ELEGIE
Wie unter bleiernem Himmel grau der Rauch
hinschwebt, gedrückt und schwer,
so flattert meine Seele auch,
über die Trauerlandschaft niedrig.
Sie flattert nur, sie fliegt nicht mehr.
Du harte Seele, weiche Phantasie!
Erkenne auf den schweren Spuren
der Wirklichkeit dich selber, deinen Ursprung,
blick denn herab und sieh!
Hier unter einem sonst so dünnen Himmel,
wo auf den hochgereckten Feuermauern
der Einsamkeit lustlose Zonen
bedrohlich und auch bettelnd lauern,
damit das Leid, das, stark verdickt,
das Herz der einzelnen bedrückt,
sich auflöst und vermischt
mit allem Leid der Millionen.
Die ganze Welt der Menschen
wird hier gemacht. Ruinen, Trümmer ohne Ende.
Die zähe Wolfsmilch öffnet ihren Schirm
auf dem verlassenen Fabrikgelände.
Die schiefen, schlechten Stufen,
zerbrochene Fensterscheiben rufen
herab die Tage in das feuchte Dunkel.
Gesteh’s,
bist du von hier?
Du bist es. Darum bleibt das eine dir:
die düstere Sehnsucht, dich zu fügen,
zu sein wie alle die Vergessenen,
von dieser großen Zeit Besessenen,
mit den verunstalteten Zügen.
Hier ruhst du, wo der krumme Zaun mit Strenge
der gierigen Moral Gestänge
bewacht.
Er knarrt, gibt acht.
Erkennst du dich, wo sich die Seelen
nach einer festgefügten, schönen, sichern Zukunft sehnen?
Sie warten leer, so wie ringsum die Gründe,
daß bald ein hohes Haus mit Lust und Leben
auf ihnen stünde.
Im kümmernden Gras die dreckverklebten Scherben
schaun mit glanzlosen, starren Augen
auf das Verderben.
Es bröckelt von der Wand
ein Fingerhutvoll Sand.
Fliegen schwirren heran,
die schwarzen erst, die grünen dann,
vom Abfall, Müll herbeigelockt
aus Gegenden, die besser aufgestockt.
Auch hier hat sie zu bieten dies und das
die zinsenbeschwerte,
gesegnete Mutter Erde.
In einem Blechtopf wuchert gelbes Gras.
Ob du es weißt,
welch ein Bewußtsein, welch eine schmale Freude
dich lockt, warum die Gegend dich zurückreißt
an diesen Ort zum reichen Leide?
Zur Mutter kehrt so heim das Kind,
zu dem die Fremden grausam sind.
Denn unverwandt
kannst du allein hier weinen, lachen,
nur hier aus dir was Rechtes machen,
o du! Das ist dein Land.
1933
Übersetzung: Géza Engl
Die größte Potenz der ungarischen zeitgenössischen Literatur ist Attila József. Seine Dichtkunst faßt bis zum heutigen Tage die Initiativen und Werte, die die sozialistische Literatur bisher hervorbrachte, auf höchster Stufe zusammen. Doch er hat sie nicht nur abschließend zusammengefaßt, sondern ihr auch einen höheren Maßstab gesetzt, der die weitere Entwicklung bis in unsere Zeit bestimmte. Nun stellt aber das Werk Attila Józsefs nicht nur den Gipfel der ungarischen sozialistisch-realistischen Dichtkunst dar, es ist zugleich international bedeutend: Zeugnis und Bestätigung für den Aktionsradius der sozialistischen Kunst, die nicht vor nationalen Grenzen haltmacht.
*
Sein Lebensweg, seine Laufbahn waren schwer und ruhelos, von Krisen und Enttäuschungen belastet, spärlich von Freuden und Heiterkeit bestrahlt. Er erlebte und erlitt gleichsam in eigener Person den Werdegang und das Schicksal des ungarischen Proletariers, des aus dem Proletariat hervorgegangenen Intellektuellen und letztlich das Schicksal des Menschen seiner Zeit.
Attila József wurde am 11. April 1905 in Budapest, und zwar im Außenbezirk Franzstadt, geboren. Wir wollen so schulmäßig und nach der Regel beginnen, denn in diesem Satz hat jedes Wort seine besondere Bedeutung. Er ist 1905 geboren, gehörte also jener Generation an, deren Kindheit vom ersten Weltkrieg überschattet wurde und deren Jugendjahre in die desillusionierende, den Menschen auf harte Proben stellende und dennoch soviel Hoffnung erweckende Zeit der 20er Jahre fielen, und die im kaum begonnenen Mannesalter das Abscheulichste – die Machtergreifung des Faschismus – miterleben mußte. Hochstrebende und bald erlöschende Anfänge, rasche Aufbrüche und frühes Scheitern, Hoffnung und Enttäuschung zeigen den Weg dieser Generation an. Er ist in Budapest geboren: ein wichtiges Moment in der Geschichte der ungarischen Dichtkunst. Denn der größere Teil seiner Zeitgenossen und Dichterkollegen kam noch aus der ungarischen Provinz. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Metropole herangewachsene Hauptstadt wurde erst damals endgültig der geistige Mittelpunkt des Landes. Hinter dem sich allmählich herausgestaltenden traditionslosen Bürgertum stand bereits die nach Hunderttausenden zählende Masse der in einem Entwicklungsprozeß begriffenen ungarischen Arbeiterschaft. Budapest als Großstadt war Anfang des Jahrhunderts bereits ein gängiges Thema, Budapest als Geburtsort jedoch – mit allen emotionalen Obertönen dieses Wortes – war in der Dichtkunst noch nicht üblich. Nun ist aber Attila József nicht einfach in Budapest geboren, sondern in einem charakteristischen Außenbezirk, in der Franzstadt. Dieser nach dem österreichischen Kaiser benannte Stadtteil wurde Anfang des 19. Jahrhunderts überwiegend von Fuhrleuten und Gärtnern bewohnt, am Ende des Jahrhunderts jedoch war er bereits ein dichtbewohntes Arbeiterviertel, in dessen winkeligen Gassen die eingeschossigen Häuser des einstigen Dorfes, die breiten Marktplätze, die Brandmauern des neuen Fabrikviertels und die Mietskasernen nahe beieinander lagen. Es war der Bezirk der Massenquartiere und Schlafgänger, der Kneipen und der Gratissuppen-Verteilungsstellen, der Dampfmühlen und Seifenfabriken, der Schlachthöfe und Donauhäfen. Diese Gegend hatte der ungarischen Literatur bis dahin noch keinen Dichter, keinen Schriftsteller von Belang geschenkt. Mit Attila József zog die städtische Peripherie in die ungarische Lyrik ein, der Außenbezirk, das ungarische Fabrikviertel.
Nicht nur Ort und Zeit der Geburt, sondern auch das Schicksal der Familie sind bemerkenswert, fast symbolisch. „Ich bin die Welt – alles, was gewesen und was ist: die vielen Generationen, die aufeinanderstoßen…“, schrieb er am Ende seines Wegs, und nicht ohne Grund. Der Vater, „Áron József, Seifensieder“, stammte aus dem Süden des damaligen Ungarn, er kam aus dem Komitat Temes in die Hauptstadt; sein Vater war noch Knecht auf einem Herrschaftsgut gewesen, der Sohn lernte immerhin schon ein Handwerk, er wurde Seifensieder, ein geschätzter, jedoch abenteuerlich und romantisch veranlagter Arbeiter. Er lebte schon geraume Zeit in Budapest, als er das Dienstmädchen aus Szabadszállás, Borcsa (Barbara) Pőcze, „die Mama“, kennen- und liebenlernte. Sie, eine fragile junge Frau, war von der Luft einer ganz anderen Landschaft und Umgebung umweht: Sie kam aus einem charakteristischen Teil der Großen Ungarischen Tiefebene, dem Landstrich zwischen Donau und Theiß mit seinen endlosen Ebenen, damals noch von Gewässern und Sümpfen durchsetzt, der Heimat hart arbeitender, hagerer Bauern.
Ich bin ein Sohn der Straße und des Landes…
In ihm vermischten sich Arbeiter- und Bauernblut, aber auch verschiedene Nationalitäten.
Das Leben des Ehepaars verlief anfangs harmonisch, doch war der kleine Attila – das dritte Kind des Ehepaares – kaum drei Jahre alt, als der Vater die Familie verließ. Warum und wieso – wir wissen es bis auf den heutigen Tag nicht. Es hieß, er sei nach Amerika ausgewandert, und so sagt es auch der Dichter in vielen Gedichten. Erst 1957 stellte sich heraus, daß der Vater nach Südungarn zurückgekehrt war, sodann in verschiedenen Städten Rumäniens lebte und seinem Handwerk nachging, ohne von seiner Familie zu wissen, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben. Die Mutter war mit drei Kindern allein geblieben –, zwei Töchtern und dem Sohn, ihrem jüngsten Kind. Ein erschütternder Kampf, ein Ringen um die nackte Existenz war ihr Schicksal. Die Familie zog von Untermiete zu Untermiete, von Massenquartier zu Massenquartier, der Junge lernte das Los der Findlinge kennen: die Kinderschutzliga vermittelte ihn an Zieheltern in dem Dorf Öcsöd. Dort verbrachte er seine Kindheit bis zu seinem siebenten Jahr und arbeitete, wie arme Dorfkinder eben zu arbeiten pflegen. Danach begann für ihn das Leben der Proletarierkinder der Peripherie, das sich überall in Europa gleichende Vagabundenleben, wie er es selbst – dem Schein nach mit kühler Sachlichkeit, in Wirklichkeit mit verhaltener Leidenschaft – in seinem Curriculum vitae beschrieb.
Hinzu kam, daß die Mutter kränkelte und sich ihr Zustand merklich verschlechterte. Wiederholte Male mußte sie ins Krankenhaus und für immer längere Zeit; die Kinder hungerten inzwischen und trieben sich auf den Straßen herum; bald stand die Diagnose fest – die Mutter hatte Gebärmutterkrebs.
Die Borcsa Pőcze, die mich gebar,
sie mußte dafür frühzeitig büßen,
den Magen, Bauch, was sonst in ihr war,
der Schrubber fraß es mit tausend Füßen. (Géza Engl)
Was hat Attila József aus dieser Kindheit mitgebracht, und wie entwickelte er sich bis zu seinem vierzehnten Jahr?
„Erkenne auf den schweren Spuren der Wirklichkeit dich selber, deinen Ursprung, blick denn herab und sieh!“ dichtete er mit gereiftem Verstand, und aus dieser Zeile klingt der doppelte Sinn der Kindheit, die doppelte Lehre heraus: Er muß schweren, ja allerschwersten Spuren folgen, er muß qualvolle, schmerzliche Erinnerungen heraufbeschwören; spricht er von der Kindheit, ist es im wahrsten Sinne des Wortes eine „Höllenfahrt“, die er unternehmen muß. Gleichzeitig aber zieht er aus diesen schweren Erinnerungen in reifen Jahren vielerlei Lehren. Diese Momente bestimmen seinen Charakter, sein Talent und seine politische Zugehörigkeit:
… bist du von hier?
Du bist es. Darum bleibt das eine dir:
die düstere Sehnsucht, dich zu fügen,
zu sein wie alle die Vergessenen… (Géza Engl)
Der Dichter zählte sich stets zum Volk der Vorstadt, er bekannte sich zu seiner Kindheit, vergaß sie nie, schämte sich ihrer nicht, sondern erklärte sie verständnisvoll; er schöpfte aus ihr den wichtigsten Erlebnisstoff, das Bewußtsein der Gemeinschaft mit der Masse. Er wuchs unter Armen auf und wuchs aus ihrer Masse heraus, für ihn war das Massenschicksal Beispiel und Gesetz, er empfand sein persönliches Schicksal als eine Verpflichtung zur Lebens- und Kampfgemeinschaft mit der Masse. Er brachte aus der Peripherie Erinnerungen und Entschlüsse mit. Erinnerungen: das Bild der Armut in allen Einzelheiten, „den Geruch erkalteten Gemüses“, das Rattern von den Güterbahnhöfen her, „die gedrängte Reihe der Mietskasernen“ und die drängende Fülle in den Notquartieren. Die Arbeitermärsche klangen ihm in den Ohren, und sie kehrten später in den Zeilen des einen und anderen Gedichtes wieder.
„Schwere Spuren“: die lange Reihe der Erniedrigungen und – was das Schlimmste ist – das ständige Ausgeliefertsein unter dem unaufhörlichen Druck der Not. Das Kind wird von der Welt der Erwachsenen nicht nur durch seine Kindheit, sondern auch durch die Brotlosigkeit getrennt. Das ist es, was eine Scheidewand zwischen ihm und den anderen errichtet. Bei den häufigen Wendungen im Leben der Familie spielte jedesmal das Geld die wichtigste Rolle, oft genug reichte es nicht für den primitivsten Lebensunterhalt. Schon sehr früh lernte das Kind die Bedeutung von „Frost, Hunger, Elend“ kennen, erfuhr, daß es zwei Welten gibt: die der Armen und die der Reichen. Er mußte ständig alle Kraft zusammennehmen, mußte seine ganze Energie und Findigkeit einsetzen, um sich erhalten zu können, und diese in der Kindheit entfaltete Kraftanstrengung hatte zur Folge, daß er später oftmals rasch ermüdete.
Die Verletzungen und Erniedrigungen bewirkten aber – bereits in der Kindheit und später erst recht – auch etwas anderes. Sie zeitigten den Willen, dieses Schicksal zu überwinden und aus ihm die Konsequenzen zu ziehen. Die Überwindung kann auf zweierlei Art erfolgen: durch Änderung der ganzen Ordnung, die ein solches Schicksal bedingt, oder aber indem man in sich selbst die Sauberkeit, die seelische Unversehrtheit, das Ehrgefühl bewahrt und nicht zum Opportunisten, zum Dieb, zum Duckmäuser oder Zyniker wird.
Diese zerrissene, geduckte Kindheit eines ungarischen Proletariers vom Anfang des Jahrhunderts ließ ihn sich auf die Kraft jener Klasse besinnen, die „nach Priestern, Soldaten und Bürgern“ Träger der menschlichen Kultur, und wenn auch noch im Kampf mit dem Elend und der Erniedrigung, so doch schon im Besitz der Zeichen für eine neuartige Lebensform, neuartige Beziehungen der Zusammengehörigkeit, der Solidarität ist. Zuweilen erklang in ihm auch schon das Erleben einer andersgearteten, schwer erkämpften Harmonie. Alle Konflikte und Wunden, die das Kind Attila József erlebte und erlitt, waren die Wunden und Konflikte der Klasse. Der spätere proletarische Dichter hatte seine Wurzeln in jeder Hinsicht in der Welt seiner Kindheit. Er brachte aus der Welt der Franzstädter Häuser bittere Erlebnisse mit, aber auch einen starken Glauben; Konflikte, aber auch die Möglichkeiten einer Lösung. Um jedoch aus der Erlebniswelt der Kindheit als Dichter eine hohe Lyrik aufzubauen und als Mensch zu einer festen Überzeugung zu gelangen, bedurfte es noch eines langen, schweren Wegs mit komplizierten Abweichungen, Verirrungen und Umwegen.
Zuallererst mußte er Bildung erwerben, sich in den Besitz der für ihn und seinen Weg notwendigen Mittel setzen. Bald fand der kleine Junge aus der Phase der Kolportage-Literatur heraus und ließ auch die märchenhaften Landschaften Jókais hinter sich, er las die Bücher, die damals zu der Lektüre der gebildeteren Arbeiter in Ungarn gehörte: die Romane von Zola, Gorki und den sozialistischen Schriftstellern. Eine glückliche Fügung – zufällig oder schicksalhaft – gab ihm die Gedichte des großen Lyrikers des neuen Jahrhunderts, Ady, in die Hand. Ob eine seitdem spurlos verschwundene, mit der armen Familie in derselben Wohnung lebende Schauspielerin oder aber die Schwester eines Spielkameraden, damals schon Sozialdemokratin, die Vermittlerin war, wissen wir nicht; sicher ist, daß der Knabe sehr bald mit jener besonderen Welt, jenem besonderen Lebensgefühl, dem Gespinst von Symbolen und Beziehungen, das Adys Dichtung durchzieht, bekannt wurde. Eine bedeutsame Anregung, ein bedeutsames erstes Erlebnis. Sehr bald versucht er selbst Verse zu schmieden. Erhalten blieb uns davon nur einer, in einem Brief an die Schwester: „Reich möchte ich gerne sein“, schrieb der damals Neunjährige, in ein schlichtes, melodiöses, rührendes und tiefgreifendes Bekenntnis.
Aber auch auf andere Art begann er sich herauszuheben. Seine ältere Schwester, Jolán, heiratete 1918 in zweiter Ehe einen gutgestellten Budapester Rechtsanwalt. Eine sonderbare soziale Verknüpfung: Der Mann von radikaler Gesinnung und Neigung, der zur obersten Schicht der ungarischen Bürgerschaft jüdischen Ursprungs gehörte, wollte sich vielleicht wie Pygmalion das hübsche und aufgeweckte Proletariermädchen nach seinem Bilde formen. Daraus erwuchs eine Reihe seltsamer, komplizierter, den Dichter erniedrigender Situationen. Vor der reichen Familie mußte die Herkunft der Frau verheimlicht werden; von Anfang an war das Verhältnis durch Lüge, Verstellung und Falschheit gekennzeichnet.
Die Räterepublik von 1919 hinterließ in der Seele des heranwachsenden Jünglings eine bleibende Spur. Volksversammlungen und Straßenbälle – er war dabei. Die Broschüre Staat und Revolution, die ihm ein unbekannter kommunistischer Redner gab, bewahrte er bis zu seinem Tode auf. Wer diese fieberhaften, kämpferischen Monate erlebt hatte, konnte sie nicht mehr vergessen, sie wurden Beispiel und Lehre fürs Leben. Doch nach dieser kurzen Episode verdüsterte sich der Horizont – der politische und für Attila auch der persönliche. Der weiße Terror setzte ein, die Hungerszeit erreichte ihren Höhepunkt, die Mutter verließ das Krankenhaus nicht mehr und starb Ende 1919, gerade als der Knabe sich auf dem Land aufhielt, um von Verwandten Lebensmittel zu beschaffen. Sie starb in einem Barackenkrankenhaus der Franzstadt.
Kriegsende war’s mit Sorg und bittern Nöten,
aaaich fuhr hinaus aufs Land,
denn in der Hauptstadt standen leer die Läden,
mein Budapest war wüst, wie ausgebrannt.
Auf dem Waggondach bäuchlings in der Mitten
konnt ich mit Brot und Hirse heimgelangen,
für dich hatt ich sogar ein Huhn erstritten,
aaadoch du warst schon gegangen.
Den Würmern hin hast du dich mir genommen
und deine süße Brust… (Günther Deicke)
Da war nun die kleine Familie „Nach der Beerdigung“:
Nicht mal Trostworte sprachen wir,
drei Waisen saßen da verloren,
wie man sich setzt, wenn aus die Schicht,
mit stumpfen Blicken, tauben Ohren,
jeder für sich, und keiner spricht. (Géza Engl)
*
Zu meinem Vormund bestellte das Waisenamt meinen Schwager, den vor kurzem verschiedenen Dr. Ödön Makai. Einen Frühling und einen Sommer lang diente ich auf den Schleppdampfern Vihar, Török und Tatár der Atlantica Seeschiffahrt-AG. Damals legte ich privat die Prüfung der vierten Bürgerschulklasse. Mein Vormund und Dr. Sándor Giesswein schickten mich zu den Salesianern nach Nyergesújfalu als Priesterzögling. Hier verbrachte ich nur zwei Wochen, da ich doch ein Orthodoxer und kein Katholik bin. Nun kam ich nach Makó ins Internat Demke, wo ich bald einen Freiplatz erhielt.
Makó ist eine kleine dörfliche Stadt nahe der Südgrenze Ungarns, unweit des Ortes, wo Attila Józsefs Vater geboren wurde. Drei Jahre verbrachte der Jüngling in Makó, und in diese drei Jahre – 1920 bis 1923 – fällt der Anbruch seiner Dichterlaufbahn. Es war nicht die steife Atmosphäre des Makóer Gymnasiums, in der er sich heimisch fühlte, obgleich er sich mit unheimlichem Wissensdurst auf den Lehrstoff stürzte – Sprachen, Literatur, Mathematik und Geschichte interessierten ihn ausnahmslos –, sondern der kleine Kreis radikaler Freimaurer – Anwälte, Ärzte und Journalisten –, die sich des Jünglings annahmen. Wie auf einer Insel lebten diese gebildeten Intellektuellen hier in den ersten, den gefährlichsten Jahren des Horthy-Systems, und nur in ihrem Kreis konnte der Heimatlose in seiner sonderbaren Lage Verständnis finden. Er, Schüler im Internat, hatte einen amtlichen Vormund (daß es der Mann seiner Schwester war, durfte aus Familienrücksichten niemand in Makó wissen). Er trug die abgelegten Anzüge seines Schwagers, und mit den Erinnerungen an die schwere Kindheit belastet, mit seinem frühreifen Verstand und großer literarischer Empfänglichkeit war er gezwungen, Schüler unter ahnungslosen Kameraden zu sein. Die wenigen Freunde sprachen ihm Mut zu und halfen ihm. Er war noch Schüler der siebenten Gymnasialklasse (Unterprima), als sein erster Gedichtband mit dem so bezeichnenden Titel Bettler der Schönheit erschien. Noch trat der junge Mann in die Fußtapfen der Vorgänger. Unter den Vorgängern aber war Endre Ady der größte. Sein Einfluß auf Attila war befreiend, Bewußtsein erweckend, aufwühlend. Vorübergehend lenkte er ihn von der objektiven Realität ab und einem ins Übermäßige gesteigerten lyrischen Ich zu, dieses wollte er aus sich heraussingen, nahm Posen, Äußerlichkeiten, Attitüden an, die er allerdings mit viel wahrem Inhalt füllte. Statt einer objektiv beschreibenden Dichtung gab ihm Ady das Modell zu einer leidenschaftlichen, aufwühlenden, selbstanalytischen, stilisierten Dichtung, und er mußte diese Art Lyrik durchleben. Er mußte sich die Symbolik Adys aneignen, um über sie hinausgehen, sie sich später aber wieder nutzbar machen zu können; er mußte sein lyrisches Ich übersteigern, um es zuerst in ein kollektives Ich überfließen zu lassen und schließlich nach einem langen Weg das harmonische Verhältnis von Gesellschaft und Dichter, Gemeinschaft und Individuum zu finden. Unvergessen blieb ihm die Zeugenschaft Adys für die Bestimmung des Dichters, die Erkenntnis, daß in schweren Zeiten der Wert der Persönlichkeit zugleich den Schutz der Menschheit zu bedeuten habe, und in diesem Sinn sollte er später den Wert seiner Persönlichkeit dem Faschismus entgegenstellen. Er lernte – und vergaß es eigentlich nie mehr, weil es mit seinen persönlichsten Neigungen übereinstimmte – die Dichterseele zu analysieren, sie planmäßig, plastisch und anschaulich darzustellen. In den Jahren 1922/23 gab ihm jedoch Ady Auskunft vor allem über seine persönliche Situation und die Situation des Landes und der Gesellschaft, über die wesentlichsten Tendenzen der Zeit. Adys ungarische Problematik und revolutionäre Leidenschaft halfen Attila József, den tieferen Sinn hinter den beobachteten Erscheinungen zu begreifen; in der reglosen Kleinstadt, im sonnenverbrannten Tiefland und auf den winterlichen Makóer Straßen die in der Tiefe glühende Erbitterung, das revolutionäre Feuer zu entdecken, die Verwahrlosung des ungarischen Volkes, seine historische Glücklosigkeit zu fühlen. Dieses Geschenk Adys nahm er an und trug es am längsten mit sich: das Empörerische, die Verbitterung, den Trotz, den Groll gegen die Zwerge einer frechen Herrenkaste, die Drohnen – das machte ihn kühn und gab ihm den revolutionären Schwung. Zum wahrhaft würdigen Fortführer des von Ady geschaffenen Werkes wurde er aber erst, als eigenes Erleben und Erfahrungen der Arbeiterbewegung die empfangene Anregung bestätigten und vereinigt seine Lyrik bestimmten.
Schon in seinen Anfängen nahm Attila József den neuen Ton an, assimilierte die neuen Bestrebungen, daher wirkte er modern und zeitgerecht. Darum konnte er das Epigonentum der sozialistischen Lyrik des vorigen Jahrhunderts, aber auch gewisse Anfangsschwächen der kommunistischen Dichtung vermeiden, eben weil er durch diese große Schule gegangen war. Neben Adys Tönen finden sich in seinen Gedichten am ehesten Anklänge an den Dichter, der dreißig Kilometer weit von Makó, in Szeged, der Stadt an der Theiß, lebte: Gyula Juhász.
Der „einsame, kummervolle“ Juhász, ein hervorragendes Mitglied der Nyugat-Generation, sicherte sich einen Sonderplatz in der ungarischen Lyrik mit der ihm eigenen Artistik, seinen melancholischen ungarischen Landschaften, seiner Flucht in eine exotische Traumwelt. Nur einmal machte er sich frei von seiner Melancholie: während der Revolutionen 1918/19. Dies kostete ihn seine Stellung, und seitdem lebte und schrieb er in Szeged mit zerrütteten Nerven. Er war der erste große Dichter, der Attila József entdeckte; er machte es möglich, daß der erste Gedichtband erscheinen konnte, schrieb ein Vorwort dazu, in dem er dem jungen Poeten eine große Zukunft prophezeite. Dieser wiederum hat manches von der versonnenen Melancholie der Theißlandschaften und der unterdrückten revolutionären Sehnsucht seines Meisters übernommen.
Was war aber neben all diesen Einflüssen ausschließliches Eigentum des jungen Attila József? Die in Makó beobachteten Landschaften und Menschen sind so realistisch und genau dargestellt – bald charakteristischerweise in Sonetten, bald in anderen, streng strukturierten Versen –: eine Marosuferpartie, eine Landschaft im Mittagsglast, eine Szene neben der Dreschmaschine sind so endgültig und unverrückbar festgehalten in diesen Gedichten, daß der Dichter sie später so gut wie unverändert in den Band seiner gesammelten, ausgereiften Gedichte aufnehmen konnte. Aber auch die Stimme des Vereinsamten, des Reimlosen und der Wille, etwas zu verändern, nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf die Nation bezogen, klingt aus diesen Versen, und neben dem Gefühl „o weh, o weh, wir Elenden verstehen nicht zu leben“ kann der Makóer Schüler auch einen solchen triumphalen Ton anschlagen:
Des Lebens Söhne sind wir, krafterfüllt,
der Zeit Soldaten, in den Kampf geschickt.
Wenn wir uns rühren, hei, die Welt,
seht, wie sie unter unserem Tritt zerknickt. (Max Zimmering)
1923 – zum Petőfi-Zentenarium – senkte er die Fahne seiner „freudlosen achtzehn Jahre“ vor dem Dichter der „Weltfreiheit“. Damals kommt aber auch seine Grundnatur, seine Sehnsucht nach Frieden, Liebe, Harmonie und Ausgleich zum Ausdruck. In „Scholle zur Scholle“ singt er von der Vereinigung der Natur mit der fast gleichen Innerlichkeit und Leichtigkeit wie in den späteren großen Gedichten. In einem der schönsten Jugendgedichte erklingen abermals diese Gefühle vollständiger Harmonie:
… nicht Mann, nicht Kind, nicht Ungar und nicht Bruder,
ein müder Mensch nur ist, der jetzt hier liegt.
Der Abend teilt den Frieden aus in Güte,
ich möchte von dem warmen Brot ein Kanten sein,
der Himmel schweigt, und auf des Flusses Spiegel
und meiner Stirn geht auf der Sterne Schein. (Géza Engl)
Die immer wiederkehrenden Themen dieser Jugendgedichte sind: Anruf an die „Männer der Zukunft“, der „begründete Weltekel“ und der „Kampf um Befriedung“. Man fühlt, daß er noch auf der Suche nach der Form und nach dem eigenen Ton ist; man hört, daß diese Stimme noch wie bei Knaben mutiert. Und dennoch ist dieser Anbruch von reichen Erlebnissen schwer, es ist die Zeit der ersten wahren literarischen Erlebnisse, der ersten großen – natürlich unerfüllten – Liebe, der ersten großen Freundschaften mit Gesprächen bis in den Morgen, der ersten großen Empörungen und der ersten in der Presse gedruckten Gedichte. Als er Anfang 1923 vom Gymnasium geht und das Studium als Privatschüler fortsetzt, steht für ihn der Lebensplan fest: Er wird Dichter und Lehrer werden.
*
Die folgenden Jahre machen den jungen Mann mit dem ungarischen und europäischen Leben, mit der Gesellschaft der ganzen brodelnden und im Wandel begriffenen Welt der 20er Jahre bekannt. Es siedet im Hochofen der Ideen und Richtungen, und mit seiner Zeit wandelt sich auch der Dichter.
Budapest: Bald ist er Privatschüler ohne sonstige Beschäftigung, bald Bücheragent; für kurze Zeit lustloser Bankbeamter, Mitarbeiter kurzlebiger Zeitschriften und Mitglied der Kreise junger Literaten. Im Dezember 1923 besteht er das Abitur und bekommt im Zeugnis natürlich in ungarischer Literatur eine schlechte Note. Der durch den Prozeß, den man ihm wegen seines Gedichtes „Rebellierender Christus“ angehängt hatte, bereits berüchtigte junge Dichter bekam es mit dem Literarhistoriker Jenő Pintér, einem ehemaligen Radikalen, nunmehr aber Erzkonservativen, zu tun.
Szeged: Der schmächtige Bursche, gestiefelt und mit Künstlertolle, ist eine fremde Erscheinung auf den Korridoren der Universität, an deren philosophischer Fakultät er als Student für die Fächer Ungarisch und Französisch immatrikulierte. Es folgen: Eintritt in die Sozialdemokratische Partei, Vorträge für Bauern und Handwerker und der erste große und ernste Konflikt mit der herrschenden Ordnung, den das Erscheinen seines Gedichtes „Reinen Herzens“ auslöst.
Jahre im Ausland: Zuerst in Wien, im Elend und auf Gnadenbrot angewiesen als Zeitungsverkäufer und Hausknecht im Wiener Collegium Hungaricum. Zeitweilig aber auch Aufenthalte im Lainzer Schloß bei dem damals in der Emigration lebenden berühmten Literaturmäzen Lajos Hatvany. Zwischendurch nimmt er den Kontakt mit den ungarischen Emigrantenzeitschriften und literarischen Kreisen auf; er wird mit den herrschenden Strömungen und Ideen besser bekannt, tritt mit der kommunistischen Partei und der Gruppe kommunistischer Schriftsteller in Beziehung. Georg Lukács stellte damals fest:
Der erste über weltliterarische – nicht kosmopolitische! – Qualitäten verfügende proletarische Lyriker.
Das nächste Jahr: Paris. Echtes Studentenleben: „Milch, Käse, Brot und Gedichte“, heißt es in einem seiner Briefe. Studium an der Sorbonne, gründliche Bekanntschaft mit der französischen Sprache und Literatur. Bei all dem natürlich zahllose Erlebnisse und Erfahrungen: die Pariser Straßen, avantgardistische Theaterstücke und die Organisation ungarischer Kommunisten in Paris. Wie die meisten ungarischen Dichter kam er mit den prominenten Schriftstellern nicht in Kontakt, gewann dennoch einen Einblick in ein brodelndes und in Wandlung begriffenes literarisches Leben. Hier ist es angebracht, von den fruchtbaren Beziehungen des jungen Attila József zur französischen Literatur zu sprechen.
Ein schöpferisch bedeutender Dichter verwandelt, verändert natürlich alles, was er von anderen bekommt und in sich aufnimmt. Er fügt es in das eigene Weltbild ein, und in seinen Werken kehren die ursprünglichen Anregungen vielfach umgeformt zurück, so daß man den Ursprung kaum noch erkennen kann.
Hinzu kommt, daß die von den Werken einer bestimmten Literatur empfangenen Einflüsse nicht immer gradlinig und in regelmäßigen Zeitabständen kommen. Oft werden sie durch Vermittler in zweiter oder dritter Transponierung weitergegeben, folglich genügt es nicht, die Wirkung der im Original gelesenen Werke, und auch nicht, die zu verschiedenen Zeiten entstandenen Übertragungen in Betracht zu ziehen. Die fremde Literatur verwandelt das Werk, die Methode, die Mittel eines Dichters der Heimat, dieser wirkt auf einen anderen, der wiederum auf den nächsten, und so kann es oft in der zweiten und dritten Überlagerung gelingen, die Spuren der fremden Literatur nachzuweisen. Aus den Einflüssen, Einwirkungen, Weiterentwicklungen, Assimilationen entsteht ein kompliziertes Gewebe, das man im (Œuvre eines Künstlers nicht leicht entwirren kann. Das Bekenntnis von Attila József: „… der Sinn allen Menschenwerks braust in uns“ verhilft uns zum Verständnis der Einflüsse, Anregungen und Bauweisen, die bei der Entstehung seines Werkes eine Rolle spielten; hinter jedem Werk, jeder Richtung dämmern andere, frühere Werke und Richtungen auf.
Die Begegnung Attila Józsefs mit der französischen Literatur ist eigentlich eine sekundäre; primär erreichte ihn der Einfluß durch die Dichter der Nyugat-Lyriker. Dabei denke ich weniger an die Baudelaireschen Töne in Adys Dichtung als vielmehr an die französischen Parnassiens und die Symbolisten sowie an das Fortleben von Verlaine und der Lyriker der Jahrhundertwende bei den ungarischen Dichtern. In Gyula Juhász’ Landschafts-, Genre- und Stimmungsbildern, oft auch in seinen Beiwörtern und charakteristischen Strophenformen, besonders in den berühmten Zweizeilenstrophen sind Verlaine und Leconte de Lisle zugegen, so auch die Spuren von Samain und H. de Régnier, ihre Wörter, ihre Anregungen. So vererbten sich, heimatlich akklimatisiert, die Mittel der Parnassiens und Symbolisten, die Kunstgriffe der impressionistischen Behandlung der Farben auch auf Attila József. Es ist bekannt, wie leicht und schnell er gerade diese Formen und Mittel, diesen Ton sich aneignete in einem solchen Maße, daß er im Herbst 1923 sich von ihnen wieder freimachen zu müssen glaubte.
Merkwürdigerweise fand er, als er sich von den zu glatt, zu ausgefeilt, zu leicht empfundenen, beschreibend-impressionistischen Tönen lossagen wollte, bei einem anderen französischen Dichter, bei Charles Baudelaire, Hilfe. Allerdings nur zum Teil, denn gleichzeitig zogen ihn Whitman und Kassák, der Expressionismus und die Groteske nicht weniger an. Das Baudelairesche kann man ziemlich früh, bereits 1922 entdecken, und es hält, abgeschwächt und verändert, bis 1924/25 an.
All das gilt für die frühen Gedichte des angehenden Lyrikers: es war die erste Schicht der Einflüsse, die ihn von der französischen Literatur her erreichte. Diese Spuren verloren sich allmählich, kamen aber am Ende seiner Laufbahn auf andere Weise und in einer neuen Synthese, in neuen Lösungen wieder: Die beschreibende parnassistische Intonation verwandelte sich in die unvergeßlichen, natürlichen Anfangsbilder. Die Baudelairesche Bild- und Aufbautechnik kehrte in den Sonetten der Jahre 1935/36 und in den sich selbst sezierenden Gedichten wieder, allerdings gelassener, filtrierter.
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In den Jahren nach 1923 begegnet der seinen Weg suchende, experimentierende Dichter sozusagen allen wichtigen dichterischen Strömungen der Zeit, den verschiedenen Nuancen der Avantgarde, dem Expressionismus, dem Konstruktivismus und sogar dem Surrealismus; all das machte er sich zu eigen, probierte er aus und verwendete auch die für seine Zwecke geeigneten, modifizierten Errungenschaften der ungarischen „neuen Volkstümler“. In dieser gärenden, die Töne wechselnden, ziemlich chaotischen Zeit begegnete er gerade in der Strömung der Avantgarde erneut französischen Dichtern. Hier gilt jedoch mit noch größerem Nachdruck der anfangs angedeutete Vorbehalt: Es ist außerordentlich schwierig, auseinanderzuhalten, was Attila József direkt von den Dichtern bekam, die er im Original oder in Übersetzungen las, und was er aus ihren zum Gemeingut gewordenen Errungenschaften schöpfte. Fest steht, daß viele Gedichte von Ivan Goll, diesem zweisprachigen deutsch-französischen Expressionisten, in den damaligen avantgardistischen Zeitschriften Ungarns erschienen, verhältnismäßig viel auch in Magyar Írás, bei der Attila József damals Mitarbeiter war. Goll war der Herausgeber der Anthologie Les cinq continents, die 1922 erschien und Gedichte von jungen Dichtern Osteuropas, Afrikas und Südamerikas brachte. Es war das erste Beispiel für eine internationale Vereinigung, und manche von Attila Józsefs Szegeder und Budapester Freunden dürften die Anthologie gekannt und daraus das eine oder andere Stück übersetzt haben. Attila fand verwandte Töne darin, Klagen und Ambitionen der jungen Menschen, das Empfinden des mörderischen Durcheinanders der modernen Welt, das große Pathos der Weltverbesserer, die ihr Ziel bald durch Revolution, bald durch das verkündete Wort zu erreichen hofften.
Unter den avantgardistischen Dichtern, die in ungarischen und ausländischen Zeitschriften gebracht wurden, mußte Attila József einem oft erwähnten Namen, Blaise Cendrars, begegnet sein. Dieser Dichter, ein Wanderer durch Raum und Zeit, ein außerhalb der Gesellschaft stehender Vagabund, dabei nicht frei von Sentiments, ein Dichter der abgerissenen Verse mit Auslassungen, die aber doch immer etwas Liedhaftes haben, der anarchistische, die Gesellschaft sprengen wollende Revolutionär, der sich jedoch nach Frieden und Harmonie sehnt – all das stand der Einstellung des jungen Attila József nahe, und er dürfte in Cendrars’ Gedichten sein eigenes Anliegen wiedergefunden haben. Die eigene Technik des Franzosen, die man kurz simultanistisch nennen kann, die kühne Juxtaposition von räumlich und zeitlich voneinander entfernten Erscheinungen kann man in einigen Gedichten Józsefs – im Rasen von „Fühlt ihr es?“, in den verworrenen Bildern von „Schöner Sommerabend“ wiederfinden. Natürlich ist es auch hier schwer zu sagen, ob dem Ungarn die übersetzten oder vielleicht auch französisch gelesenen Cendrars-Gedichte weitergeholfen haben oder deren Fortleben bei Lajos Kassák, der damals starke, wenn nicht die stärksten Anregungen gerade von Cendrars empfing. Außer Goll und Cendrars waren sicherlich auch Tristan Tzara, der junge Pierre Reverdy, Dadaisten und Surrealisten dem Freundes- und Diskussionskreis Attila Józsefs bekannt. Nähere Bekanntschaft mit der französischen Literatur schloß Attila József, als er in Szeged an der Universität die Fächer Ungarisch und Französisch zu studieren begann; sodann, als er ein Jahr in Frankreich verbrachte, in Paris und in Cagnes sur Mer, also die Zeit vom Ende 1924 bis September 1927. Es ist eine interessante Frage, auf die wir einstweilen keine Antwort haben, warum Attila gerade das Fach Französisch belegte – konnte er denn Französisch, oder begann er die Sprache erst auf der Universität zu lernen? Was zog ihn im besonderen zur französischen Sprache?
Feststeht, daß er sich in Szeged mit der französischen Literatur in den Stunden des begeisterten und wohlgesinnten Béla Tóth eingehender bekannt gemacht hatte. In Paris wurde diese Bekanntschaft sicherlich vertieft, obgleich József kein sehr eifriger Hörer an der Sorbonne war; immerhin interessierte er sich für die alte französische Literatur, und ging in die Vorlesungen von M. Huguet, Gustave Cohen und F. Brunot. Die Briefe, die er nach Hause schrieb, enthalten jungenhafte Prahlereien über die guten Fortschritte, die er im Verstehen französischer Texte machte, sie enthalten aufgelesene Wörter und Villon-Zitate.
Von Villon empfing er jedenfalls den tiefsten, dauerhaftesten und wichtigsten Eindruck unter den vielen literarischen, politischen und künstlerischen, die er in Paris aufnahm.
Der junge Pariser Student entdeckte für sich einen echten, authentischen Villon, diesen übersetzte er, nahm ihn in sich auf und absorbierte ihn in der eigenen Dichtung. Vor allem war es die Haltung. Er sah in Villon sein Vorbild, den einsamen, der Familie entfremdeten, dennoch liebebedürftigen jungen Mann, den wißbegierigen, aber armen Studenten, der sich nach Sauberkeit und nach der Mutter sehnte. Im jungen Attila war bereits die trotzige Haltung der Welt gegenüber vorhanden, der Liebhaber der Blitze, der so dichtete: ,,Ich, Attila József, bin da“ – eine Haltung, die allerdings viele seiner Generation einnahmen. So reagierten sie, manchmal mit frechem Trotz, manchmal mit anarchistischer Verzweiflung auf die Armut, die Aussichtslosigkeit, die Grausamkeiten der Zeit und der Gesellschaft. In Villon, in seiner Haltung und seiner Dichtung, fand Attila sein Vorbild für die Ausgelassenheit und den Galgenhumor, die Empörung des aus der Gesellschaft Ausgestoßenen, ein Muster auch für seine eigene heiter gelassene, sogar ironische Empörung.
So fand er also in Villon einen Meister für die eigene Haltung, eigene Persönlichkeit und eigene Empörung. Er fand aber noch viel mehr: das Gebot, all das in dichterische Form zu kleiden. Und dies gerade in dem Augenblick, als ihm schon dämmern mußte, daß man die Empörung gegen die zerfallende Welt nur in zerfallener, amorpher Form, in lockeren Assoziationen wiedergeben konnte oder mit den übernommenen und innerlich aufgelockerten Mitteln der ungarischen Betyarenlieder. Das Villonsche Beispiel bedeutete Empörung und Disziplin zugleich, Kampf gegen die Gesellschaft und Anschluß an eine gelehrte Tradition. Es ist kein Zufall, daß die festen Villonschen Formen, die „huitains“ der Balladen und des „Testaments“ bei Attila József in mehreren Varianten wiederkehren und weiterleben, und zwar in der Form von unmittelbarer Übernahme und Adaptation in Gedichten vom Typ der „Ballade vom Profit“, unter Beibehaltung der zugleich veränderten Form in Geständnissen vom Typ „Trost“ und unter Beibehaltung der Verselemente in „Besinnung“.
Es handelt sich nämlich nicht nur um die direkte Übernahme von Villons Balladenform, der Refrains und Reimformeln, sondern darum, daß kleine, kaum wahrnehmbare innere Kunstgriffe, spezifische Charakteristika des Villonschen Versbaus, feste Bestandteile im Werk Attila Józsefs wurden. Die Technik der „kleinen Bilder,“ der inneren Kontrapunktierung, der eigentümlich gespannten Einheit von Bekenntnis und objektiver Beschreibung oder die Reimtechnik des reifen Attila József haben viel aus der Villonschen Quelle geschöpft. Der persönliche Geständnis- und Beichtcharakter, die Vertraulichkeit dieser Lyrik, die zugleich das Schicksal einer Klasse, einer ganzen Nation, der ganzen Welt umfaßt und durchleuchtet, bekam Anregung und Ermutigung vom Vorbild Villon, um von Motiven- und Gedankenübereinstimmungen (Totentanz usw.) ganz zu schweigen. Fest steht, daß Villon in der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts wenige selbständige Nachfolger vom Range Attila Józsefs hatte. Der ungarische marxistische Dichter führte in einer anderen Zeit, mit anderen Mitteln die Auseinandersetzung des mittelalterlichen Dichters mit sich selbst, die Suche nach seinem Platz, die Abrechnung mit den Problemen fort.
Und in noch einer Beziehung half Villon dem ungarischen Dichter weiter: in der Gestaltung seiner Ästhetik, seiner künstlerischen Grundsätze. Hinweise darauf finden sich in seinen Prosaschriften. Bereits in der Ady-Vision schrieb er 1929:
Es gibt unschöne, sogar häßliche, aber vollkommene Kunstschöpfungen wie zum Beispiel La Belle Heaumière von Rodin oder auch die Villon-Ballade.
Und an anderer Stelle im Pamphlet gegen Babits heißt es:
Das Werk kann auf zweierlei Arten gefallen: Es gefällt oder mißfällt der Stoff, und es gefällt oder mißfällt die dichterische Haltung. Es gibt Fälle (z.B. bei Villon), in denen beides abstößt, und doch ist das Werk eine wertvolle Schöpfung.
Es hat den Anschein, daß das Villonsche Beispiel bei der Herausbildung des spannungsgeladenen Grotesken bei Attila József eine Rolle gespielt hat, und mehr noch hat es ihn zu einer Wendung in der Geschichte der ungarischen Lyrik ermutigt, die er in „Elegie“, „Nacht in der Vorstadt“ und „Arbeiter“ durchführte, indem er das scheinbar Häßliche, Abschreckende, Widerliche zu hoher Dichtung erhob.
Kein anderer französischer Dichter übte eine Wirkung von ähnlicher Tiefe und Dauer auf Attila József aus wie Villon. Dennoch blieb er auch von der neueren französischen Dichtung nicht unberührt, besonders in seiner Pariser Zeit. Er lernte die Dichtungen von Rimbaud und Apollinaire kennen und lieben, und in seinen Briefen stehen Äußerungen wie: „… ich gedenke nach Neujahr mich an einen Band Jean Cocteau oder vielleicht Apollinaire heranzumachen“ (d.h. zu übersetzen; 19. Dezember 1926); und „… ich übersetze Villon, Apollinaire ins Ungarische“ (5. März 1927).
Was mochte den Dichter an dieser – früher noch als unregelmäßig empfundenen, heute schon als geradezu klassisch-regelmäßig geltenden – Lyrik angesprochen haben? Die großen Perspektiven, der Flug durch Zeit und Raum, die Stimme der Zonen? Die Stimme der erotischen, heißen Liebe? Die intimen, vertrauten kleinen Landschaften, die kurzen Lieder? Die große Beschwörung der Zukunftsperspektiven, die pathetische Sehnsucht, Tradition und Neuerung zu verbinden? Die eine Epoche eröffnende Erklärung an die „jolie rousse“? Wahrscheinlich all das, am meisten vielleicht doch das Apollinairesche Singen, das wir heute aus seinen Gedichten immer mehr heraushören, dieses sonderbare Gemisch aus französischem Chanson, dem Volkslied, der Musik der Zeit, das in jedem seiner Gedichte mitklingt (und dessen bekanntestes Beispiel „Sous le Pont Mirabeau“ ist). Diese Liedhaftigkeit, die Zusammenfassung der Weltperspektiven in einer so melodiösen Einheit, stimmte ebenfalls mit den innersten Neigungen, der dichterischen Konstitution des jungen Attila József überein und gab ihm Gelegenheit und Form, seine charakteristischsten Eigenschaften auszudrücken. Auf Apollinairesche Anregungen dürften die in Paris entstandenen merkwürdigen Lieder wie „Ermutigungslied“, „Proletarierlied“ und „Europa oh“ in ihrer Weltperspektiven umfassenden, durch lockere Assoziationen und Simultantechnik starke Spannung hervorrufenden Struktur und mit ihrem liedhaft gefühlvollen Schwingen zurückzuführen sein.
Die Apollinaire-Lieder wurden, wieder mit veränderter Sinngebung, Träger der Weltanschauung des Dichters, der in Paris immer entschlossener „Bolschewik“ wurde. Von 1928 an entwickelten sich die Lieder Attila Józsefs weiter und bekamen einen immer klareren Klang; und wenn dabei die Inspiration durch Apollinaire nicht zu leugnen ist, so bezieht sich das vorwiegend auf die Form, in der der Dichter mit wenigen Zügen große philosophische Tiefen und räumliche Entfernungen zusammenfassen konnte. Trotzdem bleibt diese Anregung nur eine unter vielen, und sie vereinigte sich fast unmerklich mit anderen, die etwa vom deutschen romantischen Lied oder dem ungarischen Volkslied her kamen.
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In den Briefen des jungen Pariser Studenten stößt man immer wieder auf Prahlereien: „Ich bin mit M. Seuphor, dem Redakteur von L’Esprit Nouvea, übereingekommen, daß das Blatt zunächst einige Gedichte von mir bringt, und sollte ich bis dahin mit der Übersetzung einer Anthologie fertig geworden sein, schreibt er dazu einen Artikel im Blatt – oder läßt ihn schreiben.“ (An Ödön Galamb, Ende 1926.) „Le nouveau, L’Esprit Nouveau qui vient paraitre [sic!] communiquera, le février mes cinq-six poèmes…“ (13. Januar 1927.) „In der Redaktionskonferenz von L’Esprit Nouveau vertrete ich Ungarn.“ (12. März 1927.) Und auch die Hoffnung wird in den Briefen ausgedrückt, daß L’Humanité, Clarté, eventuell auch Figaro seine Gedichte bringen werden.
Die nackte Tatsache dagegen ist, daß von Attila József während seines Pariser Jahres und auch während seines ganzen Lebens ein einziges Gedicht in Frankreich erschienen ist, das mit den Worten „Ombrage pâlot sous la peau…“ anfängt und ungarisch unter dem Titel „Egy átlátszó oroszlán“ (Ein durchsichtiger Löwe) bekannt ist. Es erschien in der einzigen Nummer von L’Esprit Nouveau, Februar 1927.
L’Esprit Nouveau war eine einmalige Unternehmung. Herausgeber des Blattes waren der Flame Marcel Seuphor und Paul Dermée; hervorragende Namen aus aller Welt waren im Blatt vertreten, aber auch weniger bekannte von den in Paris lebenden Angehörigen kleiner Nationen. Man findet darin ein Marinetti-, ein Kurt-Schwitters-Gedicht, eine Zeichnung von Mondrian, Gedichte von den Redakteuren und ihren Freunden, Zeichnungen und Bühnenentwürfe von Ladislas Medgyes, Étienne Raik, Moholy Nagy – und Attila József ist auch vertreten. In der einzigen Februar-Nummer erscheint sein erwähntes Gedicht, und in der Veranstaltung dieser Gesellschaft las er einmal in den „Au Sacre du Printemps“ genannten Räumlichkeiten auf dem Carrefour du Croix rouge, die der Pole Jan Sliwinski, Kaufmann und Pianist, unterhielt.
Der Kreis von L’Esprit Nouveau gehörte eigentlich nicht zu einer genau umreißbaren literarischen Richtung. Er vereinigte die zu verschiedenen Richtungen gehörenden Avantgardisten, Künstler, die etwas Neues, das Leben und die Kunst Veränderndes wollten, in einer lockeren gelegentlichen Vereinigung.
Die konstruktivistischen, surrealistischen Einflüsse trafen Attila József zugleich mit der von Villon und Apollinaire, sie verursachten im Einklang mit seiner innersten Veranlagung einen Strom von Bildern, jedoch an der Kandare strenger Disziplin: Die strömenden Assoziationen mündeten in Lieder.
Es ist vielleicht nicht zu gewagt, vorauszusetzen, daß zu dieser Liedhaftigkeit und überhaupt zur endgültigen Ausbildung von Józsefs Liedform um 1928 noch ein Pariser Erlebnis beitrug: das französische Chanson. Diese damals und noch immer lebendige französische literarisch-musikalische Tradition, die Vereinigung von hoher Dichtung mit dem Gesang, zeigte sich ihm unmittelbar in ihren bezauberndsten Formen. Das „Proletarierlied“, das „Ermutigungslied“ und „Europa, oh“, diese in Frankreich entstandenen, offenbar zu einer Melodie geschriebenen oder durch Melodie-Reminiszenzen angeregten Verse zeugen von der inspirierenden Nähe des Chansons.
In Paris wurde Attila gründlich mit Lenin und der marxistischen Literatur jener Zeit bekannt. In Briefen an die Schwester hält er geradezu politische Vorträge über den Gegensatz zwischen Imperialismus und Bolschewismus und die zunehmende Kraft des Bolschewismus. Schließlich, nach einem an der südfranzösischen Küste, im Dorf der Maler, Cagnes, verbrachten Sommer, kam er braungebrannt und glücklich, keck und fröhlich in Budapest an.
Dein Bruder, Schwesterchen Lidi,
der Sproß aus Batu-Khans Geschlecht,
ein Seidenbett besaß er nie
und fraß sich durch so recht und schlecht,
für seine tolle Reimerei
kocht ihm der Tod ’nen Haufen Brei. –
Holla, Prolet! Hei, Bourgeois!
Ich, Attila, bin wieder da! (Géza Engl)
Es waren die Jahre der großen Streifzüge, der jugendlichen Experimente – auch in der Dichtung. Deutsche expressionistische, französische surrealistische und ungarische Bauernlyrik erklingen zugleich in seinen Gedichten. „Nicht ich schreie, die Erde dröhnt“, erklärt er im Verein mit dem kollektivistischen Bekenntnis der Dichter der 20er Jahre, und in den freiströmenden Zeilen der ungezügelten Assoziationen häufen und drängen sich moderne Technik, städtische Großindustrie, eine Menge neuer Begriffe; noch unverdaut und anorganisch. Um die gleiche Zeit entdeckte er für sich den Ton des ungarischen Volkslieds. Teils als Reaktion auf die Zeitschrift Nyugat, die damals die überlebte impressionistisch-symbolistische Lyrik vertrat, teils um Ausdrucksformen für neue Inhalte zu finden, setzte schon in den 20er Jahren in Ungarn eine neue Art der Volkstümlichkeit ein, die einfach, unmittelbar, im Ton der Volksballaden vom Schicksal der armen Leute, der Wanderburschen und der einfachen Bauern sprach. In diese Strömung schaltete sich auch Attila József ein, als er die Folge seiner Arme-Leute-Gedichte schrieb, und im wesentlichen passen in diese Reihe auch seine kecken, lustigen, bengelhaften Gedichte, nicht zuletzt das so oft zitierte, so oft angegriffene und so viel gelobte „Reinen Herzens“, dieses tatsächlich verblüffende anarchistische Bekenntnis des jungen Menschen in den 20er Jahren. Es ist dieselbe Empörung gegen die Absurdität der Gesellschaft, gegen Gewalt und Wichtigtuerei, die die französischen Zeitgenossen zum Dada und dem „humour noir“ verleitete. Neben der breit strömenden „kollektiven Dichtung“ und den volkshaft schlichten Arme-Leute-Gedichten lebte in seiner Lyrik die liebliche Anmut, die Schlichtheit, die Nähe zu den geringen Erscheinungen und kleinen Dingen des Lebens in dem so eigentümlichen Attila-József-Ton.
Die Ameise schlief ein zwischen den Puppen.
Wind, blas die Puppen mir nicht weg!
Egal, ob ja, ob nein.
………………………………………………
Die Ameise schlief ein zwischen den Puppen,
und hopp! ein Tropfen fiel mir auf die Hand. (Géza Engl)
Die Suche nach einem Heim, nach einem Freund, einer Frau, die Werbung um Liebe und die Erinnerung an die Mutter begleiten als ständige Obertöne seine damalige Lyrik. Bei alledem erklingt immer klangvoller, immer lauter und eindeutiger die Stimme des aus dem Empörer zum Revolutionär gewordenen Menschen mit unverkennbar sozialistischer Weltanschauung. Darin münden, darin spitzen sich zu Weltabscheu und trotziges Revoltieren, Arme-Leute-Schicksal und die Einsamkeit des Stadtmenschen, persönliches Hungern und Einsatz für das Kollektiv. Zur Festigung dieses Bewußtseins trug am entschiedensten wohl die Pariser Zeit bei. Von hier schrieb er seinem Freund Endre Gáspár:
Verse schreibe ich jetzt schon mit solchem Ernst, als kommandierte ich eine Salve auf den Verurteilten oder lenkte ein Auto unter Demonstranten. Wenn ich die Feder in die Hand nehme, weiß ich, daß ich vor einer genau zu lösenden mathematischen Gleichung stehe…
Er ist 21 Jahre alt und übersieht ganz Europa.
Europa, oh, wie viele Länder,
und alle voll von Mörderheeren.
Laß mich nicht bangen um das Mädchen,
das in zwei Jahren wird gebären.
Laß nicht, daß ich darob verzweifle,
weil du mich schufst zum Europäer.
Ein Vetter einst von freien Bären –
ein Sklave bin ich jetzt viel eher. (Géza Engl)
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Budapest am Ende der 20er Jahre, in das der junge Dichter mit Pariser Erlebnissen beladen zurückkehrte, zeigte ein sonderbares Bild. Das konterrevolutionäre System hatte sich gefestigt. Unter der Ministerpräsidentschaft von István Bethlen entstand eine Scheinblüte, und eine Scheinbefriedung schläferte die Menschen ein. An der Oberfläche sah es so aus, als könnte man an der neu eingerichteten, neubarocken Gesellschaft nichts ändern, die Hierarchie war stark, die Grenzen unverrückbar. Es war der letzte Abschnitt der „Friedenszeit“, die schleichende Spannung vor dem Ausbruch des Vulkans.
Die materielle und soziale Lage des jungen Dichters war unverändert unsicher. Er ließ sich wieder an der Universität, diesmal an der Pester, einschreiben, lebte aber vornehmlich von der Unterstützung, die ihm sein Schwager, der gutgestellte Rechtsanwalt, gewährte, bis zu dem Tag, als er nach vielen stürmischen Streitigkeiten dessen Haus verließ und für sich ein kleines Zimmer mietete. Er geriet in den Kreis der damals beginnenden jungen Dichter und Schriftsteller, unter denen er Freunde fand. Der junge Mann suchte und forschte nach geistigen Abenteuern und nach politischer Erlösung. Er schrieb nacheinander und gleichzeitig für bürgerlich-radikale Zeitungen, für sozialdemokratische Blätter, für ein radikal rassenschützerisches Organ und für Nyugat. In diesen Jahren wurden ihm eins der tiefsten und größten Erlebnisse und zugleich die schlimmste Enttäuschung zuteil: „Mein reiches Mädchen hab ich lassen müssen, denn ihre Klasse hat sie mir entrissen“, so faßte er das Geschehene zusammen. Damals entspann sich zwischen Márta Vágó, der frühreifen, schönen Tochter eines reichen, radikalen Großbürgers, und dem jungen Dichter eine große Liebe, die ihm – wie selten in seinem Leben – das große Erlebnis des vollen Verständnisses, der Harmonie und des Sichgefundenhabens schenkte. Das Idyll war jedoch von kurzer Dauer. Die Eltern waren um ihre Tochter besorgt und schickten sie, um einer riskanten Ehe vorzubeugen, nach London, angeblich um dort zu studieren, in Wirklichkeit wollten sie die Tochter von ihrer Dichterliebe entfernen.
Die große Liebe hatte dennoch eine läuternde und zur Reife führende Wirkung auf den Dichter. In der bedrückenden und gärenden Atmosphäre dieser Jahre entstand eine wunderbare Periode seiner Lyrik, die im 1929 erschienenen Band Nicht Vater und nicht Mutter zusammengefaßt wurde. Feenhaftes Schweben, besonnene Verspieltheit, Ironie, Groteske, sich selbst verspottende Grimasse, unterdrückte Spannung und zum Losschlagen bereiter Zorn sind die charakteristischen Eigenschaften dieser Zeit. Gedichte wie das ätherisch schwingende, eine kosmische Entfernung ahnen lassende, die Sprache zum Klingen bringende „Ich segne dich mit Frohsinn“; die phantastisch grotesken und doch so unmittelbar volkstümlichen Perlen; die Erinnerung an einen Ausflug in die Budapester Umgebung in „Bei meinen vielen Sorgen“ mit der für Attila József so charakteristischen Eigentümlichkeit, der Beseelung und Vermenschlichung der Natur; die zauberhaften Liedchen „Wiegelied“ und „Leg deine Hand“ sind der Niederschlag dieser Liebe. Es war ein Idyll, aber ein oft schon ironisch betrachtetes, flüchtiges Idyll. Abgekühlter Surrealismus, reglementierter Wahnsinn, in die Groteske erstarrte Wirklichkeit, und all das in immer strengeren, immer regelmäßigeren Formen. Liebe, Erfüllung und Enttäuschung zeichnen sich in breitem Bogen in diesen Gedichten ab. Und die Gedichte der Liebe werden ständig begleitet und unterbrochen von anderen, die die Bitternisse, die Leiden und die Verlassenheit des ungarischen Volkes beklagen, und auch diese im gleichen, halb volkstümlichen, halb grotesken, halb surrealistischen Ton.
Lang ist unser Herrgott,
kurz ist die Speckseite.
Kränkeln tut der arme Mann
schon wie die reichen Leute. (Géza Engl)
In einem anderen Gedicht verdichtet sich das Bild der Welt in einem melodiösen Spiegel.
In China gab’s Revolution.
Die Opiumpreise stimmen schon.
Geh schlafen, Mensch, schmeiß dich aufs Stroh,
in China gab’s Revolution.
Vorm Warenhaus, da kannst du stehn,
und aus der Ferne Geld ansehen.
Geh schlafen, Mensch, schmeiß dich aufs Stroh,
vorm Warenhaus, da kannst du stehn. (Peter Hacks)
Er eignete sich eine scheinbar keck-indolente, in Wirklichkeit aber von unterdrückter Leidenschaft und gespannter Erwartung geladene Attitüde an: „Ich bin fröhlich und schweigsam“, und er fügt dann hinzu:
Ich denke nicht nach über Gut und Schlecht, ich leide nur und arbeite.
Doch diese Pose – wie gern würde er sie beibehalten! – fällt ab von ihm unter dem Einfluß der nahenden Krise.
Mein Herz ist blank! Und weil ich einer bin,
der siegen kann, bin ich mit allem quitt.
Ich habe Lust, für alles einzustehen,
denn auf Gerechtigkeit kommt es noch immer an.
Was soll mir da Erinnerungenkram?
Da schmeiß ich lieber meinen Bleistift hin
und sorg dafür, daß man die Sense schleift,
weil schon die Zeit auf unsrem Erdenfeld
unmerklich, aber furchterregend reift! (Heinz Kahlau)
Und die Zeit wurde reif auf unserem Erdenfeld. Unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise von 1929 und andererseits des Erfolges, den die Sowjetunion mit ihrem ersten Fünfjahrplan hatte, ergoß sich eine richtige Revolutionswelle über ganz Europa; es sah so aus, als krachte die alte Ordnung in allen Fugen, und der Tag der glorreichen und siegreichen Weltrevolution sei angebrochen. Selbst in dem unter schwierigen, konterrevolutionären Verhältnissen lebenden Ungarn rührte sich die in tiefer Illegalität wirkende kommunistische Partei. Es kam zu Agrarstreiks, zu Arbeiterdemonstrationen; Unruhe, Flugblätter, Gärung im geistigen Leben und Banksperre gingen dem Tag voran, an dem Anfang September 1930 nach elf Jahren zum erstenmal die Budapester Arbeiterschaft in Massen auf die Straße ging. Es war eine stürmische, gefahrvolle und dennoch zukunftsverheißende, zu Optimismus anregende Epoche, als die besten Köpfe in Ungarn sich dem Sozialismus zuwandten. In diesem Zeitabschnitt fand auch der junge Dichter seinen Platz. Er hatte lange gesucht, nach dem im Kreis der radikalen Großbürger erlittenen Mißgeschick orientierte er sich für einige Zeit an den „Volkstümlern“, von denen er eine radikale Bauernbewegung erwartete, doch vorn Herbst 1930 – genau gesagt: von der großen Demonstration Anfang September an, die ihn zu dem Gedicht „Masse“ inspirierte – schloß er sich der illegalen kommunistischen Partei an.
Zweifellos trat in seinem Leben und in seiner Dichtung eine Wende, eine eindeutige, entschiedene Wende ein. Auch in seinem Privatleben: Er fand eine Frau, „die küssen und kochen kann“, Judit Szántó, Mitglied der illegalen kommunistischen Partei und Arbeiterin in einer Schirmfabrik. Die auffallend schöne blonde Frau wurde bald des Dichters Lebensgefährtin, die ihn behütete, verwöhnte, ihm bei seiner Arbeit half und den Weg für ihn in jeder Richtung ebnete. Der Dichter schaltete sich in die damals lebhafte illegale Parteiarbeit ein, er hielt bei sich zu Hause und an geheimen Orten in der Vorstadt Seminarien für Arbeiter ab, unter denen er sich heimatberechtigt fühlen konnte. Nun wurde ihm die eigene Wichtigkeit bewußt, er hatte sein Gleichgewicht und seinen Weg gefunden.
In den Jahren 1930/31 stand seine Lyrik im Zeichen des revolutionären Sturm und Drangs. In dem Gedichtband Hau den Stamm um widmete er seine ganze dichterische Kraft der Weltrevolution und der Herbeiführung eines so nah scheinenden Wechsels in den ungarischen Zuständen:
Ich war einstmals ein Hirsch und werde Wolf sein leider.
Er hat einige Gedichte geschrieben, in denen er dem nachforscht, wie er aus sich einen Revolutionär machen könnte. Er identifiziert sich mit der Landschaft, der Natur und den Menschen, um noch härter, noch unerbittlicher und entschlossener zu sein:
Wir zischen auf Vertrauenszeichen,
wer ein Marxist, der darf nicht weichen,
wir binden, binden, säuselnd milde,
der Sand verfliegt, jedoch es bleibt das Land.
Ob Stamm noch, ob zum Stumpf verkümmert,
das Einzelschicksal wenig kümmert.
Seht, wie ich fasse, fasse, binde,
der Baum braust gut, das liebe Land hält stand. (Géza Engl)
In diesem Gedicht – „An die Akazien“ – spricht der Baum! Die Landschaft, die Natur bekommen einen tieferen Sinn: Sie bedeuten mehr als sich selbst – das ganze Land, die gärende Zeit, die gesteigerte Spannung. Die Landschaftsbilder, der Winter, der harte Frost, die beißende Kälte, der zauberhafte, dahinschwindende Sommer, die Hügel- und Berglehnen, der eintönige Regen tragen alle einen verborgenen Sinn, eine tiefere Bedeutung und ermahnen zu dringender Bewältigung der bevorstehenden Aufgaben:
So hau den Stamm um, mach dich dran,
und jammere nicht bei jedem Span!
Hau auf das Schicksal ohne Plärren,
dann kreißt das Heideland der Herren,
dein breites Haubeil lächelt nur. (Stephan Hermlin)
Neben diesen Gedichten mit verschleierter, indirekter revolutionärer Bedeutung entstehen andere, die völlig offen und klar, eindeutig Massenbewegungslyrik sind, direkte, zum Kampf auffordernde, begeisternde politische Aufrufe: „Voran, mein Vers, sei Klassenkämpfer!“ ruft er, und es entstehen Sozialisten und Masse, gleichsam die Abschlüsse und Summierungen jener Bewegungslyrik, die, mit direkter, agitativer, zur Revolution spornender Absicht geschrieben, für legale und halblegale Sprechchöre geeignet waren und durch einfache Formen und eine der Prosa nahen Sprache wirksam sein sollten. Diese Art der Dichtung lernte er in der zeitgenössischen ungarischen Arbeiterbewegung kennen, und von dieser Art machte er nun auch selbst Gebrauch, aber eben auf höchstem künstlerischem Niveau, gestählt im Hochofen eines Genies. Zugleich aber nahm er Abschied von dieser Richtung, um – auch aus ihr die Lehren ziehend – eine andere, sich noch höher und weiter schwingende Periode seiner Lyrik zu entfalten.
Um die direkten revolutionären Inhalte auszudrücken, ließ Attila József fast sämtliche Saiten seiner Lyrik ertönen. Im Anklang an seine Villon-Übersetzungen schrieb er eine Anzahl Balladen im Villonschen Stil; aus der Lektüre des Kalevala schöpfte er den Gedankenrhythmus; Volksliedform und strömende freie Rhythmen, Grotesken und impressionistisches Pastell, Dialoge in Hexametern – das alles probierte er durch.
Später drang er tiefer und stieg höher, dennoch bedeuteten diese Jahre den Wendepunkt, die Begegnung mit der organisierten Arbeiterbewegung, die ihn zur Arbeiterschaft zurückführte. Es war die Zeit, da er die Wirklichkeit tiefer zu begreifen lernte. Er fand ein Zuhause und das Gefühl der Ausgeglichenheit. Wenn er später unter viel schwierigeren Verhältnissen menschlich und künstlerisch bestehen konnte, durfte er es vielleicht den Lehren aus dieser Periode verdanken.
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Denn der Horizont verdunkelte sich. Zwei Jahre waren vergangen, und wohin waren die Träume von der Weltrevolution entschwunden? Die Weltwirtschaftskrise erschütterte zwar das Gebäude des Kapitalismus, brachte es aber nicht zum Einsturz, und in Deutschland ergriff das Abscheulichste aller Greuel, der Nationalsozialismus, die Macht. In Ungarn brach die konterrevolutionäre Diktatur nicht zusammen, sie wurde vielmehr stärker und energischer als zuvor. 1932 kam Gyula Gömbös, ein Mussolini-Abklatsch, an die Macht. Attila József schrieb Artikel und eine ganze Reihe von Gedichten, um den in der Maske des Faschismus auftretenden nationalistischen, mystisch-rassentheoretischen literarischen Strömungen entgegenzutreten. Er kämpfte und stritt auch dann, wenn sich seine besten Freunde verirrten und sich von der Demagogie des Faschismus und seinen Scheinreformen verführen ließen. Aber er hatte auch Differenzen mit der illegalen kommunistischen Partei. Die an sich schon erschwerte Arbeit wurde durch linke Fehler und Intoleranz weiter behindert. Neben todesverachtendem Heroismus trieb das Sektierertum sein Unwesen, und Mißtrauen schlich sich in den Kampf um den Menschen ein. Unter den unvorstellbar schwierigen und sich mehr und mehr verzerrenden Verhältnissen der Illegalität entstanden Differenzen mit den sektiererisch voreingenommenen Leitern der kulturellen Arbeit; die Reizbarkeit und Krankheit des Dichters trugen dazu bei, daß die Mißverständnisse sich häuften; Zank und Eifersüchtelei standen auf der Tagesordnung. Dennoch kam es noch nicht zu einem Bruch, wenn auch das Verhältnis immer gespannter wurde. All diese Schwierigkeiten stärkten aber nur die Treue des Dichters zur Arbeiterbewegung:
Vergrault habt ihr mich einen Augenblick nur,
Genosse Wald, nun braus! Ich knirsche fast.
Vergrault habt ihr mich keinen Augenblick, nur
der wild gewordne Köter knurrte eisig,
drum kam ich her, damit mein Kummer Kräfte
sammelt, wie hier das Mütterchen den Reisig.
Die Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten brachen nicht ab. Das lag vornehmlich wohl daran, daß der Dichter nach Hitlers Machtergreifung – wie jeder fortschrittliche Mensch in Europa – erschüttert danach forschte, wo die Arbeiterbewegung Fehler begangen, einen falschen Weg eingeschlagen hatte; er suchte nach neuen Wegen und schlug neue Lösungen vor. Lösungen, ähnlich wie sie nicht viel später die gegen den Faschismus gegründete breite Volksfront auf dem VII. Kongreß der Komintern verkündete; aber auch solche, die uns unseren heutigen Kenntnissen zufolge als unausführbare, irreale Träumereien erscheinen. Meinungsverschiedenheiten entstanden aber auch in den eng umrissenen literarischen Belangen: So wie der progressive linke Flügel der bürgerlichen Literatur die Bedeutung Attila Józsefs nicht erkannte, war man sich auch innerhalb der Partei über seinen wahren Wert nicht im klaren. Man hielt ihn zwar für einen bedeutenden Dichter, aber es lebten im Urteil der kulturellen Leiter der ungarischen kommunistischen Partei – entsprechend den in der internationalen kommunistischen Bewegung damals verbreiteten Ansichten und ganz besonders unter dem Einfluß der deutschen Dichtung zur Weimarer Zeit – starke RAPPistische Vorstellungen, wenn diese damals auch bereits überholt waren. Immerhin forderten die Leiter der Partei eine lautstarke, begeisterte, aber in den Formen primitivere und im Horizont beengtere proletarische Dichtung. Kein Wunder, daß man demnach die Lyrik Attila Józsefs für schwerverständlich hielt und nicht entsprechend würdigen konnte.
Feststeht, daß ab 1934 der Dichter – teils aus konspirativen Gründen, teils wegen seiner nervlichen Verfassung von der Partei fallengelassen wurde und keine illegalen Aufträge mehr bekam. Er wandte sich trotz des Bruchs niemals gegen die Partei, er wurde nicht zum Renegaten, die Meinungsverschiedenheiten führten zu keiner weltanschaulichen Verschiedenheit; der Dichter blieb Sozialist und bekannte sich zum historischen Materialismus bis an sein Ende. Wenn wir uns den Grundsatz zu eigen machen, daß sozialistische Literatur nicht identisch mit der von den Mitgliedern der kommunistischen Partei kultivierten Literatur, sondern ein umfassenderer Begriff als dieser ist, daß nicht die Zugehörigkeit zur Partei, sondern der Ideengehalt der Werke jemanden zum sozialistischen Schriftsteller, ja sogar Parteischriftsteller macht, so wird die Frage der Parteimitgliedschaft Attila Józsefs nichts mit der Beurteilung seiner Dichtkunst, sondern höchstens mit der Problematik seines Lebenswegs zu tun haben können. Der Dichter brachte die innersten Sehnsüchte des ungarischen Volkes, der ungarischen Arbeiterklasse, ihre Bestrebungen in historischen Perspektiven zum Ausdruck, widerspiegelte richtig ihre wahrsten Aspirationen; aus noch weiterer Perspektive betrachtet, fallen seine ganze Tätigkeit, alle seine Aussagen mit der Richtung und den Bestrebungen der internationalen Arbeiterbewegung zusammen. Attila József, der die größte Gefahr der Zeit, den Faschismus, erkannt hatte und zum Kampf gegen ihn – vielleicht in Irrtümern befangen, vielleicht aus Naivität – die Bildung einer Einheitsfront vorschlug, der immer und zu jeder Zeit sich als Anhänger des historischen· Materialismus erwies, aus dessen Gedichten jederzeit das Vertrauen zum Menschen herausklang, war historisch gesehen ein Vertreter der ungarischen Arbeiterklasse und ein Kämpfer für die Absichten und Bestrebungen der ungarischen Kommunisten. Sein ganzes Schaffen atmet die Ideen der Partei, den Geist und die Werte der ungarischen Arbeiterklasse, seine späten Arbeiten aber sind von der antifaschistischen Volksfrontpolitik der Partei erfüllt. Attila József war und blieb bis zum Schluß ein Kommunist, auch außerhalb der Partei.
*
Krankheit und Elend steigerten in den folgenden Jahren die Schwierigkeiten im Leben des Dichters.
Seine Frau wäscht den Fußboden auf, er rackert sich ab um eine Schreibarbeit…
Eine Stellung hat er nicht, sein Einkommen ist gering, der heftige junge Dichter hat sich durch Angriffe von den bürgerlich-literarischen Kreisen isoliert, bei Nyugat grollt man ihm. Ständige Brotsorgen, ungeheizte Wohnung, löcherige Schuhsohlen, Mietrückstände, verpfändete Schreibmaschine mögen wie romantische Äußerlichkeiten erscheinen, sie waren aber blutige Realitäten Mitte der 30er Jahre; in einem seiner Briefe gesteht er verschämt sein unfaßbares Elend:
Ans Hungern hab ich mich gewöhnt.
Dazu kam die Krankheit: zuerst eine physische, dann eine psychische; sie nagen an seinem Organismus, und der einsichtige Arzt, der es mit einer psychoanalytischen Behandlung versucht, gibt diese als hoffnungslos auf.
Und dennoch ist diese Periode der zunehmenden Vereinsamung und Isolierung, der Armut und Krankheit zugleich die Periode eines fortgesetzten Aufstiegs des Dichters. Von diesen Jahren, besonders vom Jahr 1932 an kann die Periode des ausgereiften, des von seiner ganzen schöpferischen Kraft erfüllten Dichters gerechnet werden. Keine Rede mehr von Vorbereitung, von Vorwärtstasten, von plötzlichen Wendungen – wir haben den fertigen, großen Dichter vor uns, der sich gefunden hat.
Eine neue eigenartige Variante des dichterischen Realismus erscheint in seiner Lyrik. Man pflegt das Gedicht „Arbeiter“ aus dem Jahre 1931 als Wendepunkt anzusehen; keine Spur mehr von den Allgemeinheiten, von den groben und stilisierten Arbeiterbildern, einem Überbleibsel der im Zuge der expressionistischen Lyrik entwickelten Bewegungslyrik. Hier spricht der das Leben zutiefst kennende, das Arbeiterschicksal keineswegs beschönigende Dichter, der auch seine Hinfälligkeiten und Widersprüchlichkeiten kennt, weil er sie miterlebt.
Wenn er für die „Rote Hilfe“ ein Gedicht über die „zu Fall Gekommenen“ schreibt – er schreibt es in Villonscher Balladenform –, so wird auch dieses Gedicht durch eine extreme Wirklichkeitsschilderung, durch verblüffende Bilder wirksam und macht es zu einem authentischen politischen Bekenntnis. Doch er bleibt bei der noch so grausam und gründlich, noch so vorurteilslos gesehenen und enthüllten Realität nicht stehen; er faßt das erschaute Bild in ein gewaltiges Gedankensystem, eine intellektuelle Konzeption zusammen.
Schon „Arbeiter“ beginnt mit dem Bild des Kapitals, das den Hals dreht und wendet, und endet mit der Vision der für die Arbeiterschaft kämpfenden Kommunisten:
Denn auf dem mächtigen Fließband der Geschichte
montieren sie ihre kühn entworfne Welt,
in der ihr Stern mit nelkenrotem Lichte
die alte Feindin, die Fabrik, erhellt. (Peter Hacks)
Kunstwerk war für ihn die „durch Inspiration fixierte Wirklichkeit“. Die Duplizität von Realität und Gedanklichem, kleinen Tatsachen und umfassenden Konzeptionen, genauer Beobachtung und Blick für die volle Wirklichkeit wird in den kleinsten Details dieses Gedichts sowie in seinem monumentalen Aufbau harmonisch durchgeführt und macht das Gedicht unvergleichlich groß. Und nun folgen die großen intellektuellen Fresken und erscheinen nacheinander die wunderbaren Legierungen von Beobachtung und Gedanken wie „Nacht in der Vorstadt“, „Am Rand der Stadt“, „Elegie“, „Ode“ und andere Gedichte, die zuerst im Band Nacht in der Vorstadt und dann zusammengefaßt im Bärentanz erschienen.
Und doch würde genaue Beobachtung der Realitäten so wenig wie das umfassend Gedankliche und auch der wohlbedachte Aufbau nicht ausreichen, wenn nicht noch ein Übriges hinzukäme, was der Dichter mit den Worten eines Volkslieds, das er als Motto einem seiner Bände voransetzte, ausdrückt:
Wer Sackpfeifer möchte sein,
fahre in die Hölle ein,
dort erst wird ihm beigebracht,
wie Musik man richtig macht. (Géza Engl)
Die Höllenfahrt ist eine schmerzvolle Erbschaft jedes großen europäischen Künstlers des 20. Jahrhunderts. Attila József mußte in eine noch tiefere, qualvollere Hölle hinabsteigen, in die Hölle der Verlassenheit, der Einsamkeit, der Isoliertheit, und er mußte in sich die ganze Schadensliste der geplünderten Kindheit, der verlorenen Freuden wachrufen. Aus dieser Hölle taucht sehr oft das Bild der Mutter auf, und auf sehr verschiedene Weise gesellen sich die erschreckenden Visionen der Kindheit hinzu. Doch die Höllenfahrt mußte auch der Erwachsene durchmachen, er mußte hinabsteigen in die seelische Hölle, in die immer tiefer werdenden Abgründe der voranschreitenden Krankheit, der Bewußtseinsspaltung; und über die persönliche Hölle hinaus mußte er auch noch die der Nation und die der Klasse erleben:
So sitzt auf unserer Seele die Zeit…
Nach 1932 mußte er in der sich immer mehr verfinsternden Zeit, beim Marschtritt der dem Krieg entgegenstampfenden Stiefel, die Hölle der verelendeten ungarischen Bauern, der gedemütigten Arbeiter und sich quälenden Intellektuellen, die ihren Platz nicht fanden, der verarmenden Kleinbürger: seines ganzen angstvoll geliebten Volkes erleben. Aber es wäre ein Irrtum zu glauben, daß aus dieser düsteren Zeit die spielerisch-launische Lust, die spöttelnde Ironie ganz entschwunden, wären, und es ist gerade der Tanz über dem Abgrund, der den über eine Bartók-Melodie geschriebenen „Bärentanz“ oder den „Kleinen Schweinehirt“ so erschütternd macht.
Leiden und die sie überwindende Intellektualität, geklärte Begriffe dank der gründlichen Kenntnis der Tatsachen: das sind die Grundlagen, die diese Dichtkunst einheitlich machen. Er selbst sagte:
Ein oder zwei Verszeilen bestimmen durch gegenseitige Abhängigkeit die übrigen, das heißt, jeder Punkt in der Welt des Werkes ist ein archimedischer.
Und tatsächlich, jedes Wort in seinen Versen steht am rechten – man könnte sagen, mit dem Zirkel vorgezeichneten – Platz im Gedicht oder in dessen Entsprechung: in seinem ganzen Weltsystem.
Die Tatsachen dieser [künstlerischen] Welt sind nicht wirklich; der Zusammenhang der unwirklichen Tatsachen jedoch ist wirklich und entspricht vollkommen den Zusammenhängen der Wirklichkeit
In den Gedichten dieser Periode zeigt sich am klarsten der Charakter der Lyrik Attila Józsefs und ihr Platz in der europäischen Dichtung.
Ein proletarischer Dichter im üblichen Sinn des Wortes ist Attila József insofern, als er seiner Abstammung, seiner Kindheit, seinen Erlebnissen und Erfahrungen nach eindeutig zum Proletariat gehört. Er ist es auch insofern, als er das Elend, die Hinfälligkeit und ganz besonders die Lage der nach 1919 niedergeworfenen, unter der Knute gehaltenen und trotzdem hoffenden Arbeiterklasse mit äußerstem Realismus darstellt. Über seine Zeitgenossen geht er jedoch hinaus, indem er die historische Position der Arbeiterschaft mit allgemeiner Gültigkeit auszudrücken und fühlbar zu machen weiß: „Hier wird des Menschen ganze Welt gemacht“, schreibt er, und er ist es, der die Berufung der Arbeiterklasse definiert:
… wir stehen wie der Fels auf ewigem Boden für die Menschheit.
Dies alles zusammengenommen wäre noch nichts grundlegend Neues, weder in der ungarischen noch in der europäischen Lyrik.
Der qualitative Sprung seiner Lyrik ist ein dreifacher: Erstens umgeht sie nicht, sondern verwendet und erlebt alles, was die großen Lyriker Ungarns und des Auslands im 20. Jahrhundert an Ausdruck und Gefühlserlebnis, an Bildgestaltung und poetischer Sprache schufen. Sie umgeht nicht, sondern assimiliert die Errungenschaften der vorangegangenen Jahrzehnte, überwindet sie und hebt sie in eine höhere Sphäre. Attila József ist ein Dichter, der sein Proletariertum am tiefsten, am bewußtesten erlebt, ein politischer Lyriker, ein Dichter des öffentlichen Lebens, dem das, was er aussagt, als persönliches Schicksal widerfahren ist. Der stattliche Band seiner Prosaschriften beweist, daß er sich mit den tiefgründigsten Fragen der zeitgenössischen Philosophie und Ästhetik befaßte, daß er außer den Klassikern des Marxismus und dem besonders gründlich studierten Lenin die Philosophen der Gegenwart und Vergangenheit von Croce bis Bergson, von Hume bis Hegel, von Boutroux bis Plechanow kannte, mit ihnen debattierte, von ihnen lernte und – was am wichtigsten ist – er pflanzte den hohen gedanklichen Anspruch auch in seine Lyrik ein und wurde so der Schöpfer der ungarischen marxistisch-philosophischen Lyrik.
Erst in den letzten Jahren widmeten wir den originellen und tiefen theoretischen Arbeiten dieses Dichters größere Aufmerksamkeit. Angefangen von der ersten Zeit seiner dichterischen Reife bemühte er sich in allen Phasen seines Schaffens, in den theoretisch-ästhetischen Schriften darum, sich klare Begriffe nicht nur über die Dichtkunst, sondern auch über philosophische und psychologische Fragen zu bilden. Ende der 20er Jahre griff er mit einiger sektiererischer Unduldsamkeit und jugendlichem Ungestüm Erscheinungen an, die er für bürgerlich hielt, obgleich die gegen den kleinbürgerlichen Kitsch und den Irrweg der rassischen Romantik gerichtete Schärfe seiner Kritik auch heute noch Gültigkeit zu haben scheint. 1931 beendete er einen längeren Aufsatz, „Literatur und Sozialismus“, in dem er mit einer Reihe von Ästhetikern debattierte, besonders mit dem damals in Ungarn viel gelesenen Croce, und bemühte sich um eine originelle und selbständige Theorie der Dichtkunst. Was er in dieser Zeit vom sprachlichen Organ der Dichtung, dem „künstlerisch Variablen“ und dem „Konstanten“, von der Sonderwelt der Wirklichkeit und des Werkes, der Struktur aussagte, gehört zu den bleibenden Werten ungarischer ästhetischer Gedankengänge. Er stellte auch später immer wieder ästhetische Überlegungen an. Aufsatzfragmente, Kritiken, Artikel beweisen, daß sich seine ästhetische Sensibilität fortgesetzt vertiefte und verfeinerte, daß er über eine vorzügliche kritische Begabung verfügte. Hier sei nur kurz darauf verwiesen, daß eine ganze Reihe seiner Artikel sich auch mit anderen theoretischen Fragen befaßt, so zum Beispiel: Individualität und Wirklichkeit, sexuelle Probleme der Jugend, Fragen der Volkskunst, soziale Lage der Schriftsteller, Fragen der „Mittelklasse“; dann immer häufiger mit dem Verhältnis des Marxismus zum Freudismus; des weiteren, nach der Machtergreifung des deutschen Faschismus mit den theoretischen Konsequenzen, die er zu ziehen für nötig fand. Die ordnende Philosophie ist nicht nur in seinen politischen Gedichten, sondern in allen Gedichten zugegen. Die „Ode“, ein großes Beispiel für die intellektuelle und modern-biologische Lyrik, die große Anrufung des Wesens und der Erscheinung, des Instinkts und des Bewußtseins, der äußeren und inneren Dialektik, ist das größte materialistische Liebesgedicht. Kristallklarer Verstand, ordnende Disziplin und Bewußtheit sind für alle seine Gedichte charakteristisch, für solche mit der größten politischen Konzeption ebenso wie für die persönlichsten Ausrufe:
Das Sein stottert, nur das Gesetz ist klare Rede.
Dieses Gesetz suchte er, und dieses Gesetz bewahrte ihn in den schwersten Zeiten vor dem Zerfall. Zwei Schlüsselworte, „Ordnung“ und „Wissen“, kommen zahllose Male in seinen Versen vor.
Für unsere träge Gesellschaft hab ich ein präzises Wort…
Solche Sätze beleuchten am klarsten sein Wollen. In den Bildern und Formulierungen seiner Gedichte ist die Spur des Marxismus unverkennbar, die Theorie hilft ihm, im tiefsten Elend aus der bittersten persönlichen und nationalen Talsohle einen Ausweg zu erspähen:
die schöne, fest konstruierte Zukunft.
Sein Bekenntnis zur Mission des Dichters ist in der folgenden Strophe formuliert:
Der Dichter – auf seinen Lippen noch klingt
das Wort, der trunkene Laut,
während er, Ingenieur der bezaubernden Welt,
die bewußte Zukunft erschaut
und die Harmonie in sich selbst konstruiert,
wie ihr sie draußen erbaut. (Günther Deicke)
Und schließlich ist er bedeutender und größer als die Arbeiterdichter der Zeit, weil er in seinen Gedichten den Horizont der ganzen Nation umfaßt, im Namen der ganzen Nation spricht. Sein Blick geht von der Peripherie dem Rand der Stadt aus – um diese Zeit zog er in eine Einzimmer-Garçonwohnung in der Korong utca neben dem Eisenbahndamm, in der so viele große Gedichte entstanden –, aber er dringt in die Tiefe, erfaßt das ungarische Volk als Ganzes: eine beträchtliche Anzahl seiner Gedichte spricht vom Dorf, von Bauern, vom kleinen Mann in der Stadt. In dem gewaltigen Tableau des „Sag, was wird“, in das er auch sich selbst hineinkomponiert, ist tatsächlich das gesamte Ungarn einbegriffen, seine Sorgen sind die Sorgen des ganzen Volkes; und weil er die Probleme aller Menschen so tief miterleben konnte, vermochte er auch die volle, die wahre Wirklichkeit, die Zerrissenheit, die Einsamkeit, die Krankheit auszudrücken und alle diese Fragen, die Einsamkeit und Verzweiflung, die Liebe und die Furcht, die quälenden Kindheitserlebnisse und das Schuldbewußtsein mit dem überlegenen Verstand, mit der Leidenschaft und der Bewußtheit eines am historischen Materialismus geschulten Menschen zu durchleuchten und in die Region der Poesie zu erheben.
Er rief den Sozialismus an, „die von der Freiheit geschaffene Ordnung“, jene sozialistische Gesellschaft, die von tiefem Humanismus durchsetzt ist. Mit all dem eröffnete er ein neues Kapitel in der ungarischen Dichtung, antizipierte aber auch viele, erst später sich entfaltende Errungenschaften der europäischen Lyrik.
„Nimm dich in Zucht!“ ermahnte er sich. Er erschloß Tiefen, verirrte sich aber nie in den Irrationalismus wie so viele seiner – auch nichtungarischen – Zeitgenossen. Er kämpfte für die Arbeiterbewegung, tat es aber nie in lauter oder anmaßender Weise. Er machte von allen großartigen Errungenschaften der 20er Jahre Gebrauch, von den freien Bildkonstruktionen, den aufgelockerten Assoziationen, den ungehemmt umherflatternden Gedanken, doch er verlor niemals die Zusammenhänge, verlor sich selbst nie in die Konfusion. Mit erschreckender Präzision beschrieb er seine seelischen Störungen, ohne aber weinerlich und hinfällig zu wirken. Er führte die ungarische sozialistische Lyrik weiter bis zur Vollendung. Sein Platz ist unter den großen Dichtern des sozialistischen Realismus, unter denjenigen, die in einer kapitalistischen Gesellschaft eine in der Ideologie sozialistische, zutiefst realistische, leidenschaftliche, anspruchsvolle Lyrik schufen, in der Reihe von Becher, Neruda, Lorca, Guillén, Aragon und Éluard. Die charakteristischste Form für diese Periode des Dichters ist das „lange Gedicht“, das „große Gedicht“, gedankliche Bauwerke, weltumspannende Konstruktionen. Bei ihrer Entstehung spielte erneut die französische Literatur eine Rolle, diesmal in der Person von Emile Verhaeren. Die Avantgarde, die Modewelle des Hermetismus verdeckten für lange Zeit, in welch hohem Maße die europäische Dichtkunst diesem großen Vorläufer verbunden war, wie vieles er in Gang gesetzt, auszusagen begonnen, der späteren Entwicklung vorweggenommen hatte.
Verhaerens Schaffen dürfte direkt oder indirekt schon auf Attila Józsefs Anfänge eingewirkt haben. Ein Meister und eine Quelle der ungarischen und europäischen expressionistischen Lyrik war neben Whitman (und setzen wir den selten erwähnten hinzu: Victor Hugo) Verhaeren, der belgische Dichter, mit seinen Stadt- und Fabrikdarstellungen, seinen Massenbildern und der Vision starker historischer Kräfte. Ihn hatten Kassák und jene deutschen Dichter in sich aufgenommen, die Attila József las. Es gab also eine frühe, in seiner Lyrik vollständig absorbierte Schicht von Verhaerens Einfluß. Aber es hat den Anschein, als wäre eine spätere Schicht hinzugekommen. Es ist durchaus nicht auszuschließen, daß Attila József, als er die großen Tableaus von „Nacht in der Vorstadt“ und andere dieser Periode entwarf, den belgischen Meister wieder gelesen hat. Ein Zeichen dafür könnte sein, daß er 1934 ein Gedicht von Verhaeren nachdichtete, also wieder in den beiden Bänden der Poemes, die zu seiner kleinen Bibliothek gehörten, geblättert haben dürfte. Feststeht, daß ein Teil von Verhaerens Themen denen Attila Józsefs nahestand, es wäre dem Forscher ein leichtes, eine Reihe von Analogien und Ähnlichkeiten nachzuweisen. Hat der Dichter doch in seiner „mittleren Periode“ die Stadt, die Masse, den Betrieb, den Hafen wieder heraufbeschworen, Schauplätze des modernen industriellen Lebens, die Masse, die Arbeiterschaft zitiert und – auch mit seiner präsozialistischen Ideologie – in den Werktätigen die Klasse der Zukunft gesehen; so schilderte er die eigenartige Schönheit der Betriebe, die düstere Größe der Schornsteine und Mauern, die für ihn die Werkstätten der Zukunft bedeuteten.
Eine Analogie findet sich jedoch nicht nur in den Themen, sondern auch in den einzelnen Motiven, in der Auslegung und Verlebendigung der Themen. Beseelt wird die Landschaft schon in der Romantik und natürlich auch in der symbolistischen Dichtung; Verhaerens Landschaft jedoch, das flache Flandern, das mit seinen Sümpfen gespenstisch an die „tote Gegend“ erinnert, wird vermenschlicht, von Visionen erfüllt. Die Kraft, der Wind, die Ebene, der Sumpf werden genauso zu alles umfassenden und erklärenden Prinzipien wie in den Landschaftsgedichten Attila Józsefs Anfang der 30er Jahre. Und Ähnlichkeiten finden sich auch in der auf einen Gesichtspunkt, ein Motiv konzentrierten Darstellungstechnik. Neben der Landschaft und dem Baum kann man auch in der zusammenfassenden Sinngebung und Darstellung der Masse, der Fabrik Analogien finden.
Die Strophenformen von Verhaerens mittlerer und später Periode, seine eigenartige Verstechnik sind von denen der Gedichte vom Typ „Nacht in der Vorstadt“ und „Elegie“ nicht sehr entfernt. Schon in „Les Villages illusoires“ kommen Gedichte von diesem Typ vor wie „Le Sonneur“ mit Strophen verschiedener Länge, dazwischengestellten Zeilen mit auffallendem Wechsel von Beschreibung und Ausruf und innerem Rhythmus. Diese Art von Versbau kann tatsächlich als Vorbild für die Kompositionen Józsefs wie „Nacht in der Vorstadt“ und „Elegie“ angesehen werden, und es ist nicht auszuschließen, daß sie bei deren Entstehung eine Rolle spielten.
Auch wenn man diese Dinge als gegeben annimmt, so machten doch die Verhaerenschen Motive und Verhaltensformen bei Attila József eine Wandlung durch: Stadt, Landschaft, Masse, Fabrik, Arbeiter erscheinen bei dem belgischen Dichter in einem mysthischen Licht, zu einem Mythos vergrößert, er behandelt sie wie lebendige Kräfte unter dem Einfluß einer vitalistischen Philosophie. Dementsprechend treten bei Verhaeren die Züge der spätsymbolistischen Dichtung hervor, er ist auch immer etwas rhetorisch, aber auch zerfließend, zuweilen sogar nachlässig. Es besteht also eine Verwandtschaft in Motivik und Thematik, doch der ungarische Dichter konstruiert und gestaltet das Thema im Zeichen der marxistischen Gedankenwelt, und er schmiedet die lockere, manchmal zerfließende Form Verhaerens zu hartem Stahl, zieht sie durch innere Stränge zusammen. Es gilt also ein übriges Mal, daß Attila József all das verwendet, gestaltet und „aufbewahrt, was er abschafft“.
Auch der ungarische Dichter greift die großen Probleme des Jahrhunderts auf und löst sie auf marxistische Weise, auch er steht und kämpft bis zuletzt auf der Seite der Arbeiter und ihrer Partei. Er erlebte die Befreiung des Volkes nicht, er glaubte aber an sie und rief sie herbei, nicht mit einem oberflächlichen Optimismus, vielmehr auf Grund eines tieferen Begreifens der Wirklichkeit und der Gesetze der Geschichte. In der Art, wie er die Zerrissenheit der faschistischen Zeit darstellt und aus der Barbarei nach dem Licht strebt, erinnert er in vielem an den seinerseits verehrten und geliebten Bela Bartók, der allerdings zu einer früheren Generation gehört; darin aber, daß er den Ausweg in der Macht der Arbeiterklasse sah, zeigte er sich zugleich als Schüler und Meister der internationalen kommunistischen Literatur.
Auch in der künstlerischen Formung war er Koordinator und Bahnbrecher zugleich. Abgesehen von der kurzen Periode, in der er die expressionistischen freien Rhythmen kultivierte, stellt er jede Aussage unter die strenge Disziplin der Metrik. Aus seiner ganzen dichterischen und menschlichen Veranlagung und aus seinem dichterischen Programm folgt der Kampf um die bewußte, wohlgeordnete Disziplin. Ein Grunderlebnis für ihn war vermutlich der „trommelnde“ Rhythmus. Er verfügte über große Musikalität; man weiß nicht nur von Versen, die er – von Bartók inspiriert – schrieb, auch in vielen anderen Werken lassen sich Melodiereminiszenzen entdecken. In Aufsätzen über Verslehre befaßt er sich mit den spezifischen Problemen des ungarischen Versbaus, mit der Legierung des ungarischen jambischen Versmaßes und der akzentuierenden Form. In seinen Gedichten finden sich die verschiedensten Strophenformen: ungarische Formen, französische Melodien und klassische Pentameter. Er fühlt in der regelmäßigen Form eine intellektuelle Kraft und den Zwang zur Disziplin, die den Irrationalismus nicht zuläßt. Er stand schon am Ende seines Lebens, als er in einem Gedicht über seine Krankheit („Krankheitsgedicht“) aufseufzt:
Ein Glück, daß es noch Jamben gibt, an die man sich klammern kann. So lernt das Kind laufen…
Auch in seiner Sprache faßt er die Errungenschaften der Vergangenheit zusammen, während er zugleich Bilder aus dem Arbeiterleben und der Arbeiterbewegung zwanglos in die Dichtkunst einbezieht, so daß sie im Hochofen seiner Begabung mit den Worten der traditionellen Dichtersprache verschmelzen. In zahllosen Bildern gebraucht er Motive aus dem Leben der Werktätigen, der Arbeiter und Ackerbauern, und Beweise seiner intellektuellen Kraft sind die vielen Zusammenziehungen, Verdichtungen, mit der Prägnanz von Sprichwörtern definitiv formulierten Zeilen, die heute schon für die Bezeichnung gewisser Erscheinungen allgemein gebräuchlich und nicht nur von der dichterischen Sprache akzeptiert worden, sondern auch in die Umgangssprache eingedrungen sind.
All das wäre natürlich nur eine leere Hülle, ein Programm, wenn nicht die Kraft einer besonderen Persönlichkeit dahinter stünde. „Du harte Seele, du weiche Phantasie…“ – wie sehnte er sich nach Reinheit, nach Freude, nach Auflockerung! Ein versonnener, über vieles nachdenkender, sich nach Freude sehnender, unendlich liebebedürftiger, ernster und verspielter Mann steht hinter den Gedichten, der weiß: „Sieh, Leben ist Kampf, verschleudere dein Vertrauen nicht“, der aber gleichzeitig selbst in den schwierigsten Minuten gern mit mozartischer Heiterkeit über die Dinge hinwegschwebt und am Ende eines der gedankenschwersten und erschütterndsten Liebesgedichte der Weltliteratur einen Seufzer wie diesen auszustoßen vermag:
Der Zug rollt an. Ich fahr dir nach.
Vielleicht find ich dich heute noch.
Vielleicht verlöscht mein Glutgesicht,
Vielleicht sprichst du dann leis zu mir:
Das Wasser plätschert. Wasche dich.
Hier hängt das Handtuch. Trockne dich.
Hier zischt am Herd das Fleisch im Fett.
Hier, wo ich liege, ist dein Bett. (Franz Fühmann)
Würden wir ein Gedicht aussuchen wollen, das diese ausgereifte Periode zusammenfaßt, fiele uns die Wahl schwer. Soll es „Nacht in der Vorstadt“ sein, dieses erschütternde Panorama der öden Ausweglosigkeit des damaligen ungarischen Arbeiterschicksals, mit dem erschütternden Treuebekenntnis am Ende? Oder die „Elegie“, dieses Zukunft gestaltende, in der Gegenwart aber die Zugehörigkeit zu der so düsteren Vorstadt bekennende Poem? Oder die „Ode“, diese große Symphonie von der Liebe des modernen Menschen? Oder die Strophen von „Abscheu“, in denen sich die Greuel der eigenen Kindheit und das Elend einer Arbeiterfamilie zu einem großen Tableau vereinigen? Oder doch am ehesten „Am Rand der Stadt“, diese große gedankliche Zusammenfassung von Dichter und Klasse, Dichter und Nation, dieses Meisterwerk von Attila Józsefs Gestaltungs- und Formkunst, der Gipfel der materialistisch-philosophischen Dichtkunst und höchstes Beispiel im Weltmaßstab? Oder doch noch lieber die „Winternacht“ mit ihrer genauen, dabei doch graziös beschwingten Struktur, dem großen Bekenntnis eines intelligenten Menschen, der der Stille, dem Tod, dem Nichts in die Augen sieht, eines Menschen, der bis an die Grenze des Nihil schreitet, dort aber umkehrt. Stets steht am Ende dieser so schwere Schicksale heraufbeschwörenden Gedichte das Bekenntnis der Standhaftigkeit:
Du Nacht der Armen! Sei meine Kohle,
die brennend alles aus mir hole… (Géza Engl)
*
Von einem Gedicht wollen wir doch ausführlicher sprechen, von „Besinnung“, das der Dichter 1934 schrieb und das aus zwölf Teilen besteht.
Kreuzweg, Scheideweg, Zusammenfassung, Abschluß der bisherigen Laufbahn – das ist „Besinnung“, und das sollte das Gedicht in seiner komplizierten, vielfältigen Formung auch sein. Darin sind die großen, philosophisch formulierten Widersprüche der Welt und der Zeit zusammengefaßt: Kindheit und Menschwerdung, Instinkt und Bewußtsein, Traum und Wachsein, Persönlichkeit und Wirklichkeit, Außen und Innen, Gesetz und Ausnahme, Freiheit und Notwendigkeit, Liebe und Härte – all das, was der Dichter zutiefst durchlebte und durchlitt. Der Schnittpunkt oder – wenn man will – der Treffpunkt der Gegensätze ist im dichterischen Ich, im Subjekt, und dieses ist im Gedicht der leidende und hungernde, einmalige Mensch und die vielfältige, alles überschauende Persönlichkeit zugleich, der aktive Mensch der Arbeiterbewegung sowie der nach Liebe dürstende Einsame. So tat Attila József einen Schritt in die Richtung des marxistischen Menschenbegriffs, der marxistischen und zugleich dichterischen Formulierung der Bewußtseinsgestaltung des Menschen und deren Gesetze; damit trat er aus der dogmatischen Enge heraus, die seinerzeit und in seinem Kreis von einem schmalspurigen Ökonomismus beherrscht war… Zugleich aber hütete er auch die Denkungsart und Methode der Klassiker des Marxismus, die er weiter ausbaute. Er dachte die Gedanken als intellektuelle Probleme, aber auch als persönliche, quälende Fragen zu Ende, erwog auch andere Lösungen, doch immer mit der Absicht, den Marxismus zu bereichern und zeitgemäß weiterzugestalten.
Fremd, absurd, sinnlos, grausam und kalt kam dem Dichter die Welt vor, in der er leben mußte, während er voller Sehnsucht nach Schönheit und Harmonie war, die ihm nie zuteil wurden. Er durchlebte die Greuel, hielt sie aber nicht für unabänderlich, er empfand die grotesken Absurditäten, bemühte sich aber um eine Erklärung, damit der ordnende Verstand Herr über das Chaos werde.
Das Ringen mit den großen Fragen der Welt, des Individuums, der Philosophie, die Beantwortung der abstraktesten und doch ganz persönlich erlebten und erlittenen Fragen verleihen dem Gedicht die innere Spannung und auch seine sich aus den Gegensätzen ergebende Einheit. Das intellektuelle, philosophisch umgedeutete Erlebnis erfordert eine besondere Form. Aus literarischen Traditionen; heimatlichen und ausländischen, gestaltet der Dichter eine Form, die das Drama des Gedankens, die aufgelösten und nicht aufgelösten Kontraste adäquat zu tragen vermag, die episch, dabei aber doch reflexiv, eine logische Konstruktion, aber doch nicht starr ist. So entsteht die Mikro- und Makrostruktur von „Besinnung“, ein bald in gespanntem Gleichgewicht befindlicher, bald dialektisch streitender, die Kontraste herausstellender Zustand. Das Verhältnis Persönliches-Allgemeines wird durch die Beleuchtung des Abstrakten durch das Konkrete, die Belebung des Abstrakten, die Umwandlung der Begriffe in Lebewesen, Menschen, Natur, Gesellschaft erfaßbar gemacht. Die überaus bildreiche Textur steigert die Spannung des Gedichtes; die glitzernden, die Ebenen wechselnden, komplexen Bilder steigern den überraschenden, verblüffenden Effekt und verleihen ihm den Wert von wichtigen Nachrichten. Der Dichter verstand es, sein persönliches Grübeln und dessen allgemeine Auflösung spannend, überraschend, aufregend, Neues vermittelnd zu gestalten, auch ästhetisch in der Formgebung; und dadurch ergibt sich aus der wiederholt erwähnten philosophisch-weltanschaulichen Lösung nicht das Gewohnte, sondern das Neue, aus der Wiederholung das Überraschende. Die Lösung des Geheimnisses worin die nicht nachlassende Wirkung dieses Gedichtes liegt, ist vielleicht eben darin zu finden, daß die heute oft gehörten, wiederholten Grundwahrheiten wie überraschende Neuigkeiten aufleuchten und das persönlich Erlittene dank der dichterischen Technik den hohen Wert marxistischer Philosophie erhält. In jedem Mikroelement des Gedichtes fühlt man den Kontrast von Spannung und Auflockerung, den erreichten Höhepunkt, den synthetischen Rhythmus von Behaupten und Leugnen, den Bogen: Aufstieg – erreichter Gipfel – Verweilen – Abstieg bei ständigem Wechsel der Gefühle. Eine derart gespannte Einheit von Bildhaftigkeit und philosophischem Inhalt auf so hohem, ausgereiftem Niveau und dabei so sparsam und bündig – das findet so leicht nicht seinesgleichen, weder in der ungarischen noch in der Weltliteratur.
Das Gedicht ist eine eigenartige, komplexe Einheit, und in dieser Einheitlichkeit ist auch seine neuartige ästhetische Qualität zu suchen, das neue Schönheitsideal, das es verkörpert. Zugleich aber auch eine neue Kunstgattung: das dramatisch-philosophische, dialektische Poem, den komplexen Typ eines Gedichtes, dessen Fortführung in der ungarischen Lyrik erst in neuester Zeit zu beobachten ist.
Die komplizierte, vielschichtige Struktur des Gedichts ist Ausdruck komplizierter und quälender Probleme; die Zusammenfassung der Kontraste in einer Komposition, ihre Zusammenfügung zu einer Einheit in Form und Inhalt beweisen die große Stärke des Dichters und das Ordnungsvermögen des Marxschen Gedankens. Durch diese beiden Mittel wird der Dichter Herr über die Widersprüche der Welt und über seine eigenen Zwangsvorstellungen dank der Disziplin wissenschaftlichen Denkens, die er sich auferlegt. Im Endeffekt dieses Sieges und all der anderen Momente ist „Besinnung“ das einmalig Große, das zusammenfassende, realistische Gedicht geworden.
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Von der einmal erreichten Höhe stieg der Dichter nicht mehr hinab, er blieb bis zu seinem Tod auf dem Gipfel, wiewohl noch schwerere Jahre folgen sollten. Die Lage in Ungarn wurde immer düsterer.
Im Grunde blieb der Dichter ein einsamer Mensch. Wohl fanden sich verständnisvolle Kritiker; die Arbeiter und ein Teil der linken Intelligenz kannten und verehrten ihn in diesen späten Jahren. Wenige indessen erkannten die epochale Bedeutung des Dichters. Die politische Rechte haßte ihn natürlich (erst nach seinem Tode versuchte sie, ihn für sich mit Beschlag zu belegen). Der Nyugat-Kreis betrachtete ihn stets mit einigem Befremden, und den Volkstümlern gegenüber hegte er selbst nicht unbegründete Bedenken. Um 1936/37, zur Zeit der Volksfrontpolitik, brachte ihm die kommunistische Partei wieder ihre Wertschätzung entgegen, doch der Dichter gehörte ihr nur noch ideologisch an, organisatorisch nicht mehr. Eine Schule, ein Lager um ihn entstand zu seinen Lebzeiten nicht.
In seinen letzten Lebensjahren waren seine Verhältnisse einigermaßen geordnet. Anfang 1936 wurde er Mitherausgeber der literarischen Zeitschrift Szép Só und war für das Ressort Lyrik verantwortlich. Szép Só war ein fortschrittliches Blatt von kritischem Geist, angesiedelt auf der linken Seite des ungarischen literarischen Lebens. Im großen und ganzen könnte man es radikal-liberal nennen. In gewissen Fragen herrschte Einverständnis zwischen den Leitern der Zeitschrift und dem Dichter, obgleich ihn von diesen politische und grundsätzliche Gegensätze trennten. Er kümmerte sich um die Lyrik und schrieb einige Kritiken, „der arme Poet liest Unmengen von Manuskripten, macht den Umbruch in der Druckerei, liest Fahnenabzüge“, heißt es in einem Brief, und in einem Gedicht ermahnt er sich selbst zu genauer und guter Arbeit. Jedenfalls hatte er das Gefühl, einen Platz in der Welt errungen zu haben. Und diese Welt war – wie bereits gesagt – jetzt irgendwie verheißungsvoller; es heißt zwar in einem Gedicht: „Ihn fraß der Krebs nur. An der Menschheit Saat / frißt tödlich schrecklicher der Dschungelstaat“, aber es gab auch Lichtblicke: In diesen Jahren entstand die französische Volksfront, das Ansehen der Sowjetunion stieg weiter, in Ungarn kam die faschistische Reformpolitik zu Fall, und die vage Möglichkeit einer ungarischen Volksfront begann sich abzuzeichnen.
Jedoch die Klarsichtigen sahen bereits die Schatten des Krieges heraufziehen, und Ungarn wurde immer fester an Berlin gekettet. Der Gesundheitszustand des Dichters verschlechterte sich zuletzt. Die Krankheit (Schizophrenie) – verstärkt durch eine Folge von Schicksalsschlägen –, die bisher in einem schleichenden Stadium verharrte, bemächtigte sich seiner immer mehr, und sein Zustand verschlechterte sich während der Behandlung durch einen Analytiker. Ende 1936 und Anfang 1937 nahm sein Zustand klinische Formen an. In seiner Gedankenwelt bedeutete Freudismus nicht nur eine Therapie, sondern ein alles erklärendes Prinzip, das, vereint mit dem Marxismus, die schwierigsten Fragen beantworten könne.
In Attila Józsefs Dichtung mehren sich nicht die Zeichen der Krankheit, sondern die die Krankheit beschreibenden, erschütternden Verse. „Oh, ihr sollt mich lieben toll, / damit ich nicht mehr leiden soll“ ist ein ebenso erschütternder Ausruf wie mancher andere, denen man in „Unerträglich“ begegnet. In genauen und eindringlichen Bildern und festgefügten Versen gibt er die fürchterlichen Symptome der Krankheit bekannt, indem er mit der aus der analytischen Behandlung gewonnenen Bewußtheit in die Tiefenschichten seiner Seele hineinleuchtet. Er schreibt, man möchte fast sagen, „freudistische Volkslieder“.
Ist diese Lyrik krankhaft? Das Erstaunlichste ist, daß man diese Frage mit nein beantworten kann. Vor allem: Er kennt die letzten Ursachen seines Zustands am besten:
Hier drinnen, siehst du, ist das Leiden,
doch draußen das, was es erklärt.
Die Welt ist deine heiße Wunde,
ihr Glühn macht, daß die Seele schwärt. (Franz Fühman)
Die Schizophrenie als Krankheit kündigt sich in seinen Gedichten bereits 1934, doch stärker erst 1935/36 an. Er beeschreibt und objektiviert die Krankheit, so bereits 1935 in den Sonetten und dann bis zu „Dämmerung“ in einer ganzen Reihe seiner großen Gedichte. Ein ergreifendes Beispiel dafür, wie er sich bemüht, seine Zwangsvorstellungen, Visionen und Beklemmungen definieren, in strenge Formen zu gießen, zu beschreiben, auf jeden Fall aber sie bewußt zu machen und dichterisch zu erhöhen: „Ich lausche den Nachrichten, die mein eigenes Wort aus meiner Tiefe holt“; fleißig notiert er die „Nachrichten“: das Schuldbewußtsein, den Vaterkomplex, die Gefährtenlosigkeit, die Flucht zur Mutter, die Zersetzung des Ichs.
Was ich so nannte: ,Ich‘, das gibt es nicht mehr. Ich kaue an den letzten Krümeln, bis dieses Gedicht fertig wird…
Doch nicht nur der Kampf des klaren Bewußtseins, des analytischen Verstandes mit den sie überwältigenden Zwangsvorstellungen ist in den Gedichten zu finden, sondern auch immer wieder der Sieg über die Krankheit. Der Sieg, leise, aber entschieden ausgedrückt in dem Satz:
Ich bin nicht verrückt.
Sieg ist auch in dem Geständnis:
Hoffnung für mich war von Beginn nur ich.
Der größte Sieg ist aber, daß diese Gedichte, diese unerhörten künstlerischen und menschlichen Leistungen, zu Papier gebracht werden. Und in den Gedichten ist über das persönliche Leid, über Einsamkeit und Krankheit hinaus immer auch der Schmerz der Gemeinschaft enthalten, hinter der persönlichen Einsamkeit das Leid und die Verlassenheit des Volkes; hinter der Verzweiflung des Individuums die große Verzweiflung der Menschheit. Nur aus diesem zweifachen Aspekt, mit der zweifachen Lichtbrechung sind diese Gedichte richtig zu verstehen. Und was das Erschütterndste ist – gerade in der Zeit, als nach klinischer Diagnose sein Zustand am schwersten ist, als er Monate im Krankenhaus zu bringt, im Jahre seines Todes, 1937, schwingt sich seine Dichtkunst in allerhöchste Höhen. Gemeinsame Charakterzüge der meisten Gedichte aus dem Jahre 1937 sind Erhebung und Übersicht, Gelassenheit und Zutrauen, ruhiger Atem und geläuterter Ton, hinaustreten aus dem engeren Kreis der Krankheit in einen weiteren politischen, allgemein menschlich-nationalen Horizont; es erklingt sogar die Stimme des so lange vermißten Humors, des Spottes und der Neckerei, dazu auch die Stimme des politischen Pathos und – rein und ätherisch, wenn auch mit dem Beigeschmack von Abschied – das Liedhafte.
Nach dem Bruch mit Judit und einigen flüchtigen Liebschaften tritt am Ende seines Lebens das große Erleben ein, die Liebe zu Flora, eine Liebe, die größer und reiner war als jede zuvor. Er wurde Anfang 1937 mit dem klugen jungen Mädchen von eigenartiger Schönheit bekannt, und es war, als brächte sie die Erlösung für ihn, als wäre sie die erträumte Frau, die Schönheit, die Klugheit. Liebe war für den Dichter immer mehr als sexuelle Anziehung. „Ein Bündnis ist das, nicht nur Liebe“, schrieb er einmal, und es war tatsächlich ein Bündnis im Kampf gegen die finsteren Mächte der Welt, für Güte und Klugheit, ein Ausbruch aus den würgenden Griffen der Welt, ein Erwachen zu neuem Leben. Schon ein Jahr davor hatte er den Ausruf getan:
Wer würde mit mir das All
in Stücke schlagen, Frauen?
Jetzt aber fleht er herzergreifend:
Kummer, unerträglich
in der Aufhäufung.
Floras schöne Liebe,
mach mich wieder jung! (Günther Deicke)
Nach dieser großen, läuternden und erhebenden Liebe vermag der Dichter im größten der Flora-Gedichte die eigene Erhebung, das körperliche Begehren mit dem Kampf für die bessere Zukunft des Volkes und der Menschheit zu verschmelzen. Sämtliche großen Themen seines Lebens, Kindheit und Gemeinschaft, Politik und Humor, tränenfeuchte Zärtlichkeit und Trauer ertönen zugleich:
Gut zwei Milliarden schlagen mich in Ketten,
als ihren Wachhund hätten sie mich gern,
aus ihrer Welt möchten sich südwärts retten
Güte und Zartheit, ach, sie sind schon fern.
Die Welt da kann ich nicht ans Licht mehr halten
wie Stoffe, die im Reagenzglas walten.
Besiegt bin ich, Mitleid! Und muß erkalten,
wirst du nicht, Liebe, Rettung mir und Stern. (Stephan Hermlin)
Eine geläuterte Erhebung, und ein Blick in neue Perspektiven kündigen sich an in den Gedichten der letzten Jahre. Und das wird nur möglich, weil er tiefer als je die Unterdrückung der Menschen, der Armen und Zertretenen, die verderbliche, Menschen zugrunde richtende und beschämende Wirkung des Faschismus erlebt. Er schuf die wahrste – weil am tiefsten blickende – antifaschistische politische Lyrik. Auch aus dem spanischen Bürgerkrieg zitiert er den verdummten, gegen sein eigenes Blut in den Kampf gezwungenen Menschen. Ironie, Zorn, Groll und Spott sind abwechselnd seine Waffen, wenn er über dieses Thema schreibt.
Am wuchtigsten bricht aus ihm der Schrei hervor, als 1935 bei den berüchtigten „offenen“ Wahlen Endre Bajcsy Zsilinszky – der tapfere Politiker, den später die Faschisten hinrichteten – in seinem eigenen Dorf zu Fall gebracht wurde.
Das ist nicht Ordnung! Meiner Seele Streben
aaaist niemals hier zu Haus.
Ich glaub nicht an ein Sein, wo leichtres Leben
aaadurch Tücke zahlt sich aus,
auch an ein Volk nicht, das bei Wahlen zittert,
gesenkten Blicks nur faule Antwort wittert
aaaund lacht beim Leichenschmaus. (Annemarie Bostroem)
In seinen theoretischen Schriften befaßt sich der Dichter um diese Zeit immer wieder mit dem Problem der Umgestaltung des menschlichen Bewußtseins, und auf diesem Boden, die Entsetzlichkeiten der Zeit zutiefst empfindend, entrüstet über die Hinfälligkeit der Menschen und dennoch auf sie vertrauend, entfaltet sich die neue politisch-nationale Lyrik des letzten Jahres. Und wenn man immer schon sagen konnte, daß Attila József Vertrauen in die Zukunft hatte, daß er seine Verzweiflung zu überwinden vermochte und für die Menschheit den Anbruch einer besseren Zeit erhoffte, so gilt das für diese letzten Gedichte in gesteigertem Maße. „Der auf dem historischen Materialismus beruhende wissenschaftliche Sozialismus verspricht eine freiere Welt, an die zu glauben es sich lohnt“, schreibt er in einer Kritik, und in einem programmatischen Artikel seiner Zeitschrift, „Redaktionelle Mitteilung“ überschrieben, drückt er ebenfalls dieses Bekenntnis aus. Der schwerkranke, von einer Klinik zur anderen wandernde Dichter erhebt sich über die Tiefen. Im Jahre 1936 schreibt er das Gedicht „An der Donau“, eine großzügige Vergegenwärtigung des historischen Ablaufs, in der er auf dem Gipfel des glühenden Chauvinismus für das zusammenstehen der gegeneinander aufgehetzten Völker an der Donau eintritt. Im Februar 1937 hielt Thomas Mann eine Lesung in Budapest ab. Aus diesem Anlaß schrieb Attila József ein Gedicht, das er als Einleitung des Leseabends sprechen wollte – die Polizei verbot es. Dieses Gedicht ist ein starkes Bekenntnis zum europäischen Humanismus:
Das ist’s: Wenn du sprichst, brennt noch unser Licht,
es leisten auf ihr Mannsein nicht Verzicht
die Männer, Frauen lächeln wunderbar.
Noch gibt es Menschen, doch sie wurden rar… (Géza Engl)
Die Vision der „schönen Freiheit“, der „menschenfreundlichen Ordnung“ kommt immer häufiger bei ihm vor:
Komm, Freiheit, Ordnung sollst du mir gebären,
ihn lehren und ihm auch das Spiel gewähren,
dem schönen, ernsten Sohn. (Annemarie Bostroem)
„Mein Vaterland“, diese große Schöpfung der ungarischen patriotischen Lyrik, ist eine Folge von sieben Sonetten und die Ankündigung des nationalen Unabhängigkeitskampfes gegen Hitler-Deutschland. Zuvor flößt uns ein verblüffend genaues Panorama des Landes die Überzeugung ein, die Nation könne vollkommen unabhängig nur dann sein, wenn die innere soziale Umwandlung vollzogen ist; und auf dem Gipfel der Dichtung des Jahres 1937 steht die Ars poetica, ein Hymnus für die unbegrenzten Möglichkeiten des menschlichen Geistes, Gemeinschaftslyrik im höchsten Sinn des Wortes. Der Glaube, den der Dichter äußert, ist um so wahrhaftiger, der Ton, den er anschlägt, um so authentischer, als er seine Äußerungen inmitten von erlebten Widersprüchen und Nöten, eigener Krankheit und Leiden tut und eine Perspektive vom Boden illusionsloser Realitäten aufzeigt. Der Dichter, der die Verlassenheit des ungarischen Volkes zutiefst erlebt, der leidende und das Leid zutiefst miterlebende Mensch schwingt sich zu Höhen auf, von denen aus er für eine ganze Nation oder vielleicht für die ganze Menschheit das Wort führen kann. Er wächst zu einer Universalität empor, weil er das Leiden so durchaus begreift, weil er aus der größten Tiefe hinaufsieht und die noch so tief gefallene Menschheit nicht verachtet.
Es hat den Anschein, als sollte eine in der Sprache, in den Formen neue Periode seiner Dichtkunst beginnen. Es entstehen gelassenere, geläutertere und zugleich weiter gespannte Gedichte von sonderbarem Pathos in immer prägnanter werdenden Versen. Die feste Struktur, das genaue gedankliche Gerüst bleibt bestehen, aber der Ton wird heller; die kühnen Bilder und Assoziationen sind immer noch da, doch eine gesteigerte Disziplin hält sie in Zucht. Aus den früheren Landschaftsgedichten werden Stimmungsbilder am Anfang von Gedichten, Tatsachenmaterial und Beschreibung fügen sich harmonisch in das Gewebe der Gedichte ein.
Es folgen die letzten Monate. So wie die Kindheit das Thema für einen romantischen Roman abgeben könnte, könnten die letzten Tage zum Vorwurf für ein Gemälde mit dem Titel „Dichterschicksal“ dienen. Bleigrauer Himmel, klatschender Novemberregen in dem menschenleeren Badeort am Balaton. Unter den letzten Gedichten ist ganz besonders das allerletzte ein endgültiges Abrechnen, eine weise Summierung der entschwundenen Jugend.
Im Windsturm lebend, mußt ich schauen,
daß ich mich aufrecht halten kann.
Was ich verbrochen, ist zum Lachen:
nicht mehr, als andre mir getan.
Der Lenz ist schön, und schön der Sommer,
am schönsten Herbst- und Winterzeit
für einen, der auf Heim und Kinder
sich nur noch für die andern freut. (Géza Engl)
Der letzte Akt: ein kurzer Brief an seinen Arzt:
Sie haben das Unmögliche versucht, vergebens.
Zwei zankende Schwestern und quengelnde Kinder im kleinen Zimmer der Pension, die Bekannten und Flora sind in Budapest – so sieht der Schauplatz der Tragödie aus. Die kleine Eisenbahnstation, der lange Güterzug sind die Vollstrecker. Der Dorfnarr ist der Bote antiker Tragödien. Aber auch der Umstand, daß er Selbstmord begeht, indem er sich vor den Zug wirft, ist symbolisch, und die Symbolik wurde bereits von seinen Zeitgenossen bemerkt. Der Eisenbahnzug, der das Lebenslicht des großen, zur Universalität emporgewachsenen Dichters der Ungarn auslöscht, rast dem Faschismus und dem Krieg entgegen. Einige Monate nach seinem Tod wird das Verhängnis Wirklichkeit. Am 15. März 1938 besetzen die deutschen Truppen Österreich, und damit erfüllt sich das Schicksal Mitteleuropas. Die Freunde zerstreuen sich, der eine emigriert, der andere wird zum Verräter; manche gehen zugrunde, nur wenige halten stand. Des Dichters Name aber leuchtet fort in den finstersten Jahren.
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Jolán József erzählt, er habe ihr am letzten Tag, am Morgen dieses grauen 3. Dezember 1937, ein Gedicht von Victor Hugo aus dem Band Châtiments vorgelesen, aus dem er das Gedicht „Ultima verba“ für seinen Verleger, Imre Cserépfalvi, übersetzen sollte:
La conscience humaine est morte; dans l’orgie,
sur elle il s’accroupit; ce cadavre lui plaît;
par moments, gai, vainqueur, la prunelle rougie,
il se retourne et donne à la morte un soufflet.
„Die menschliche Vernunft ist tot“, so formulierte der Dichter Hugos Zeilen für die Familie, und wie zutreffend war der zornige Ausruf Victor Hugos für die Lage unseres Dichters, für seine Zeit und für seinen Abschied vom Leben und von der Literatur.
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Für den deutschen Leser wäre es vielleicht von Interesse zu erfahren, welche Beziehungen Attila József zur deutschen Kultur und Literatur hatte. In seiner Frühzeit wandte er sich intensiver der französischen als der deutschen Literatur zu. Eine gewisse Deutschfeindlichkeit, die in Ungarn immer vorhanden war, dürfte dabei mitgespielt haben. Während seines Aufenthaltes in Österreich trat eine Veränderung ein. Vom Ende der 20er Jahre an konnte er zweifellos bereits gut deutsch lesen, davon zeugen Hinweise in seinen Artikeln und Kritiken.
In den Jahren seiner reifen Dichtung, nach 1930, las und studierte Attila József die wichtigsten Werke der deutschen Kultur, der Literatur und Philosophie. Den Einfluß dieser Lektüre und Studien verrät auch seine damalige Dichtkunst.
In einem seiner wichtigsten Gedichte, „An der Donau“, steht die Zeile:
Schön war die Wahrheit aus des Vaters Munde
aus Mutters Munde war die Speise süß.
Wer wird dabei nicht an Goethes Xenie „Vom Vater hab’ ich die Statur, / Des Lebens ernstes Führen. / Vom Mütterchen die Frohnatur / und Lust zu Fabulieren…“ denken.
Vom Ende der 20er Jahre an ist in Attila Józsefs Werken die Spur Hegels immer deutlicher wahrzunehmen, so auch in den Artikeln und Zeitschriften, in denen er ihn auch zitiert. Das eine und andere Werk Hegels gehörte zu seiner kleinen Bibliothek. Deutsch las er natürlich Marx, wälzte die bekannten Bände der MEGA, und sicherlich las er Freud sowohl in ungarischer Übersetzung als auch im deutschen Original.
In seinem letzten Lebensjahr kam er – darüber wurde an anderer Stelle bereits ausführlich gesprochen – persönlich mit jenem deutschen Schriftsteller zusammen, von dem er auch bis dahin schon viel gelernt und viel gelesen hatte: mit Thomas Mann. Die Forschung hat nachgewiesen, daß bereits die 1933 entstandene großzügige „Ode“, dieses eigenartigste Liebesgedicht, von der Lektüre des Zauberbergs nicht unberührt war. Die anderen Werke und noch mehr die antifaschistische Publizistik Thomas Manns wurden sehr früh in Ungarn bekannt. Den in den Kreisen der radikalen Linken hochgeschätzten Schriftsteller Thomas Mann durfte der Dichter im Februar 1937 mit jenem Gedicht begrüßen, das er dann an dem Leseabend Thomas Manns nicht vortragen durfte, weil es die Polizei verbot.
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Es fragt sich, wo der Platz Attila Józsefs in der modernen europäischen Lyrik sei, wo man ihn im Koordinatensystem unterzubringen habe. Es war die Zeit der „deuxième avantguerre“ der dreißiger Jahre. Die fieberhafte und glühende Welt der zwanziger Jahre, der oft unverantwortlichen Verspieltheit war zu Ende gegangen; dunkle Schatten zogen auf, die Stimmen der Dichter und Romanciers wurden ernster, die Umrisse neuer Verhaltensmuster begannen sich abzuzeichnen. Wir neigen dazu, diese Zeit als Vergangen abzutun, dennoch kann auch der heutige Mensch Lehren aus ihr ziehen. In dieser zweiten Vorkriegszeit unseres Jahrhunderts entfaltete sich die Lyrik Attila Józsefs und beschwor die Tiefen und die Verworrenheiten der Epoche herauf. Auch er gehörte zu denen, die – wie manche seiner Generation – fähig waren, die großen Widersprüche und Verwicklungen ihrer Zeit in ihre Lyrik einzufangen.
Außer der zeitlichen und zeitgebundenen allgemeinen Verwandtschaft zählt Attila József zu den Dichtern, die von den Ismen ausgegangen sind und diese in Richtung eines neuartigen, modernen Realismus weiterentwickelten. Sein Bestreben hatte nichts mit dem noch so wohlgemeinten Naturalismus vom Ende des 19. Jahrhunderts zu tun, sondern gestaltete einen mit neuen Ergebnissen und Mitteln bereicherten Realismus höherer Ordnung, eine neuartige Harmonie, eine moderne Klassizität heraus. Ein derartiges Streben nach einer gelasseneren Darstellung des realen, modernen sozialen Lebens ist, glaube ich, ebenfalls ein allgemeines und auch bei anderen, von Spender und Auden bis Umberto Saba, zu finden. Dennoch scheint mir, als stünde Attila József denen am nächsten, die diesen Weg unter dem Einfluß und im Dienst einer sehr klaren politischen Vorstellung, einer sozialen Aussage und eines festumrissenen Weltgefühls gegangen sind. Er gehört also in die Reihe solcher Meister wie Éluard, Neruda, Lorca oder Guillén. Auch er hatte aus der brodelnden und aufbegehrenden Zeit der Ismen gelernt, was zu lernen war, und wieder abgelegt, was zu sehr an eine bestimmte Zeit gebunden und überholt war; er war durch diese Schule gegangen, ließ sich aber nicht auf sie festlegen, er verwendete ihre Errungenschaften, gestaltete sie aber um.
Er schaltete sich in den großen Strom der europäischen sozialistischen Dichtung ein, in die Reihe jener, deren Laufbahn und Denkungsart und deren Schaffen von den großen Gedanken unserer Zeit, dem Marxismus, berührt und befruchtet wurde. Er gehört in die Reihe jener, die das Gedankensystem von internationaler Geltung übernommen, es ihrer nationalen Tradition angeglichen, mit den Fragen ihrer Zeit und ihres Volkes überdies auch mit den Farben ihrer Persönlichkeit bereichert haben. Damit erreichte er zugleich einen höheren, den der zwanziger Jahre überragenden Grad der internationalen Arbeiterbewegungs-Lyrik. Um dafür nur ein Beispiel anzuführen: Die Großstadt in ihren Ausmaßen und Verworrenheiten war in dieser Dichtung kein mit Abscheu wahrgenommenes romantisches Chaos (denn das war sie sowohl in der deutschen Dichtung vom Ende des Jahrhunderts, mit ihrem Abscheu und Horror vor der Großstadt, wie auch in Verhaerens mythisiertem Schauplatz der modernen Industrie), sondern eine selbstverständliche, gegebene Wirklichkeit, deren Schönheit, Sinn und Wichtigkeit der Dichter schon lyrisch widerspiegeln konnte. Und auch die Arbeiterschaft behandelte er nicht mehr als einen Block von mythisch stilisierten Gestalten, sondern als eine neue Klasse mit eigenem Lebensgefühl und eigener Lebensform. In dieser Beziehung ging Attila József den gleichen Weg wie die Sowjet-Dichter oder Aragon, Neruda und Becher, die mit ihren Werken die aufrüttelnde und befruchtende Wirkung der Arbeiterbewegung und ihre künstlerische Verwendbarkeit bewiesen.
Weitere Parallelen ließen sich andeuten. Man könnte sagen, daß Attila József mit seinem Gedankenreichtum und seiner philosophischen Neigung den Weg jener ging, die sich um die Schaffung einer großen philosophischen Lyrik bemühten. So besteht zwischen ihm und Valéry oder dem ihm scheinbar fernstehenden T.S. Eliot – wenn auch mit gegensätzlichen politischen und gedanklichen Inhalten – eine Verwandtschaft. Indem er jedoch die Tiefen der Seele zu analysieren, zu systematisieren, zu zügeln und darzustellen vermochte, glich er sich wiederum den tiefsten Bestrebungen der europäischen Lyrik an. Mit seiner formschöpferischen Kraft, seiner Disziplin und gezügelten Verspieltheit zeigt er eine neuartige Harmonie, einen neuen Klassizismus an.
Letztlich und endlich erinnert er auch, weil er sich nie scheute, alle Schrecknisse und Leiden heraufzubeschwören, weil er sich über das Leid zu erheben und aus der fundamentalen Disharmonie der Zeit, der Kunst, des Einzelnen und der Gesellschaft eine Harmonie aufzubauen, aus der Dissonanz eine Konsonanz höherer Ordnung zu schaffen vermochte, erinnert er an seinen Landsmann und älteren Meister Bela Bartók.
Miklós Szabolcsi, Vorwort
auch wenn wir nichts von seinem Leben, seinem Werdegang wissen. Anders stehen wir jedoch zu ihm, wenn wir uns eine Vorstellung von dem Land, der Stadt machen können, wo er herkam, von den Verhältnissen, die ihn formten. In höherem Maße gilt das für Attila József, den bedeutendsten ungarischen – und nicht nur für Ungarn bedeutenden – Dichter des Sozialismus, den Vorstadtproletarier, dem, wenn auch nicht das Dichtergenie, so doch das, was er damit vollbringen konnte, weitgehend die Lebensumstände bescherten. Einen persönlichen Kontakt mit diesem großen Dichter soll der vorliegende Band gewähren. Die Mittel dazu sind: ein eingehendes Charakterbild als Einleitung von Prof. Miklós Szabolcsi, eine Anzahl Prosaschriften von dem Dichter und über den Dichter, Dokumente seines schweren, kurzen Lebens und seines tragischen Endes, viele Fotos von ihm und den ihm nahestehenden Personen und Dingen, und nicht zuletzt zahlreiche ausgewählte Gedichte in deutschen Nachdichtungen, die, verteilt auf die Lebensabschnitte und eingefügt in die aktuellen Dokumente, überzeugender wirken und zum besseren Verständnis dieses vielschichtigen, einmalig-tiefen und nicht immer leicht zugänglichen Dichters verhelfen.
Corvina Verlag, Klappentext, 1978
ATTILA JÓZSEF
Soldat des Universums,
Landser des Elends,
haben wir überhaupt etwas für ihn getan,
wenn wir den Toten zurückbetten
in den grünenden Wald der Gräber?
(1998)
János Pilinszky
(Übersetzung: Julia Schiff)
AUFS NEUE: ATTILA JÓZSEF
Du: Landser des Universums.
Ich: Kadett von etwas anderem.
Gern tauschte ich meine Offiziershandschuhe
Gegen deine Landseruniform.
(1998)
János Pilinszky
(Übersetzung: Julia Schiff)
Miklós Szabolcsi: Attila József
Attila József und seine Dichtung im Kreuzfeuer der Ideologien – ein Feature von Anat-Katharina Kalman
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