon Goethe auf ihre Stimmen aufmerkte. Tatsache ist, daß die Literatur der kleinen Völker auch heute noch weit davon entfernt ist, mit gleicher Intensität wie die der großen am Austausch der internationalen Kultur teilzunehmen. Besonders gilt das für die Lyrik, die mit der Sprache und der nationalen Kultur am stärksten verbunden ist. Davon sind selbst so große Dichter wie Attila József betroffen, der, „ein Sohn der Straße und der Erde“, aus dem ungarischen Volksleben, der nationalen Geschichte und aus dem Erlebnisstoff einer konterrevolutionären Epoche eine Dichtung von allgemeiner Gültigkeit und von geradezu enzyklopädischer Vollständigkeit schuf.
Mit Attila József änderte sich die traditionelle historische Rolle der ungarischen Dichtung in der europäischen Kultur. Indem er an die Problematik des individuellen und gesellschaftlichen Seins und an die letzten Fragen des menschlichen Lebens von der sozialistischen Perspektive aus heranging, deutete er zugleich die veränderte Stellung des ungarischen Volkes in der europäischen Geschichte an. Bei ihm ist es nicht mehr die Zurückgebliebenheit, die verspätete Entwicklung seines Heimatlandes, die ihn wie so viele frühere Dichter der Ungarn anregte. Petőfi, der Plebejer und Revolutionär, konnte in diesem Sinn Neues aussagen im Zeichen jener Ideen, die im verbürgerlichten Westen zum Teil bereits verwirklicht, zum Teil auch dort noch nicht aktuell geworden waren. Der bürgerlich-revolutionäre Ady schuf in noch höherem Maße unter dem Druck dieses Widerspruchs seine explosive, vom Pathos der Verzweiflung getragene große humanistische Dichtung. Es muß jedoch zugegeben werden, daß es außer den sehr erheblichen sprachlichen Hindernissen auch diese für die hochkultivierten Völker kaum verständliche Klage über die Rückständigkeit war, die den Wirkungsradius der ungarischen Dichtkunst einengte; sie blieb auf die nationalen Grenzen beschränkt, obgleich sie – ästhetisch betrachtet – Gleichwertiges mit den besten Leistungen der westlichen Dichtkunst schuf.
Für Attila József gilt das nicht mehr, denn er hat, ohne aufzuhören, gegen die Rückständigkeit zu kämpfen, Zukünftiges vorweggenommen. Zwei Tatsachen sollen dies verständlich machen: Ungarn hatte seine proletarische Revolution früher als jedes andere Land in Europa – außer Rußland. Gleich danach aber (und für Attila József ist diese krasse Widersprüchlichkeit der Geschichte ausschlaggebend) siegte die Konterrevolution und verwirklichte, wenn auch mit dem Anschein parlamentarischer Formen, aber in ihren Methoden und Manipulationen eine Klassenherrschaft in faschistischer Gesinnung, wie sie die anderen Völker und die Dichter Europas erst später erleben sollten. Daher kommt es, daß Attila József nicht als ein Nachläufer großer progressiver Geistesströmungen, der noch aus dem Bereich des Alten Neues zu sagen wußte, in die europäische Lyrik eintrat, sondern als ein Vorbote der universalen gesellschaftlichen Entwicklung: nicht als Schlußstein, sondern als Grundstein.
So vermochte er inmitten der dem Faschismus zustrebenden Bourgeoisie der gesellschaftlichen und individuellen Problematik eine tiefere, straffere Formulierung zu geben, die allgemeingültig ist. In seinem Vorpreschen löste sich der Ost-West-Kontrast der ungarischen Dichtkunst auf wie etwa derselbe Kontrast in der Musik von Bartók.
Petőfi und Ady schlossen sich der allgemeinen europäischen Kultur indirekterweise an, indem sie, entsprechend den Erfordernissen und Möglichkeiten ihrer Zeit, eine Aufgabe innerhalb ihrer nationalen Kultur vollbrachten. Attila József dagegen nahm nicht diesen indirekten Weg, ihm ermöglichte die historische Entwicklung, als Dichter in höherem Maße international und unmittelbar aufzutreten. Dies ist ein Unterschied in der Situation, aber noch keine Wertbestimmung. Besonders, wenn man auch daran denkt, daß der Begriff „europäische Kultur“ Veränderungen durchmachte und macht, gerade dadurch, daß die Kulturen der Länder, die eine ähnliche Entwicklung wie Ungarn hinter sich haben, zu einer wichtigeren Rolle kamen. In diesem Zusammenhang muß auch der Problematik der verspäteten Entwicklung und ihrer dichterischen Offenbarung verständlicherweise ein größeres Interesse entgegengebracht werden.
So ergibt sich die Bedeutung Attila Józsefs im Gegensatz zu der seiner ungarischen Vorgänger aus der Konstellation der modernen Geschichte, die die sozialistische Perspektive und den antifaschistischen Kampf um Menschlichkeit zugleich aktuell werden ließ und dadurch eine gewisse Nivellierung zwischen den europäischen Ländern auf verschiedener Entwicklungsstufe herbeiführte. Dadurch wurde die Voraussetzung und Basis für eine große internationale Lyrik geschaffen. Es kann kein Zufall sein, daß die Dichtung Attila Józsefs trotz der sehr erheblichen sprachlichen Schwierigkeiten nicht nur in den volksdemokratischen Ländern, sondern auch in Frankreich und Italien Leser fand, natürlich in dem sehr beschränkten Kreis der für Lyrik Empfänglichen, vor allem aber unter den Dichtern dieser Länder.
Attila Józsefs Lebenswerk war bereits zeitlich abgeschlossen, als seine Berufskollegen im Westen und Osten – Aragon, Eluard, Brecht, Becher, Neruda, Guillén, Alberti oder Wapzarow, Kowatschitsch, Nezval, Broniewski u.a. – die geistige Höhe erreichten, auf der sie ihre große ausgereifte Dichtung entfalten konnten. Die starke Strömung der sozialistischen Lyrik ging eigentlich von Majakowski und Attila József aus, und ihre epochale Bedeutung in der Literaturgeschichte ist dadurch begründet, daß durch sie der sozialistische Gedanke in der europäischen Lyrik früher als in anderen Kunstgattungen zur vollen Blüte gelangte.
Die Bedeutung und der Platz Attila Józsefs lassen sich nur innerhalb der internationalen Strömung bestimmen und charakterisieren. Gerade weil die sozialistische Lyrik heute bereits führend ist, sagt die Bezeichnung „sozialistischer Dichter“ an und für sich wenig aus. Worauf es ankommt, ist die Frage, welchen Platz die Lyrik Attila Józsefs im strahlenden Sternbild der Dichtung unseres Jahrhunderts einnimmt und was ihn als sozialistischen Dichter auszeichnet.
Ein besonderer Platz gebührt ihm, weil er die Fähigkeit besaß, die Gesamtheit der menschlichen Gedanken und Gefühle aufzufassen und erklingen zu lassen. Und ein sozialistischer Dichter war er, weil er – wenn auch im Zusammenhang mit ungarischen Problemen, Leiden und Nöten – an die aktuellsten, brennendsten Probleme der ganzen Menschheit zu rühren vermochte. Das ist der erste und wichtigste Charakterzug von Attila József. Wie sich jedoch sein Anschluß an die Weltweite vollzog, dabei sprach wieder die traditionelle Grundsituation, die ungarische Verspätung, ein entscheidendes Wort. Im Ungarn zwischen den beiden Weltkriegen verwirklichte sich die Vereinigung der demokratischen Kräfte nur langsam und partiell. Die in die Illegalität gezwungene kommunistische Partei verfügte nur über eine bescheidene Massenbasis, und ihr Einfluß blieb beschränkt, was – im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern – den antifaschistischen Kampf behinderte; hinzu kam die geographische Lage, und so wurde Ungarn zu Hitlers erstem und letztem Verbündeten. Während Petőfi und Ady, wenn auch verspätet, die Kampfstätte noch betreten konnten, verblieb Attila József keine Zeit dazu. Der Kampf unterblieb oder beschränkte sich auf eine kleine Gruppe, die heroische Taten vollbringen, sich aber nicht zu einer Volksbewegung ausbreiten konnte. Der Zwiespalt zwischen Attila József und der Partei läßt sich – abgesehen von persönlichen Zwistigkeiten, engstirnigem Sektierertum – historisch auf die Tatsache zurückführen, daß die revolutionäre ungarische Arbeiterbewegung eine bis zur Befreiung des Landes anhaltende Flaute erlebte und dem Dichter nicht als Massenbasis dienen konnte.
Attila József sah die Situation klar. Er gab sich keinen Illusionen im Hinblick auf die ungarische Wirklichkeit hin, er fiel nicht – wie manche seiner Zeitgenossen – den Kinderkrankheiten des Revolutionärs anheim, er konnte Wunschbild und Wirklichkeit unterscheiden, und gerade das gab seiner Dichtung die besondere Spannung, einen rembrandtschen Wechsel von Licht und Schatten. Die scheinbare Widersprüchlichkeit von Verzagtheit und Hoffnung, Verzweiflung und geradezu kosmischem Optimismus befähigten ihn in höherem Maße als jeden seiner Zeitgenossen, die Wirklichkeit zu erleben und widerzuspiegeln. Er wußte nicht nur mit völliger Gewißheit, daß ihn der Arbeiter „in seinem Körper fühlte“, daß er die großen und bestimmenden Wahrheiten des Jahrhunderts verkündete, er fühlte und erlitt auch, daß diese Wahrheiten zunächst auf taube Ohren trafen, nicht zu den Massen gelangten, nicht zur materiellen Kraft anwuchsen, was doch ein historisches Erfordernis gewesen wäre; mit erschütternder Bewußtheit sprach er auch das aus und sagte es in seiner einmaligen, unnachahmlichen Dichtersprache:
Und wie der Schakal, der die Gestirne
anruft und seine Klage hinaufkotzt
zum Himmel, wo nur Qualen flimmern,
so heult der Dichter umsonst…
O Sterne, ihr! Ihr groben, rostigen
Eisendolche, die mich umwerben,
wie oft habt ihr meine Seele durchstochen –
Attila József erlebte eine Zeit des verseuchten, illusionistischen, selbstmörderischen Bewußtseins, wie es sie so allgemein nie zuvor in der ungarischen Geschichte gegeben hatte. Und aus diesem „ungarischen Elend“ wuchs die epochale, revolutionäre Dichtung Attila Józsefs heraus, ähnlich wie einstmals die progressive Ideologie Goethes und Schillers aus der „deutschen Misere“, als erschütternde und einsame Leistung des klaren Bewußtseins.
Die Dichter anderer Völker dieser Zeit und dieser Gesinnung fanden alle ihr großes Erlebnis in der Vereinigung mit dem Volk, dem Aufgehen in den Massen, im Hinfinden zu den Werktätigen. Dieses Erlebnis verarbeiteten die anderen Dichter – jeder nach seiner Persönlichkeit. Eluard wurde vor allem von der moralischen Seite angesprochen, und er machte den moralischen Aspekt zur Basis seiner Dichtkunst, bis er zu dem Lautreamontschen Gedanken „Zweck der Dichtung ist die praktische Wahrheit“ gelangte; Aragon fand in der kommunistischen Bewegung den „Zauber der Trikolore“ wieder und für den antifaschistischen Massenkampf die Erkenntnis: „Mein Herz ist französisch“: eine höhere Einheit des Völkisch-Nationalen und Menschlich-Internationalen. Der Bulgare Wapzarow erlebt in erster Linie das Pathos des Kampfes, das unbarmherzige Ringen in Eposdimension – um nur einige Beispiele zu erwähnen. Man könnte noch weitere anführen, um zu zeigen, daß bei den kommunistischen Dichtern ausnahmslos der vereinte Kampf mit dem Volk das große Erlebnis war.
Attila József ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme – eine tragische Ausnahme. Abgesehen von der kurzen Periode seiner Teilnahme an der illegalen kommunistischen Parteiarbeit, blieb er allein; hinter ihm stand keine kämpferische, zum Bewußtsein erwachende Volksmasse, und allmählich verlor er auch die kleine Schar der Freunde. Der Dichter, der bereits in jungen Jahren erklärte: „Ich bin nicht gekommen, um zu brüllen, um anzueifern, sondern um zu handeln“, erhob in seiner erschütternden Situation „Klage beim Wissen“, berief sich nur auf das „wohlgesinnte“ Jahrhundert, er „konstruierte die Harmonie“ (zunächst) in sich selbst, die – später einmal – das Volk mit seinem tatsächlichen Kampf „draußen erbauen“ sollte.
Während der Lebensweg seiner glücklicheren Gefährten durch Erkenntnis der marxistischen Wahrheit aus der bürgerlichen Isolierung und Einsamkeit in die Gemeinschaft führte, war sein Weg infolge der persönlichen und historischen Situation ein umgekehrter; sein Weg mündete nach einer Periode der aktiven revolutionären Arbeit in die Einsamkeit und Isolierung, in die Tragik.
Die Tragik erlebte jedoch der Mensch und nicht der Dichter; der Zwiespalt bewirkte, daß Attila József zum par excellence weltanschaulichen, gedanklichen Dichter wurde. Der Alleingebliebene mußte eine versäumte Volksbewegung in Gedanken, auf dem Papier, in sich selbst ersetzen, und gerade darin lag seine Tragik, daß er selbst sich nicht zu einer Bewegung entfalten, kein Teil einer Masse sein konnte. Vergebens gelangte er zur Klarsicht der marxistischen „Vernunft“, der Begriff „Weiter“ blieb ein unbestimmbares, nicht verwirklichbares Weiter. Es bedeutete sehr wohl die Erkenntnis der „bewußten Zukunft“, das Erleben der schrecklichen Gegenwart; nur das konnte es nicht bedeuten, was es am liebsten bedeutet hätte: die Tat, die gemeinsame revolutionäre Tat; er blieb einsam und stellte paradoxerweise den isolierten Revolutionär dar.
Dies ist der zweite spezifische Charakterzug von Attila József, nicht nur in der internationalen proletarischen Dichtung, sondern – bis zu einem gewissen Grad – auch innerhalb der revolutionären Linie der ungarischen Dichtung. War doch Petőfi Führer der Märzjugend, der den Freiheitskrieg mitkämpfte; und Adys Bestimmung war auch, „alles“ zu sein, er kam als Dichter, Prophet, Politiker und Volksführer. auch wenn er zeitweilig – besonders um 1912 – unter dem Gefühl der Vereinsamung, des Führers ohne Heer, litt. Eine Führerrolle errang Attila József erst nach seinem Tod; zu Lebzeiten konnte er nur Dichter sein. Er mußte ein Dichter sein, der im Gedicht alles aus sich machte, die Dichtkunst selbst revolutionierte, den Begriff „Lyrik“ erneuerte und mit berechtigtem Selbstbewußtsein von sich sagen konnte: Ich brauch niemands Gedicht, weil ich selbst Dichter bin…
Merkwürdig – nicht nur für den Verlauf der ungarischen Lyrik, sondern auch einigermaßen für den der ungarischen Geschichte – ist die scheinbar bedeutungslose Kleinigkeit, mit der große Dichter der ungarischen Progression den Hauptsinn ihres Lebens bestimmten: Petőfis Bekenntnis lautete: „Der Freiheit und der Liebe hab ich Treu geschworen…“ Adys Poetenbleistift bewegten zwei Dinge: „Politik und Liebe“. Bei Attila József wird das Wort „Liebe“ mit „Geist“ gekoppelt als Elternpaar des zukünftigen Menschen:
Der Mensch ist noch nicht groß, mitnichten,
er glaubt es nur, drum ist er dreist.
Ihn zu betreun sind Elternpflichten
von zwein: der Liebe und dem Geist.
Geist und Liebe, das Elternpaar, steht auch an der Wiege seiner Dichtkunst. Die beiden, das menschliche Gefühl und der menschliche Gedanke, bleiben ihm auch in der entfremdeten Welt eigen; mit den beiden und durch sie möchte er die paradoxen Schranken des einsamen Revolutionärs durchbrechen, als Dichter und Einzelmensch gleicherweise, und so gelangt er zum typischen Erlebnis der Zeit, zur wichtigsten Problematik des menschlichen Seins. So unternimmt er seine „Höllenfahrt“, um das Schicksal und den Weg des Menschen im 20. Jahrhundert zu durchlaufen und einer der Schöpfer der modernen Lyrik zu werden. Denn in seiner Dichtung ist tatsächlich jedes große Erlebnis, Ideal, jede Eigenart des Jahrhunderts vereinigt: das Erlebnis der Gemeinschaft und der Vereinsamung, die Determiniertheit der Existenz und die Verfremdung des Bewußtseins; der gesteigerte Anspruch auf das präzise Wort und die ungebundene Gedankenassoziation des Surrealismus. Während sich über seine Vorgänger, Petőfi und Ady, höchstens die sozialpolitischen und literarischen Richtungen streiten können, steht Attila József im Berührungspunkt unterschiedlicher philosophischer Schulen. Seine vielseitige Lyrik läßt die Problematik der mannigfaltigsten geistigen Strömungen aufleuchten. In seinen Gedichten sind die fundamentalen Gedanken der Zeit formuliert, aus seiner Lyrik klingt tatsächlich alles heraus oder zumindest keimt in ihr, was die Zeit an Problemen oder an Gedanken hervorbrachte.
Und dieses Alles umfaßt tatsächlich das ganze menschliche Sein. Wenn wir aber bei diesem Dichter die vorherrschende Gedanklichkeit betonten, heißt das nicht, daß er abstrakte Ideen, philosophische Probleme oder gar politische Zielsetzungen pedantisch in Verse setzte. Das tat er unter keinen Umständen. Vielmehr verstand er es, wenn es politische Propaganda sein sollte, das Gedicht in eine dichterische Sphäre zu entrücken, Bilder und Töne zu finden, die einmalig sind, die man zu keinem anderen Dichter in Beziehung bringen kann. Wer sonst würde in einem Gedicht wie „Am Rand der Stadt“, einem eindeutig politisch-sozialistischen Programmgedicht, solche Strophen dichten:
Und wir offenbarn unsre Fähigkeit,
wir sind unsrer Ordnung bewußt,
des Verstands, der das Endlich-Unendliche faßt
und ordnet mit Fleiß und mit Lust:
draußen die produktive Kraft
und den Trieb in unserer Brust…
In noch höherem Maße gilt dieses Besondere für die anderen Verse dieses vielseitigen, auf alles resonierenden Lyrikers, der – seit Petőfi – die erschütterndsten Worte der Liebe zur Mutter, der toten Waschfrau, fand: „Ich seh ihr Haar am Himmel wehen, ihr Waschblau färbt die Himmelseen.“
Er schrieb Liebesgedichte wie alle Dichter. Aber welcher andere hat je seine Geliebte mit solchem an Vivisektion grenzenden Überschwang angeschwärmt:
Humusgrund ist dein Magen, von jungen
säftepumpenden Wurzeln durchdrungen,
Fäden, gelöst bald und wieder verschlungen,
deinem blühenden Gewebe verdungen,
nähren die Zellen mit winzigen Zungen,
daß das Gebüsch deiner laubigen Lungen
rausche den Ruhm seiner Herrlichkeit!
Attila József schrieb Landschaftsgedichte, besang das ungarische Land, die Tiefebene, das Dorf – das tat auch Petőfi, tat Gyula Juhász, beide wunderbar, aber nur Attila József konnte ein Gedicht über das Dorf so anfangen:
Wie ein Topf Kartoffelgulasch dampft
langsam aus den Tiegeln
abends unser träges Häuflein Dorf
unter roten Ziegeln.
Und auch zu seinem Gott unterhielt dieser kommunistische Dichter ein intimes, kindlich-freundschaftliches Verhältnis. Wacker ist er dem alten Herrn zur Hand, wenn er seinen Acker pflügt oder die Flur hütet, und sagt dann:
Und abends, wenn ich bei dir säße,
dann lacht’ ich über deine Späße,
ich würd dir meine Pfeife borgen
und beichten alle meine Sorgen.
Auch von den Drei Königen in Bethlehem schrieb er ein Gedicht. Es ist wie wenn ein naiver Maler mit all seinem kindlichen Eifer das Bild gemalt hätte; und so ist auch das Schlaflied für den kleinen Klaus, dem dabei die Kinderseele ganz leise klingelt wie die schon schlafen gegangene Straßenbahn.
Den Gedankenreichtum schöpfte der auch philosophisch gebildete Dichter aus den geistigen Abenteuern, den Gefühlsüberfluß aus bitteren Erfahrungen und Fahrten durch alle Höllen der Gesellschaft: Er war drei Jahre alt, als der Vater die Familie verließ, und 14, als die Mutter starb. Das verwaiste Proletarierkind erlitt das Schicksal der in Pflege Gegebenen, später die Rolle des „armen Verwandten“, der seinen Namen und seine Abstammung verheimlichen mußte, um das Gnadenbrot des Mäzens essen zu können. Beglückende Liebe wurde ihm nicht zuteil, eine Existenz zu gründen gelang ihm nicht. Die offizielle Literatur erkannte ihn nicht an, und die illegale kommunistische Partei, in deren Reihen er die zwei ausgeglichensten Jahre seines kurzen Lebens verbrachte, ließ ihn ziehen. Elend und Hunger waren ihm genauso bekannt wie die seelischen Qualen, Vereinsamung, Neurose. Dagegen wehrte sich der Dichter geradezu heroisch durch sich selbst auferlegte Disziplin: je desolater seine nervliche Verfassung wurde, um so strenger, häufiger betonte er den Anspruch auf Vernunft, Ordnung, Recht, Wissen, und um so zäher klammerte er sich an strenge Formen, Jamben, Reime. Es half nicht. Der Zweiunddreißigjährige rettete sich in den Freitod.
„Seine revolutionäre Dichtung erzog schon damals [in den 30er Jahren] eine Generation von Jungarbeitern, brachte sie an die sozialistische Kultur heran und durch diese zur kommunistischen Bewegung, zur Partei“, schrieb über ihn sein Zeit- und Kampfgenosse János Kádár in seinen in persönlichem Ton gehaltenen Erinnerungen. Später, nach seinem Tod, breitete sich des Dichters Wirkungskreis, besonders über die Schichten der Intelligenz, weiter aus, und die gedankenstarken Gedichte, wie „Am Rand der Stadt“, „Luft!“, „Nacht in der Vorstadt“, „An der Donau“, „Mein Vaterland“, „Elegie“ usw., entstanden in der geistigen Finsternis der Horthy-Zeit, sind Gemeingut der Nation geworden.
Jetzt ist die alle Menschen ansprechende dichterische Botschaft Attila Józsefs, sind seine erschütternden Bekenntnisse zum sozialistischen Humanismus, auf dem Weg, über die Landesgrenzen hinauszudringen zu allen Menschen, die „menschenwürdige Sorgen haben“ und die mit dem Dichter einmütig den Wunsch hegen:
Komm, Freiheit! Ordnung sollst du mir gebären,
ihn lehren und ihm auch das Spiel gewähren,
dem schönen, ernsten Sohn.
Eine Station auf diesem Weg ist auch dieses Buch. Dank gebührt den Dichtern und Nachdichtern, die – zum Teil ohne Kenntnis der ungarischen Sprache, mit Hilfe von Rohübersetzungen und ungarischen Freunden – das fast Unmögliche wagten, um die in so vielen Farben schillernden Gedanken, die zahllosen Bilder einer von menschlichem Leid und menschlichen Hoffnungen durchsetzten Gefühlswelt in deutscher Sprache – nicht zum erstenmal, doch diesmal in erweiterter Auswahl – wiederzugeben.
Ervin Gyertyán
Deutsch von Géza Engl
Nur knapp dreißig Jahre nach Ady entstand den Ungarn wieder ein Dichter von Weltformat. Revolutionär wie sein Vorgänger, jedoch ein proletarischer und Kämpfer für eine sozialistische Umwälzung, dennoch keineswegs Dichter einer Klasse. In den 32 Jahren seines kurzen, von Not und Leiden geplagten Lebens schuf er eine Lyrik, die Töne für alle fühlenden, denkenden, leidenden Menschen hat. In die Literaturgeschichte ist er in erster Linie als Kämpfer der Arbeiterbewegung eingegangen, denn kein anderer schrieb so viele, so gewaltige Propagandagedichte wie er, doch verdanken diese „Propaganda“-Gedichte ihre Wirksamkeit dem besonderen Etwas, das eben nur ein großer Dichter dieser Thematik einflößen konnte, und dasselbe gilt für Liebesgedichte, für kindliche Gedichte, und jene, die der den Qualen der Bewußtseinsspaltung Verfallene noch kurz vor seinem Freitod zu dichten vermochte.
Corvina Verlag, Klappentext, 1960
Wenn von Józsefs Antifaschismus die Rede ist, dann geht es um jene Zeitabschnitte, in denen diese Frage bereits gedanklich klar erfaßt und dichterisch plastisch wird.
Die erste Periode, in der Józsefs Lyrik eine kämpferische antifaschistische Haltung zugrunde liegt, fällt in die Zeit um 1930. Die schwungvolle, jugendlich revolutionäre Dichtung dieser Zeit ist in dem Band So hau den Stamm um zusammengefaßt. „Kapital und Faschismus sind verlobt“, heißt es im Motto zu dem Gedicht Faschingshochzeit,1 in dem er voller Spott und Ironie inmitten der Szenerie einer Bauernhochzeit enthüllt, wie Kapital und Faschismus sich auf Kosten der Bauern verbünden. Doch József geht über diese unmittelbar agitatorischen, ein wenig verspielten, für Sprechchöre und zum Singen geeigneten Verse bereits in den Gedichten „Sozialisten“ und „Arbeiter“ hinaus. Mehr in die Tiefe dringend und zugleich auf einer höheren Stufe der ästhetischen Verallgemeinerung, erscheint hier das Bild seiner Zeit, der Faschismus als Machtmittel des weltweit verketteten Imperialismus:
Das Kapital bewegt die gelben Kiefer,
wendet den Hals nach immer neuem Fraß.2
Nach 1932 gelangten mit der Gömbös-Regierung die aggressiveren und dynamischeren, offen faschistischen Kräfte der herrschenden Klasse an die Macht. Der Dichter mußte nun tiefer in die Wirklichkeit eindringen und sich selber Klarheit verschaffen, um einen Ausweg zu finden. Im Zeichen solcher Neuorientierung setzte nach 1932 die zweite Periode der antifaschistischen Dichtung Józsefs ein. Wohlgemerkt: Er resignierte nicht, noch wurde er abtrünnig wie so viele, sondern er wertete neu und dachte um. Wie József die Dinge zu jener Zeit sah, mag eine Strophe aus dem Gelegenheitsgedicht über die Stellung des Sozialismus verdeutlichen:
Stürzen zwar die Streben ein,
die das Bergwerk stützen,
hüten doch die Stollen den Schatz,
und die Grube lodert.
Und stets aufs neue sind bereit,
den Schacht zu öffnen die Kumpel,
solange ihr Herz noch schlägt.3
Unter den großen Gedankenfresken, die zwischen 1932 und 1935 entstanden, berühren einige den Problemkreis des Antifaschismus unmittelbar. So das Gedicht „Luft“,4 das unter dem Eindruck einer schmachvoll ausgegangenen offenen Wahl geschrieben worden war. In ihm wird der tiefe Widerspruch zwischen dem scheinbar fehlenden Selbstbewußtsein der Massen, dem unmenschlichen, gleichgültig machenden und abstumpfenden Faschismus einerseits und dem Suchen nach Wegen der Befreiung andererseits offenbar. Zugleich entwirft der Dichter den Zusammenhang von „Freiheit und Ordnung“:
Komm, Freiheit! Ordnung sollst du mir gebären,
ihn lehren und ihm auch das Spiel gewähren,
dem schönen, ernsten Sohn!5
Das Gedicht „Am Rand der Stadt“ ist ein schwungvoller Gesang und ein Bekenntnis zur historischen Mission der Arbeiterklasse. Anstelle der Passivität der Volksmassen ist in ihm die Aktivität jener Klassen gestaltet, die Träger der Zukunft sind:
Wir sehn schon: Bald sinkt ihr und fallt auf das Knie
und betet vor ihr und lallt
vor ihr, vor eurem Eigentum!
Doch hat nur der Gewalt
über sie, dem sie früh schon zugetan,
der ihr Nahrung gab und Gestalt…
Da sind wir vereint auch mißtrauisch noch,
die Kinder des Stoffs und der Zeit;
Unsre Herzen hebt auf! Dem gehören sie,
der um sie beharrlich freit.
Nur der, den unser Leben erfüllt,
kann stark sein dafür und bereit.
Hebt hoch das Herz über Hütten und Schächte!
Solch ein großes, rußiges Herz
sah nur der, der die Sonne hat sterben sehn
im eigenen Qualm himmelwärts,
der die Tiefen der Erde hat pochen hörn
in den Stollen bei Kohle und Erz.6
Charakteristisch für diese zweite Periode der antifaschistischen Lyrik Józsefs ist, daß er die Frage des Antifaschismus nicht losgelöst vom allgemeinen Geschichtsverlauf, sondern als eine der fundamentalen Fragen der Weltgeschichte und der ungarischen Nationalgeschichte behandelt. In der dritten und letzten Periode beschäftigte den Dichter das Problem des Antifaschismus und vor allem das der antifaschistischen Volksfront erneut und nahezu ausschließlich. Sie reichte von 1936 bis zu seinem frühen Tod, Ende 1937. Eine Reihe von Faktoren bewirkte, daß dieser Fragenkomplex ins Zentrum seines Schaffens rückte: Die Lage wurde durch die Entwicklung in Deutschland immer bedrohlicher. Es wurde zunehmend klar, daß der aggressive Militarismus zum Krieg rüstet und die Verseuchung der Massen durch die faschistische Ideologie ständig zunahm. In Spanien brach der Bürgerkrieg aus, der die Gefahr einen drohenden zweiten Weltkriegs weithin deutlich machte. Es gab jedoch auch eine Entwicklung in anderer Richtung: Nach dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale verstärkten sich die Bestrebungen zur Bildung einer Volksfront. Auch in Ungarn setzte in diesen Jahren die Vereinigung aller fortschrittlichen politischen und geistigen Kräfte im Geiste der Volksfrontpolitik ein. Dieser reale Geschichtsverlauf förderte auf der einen Seite Józsefs Erkenntnis von der wahren, grausamen Natur des Faschismus und weckte seinen Protest gegen den drohenden Krieg; auf der anderen Seite wurden der Zusammenschluß aller fortschrittlichen Kräfte im Kampf gegen den Faschismus, zur Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit zu wesentlichen Impulsen der dritten und wichtigsten Periode in seiner antifaschistischen Lyrik.
Seine Position vertrat er auch in theoretischen Schriften und Äußerungen. Zwei längere Ausschnitte aus Artikeln, die in der letzten Periode seines Lebens entstanden, sollen einen Einblick in sein humanistisches Programm geben, das den Sozialismus als Ziel ebenso einschloß wie den Kampf gegen alle schädlichen Anschauungen:
Sie schreiben, Sie hätten mit Freude einige meiner Gedichte gelesen aus denen echtes Schuldbewußtsein spreche, und nun sei ich trotzdem ein Ungläubiger geblieben. Mein lieber Herr, ich glaube an die Erbsünde, und deshalb bin ich ein Anhänger des wissenschaftlichen Sozialismus. Denn es gibt zwei Arten von Schuld. Die eine gilt nur darum als Sünde, weil darauf infolge der besonderen Fürsorge der herrschenden irdischen Mächte eine Strafe steht. Das Kind weint, weil ihm der Bauch weh tut, also droht man ihm, es solle nicht fortwährend quengeln. Millionen landloser Bauern, Millionen Arbeitsloser versuchen, da sie in großem Elend leben, sich zu organisieren, um ihr Los zu verbessern – also droht man ihnen mit der Diktatur, damit sie die Ordnung nicht stören. Vergehen dieser Art können sehr leicht aus der Welt geschafft werden, indem man sie beispielsweise nicht bestraft. Gegen Vergehen dieser Art können und müssen wir kämpfen, und zwar durch Zusicherung von Straflosigkeit und institutionell sanktionierter Freiheit. Auf diese Weise bekämpfte die Menschheit diese Vergehen im Verlauf ihrer ganzen Geschichte. Das Vergehen der Sklaven- und Leibeigenenflucht schaffte die Gesellschaft dadurch ab, daß sie es nicht mehr unter Strafe stellte und Sklaverei und Leibeigenschaft beseitigte. Eine andere Art Schuld ist jene, die der Mensch ungewollt auf sich lädt und die er auch dann bereut, wenn er nicht bestraft wird. Das ist die Erbsünde: Verbrechen an jemandem, den wir lieben. Solche Verbrechen durch Nichtahndung zu bekämpfen genügt nicht, die müssen wir einander ausdrücklich vergeben. Sie nicht vergeben, wäre selbst schon ein Verbrechen. In den Diktaturen und Gesellschaftsordnungen, die auf der Unterdrückung der Klassen und der Ausbeutung fremder Arbeitskraft beruhen, leiden die Menschen auch am Verbrechen des Nichtverzeihens. Diesem Verbrechen nun allerdings ist nicht anders zu begegnen, als für eine Gesellschaftsordnung, Produktionsweise und Verteilungsorganisation zu kämpfen, wo die Menschen einander leichter verzeihen…
Sie begeistern sich für das Ideal der Ordnung, doch in Wirklichkeit denken Sie an den Ständestaat. Sie jedoch, der Sie Betrachtungen über die moralische Freiheit anstellen, sollten wissen, daß sich die Ordnung nur aus der Freiheit und in der Freiheit entwickeln kann. Sie werfen mir ganz allgemein vor, daß ich die bleibenden Ideale vergesse. Auch diesen Irrtum muß ich richtigstellen. Nicht ich, sondern Sie vergessen die bleibenden Ideale. Der Ständestaat ist sicherlich nicht die Verwirklichung der bleibenden Ideale, da er mit den drei Idealen des Christentums, der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen nicht viel gemein hat. Vor Gott sind alle frei, gleich und Brüder. Die bürgerliche Revolution brachte diese Ideale nur in Erdnähe, als sie zum Prinzip erhob, daß auch vor den Gesetzen des Staates alle Menschen frei, gleich und Brüder seien. Denken Sie daran, was ich weiter oben sagte, daß nämlich die Religion die Verwirklichung des menschlichen Wesens in der Phantasie ist. Ich, ein ,ungläubiger Materialist‘, bemühe mich darum, daß dieses Wesen, diese Ideale, wenn nicht anders, so doch Stufe um Stufe auch in unserem täglichen Leben verwirklicht, daß sie z.B. in der Verwaltung des Gemeinwesens und in der Produktionsweise zum Leitprinzip werden. Und wenn Sie das Privateigentum, namentlich das an den Produktionsmitteln, als von Gott gegeben ansehen, dann muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß auch die Abschaffung des Privateigentums auf einen göttlichen Ursprung hindeutet. Die gesamte menschliche Geschichte ist in Wirklichkeit ein Prozeß der Beseitigung von Privateigentum, denn dereinst waren die Kinder und die Mutter der Kinder gleichermaßen Privatbesitz des Vaters.7
Im letzten Artikel, den József vor seinem Tod schrieb, knüpft er sein Bekenntnis zur Verantwortung des Dichters für die Verteidigung der Menschheit an ebenso grundsätzliche Feststellungen von Thomas Mann:
„Meine Überzeugung ist es, daß ein Dichter, der heute hinsichtlich der Probleme des Humanen die Antwort auf die durch die Politik aufgeworfene Existenzfrage des Menschen verweigert und den Geist um des Interesses willen preisgibt, auch geistig auf verlorenem Posten steht. Der Geist ist politisch und sozial gesehen nichts anderes als die Sehnsucht des Menschen nach besseren, gerechteren, glücklicheren und menschenwürdigeren Lebensbedingungen… Interesse hingegen bedeutet, daß im Falle einer solchen Umwälzung irgendjemand zu kurz kommen und daher mit den hinterhältigsten, geradezu verbrecherischen Mitteln versuchen wird, die Umwälzung zu verhindern, obwohl er sich darüber im klaren sein müßte, daß er dies nicht mehr lange tun kann.“ Diese Zeilen schrieb Thomas Mann in der Zeitschrift Szép Szó8 (Schönes Wort), und ich denke, ein Dichter liest diese Worte mit solcher Freude, als teilte er sich selber seinen Kameraden mit, wenngleich er das Gefühl hat, daß er dem noch etwas hinzuzufügen hätte. Wo aber ist der wahre Dichter, der, wenn er auf Unmenschlichkeit stößt (und stößt er nicht überall auf Unmenschlichkeit, gerade in unserer Zeit?), der Welt und ihrem Werk, dem gemeinsamen Werk der Menschen und sich selber nichts zu sagen hätte? Der Dichter ist schöpferisch tätig, und das bedeutet nicht weniger, als daß er die Welt, die menschliche Welt, das Menschsein formt, und zwar mit Hilfe derer, die, infolge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung mit anderen Aufgaben beschäftigt, an der Tätigkeit des Dichters Anteil nehmen und liebevoll sein Werk zu dem ihren machen. Denn das Werk lebt nicht so sehr durch den Künstler als vielmehr durch die, welche die Kunst lieben und dies tun, weil sie das Menschsein suchen. Sicherlich klingt es in den Ohren vieler ,salbungsvoll‘, was ich hier schreibe. Lassen wir sie. Hinter ihrem Zynismus verbirgt sich entweder Furcht vor der rohen Gewalt oder das in diese gesetzte Vertrauen. Wir, die Dichter von heute, können nichts anderes tun, als unsere Freude und Trauer mitzuteilen und für die Freiheit in jeder Form und überall dort einzutreten, wo die ewigen Gegner der Dichter bewaffnet und unter der Parole wirtschaftlichen Wohlstandes versuchen, ,die Massen‘ von ihren unabdingbaren berechtigten Forderungen, von der Freiheit und dem Streben nach ,Freiheit‘ auch im Herzen abzubringen.9
Charakteristisch für die geistige Auseinandersetzung Józsefs unter den damaligen Bedingungen Ungarns war der Kampf gegen alle chauvinistischen und extrem nationalistischen Ideen, die auf der Rassentheorie basierten und objektiv zum Wegbereiter des Faschismus werden konnten. Zur gleichen Zeit, da er falsches nationales Selbstbewußtsein und nationalistische Übertreibung ablehnte, hob er im Zeichen des antifaschistischen Zusammenschlusses (gleichsam als aktuell-politisches Pendant zur Deutschfeindlichkeit) das Bild der wahren Nation und des wahren Vaterlandes in die Höhe, des Vaterlands, das die Heimstätte der Völker ist, und des Ungartums, das die besten Eigenschaften des ungarischen Volkes in sich vereint. Patriotismus und Nationalgefühl schließen für ihn dabei die Forderung nach gesellschaftlicher Veränderung mit ein. Im Zeichen dieses neuartigen Patriotismus trat er für den Zusammenschluß der Donauvölker ein und erhob somit die Stimme des Dichters gerade in dem Bereich, wo nationalistische Vergiftung und Verhetzung am stärksten und am verderblichsten waren. So heißt es in dem Gedicht „An der Donau“ u.a.:
Arbeiten will ich. Denn ich muß bestehen
Vergangenheit. In Donauwellen sah
ich Heutiges, Einstiges, Künftiges vergehen.
Hinwagend war es miteinander da.
Die Schlacht, der Alten ruhelose Klinge
wird stiller, seit Erinnerung sie auffing.
Ordnen wir doch nun endlich unsre Dinge.
So unser Auftrag. Er ist nicht gering.10
In „Mein Vaterland“, einem aus sieben Sonetten bestehenden Zyklus, faßt er im Zeichen einer neuen, sozialistischen Vorstellung von der Nation den gegenwärtigen Zustand des ungarischen Volkes, das sozialistische Programm der Zukunft und die Aufgaben des aktuellen Kampfes zusammen.
Und doch, da ich zum Ungarsein verbannt bin,
erschrak ich bis ins Innerste hinein:
nimm, Vaterland, nimm mich an deine Brust hin
und lasse mich dein Sohn, dein treuer sein.
Es tänzle, wer ein braver, dummer Bär ist,
an seinem Strick, mir ist das nicht erlaubt.
Ermahn den Staatsanwalt, wenn du sein Herr bist,
daß er dem Dichter nicht die Feder raubt.
Du gabst dem Meer die Männer von der Erde.
Nun gib dem Menschen seine Menschlichkeit.
Gib Ungartum dem Ungarn endlich wieder,
daß Ungarn keine deutsche Vorstadt werde,
und gib mir schöne, gute, wahre Lieder,
mach mich für froheren Gesang bereit!11
Nicht zufällig wählte József die Sonettform, und nicht zufällig ist in dem Gedicht „An der Donau“ der regelmäßige Rhythmus der Oden spürbar. In dieser Zeit und mit diesen Gedichten schuf er einen neuen Stil in der Lyrik. Er nutzte dabei alle Errungenschaften seiner früheren Schaffensperioden auf dem Gebiet der Bildtechnik und der kühnen Konstruktion. Es ist, als beruhigten sich seine Formen, als strebte er einem neuen Klassizismus zu, als käme seine Stimme aus noch größerer Tiefe. Sein Wort hatte nichts an resümierender, bewertender Kraft eingebüßt; in wenigen Zeilen vermochte er weltgeschichtliche Prozesse zu umreißen. So in den Distichen über den Bürgerkrieg in Spanien:
Der General Franco hat mich einberufen als –
aaaaaverflucht! – Soldat.
Ich desertierte nicht, ich hatte Angst, seht ihr,
aaaaasie hätten mich erschossen.
Ich hatte Angst. Drum kämpft ich gegen Recht und
aaaaaFreiheit in dem Heer
unter den Mauern von Irun. Und dort hab sterbend
aaaaaich mein Blut vergossen.12
Und in dem Gedicht „März 1937“ klingt der Lagebericht so:
Spanien, steht in der Zeitung,
wird von Söldnern verheert und verbrannt,
in China raubt ein Idiot von
General den Armen ihr Land.
Woran man die Stiefel sich abwischt,
das wäscht in Blut man rein.
Überall hüllen große Worte
das Elend der Armen ein.
In der letzten Strophe jedoch beschwört er in einem Schimmer von Hoffnung und Schönheit die Zukunft:
Es sei klug und schön unser Mädchen,
lebhaft und kühn unser Sohn,
mögen beide etwas bewahren
von unsrer Konstellation.
Sollte die Sonne verbleichen,
wird das Geschlecht unsrer Welt
das Unermeßne erobern,
neuen Sphären gesellt.13
Auch in seinen theoretischen Schriften beschäftigte ihn zu dieser Zeit ständig das Problem der Veränderung des menschlichen Bewußtseins. Über die Schwäche der Menschen war er empört und dennoch vertraute er den Menschen. Auf diesem Boden entwickelte sich in seinen letzten Jahren eine neue, politisch-nationale Lyrik. Diese gibt Auskunft darüber, wie sehr József auf die Zukunft vertraute, seine Verzweiflung überwand und für die Menschheit ein besseres Los erhoffte. So schrieb er u.a. in einer Rezension:
Der wissenschaftliche Sozialismus, der auf dem historischen Materialismus beruht, verheißt eine freiere Welt, an die zu glauben sich lohnt.14
Um dem Faschismus gefaßt und gerüstet entgegentreten zu können, sah er sich gezwungen, die Frage der Entfremdung der ganzen Menschenwelt, ja der Gattung Mensch aufzuwerfen. Um die Massen aufrichten zu können, suchte er sich über alle ihre Bestrebungen Klarheit zu verschaffen und zu ermessen, wie tief sie gesunken waren; nur so vermochte er, die Notwendigkeit des Aufstiegs und das Wissen um eine bessere Zukunft bewußtzumachen. Mit dieser Zuversicht des „Trotzalledem“ klingt eines seiner kraftvollsten Gedichte dieser Zeit, „Die ewige Ratte“, aus:
Die Ratte, die seit Menschendenken
herumschleppt, was wir ausgeheckt,
die Seuche, NICHTS zu End zu denken –
hat viel zu Viele angesteckt.
Nur deshalb kann kein Säufer ahnen,
der seinen Gram ersäuft im Sekt,
daß er die Suppe vieler Armen
von ihren leeren Tellern schleckt.
Weil purer Geist aus keinem Lande
jemals nur feuchte Rechte wringt,
wächst neue Schmach, quillt neue Schande,
die Völker aneinander bringt.
Krächzt Unterdrückung, hockt in Schwärmen
auf warmen Herzen wie auf Aas,
muß Elend übern Erdball rinnen,
wie übers blöde Kinn das Naß.
So lassen ihre Flügel hängen
die Sommer, auf die Not gespießt –
Maschinen plagen unsre Seelen,
wie nachts den Leib das Wanzenbiest.
In unser Innerstes geflohen
ist wahre Treue, Träne fließt
in Flammenbrände, wüst bedrohen
Gewissen sich und Rachgelüst.
Wie der Schakal, der zu den Sternen
hinaufglotzt, wenn er Töne speit –
zum Himmel, glitzernd voller Quallen,
der Dichter auch vergebens schreit.
Oh, Sterne Ihr! Als Eisendolche
steht ihr verrostet, grob ringsum –
wie oft stacht ihr mir in die Seele!
(So kommt man hier auf Erden um.)
Dennoch vertrau ich! Weinend mahne
ich dich, o Zukunft: Sei nicht leer!
Ja, ich vertraue! Wie die Ahnen
pfählt man uns schließlich doch nicht mehr.
Und kommt dereinst der Freiheit Frieden,
verfeinert sich auch unsre Qual –
und man vergißt uns schnell hienieden
im Schreberlauben-Schattental.15
Der Literaturwissenschaftler István Király bemerkt zu Józsefs Weltsicht in den Gedichten der letzten Jahre:
Józsefs Dichtung ist von dem Bewußtsein geprägt, daß das Wesen des Menschen Güte, Liebe und Schönheit sei. Sie spiegelt aber auch die Erkenntnis wider, daß die Welt, so wie sie existiert, sich hartnäckig gegen ihre eigene Ordnung, ihre eigenen Gesetze, eben gegen dieses Wesen kehrt: Sie entfremdet den Menschen sich selbst. So löste tiefe Finsternis den Glanz, die Mozartsche Heiterkeit ab und zerstörte sie. Der Dichter erlebte nicht nur die wahre Natur des Menschen, sondern auch alle Schrecken der untergehenden imperialistischen Welt. Es ist dieses Erlebnis, das die Motive von Mutter und Kind an eine zentrale Stelle in seiner Dichtung rückte. Fortwährend rief der Dichter nach der im Ungewissen entschwundenen Mutter und stammelte Laute der Klage, der Anklage, der Bitternis. Einem Kind gleich weinte er, stampfte, rebellierte und flehte eigensinnig und hartnäckig um ein Spielzeug, um ein Lächeln, um Verständnis, weil er nicht anders als lieben konnte und das Gefühl des Verwaistseins nicht zu ertragen vermochte.
Stärker als jeder andere empfand er die innere Trostlosigkeit und Leere der imperialistischen Welt; er vernahm das zunehmende, alarmierende ,Weltkrachen‘.16 Ein vom Winde gepeitschter Regen fällt in seinen Verslandschaften, ein hartnäckiger, schneidender Frost zerspellt sie, in Scharen krächzt die Unterdrückung, und es heult die tierische Pein. Über geheime Drähte von Bildern und Gleichnissen überträgt sich das Leid der Menschen auf das gesamte Universum, in dem die Sterne „als Eisendolche… verrostet, grob ringsum“ stehen. Die Welt verzerrt sich zu einem kosmischen Gefängnis, zu dem „glitzernd voller Quallen der Dichter auch vergebens schreit“.17
József erlebte und gestaltete die Schrecken des imperialistischen Zeitalters… und wußte, daß es eine Zeit zunehmender drohender Greuel ist. Sein Wissen kam jedoch im Vergleich zu den dekadenten Künstlern aus anderer Quelle: aus der Welt der vor ohnmächtigem Trotz bebenden, arbeitenden Massen, vom Rande der Stadt. Von dort, wo an den Wänden der Moder Landkarten zeichnet von den Ländern der Not und wo im Klassenkampf der Arbeiter dennoch die Zukunft reifte und aufbrach. Eben darum wußte er mehr als die blinden Anwälte der Verzweiflung: Er sah nicht nur die Folgen, er war auch imstande, deren auslösende Ursachen zu ergründen. Bei ihm wurde das Leiden nicht mythisiert, sondern bloßgelegt, nicht in ein abstrakt wallendes Unbehagen gehüllt, sondern in seiner gesellschaftlichen Konkretheit herausgestellt. „Die Welt ist deine heiße Wunde, / ihr Glühn macht, daß die Seele schwärt“, so diagnostizierte Attila József in dem Gedicht „Besinnung“18 exakt das Krankheitsbild seiner Seele. In dem ihm eigenen realen gesellschaftlichen Zusammenhang rücken eine das Nichts beschwörende dumpfe Beklemmung und eine zerstörerische Wahnsinnsqual an ihren Platz. Dennoch verfällt der Dichter angesichts der imperialistischen Widersprüche nicht in fatalistische Resignation. Die Kafkaschen Motive erhielten eine andere Bedeutung und überdeckten nicht die menschliche Zukunft. Trotz scheinbarer Übereinstimmung grenzt die tiefere und umfassendere Wirklichkeitssicht die realistische von der dekadenten Kunst ab. József erlebte die Zerrissenheit der Zeit, doch löste sich das Dasein selbst bei ihm nie in Zwiespältigkeit auf. Er bannte sie in einer Harmonie und schuf eine große, dem mündigen und zum Bewußtsein erwachten Menschen des Jahrhunderts gemäße Dichtung.19
Charakteristisch für Józsefs antifaschistische Lyrik in dieser Zeit ist, daß sie auf marxistische Weise an die historischen Erfahrungen, an die menschliche Würde und Vernunft appelliert. Sein Glaube an Vernunft und Ordnung, daran, daß die großen Kräfte der Geschichte und der Sieg der menschlichen Vernunft die Menschheit aus der Finsternis führen werden, hielt ihn aufrecht. Als ein Höhepunkt seiner antifaschistischen Lyrik gilt daher jenes Gedicht, das er als Grußbotschaft an Thomas Mann richtete, als dieser in Budapest weilte:
THOMAS MANN ZUM GRUSS
Dem Kinde gleich, das sich nach Ruhe sehnt
und sich schon müde in den Kissen dehnt
und bettelt: Ach, erzähl mir was, bleib da…
(dann ist das böse Dunkel nicht so nah)
und das – sein kleines Herz schlägt hart und heiß –,
was es sich eigentlich da wünscht, nicht weiß:
Das Märchen oder daß du bei ihm bist –
so bitten wir: Bleib eine kurze Frist!
Erzähl uns was, selbst wenn wir es schon kennen!
Sag, daß wir uns mit Recht die Deinen nennen!
Daß wir, mit dir vereint, deine Gemeinde,
des Menschen wert sind und des Menschen Freunde.
Du weißt selbst, daß die Dichter niemals lügen.
So laß die Wahrheit, nicht die Fakten, siegen,
die Helle, die dem Herzen du gebracht –
denn unsre Einsamkeit, das ist die Nacht.
Laßt heut uns, Freunde, uns durchschaun! So sah
Hans Castorp einst den Leib der Frau Chauchat.
Kein Lärm, der durch des Wortes Vorhang dringt…
Erzähl, was schön ist und was Tränen bringt.
Laß, nah der Trauer, endlich Hoffnung haben
uns, die wir Kosztolányi grad begraben…
Ihn fraß der Krebs nur. An der Menschheit Saat
frißt tödlich schrecklicher der Dschungelstaat.
Was hält die Zukunft noch in ihrem Schoß?
Wann bricht das Wolfsgeschmeiß gegen uns los?
Kocht schon das neue Gift, das uns entzweit?
Wie lang noch steht ein Saal für dich bereit?
Das ist’s: Wenn du sprichst, brennt noch unser Licht,
es leisten auf ihr Mannsein nicht Verzicht
die Männer, Frauen lächeln wunderbar,
noch gibt es Menschen (doch sie wurden rar)…
Setz dich! Fang an! Laß uns dein Märchen hören!
Und manche – doch sie werden dich nicht stören –
schaun dich nur an. Sie wollten zu dir gehn,
den Europäer unter Weißen sehn…20
Thomas Mann las am 12. Februar 1937 in Budapest ein Kapitel aus Lotte in Weimar. Vor Beginn der Lesung sollte das Gedicht von József vorgetragen werden. Die Polizei verbot dies jedoch. Der Verfasser dieser Zeilen, der an diesem Abend als Gymnasiast teilnahm, erinnert sich noch gut an den Schreck und die Betroffenheit aller Anwesenden. War ein Verlesen dieser Botschaft auch zu jener Zeit untersagt, sie blieb dennoch in den kommenden, noch dunkleren Jahren lebendig.
Letztes Lebensjahr: „Ars poetica“ – eine Summierung von Sinn und Wert der Józsefschen Lyrik
Mit dem Jahr 1937 begann Józsefs letzter Lebensabschnitt. Eine schwere Zeit, auch im Hinblick auf die allgemeine internationale Lage: So hatte die Volksfrontpolitik zwar erste Erfolge zu verzeichnen, doch der Vormarsch des Faschismus hielt weiter an; die Errungenschaften der Sowjetunion waren verheißungsvoll, die Notlage des ungarischen Volkes indessen verschlimmerte sich zusehends. In dieser Zeit erreichte Józsefs Dichtung einen letzten großen Höhepunkt.
An der eigentümlichen Isolierung des Dichters hatte sich grundsätzlich nichts geändert. Zwar verstanden einige Kritiker ihn und seine Dichtung, und auch unter den Arbeitern und der intellektuellen Linken war er bekannt und hatte Freunde, doch es gab nur wenige, die seine wirkliche, zentrale Bedeutung für die ungarische Literatur erkannt hatten. Auf der politischen Rechten war er verhaßt (erst nach seinem Tod versuchte man ihn dort zu usurpieren); ein Kreis Gleichgesinnter bzw. eine Schule von Anhängern hat sich um ihn zu seinen Lebzeiten nie gebildet.
Die unmittelbaren persönlichen Verhältnisse Józsefs waren in gewisser Weise geordneter. Anfang 1936 hatte er als Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Szép Szó deren Lyrik-Teil übernommen. Die Zeitschrift war zu dieser Zeit eindeutig linksorientiert und zeichnete sich durch einen aufgeschlossenen, kritischen Geist aus. In gewissen Fragen stimmte József mit den für die Linie des liberal-radikalen Blattes maßgeblich Verantwortlichen überein, prinzipielle Vorbehalte meldete er indessen im Hinblick auf deren politische Position an. Seine Mitarbeit beschränkte sich daher auf die Betreuung des Lyrik-Teils und auf die Veröffentlichung einiger literaturkritischer Beiträge. Ansonsten „las der arme Poet eine Unmenge von Manuskripten, besorgte den Umbruch in der Druckerei und korrigierte Abzüge“,21 wie es in einem seiner Briefe heißt – Hinweise dafür das sich in seinem persönlichen Leben allmählich gewisse Bindungen herausgebildet hatten. Trotz der Verfinsterung am Horizont („An der Menschheit Saat / frißt tötlich schrecklicher der Dschungelstaat)22 drangen doch auch Lichtstrahlen von der Welt draußen herein: In Frankreich hatte sich die Volksfront konstituiert das Ansehen der Sowjetunion war gewachsen und in Ungarn die angekündigte faschistische „Reform“-Politik vorerst gestrandet.
Doch wer klar und über den Tag hinaus blickte, täuschte sich nicht über die Schatten des Krieges, die das immer enger an Hitlerdeutschland gekettete Ungarn bedrohten. Hinzukam bei József eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes. Die Schizophrenie, durch ununterbrochene Schicksalsschläge ausgelöst und bis dahin latent geblieben, bemächtigte sich seiner zusehends. Die Anzeichen dafür mehrten sich auch in seiner Lyrik, doch nicht die Krankheit sondern der Versuch, diese zu beschreiben und zu bannen, prägte seine Gedichte. So etwa in dem Hilferufen wie „… liebt mich allezeit / verscheucht, vertreibt mein graues Leid“23 oder in den Schmerzensschreien des Gedichts „Unerträglich“;24 überwiegend sind die Krankheitssymptome jedoch in exakt-anschaulichen Bildern und strengen Formen gebunden. In der Psychoanalyse bewandert, leuchtete József bewußt in die Tiefenschichten seiner Seele und schrieb gleichsam vom Freudismus beeinflußte Gedichte im Volksliedton. Die Frage ob den Gedichten nicht doch etwas Krankes anhafte, ist entschieden zu verneinen.
Die Krankheit wirkte sich bereits ab 1934 und ganz offenkundig in den Jahren 1935 bis 1936 auf Józsefs Lyrik aus. Er beschrieb das Übel, projizierte es aus sich heraus und objektivierte es, wie das in einer Reihe bedeutender Gedichte, von den Sonetten aus dem Jahre 1935 bis zu dem Gedicht „Dämmerlicht“,25 nachweisbar ist. Es ist erschütternd, wie der Dichter darum rang, seine Zwangsvorstellungen, Visionen und Beklemmungen sprachlich zu fassen, gleichsam zu definieren und in strengen Formen poetisch aufzuheben:
Der Kunde lausch ich, die mein eigen Wort aus meinen Tiefen fördert…26
Und was da zutage kam, wurde eifrig notiert: Schuldbewußtsein, Vaterkomplex, Einsamkeit, Flucht zur Mutter, Verfall des Ichs:
… und was den Namen Ich trug, das gibt es nicht. An den letzten Krumen kaue ich, bis dies Gedicht entsteht…27
Nachvollziehbar ist in diesen Gedichten aber nicht nur, wie József sich bewußt mit den ihn bedrängenden Schreckensbildern auseinandersetzt und sie analysiert, sondern wie er stets aufs neue das Übel bezwingt. Es ist dies ein Triumph mit leisen, aber entschiedenen Worten: „… ich bin kein Narr“,28 mit der Kraft des Bekenntnisses:
Hoffnung für mich war von Beginn nur ich –.29
Doch vor allem ist es ein Triumph des schöpferischen Menschen, zumal hinter der Qual, Einsamkeit und Verzweiflung des Dichters stets auch die Not, die Verlassenheit und Niedergeschlagenheit des Volkes erkennbar wird. Nur aus dieser Einheit von Individuellem und Gesellschaftlichem heraus sind diese Gedichte voll zu verstehen.
Obwohl sich der Gesundheitszustand des schwerkranken Dichters 1937 zusehends verschlechtert hatte, erhob sich seine Dichtung in neue Höhen. Der Ton der Gedichte ist abgeklärter, aus ihnen spricht die innere Ruhe und das Vertrauen des Dichters auf die Zukunft. József verläßt den einengenden Kreis der Krankheit, sein Blick weitet sich und ist auf den politischen, allgemein menschlichen und nationalen Horizont gerichtet. Funken des lange entbehrten Humors blinken auf bis hin zu Spott und Neckerei; neben politischem Pathos klingt jedoch auch ein leiser Abschied mit an.
In diesen Gedichten seines letzten Lebensjahres – die eine Art Überschau darstellen – sind die poetischen Botschaften von Siechtum und Einsamkeit, Verzweiflung und Alleinsein mit einer tiefen Liebeslyrik und edelster politisch-nationaler Dichtung verflochten, und zwar teils in Koinzidenz, teils eins aus dem anderen folgend. Nach der Trennung von Judit Szántó und einer flüchtigen Liebesepisode widerfuhr József am Ende seines Lebens die große und reine Liebe zu Flóra.30 In dem klugen, gebildeten, seltsam schönen jungen Mädchen sah der Dichter die von ihm erträumte Frau, dazu bestimmt, ihm die Erlösung zu bringen. Diese Liebe war ihm Kraftquell im Kampf um Güte und Klugheit gegen die dunklen Mächte der Welt, Ausbruch und Erwachen zu neuem Leben. Noch ein Jahr zuvor hatte er gerufen:
Wer von euch, Frauen, wär bereit
mit mir das All zu sprengen?31
Nun ist es eine flehentliche Bitte:
Kummer unerträglich
in der Anhäufung.
Floras schöne Liebe,
mach mich wieder jung!32
In dieser läuternden und erhabenen Liebe vermochte er sein persönliches Begehren mit dem Ringen um echte Menschlichkeit und eine bessere Zukunft des Volkes zu verbinden, wie das Gedicht „Flora“ zeigt. Alle die großen Themen seines Lebens, Kindheit und Solidarität, Politik und Humor, Zärtlichkeit und Trauer sind hier vereint:
Gut zwei Milliarden schlugen mich in Ketten,
als ihren Wachhund hätten sie mich gern,
aus ihrer Welt möchten sich südwärts retten
Güte und Zartheit, ach, sie sind schon fern.
Die Welt da kann ich nicht ans Licht mehr halten
wie Stoffe, die im Reagenzglas walten.
Besiegt bin ich. Mitleid! Und muß erkalten,
wirst du nicht, Liebe, Rettung mir und Stern.33
Die Grundlage für diese weiterreichenden Perspektiven und die erhabene Position des Dichters bildete zweifelsohne ein noch tieferes Erleben der Not – zunehmender Entfremdung, Demütigung und Schändung – des Menschen durch den Faschismus.
Im Frühjahr 1937 entstanden zwei Gedichte, in denen József gleichsam die Bilanz seines Lebens zog. In dem einen – „Zu meinem Geburtstag“ – ist erneut jene merkwürdige, aus der Gegensätzlichkeit herrührende Spannung zwischen Inhalt und Form zu beobachten:
ZU MEINEM GEBURTSTAG
Nun bin ich zweiunddreißig Jahr –
und überrasch mich ganz und gar
aaaaamit dem
aaaaaPoem:
Im Winkel des Cafés gedenk
ich meiner, dieses Festgeschenk
aaaaasei mein
aaaaaallein.
Zweihundert Pengő Monatslohn
das hatte nie für seinen Sohn
aaaaamein Land
aaaaazur Hand.
Bestallter Lehrer wär ich jetzt,
kein Bursche, der die Feder wetzt
aaaaavoll Harm
aaaaaund arm.
Und wurd es nicht, denn in Szeged
verwies mich von der Fakultät
aaaaaein Mann
aaaaader’s kann.
Für „Reinen Herzens“, mein Gedicht,
schlug mir sein Schmähruf ins Gesicht;
aaaaamit Glück,
aaaaagezückt
das Schwert, schützt’ er das Land vor mir.
Mein Geist zitiert ihn, er ist hier,
aaaaader Schuft
aaaaaund ruft:
„Solange ich denke, werden Sie
kein Mittelschulprofessor, nie!“
aaaaaEr prahlt
aaaaaund strahlt.
Doch freut’s Herrn Anton Horger sehr,
daß ich jetzt nicht Grammatik lehr,
aaaaadie Freud
aaaaawird Leid –
ich lehr beharrlich, mach mein Land
nicht auf der Mittelschulen Stand
aaaaader Zeit
aaaaabereit.34
Die Form geht auf Victor Hugos Orientales – letztlich also auf französische Volkslieder – zurück und birgt hinter äußerlicher Keckheit und Heiterkeit eine bitter-ironische Aussage. Es ist gewissermaßen eine Abrechnung des vereinsamten Dichters, der – von Nation und Vaterland verkannt und seinerzeit sogar von der Universität verwiesen – in seinem Glauben nicht erschüttert wurde, trotz ausgebliebener öffentlicher und offizieller Anerkennung Lehrer des ganzen Volkes zu werden. Der hier mit gedämpfter Ironie vorgetragene Widerstand – gleichzeitig ein Beweis für die souveräne Beherrschung der Schwierigkeiten des Stoffs und der Form – erinnert im Ton an den um dieselbe Zeit verfaßten Lebenslauf, in dem es am Schluß eines seiner Anfang 1937 verfaßten Einstellungsgesuche heißt:
Seitdem lebe ich von meinen schriftstellerischen Arbeiten. Ich bin Redakteur bei der Zeitschrift für Literatur und Kritik Szép Szó. Außer in meiner ungarischen Muttersprache schreibe und lese ich französisch und deutsch, korrespondiere ungarisch und französisch und bin perfekt im Maschineschreiben. Ich konnte auch stenographieren und bin in der Lage, diese Fertigkeiten mit einer Praxis von einem Monat aufzufrischen. Ich halte mich für rechtschaffen und glaube, daß ich von rascher Auffassung und in der Arbeit ausdauernd bin.35
Weit komplizierter, voller versteckter Polemik und mannigfaltiger Bezüge hat József den Sinn und Wert seiner Lyrik in dem Gedicht „Ars poetica“36 summiert. Er legt darin sein unwiderrufliches Bekenntnis zur Vernunft und realistischen Weltsicht, zum zielgerichteten Handeln wie zur Mission der Dichtkunst ab. Es ist das Credo eines Dichters, der eine tiefe Einsicht in die Wirklichkeit gewonnen und den Sinn der Kunst in der Widerspiegelung eben dieser Wirklichkeit erkannt hat. Er weist von daher jede Illusion und Augenwischerei jeden Selbstbetrug und Irrationalismus von sich:
Langsam versickern schon die Zeiten,
die Märchenmilde bekommt mir kaum.
Ich trinke lieber Wirklichkeiten,
der Himmel ist darauf der Schaum.37
József gab als Dichter, Mensch und Kommunist weder sich noch den Glauben auf, die Menschlichkeit bewahren zu können. Er beharrte auf der Forderung nach der vollen Verwirklichung des Menschseins und gab diese Haltung angesichts des menschenverheerenden Faschismus stolz zu erkennen:
Ich, freier Geist, werd mich nicht bücken,
ich bin nicht dumm und bin kein Knecht.38
Gegen die Knechtschaft beschwor er das Universum und die den Menschen zeugten, „den Geist und die Liebe“. Dem Menschen des Jahres 1937 rief er zu:
… das Weltall sei dein Maß.39
Er widerstand den Kräften der Entmenschlichung und wußte auch in jener finsteren Zeit, daß die Möglichkeiten des Menschen unendlich sind, wenn er dereinst erwachsen und mündig sein wird. „Mich wird das Jahrhundert behüten“ – diese Gewißheit schöpfte er aus dem Bewußtsein, daß die Massen hinter ihm stehen und „Panzer, wohlgesinnte“ ein offenkundiger Hinweis auf die Armee der Sowjetunion, für ihn aufbrechen und sprechen werden. „Ich klage euch beim Wissen an“,40 heißt es in dem Gedicht, denn die Gewalten des Ungeistes vermögen letztlich gegen die Gesetze der Geschichte nichts auszurichten.
Die in den letzten Monaten seines Lebens entstandenen Gedichte sind Lebensbilanzen aus immer höherer und klarerer Sicht; sie zeugen auch in der poetischen Sprach- und Gestaltungskraft von einem stetigen, ja beschleunigten Reifeprozeß. Das exakte gedankliche Gerüst, die „Statik“ der Gedichte, blieb zwar erhalten, doch der Ton wurde heller und reiner. Beibehalten wurde auch die Kühnheit in der Bildschöpfung und in den Assoziationen, jedoch strenger diszipliniert als zuvor. Stimmungsbilder aus den Landschaftsgedichten früherer Jahre kehren nun m Gedichtexpositionen wieder, Faktenmaterial und Beschreibung fügen sich harmonisch in das Gedicht ein.
Die feenhaft ästhetischen und zugleich tiefdüsteren Verse des Sommers 1937 zeigen an, in welchem Ausnahmezustand sich József befand:
Ich forme meine Liebe selbst…
Auf Himmelskörpern stehend :
so zieh ich los gegen die Götter
– nicht bebt das Herz mir –
leicht, in Weiß gekleidet.41
Wäre die Geschichte seiner Kindheit auch als Thema einer romantischen Erzählung vorstellbar, so könnten die letzten Tage Józsefs die Aufschrift „Des Dichters Schicksal“ tragen: bleigrauer, regenverhangener Novemberhimmel über einem verlassenen Badeort am Balaton. Die beiden letzten Strophen, die er niederschrieb, sind ein Abschied voller Wehmut und durchstrahlt von schlicht bilanzierender Weisheit:
Im Windsturm lebend, mußt ich schauen,
daß ich mich aufrechthalten kann.
Was ich verbrochen, ist zum Lachen:
nicht mehr, als andre mir getan.
Der Lenz ist schön und schön der Sommer,
am schönsten Herbst – und Winterzeit,
für einen, der auf Herd und Kinder
sich nur noch für die andern freut.42
Das letzte schriftliche Lebenszeichen – ein Brief an den behandelnden Arzt:
Herr Doktor K.! Ich grüße Sie auf das herzlichste. Ihr Versuch, das Unmögliche zu schaffen, war vergeblich.43
Um József zwei zankende Schwestern und plärrende Kinder in der kleinen Pensionsstube, die Bekannten und Flora fern in Budapest – das war der Schauplatz seines tragischen Endes. Ein langer Güterzug, der die kleine Station passiert, überrollte ihn, und der Dorfnarr brachte, wie die Boten im antiken Drama, die Kunde von der Tragödie.
Das Symbolhafte dieses Tods unter Eisenbahnrädern blieb auch den Zeitgenossen nicht verborgen. Ein großer humanistischer Dichter von universaler Geltung war unter die Räder des in Faschismus und Krieg rollenden Ungarns gekommen. Wenige Monate nach Attila Józsefs Tod rückte das Unheil in unmittelbare Nähe: Am 15. März 1938 marschierten Nazitruppen in Österreich ein, und das Schicksal Mitteleuropas war zunächst besiegelt. Die Freunde wurden in alle Winde zerstreut: Manche emigrierten, manche wurden Verräter, andere kamen in Vernichtungslagern um oder in den Flammen des Krieges, und nur wenige blieben auf dem Posten und am Leben. Aus jener finsteren Zeit strahlen jedoch sein Name und sein Wort herüber.
(…)
Miklós Szabolcsi, aus Miklós Szabolcsi: Attila József, Akademie Verlag, 1981
Miklós Szabolcsi: Attila József
Attila József und seine Dichtung im Kreuzfeuer der Ideologien – ein Feature von Anat-Katharina Kalman
ATTILA JÓZSEF
Dein Herz, warum hat es gespielt, du Unglücksmann,
dich selbst zerstörend in des Winters fortgesetztem Bann,
erschaffend Lied auf Lied,
und atemlos
ein Feuerstoß
und jenseits Grenzen, die Vernunft erschloß,
warum stach dein Bewußtsein? Was geschieht,
hast du gewußt:
Der Höllenweg, er endet erst im Fäulnisschlund,
wo selbst der Glaube in den Tod geriet,
du hast gewußt:
daß deine Träume hingeschlagen und
du dich für immer ausgeschlossen sehen mußt
und wandern magst in dieses Wahnsinns Eis,
verlassen und allein,
nach treuer Liebe dürstend und nach Menschlichsein,
du ißt den Tod aus Schüsseln blinkendweiß.
Du hast gewußt, ich weiß es auch:
der Große, das bist du,
des Weltalls Tagelöhner, doch was du erhalten, war
nicht der geringste Teil, und mühtest ja sogar
das Ganze eigentlich empfangen.
Hat es gelohnt zu fürchten und zu beben,
nur auf der Zukunft Stein zu leben,
mit Monstren streiten, daran Blut und Tränen kleben,
obwohl dein Dasein dabei draufgegangen?
Sag, lohnte denn das lange Bangen?
Zieh ich aus deinem irdischen Geschick
die Schlußbilanz, genügt ein Blick,
und schon hat das Entsetzen mich umfangen.
Zerbrich doch das Gesetz und zögre nicht,
und den zerbeulten Hut heb aus der Staubesschicht,
Märtyrer-Schulter dein,
das ausgerenkte Nackenwirbelbein
gepaart
mit ausgeweinten Augen, feuriger Zwillingskreis,
in meine Augen blicke nur,
auf daß gierige vergeßliche Natur
davon erbebe,
der Himmel Drüsen-Apparatur
sowie das unerlöste Erdensein.
Attila József!
Du gib mir Hoffnung,
denn ohne sie
ist Sonnenlicht verdorben ganz gewiß,
das Blut von Eiter nicht verschont,
und knirscht auch dein Gebiß,
und kreischt sogar dein Nackenriß,
nick mir doch zu, daß es sich lohnt,
und widerlege deine Konsequenz sogleich,
der du in Glorie bist,
der du von Qual bewohnt.
Mach meine Phantasie mit süßer Arbeit reich,
denn schon ist sie geschäftig fürchterlich,
daß von den Füßen bis zum Hals sie mich
umfängt mit Aschenpelz, so heiß und weich,
Entsetzen, radioaktiv –
ich fürchte, sie entbirgt, was sonst verborgen tief,
und schließlich tut uns nichts mehr weh.
Daß niemals solche Ebne ich betret:
stell du dich vor mich: steh
und hilf, daß, gegen alle Menschenächter einen Deich
zu baun, das Herz die Kraft gewinnt
und der Mund noch schönre Worte denn je.
Übertragung Günter Kunert
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