VIELLEICHT WERDE ICH PLÖTZLICH VERSCHWINDEN
Vielleicht, wie eine Tierspur in den Wäldern,
Werd ich auf einmal gänzlich verschwinden.
Eines Tages muß ich Rechenschaft ablegen.
Was ich besaß, verging mit den Winden.
Der Kinderleib, der einer Knospe glich,
Ward in bittrem Rauch gedörrt und ist verwittert.
Wenn ich zurückschau auf das, was mein Leben war.
Fühl ich, wie der Verstand mich verläßt und das Herz mir erzittert.
Die Gier hat ihren Reißzahn in mein Fleisch geschlagen.
Zu früh spürte ich sie in meinem Mark brennen.
Dann kam die Reue, und ich sagte mir:
Warum hast du nicht zehn Jahre warten können?
Meine Mutter redete mir zu, und ich wollte
Sie grad nicht verstehn und gab auf sie nicht acht,
Dann war ich Waise, schlecht oder gar nicht geliebt,
Und hab mich auch über meine Lehrer lustig gemacht.
Du, meine Jugend, bist wie ein grüner Wald gewesen,
Endlos schienst du zu sein und ewig zu dauern.
Jetzt hör ich weinend auf den Wind und hör ihn im
Trocknen Geäst, aus dem jedes Blatt fiel, schauern.
Übertragung Stephan Hermlin
und eines grillenhaften, abenteuerlichen Vaters erblickte sein poetisches Universum auf ganz natürliche Weise im Stoff seiner Vorfahren. Und sein Leben, so verworren bis in die Verzweiflung und den Selbstmord hinein wie gleichzeitig von Klarheit geprägt – ist es nicht der Widerschein der schwierigen Lage der Enterbten in einem Regime, das materielles und moralisches Elend absondert wie ein unentbehrliches Produkt zur Aufrechterhaltung seiner Macht?
Tristan Tzara, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1975
Zum erstenmal las ich Attila Józsefs Namen unter einem Gedicht, das ich, ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr des Krieges, in einer der zahlreichen illegalen literarischen Zeitschriften der französischen Widerstandsbewegung gefunden hatte. Ich entsinne mich, daß die Übersetzung eindrucksvoll war, ungewöhnlich eindrucksvoll in einer Sprache, die sich fremder Poesie gegenüber leicht spröde gibt. Aber das Gedicht selbst traf mich, wie es einem gelegentlich ergeht mit einem Gedicht: Es läßt einen erbeben, es ist etwas, wovon man geträumt hat, wovon man träumen wird, man hat es sofort eingereiht in die geheime Anthologie, die jeder Liebhaber der Dichtung für sich selbst anlegt. Und man fragt sich: Wer ist der Unbekannte?… Die Antwort fand ich erst später, nach dem Kriege, als ich nach Budapest kam und schon durch eine Attila-József-Straße fuhr, ehe ich die Zeit zu einer Wiederholung meiner Frage gefunden hatte.
Aus den Abgründen eines Volkes ist diese Dichtung aufgestanden, und vom Volk stammt nicht nur ihre Stofflichkeit, ihre Farbe, ihr Abendhimmel, der Rauch ihrer Dörfer, sondern auch ihr Übermut und ihre Verzweiflung, ihre Sinnlichkeit und Keuschheit, ihre Naivität, ihre Weisheit. Und dann: Dieser Sohn einer Waschfrau hatte unleugbar eine Vorliebe für die vertrackte Vielfalt der Formen der Poesie, die ja erst dem, was da gesagt wird, seinen Gebrauchswert geben. Attila József hat sich umgetan und die klassischen griechischen Metren so gut wie die französisch-italienischen Formen des späten Mittelalters und natürlich auch freie Rhythmen beherrscht. Ich erfuhr, er habe eine Menge Theoretisches über Metrik geschrieben – aber diese Dinge sind außerhalb Ungarns noch unbekannt.
Eingeschmolzen in Józsefs Dichtung sind die entscheidenden poetischen Bewegungen der Moderne: Man findet natürlich den Einfluß Adys, den er ganz früh gelesen hatte, aber auch Baudelaire und Poe, die französischen Surrealisten so gut wie Majakowski und ebenso Becher, Weinert, Brecht. Wie unbequem ist der Fall dieses Plebejers, unbequem vor allem für jene, welche die Existenz großer proletarischer Dichtung leugnen möchten, unbequem aber auch für solche, die das Kriterium für die Bedeutung proletarischer Dichtung nur unter dem Aspekt des Agitatorischen sehen. Wir erwähnten Einflüsse; viel wichtiger ist, was Attila József in die Weltlyrik brachte, einen Ton, der zwar schon früher aufgeklungen ist, den Anruf der Zukunft (der sich auch als Anruf an Vergangenes geben kann), einer Zukunft, die Güte und Schönheit verheißt, jenen Ton, den man bei Hölderlin wie bei Keats, bei Eichendorff wie bei Apollinaire hatte vernehmen können, hier aber merkwürdig verwandelt in einer Zeit, in der die Menschheit bewußt Geschichte macht. Immer hatte Attila József ein besonderes Interesse für Philosophie gehabt. Seine Dichtung ist eigentümlich von Philosophie geprägt. Gewiß handelt es sich hier nicht um in Verse gebrachten Marxismus, aber ich kenne keine andere Dichtung, in der so kühn und subtil subjektive Bewegung und marxistischer Gedanke ineinandergefügt sind.
Józsefs Jahrhundert brauchte nicht mehr zu entdecken, daß es in der Gesellschaft wie in der Natur dialektisch zugeht; es lebte bereits mit dieser Entdeckung. Die Landschaften Józsefs, seine Tages- und Jahreszeiten, sein Regen und seine Dürre sind die poetischen Äußerungen eines solchen Mitlebens.
„Süße Heimat“, steht in einem seiner Gedichte, „nimm mich an dein Herz. Laß mich dein treuer Sohn sein.“ Was ist das für eine Heimat, was ist das für eine Welt, die ihre Kinder nicht treue Söhne sein läßt? lautet die furchtbare, die verändernde Frage. Attila József steht in der langen Reihe ermordeter Dichter, die als Opfer der zeitgenössischen Gesellschaft bezeugen, daß die Dichtung sich nicht mit dieser Gegenwart abfinden kann, daß sie immer und überall ein Stück vorweggenommener Zukunft ist, daß ihre Heimatlosigkeit erst in der Begründung der großen Menschenheimat ihr Ende findet.
Stephan Hermlin, aus Stephan Hermlin: Lektüre 1960–1971, Aufbau Verlag, 1975
Zur Poetik Attila Józsefs
Im Zusammenhang mit den zuletzt behandelten Gedichten sollen einige für das gesamte lyrische Werk Józsefs gültige Besonderheiten herausgestellt und insbesondere auf Erscheinungen eingegangen werden, die mit Begriffen wie Mehrschichtigkeit, Komplexität und Kontrastierung der poetischen Bilder gefaßt wurden. Die Metaphorik in dem Gedicht „Besinnung“ ist in dieser Beziehung besonders aufschlußreich.
Die im weitesten Sinne erfolgte Anthropomorphisierung komplizierter philosophischer, gesellschaftlicher und psychologischer Inhalte ist Józsefs häufigste Methode, um Bilder und Vergleiche mit Leben zu erfüllen. Eines der grundlegenden Merkmale der Józsefschen Lyrik besteht daher in der Lebendigkeit und Beweglichkeit der Begriffe, in einer spezifischen Belebung und Durchdringung der Welt der Gedanken und der Gesellschaft. Eindrucksvoll belegt wird dies insbesondere durch das Gedicht „Besinnung“, da in ihm philosophische Zusammenhänge und logische Gedankengänge durch ein komplexes System von Bildern vergegenwärtigt, geradezu verlebendigt werden. In Besinnung sind Konkretes und Abstraktes mehrfach (mindestens vierfach) übereinander geschichtet; dieses konstruktive Verfahren erzeugt u.a. die größte Spannung des Gedichts.
Hervorzuheben ist überdies ein Verfahren, das sich der Mittel des Alltäglichen bzw. einer volkstümlichen Schlichtheit bedient – gleichsam eine Synthese aus frühen Naturgedichten und den späten philosophischen Gedichten:
… Spaltholz im lockersten Geviert… der Himmel Zahnradwerk… Ich habe auch das Glück gesehen.1
Die Bilder Józsefs entstammen überwiegend der Welt der armen Leute: enge Behausungen in der Vorstadt, Zementmauern, Fabriken, Höfe, Webstühle, Eisen, Waffen oder die kompliziertere Technik, wie Eisenbahnzüge und Fließbänder, aber auch der menschliche Organismus und schließlich immer wieder die Natur, einmal weich und streichelnd, ein anderes Mal hart und unerbittlich. In „Besinnung“ ist der Schauplatz mit seinen Imponderabilien und damit der Standpunkt in der Vorstadt angesiedelt: Die Bewohner sind in der Wohnung, im Hof und in der Bewegung (Güterbahnhof) ebenso eingeengt wie in der Landschaft; dies betrifft selbst das Naturgeschehen des Sonnenaufgangs und das Bild des Schweins in der Pfütze und auf dem „strengen Rasen“. Die Spannung des Gedichts entsteht nicht zuletzt aus der Beziehung der Gedanken zu dieser Szenerie, in der sie lebendig werden.
„Die Dichter personifizieren leblose Gegenstände häufig nur, um ihre Beschreibungen ,anschaulicher‘, ,lebensechter‘, ,interessanter‘ zu machen“, schreibt Elemér Hankiss2 und fährt fort:
Bei Attila József ist davon keine Rede. Die Gegenstände werden bei ihm nie, wie so oft in der Folklore, in Volksmärchen und Kindergedichten mit Eigenschaften ausgestattet, die zu ihrem angenommenen ,Charakter‘, zu ihrer ,Individualität‘ passen. Sie haben hier eine einzige Funktion, nämlich das Erlebnis, die Freude und die Not des Dichters auszusprechen, anstelle der Menschenwelt und des Dichters zu ,schreien‘, ,ihren Platz nicht zu finden‘, zu ,dösen‘, in ihrer Not fast schon zu ,kriechen, gebrochen und starr dazuliegen‘. Und obwohl sie überwiegend in scharfen, visuellen Bildern erscheinen, handelt es sich keineswegs um einen in der äußeren, sichtbaren Welt aufgelösten Impressionismus. Das visuelle Bild ist hier nicht Zweck, sondern nur Mittel des Ausdrucks. Die „Elegie“ z.B. kann sich auch unter den schönsten beschreibenden Gedichten sehen lassen, aber die „kahlen Brandmauern“, die „Wolfsmilch“, die „in öden Werkhöfen ihre Dolden öffnet“, die „brüchigen Fensterscheiben“, die „unbebauten Flächen“, „schlammverkrustetes Glas mit glanzlosen, starren Augen“, ein „Fingerhut Sand“, der zuweilen von den Halden rieselt und das „gelbe Gras“, das in einem Eisentopf wächst – all das ruft in uns nicht in erster Linie Farben, Formen und Landschaftsmomente wach, sondern gibt das Erlebnis der Einsamkeit, der Hoffnungslosigkeit, des hilflosen, qualvollen Sehnens und Elends wieder. Eine Stimme des Gedichts, die der Hoffnungslosigkeit und der Not, wird ausschließlich von den gegenständlichen Bildern getragen; die andere ist die des Dichters, ein Bekenntnis zu all dem. Indem die Stimme des Dichters gegen erstere immer wieder ankämpft und sie letztlich besiegt, gewinnt das Gedicht an Ausdruckskraft und Klangfarbe.
Ergebnis dieser Technik sind jene Spannungen, die nicht mehr nur zwischen der leidenschaftslosen Leblosigkeit der gegenständlichen Welt und dem menschlichen Leiden, sondern auch zwischen den verschiedenen Ebenen der Haltung und Anschauung des Dichters entstehen. Anstatt seinen Empfindungen freien Lauf zu lassen, sie etwa wie andere zur Attraktivität hochzupeitschen, preßt und drängt József diese in unscheinbare, plumpe kleine Gegenstände, und so kann er seine eigenen Nöte – bereits ins Groteske, zugleich Lächerliche und Bestürzende verzerrt – gleichsam von außen betrachten und überwinden.3
Aufschlußreich ist, welche Schlüsselworte und -begriffe in welchem Kontext und mit welcher Bedeutungsbereicherung benutzt werden. Dazu bemerkt István Király in einem Aufsatz über József:
Bei keinem unserer Dichter spielen die Worte Gedanke, Verstand, Geist, Vernunft (Sinn) und Bewußtsein eine so zentrale Rolle wie bei Attila József. Schlüsselworten gleich kehren diese Begriffe an den verschiedensten Stellen des Lebenswerks wieder. In seinen bedeutendsten Gedichten offenbart sich der Dichter in der ernsten, vertieften Haltung des nachdenkenden Menschen: Auf der untersten Stufe der Kaimauer sitzend; sinnend vor einem Baum oder einer Brandmauer; Träumen nachhängend in nächtlichen Straßen; ob von außen oder oben, immer betrachtete er das Leben von der Warte des Wachenden, dachte er nach. Von daher der ihm oft vorgehaltene kühle, unpersönliche, beschreibende Charakter seiner Gedichte. Nicht das Empfinden, sondern die Vernunft erwies sich hier als die wichtigste schöpferisch formende Kraft; sie war es, die klare Worte für die ,lose‘ Gesellschaft suchte, die allen Nebel in der Anschauung, jeden Widersinn, Bildchaos und ,Wildtrieb im Ausdruck‘ verwarf. Die Vernunft diszipliniert; die Flut des Mitzuteilenden durch Rhythmus, Reim und streng gebundene Formen. Attila Józsefs Sprache duldete keinen weichen, hinschmelzenden impressionistischen Stil voller Adjektive, sondern bevorzugte die beim Namen nennende Härte, Bemessenheit und Dichte der Substantive und Verben. In seinen Gedichten stehen häufig abstrakte Substantive wie Treue, Gedanke, Güte, Vernunft oder Gesetz in der Rolle des Subjekts. Und diese seine Vorliebe für das Abstrakte und Gedankliche formte auch die Individualität seiner Metaphern. Die dichterische Phantasie wirkte nicht selten in eine Richtung, die vom Gewohnten abwich. Nicht das Lebende, sondern das Leblose, nicht das Konkrete und Anschauliche, sondern das Abstrakte und Begriffliche stand des öfteren anstelle des Ähnlichen. Wie der Gedanke selber, wie ein Gegenstand in der Vitrine, glänzt und funkelt bei ihm die Winternacht, Traversen kahler Äste tragen die leeren Lüfte, und „wie das Wort eingeht in den erschlossenen Sinn“, so dringt sein Blick in die Geheimnisse des Körpers. Dieser bis in die kleinsten Details seiner Dichtung wirkende gedankliche Anspruch verlieh seinen Gedichten einen kühlen, klaren, glashellen Klang. Die Form verschwand im Hintergrund, um der reifen Wirklichkeit und dem transparenten, lichten Gedanken das Wort zu überlassen.4
József selbst formulierte den Anspruch auf begriffliche Klarheit und auf Bewußtheit im künstlerischen Schaffen so:
… ein, zwei Zeilen eines Gedichts bestimmen infolge wechselseitig abhängiger Verknüpfung von vornherein die anderen, d.h., ein jeder Punkt in der Welt eines Werks ist ein archimedischer.5
Und tatsächlich, jedes Wort seiner Verse hat im Gedicht, in seinem Weltsystem den vorgezeichneten Platz. ,,Die Fakten dieser (künstlerischen) Welt sind keine wirklichen Fakten“, schreibt er weiter, ,,real ist jedoch der Zusammenhang dieser nicht realen Tatsachen, der vollkommen den Zusammenhängen in der wirklichen Welt entspricht.“6
József war ein Dichter, der seine Existenz als Proletarier mit aller Tiefe und Bewußtheit erlebte, ein politischer Lyriker, der dem, was er aussagte, mit seinem persönlichen Schicksal Authentizität verlieh. Die Intellektualität seiner Lyrik ist vom Anspruch auf marxistische Gedanklichkeit durchdrungen. Der gewichtige Band seiner Aufsätze und Artikel beweist, daß er sich eingehend mit den wesentlichsten Fragen der zeitgenössischen Philosophie und Ästhetik beschäftigte und außer den Klassikern des Marxismus und dem von ihm sorgfältig studierten Lenin die Philosophen der Vergangenheit und seiner Zeit, von Croce bis Bergson, von Hume bis Hegel, von Boutroux bis Plechanow kannte, sich mit ihnen auseinandersetzte, von ihnen lernte und – was das Wichtigste ist – auch selbst zum Begründer der marxistischen philosophischen Lyrik in Ungarn wurde. Die Philosophie als ordnendes Element ist nicht nur in seinen unmittelbar politischen Gedichten gegenwärtig. Kristallklare Vernunft, ordnende Disziplin und Bewußtheit kennzeichnen alle seine Gedichte, die mit der strengsten politischen Konzeption ebenso wie die mit spontanem Aufschrei. ,,Das Leben stottert im trunkenen Mut. / Das Gesetz aber spricht mit nüchternem Sinn“, heißt es in der „Ode“,7 und dieses Gesetz suchte er stets, um sich in schwersten Zeiten vor dem Verfall zu bewahren. Der Bau und die Bilder seiner Gedichte sind unverwechselbar geprägt vom Marxismus, der aus dunkelstem Elend, aus verzweifelten persönlichen und nationalen Abgründen einen Ausweg zeigt und ihm den Blick frei macht, ,,die bewußte Zukunft“ zu sehen:
Der Dichter – auf seinen Lippen noch klingt
Das Wort, der trunkene Laut,
Während er, Ingenieur der bezaubernden Welt,
Die bewußte Zukunft erschaut
Und die Harmonie in sich selbst konstruiert,
Wie ihr sie draußen erbaut.8
Diskussionen mit der KPU
Neben der Entfaltung der Weltanschauungslyrik ist in Józsefs Gedichten dieser Jahre ein weiterer Grundzug zu beobachten: eine bittere, bald ironische, bald mühsam gezügelte Klage über seine Einsamkeit. Das Gefühl äußerte sich zum einen im Mißtrauen des Proletariers denen gegenüber, die ihm von oben her philanthropisch zu helfen versuchten. Darauf reagierte er – wie in dem Gedicht „Trost“9 – trotzig, in Villonscher Haltung und Form. Doch zeigte sich sein Einsamkeitsgefühl auch noch in anderer Gestalt, recht unmittelbar z.B. in dem Gedicht „Kummer II“, in dem er vor ihm zugefügten Kränkungen beim „Genossen Wald“10 Zuflucht sucht.
Nach 1932 war es zwischen József und der illegalen Kommunistischen Partei Ungarns zu gewissen Meinungsverschiedenheiten gekommen. Von 1930 bis Mitte 1933 Mitglied der illegalen KPU, wurden um 1934 – ohne daß jemals ein ausdrücklicher Ausschluß erfolgt wäre – die organisierten Kontakte zu József von seiten der Partei allmählich eingestellt. Unterschiedliche Einschätzungen der Józsefschen Dichtung gab es in der illegalen Partei bereits 1932/33, als sein Band Nacht in der Vorstadt unverständigen, sektiererischen proletkultistischen Angriffen ausgesetzt war. Vorausgegangen war eine Fehleinschätzung Józsefs in den sogenannten „Plattform-Entwurf über die Lage der ungarischen Literatur“,11 die von Vertretern der ungarischen Sektion der RAPP in Moskau vor allem auf Grund mangelnder Informationen abgegeben worden war. Diese Einschätzung war auch in Ungarn bekannt geworden, und der Kommunist József wies sie in Kenntnis des wirklichen Sachverhalts und mit dem Wissen um seine sozialistische Dichtung voller Empörung zurück. Die illegale Parteiführung stellte sich zu dieser Zeit auf seine Seite, und die in Moskau herausgegebene Zeitschrift Sarló és Kalapács12 (Sichel und Hammer) schwächte die im Plattform-Entwurf getroffenen Feststellungen ab. Die Mißverständnisse hörten indessen nicht auf, nahmen eher noch zu. Gründe dafür waren nicht zuletzt die Reizbarkeit und Krankheit des Dichters, die die konspirative Arbeit erschwerten, als auch die Dezimierung der Parteiführung im Jahre 1932. Nach der Festnahme und Hinrichtung von Sallai und Fürst wurde die Führung der illegalen Partei von jungen, weniger erfahrenen Parteiarbeitern übernommen, die dem Dichter nicht mehr die gleiche Hilfe zuteil werden ließen. Überdies bewirkten sein Gesundheitszustand sowie konspirative Gründe, daß er von der Partei gleichsam „ausgespart“ wurde, d.h., er bekam keine illegalen Aufträge mehr.
Nach Hitlers Machtübernahme fragte sich József – wie übrigens jeder fortschrittliche Mensch in Europa – betroffen und erschüttert, wann und wo die Arbeiterbewegung Fehler begangen habe. Er hielt nach neuen Wegen Ausschau und schlug neue Lösungen vor, darunter solche (etwa die Schaffung einer breiten Volksfront gegen den Faschismus), wie sie nicht viel später auf dem VII. Kongreß der Komintern beschlossen wurden. Daneben entwickelte er jedoch auch Vorstellungen, die bis heute als irreal und undurchführbar erscheinen. Überdies stellten sich Kontroversen im engeren Bereich der Literatur ein: Weder die progressive Linke innerhalb der bürgerlichen Literatur erkannte die Bedeutung der Lyrik Józsefs, noch war man sich in der Partei über ihren Wert völlig im klaren. József wurde zwar für einen bedeutenden Dichter gehalten, doch die in der ungarischen Parteiführung für Kulturarbeit Verantwortlichen ließen sich noch in starkem Maße von den – zu dieser Zeit historisch bereits überholten – Ideen und Vorstellungen der RAPP13 leiten. Das heißt, sie plädierten für eine lautstarke und begeisterte, aber in der Form primitivere und in der Anschauung engere proletarische Lyrik. Von einer solchen Position konnte die Józsefsche Dichtkunst kaum verstanden und richtig eingeschätzt werden. Die Diskussionen (die hauptsächlich durch Józsefs Artikel „Um die Einheitsfront“14 ausgelöst worden waren) hatten auch zur Folge, daß seine organisatorische Verbindung zur Partei für eine Zeit völlig abbrach. Trotz dieser Tatsache wandte sich József nie gegen die Partei; er wurde weder zum Renegaten, noch führten die Meinungsverschiedenheiten etwa zur weltanschaulichen Trennung. Zum Sozialismus und historischen Materialismus bekannte er sich bis zu seinem Tode.
Die KPU war zu dieser Zeit außerstande, den Konflikt zwischen der Partei und József zu lösen. Heute ist allgemein bekannt, daß die Politik der KPU jener Jahre in vieler Hinsicht sektiererisch war; überdies konnte die Parteiführung unter den schwierigen Bedingungen der Illegalität, im Kampf mit der Polizei und in tiefer Konspiration, József nicht die Aufmerksamkeit widmen, die nötig gewesen wäre, um seine dichterischen und menschlichen Wert zu erkennen und ihnen zu einer günstigen Entwicklung zu verhelfen. (In dieser Beziehung haben auch mehrere namhafte Zeitgenossen Józsefs versagt.) Nur unzureichend wurde begriffen, was sich in ihm an Unruhe, Konflikten und Wegsuche abspielte, und aus seinen Fragestellungen wurde nicht immer das Wort des Dichters vernommen, der treu zum Volk und zur Arbeiterbewegung stand. Die mit der Parteiarbeit unter den Intellektuellen Beauftragten verhielten sich ihm gegenüber starr und unduldsam.
Auf der Suche nach Wegen und Lösungen, die aus den schwierigen Problemen seiner Zeit herausführen, war József stets darauf bedacht, dem Marxismus-Leninismus und der Arbeiterbewegung die Treue zu bewahren. So kennzeichnen seine Haltung auch in diesen schweren Jahren um 1934/35 die Sorge um den Sozialismus und das Bewußtsein, zu den Massen und zur Arbeiterklasse zu gehören. Noch heute beeindruckt zutiefst, wie in ihm Gekränktsein und Vertrauen, sein Wunsch, der Partei anzugehören, und seine Sorge über Fehler miteinander rangen. Diese Konflikte prägten nachhaltig Józsefs Haltung und Dichtung. Im letzten Abschnitt seines Lebens, 1936/37, kam es offenbar wieder zu einer Annäherung. Eine organisatorische Verbindung war indessen um so weniger möglich, als die Organisationen der KPU in Ungarn 1936 von der Komintern aufgelöst wurden und ihre Neuorganisierung erst 1938, also nach Attila Józsefs Tod, einsetzte. Der Weg des Dichters stimmte zu der Zeit jedenfalls mit dem Kurs der Partei überein.
Trotz alledem war József nach 1939 und besonders in den Jahren des Krieges für die Kommunisten der Dichter der Partei. In der Illegalität, in den Gefängnissen und im Krieg schöpften sie aus seinen Versen Mut und machten andererseits sein Werk in immer breiteren Kreisen bekannt. Artikel, Gedenkveranstaltungen und die 194215 erfolgte Überführung seiner sterblichen Überreste nach Budapest zeugen vom Bekenntnis der Arbeiterbewegung zu József, und so war es nur folgerichtig, daß die KPU 1945 seinen Namen auf ihre Fahne schrieb.
Die bisherigen Ausführungen bezogen sich einzig und allein auf Józsefs organisatorisches Verhältnis zur illegalen Kommunistischen Partei. Eine gesonderte Frage ist die nach dem Verhältnis seines gesamten Lebenswerkes zur Partei. Dabei ist davon auszugehen, daß die sozialistische Literatur nicht einfach identisch ist mit einer Literatur, die von Mitgliedern der Kommunistischen Partei geschaffen wurde, sondern ein weiter zu fassender Begriff. Somit resultiert die sozialistische Parteilichkeit eines Schriftstellers nicht aus dem bloßen Umstand seiner Parteizugehörigkeit, sondern aus dem Ideengehalt seiner Werke. Von daher erweist sich die Frage der Parteimitgliedschaft Józsefs als ein – relativ untergeordnetes – Problem seiner Biographie. Historisch gesehen, spiegelt Józsefs Lyrik die tiefsten und ureigensten Empfindungen und Bestrebungen des ungarischen Volkes, der ungarischen Arbeiterklasse getreu wider, und in einen noch weiteren Kontext gestellt, deckt sich die Botschaft seines Lebenswerks mit der Richtung und den Bestrebungen der internationalen Arbeiterbewegung. Unabhängig davon, ob József den Gleichschritt mit der Partei zu jeder Zeit wahrte, ist bedeutsam, daß die Hauptrichtung seines Schaffens mit dem Weg der illegalen Partei übereinstimmte. Und daß dies zutraf, davon zeugt unter den bereits aufgeführten Hinweisen nicht zuletzt auch seine Stellung zum Faschismus. József hatte ihn klar als die größte Gefahr seiner Zeit erkannt und ihm – wenn auch nicht frei von Irrtümern und einer gewissen Naivität – mit der Forderung nach einer Einheitsfront den Kampf angesagt. Sein Werk spiegelt insgesamt die Ideen der Partei, den Geist und die Werte der ungarischen Arbeiterklasse wider, und in seinem Spätwerk gewinnt die antifaschistische Volksfrontpolitik der Partei Gestalt. Auch ohne feste organisatorische Kontakte zur Partei blieb József zeitlebens Kommunist. Auf der Suche nach möglichen Wegen zu einer neuen Gesellschaft beschwor er zumeist jene sozialistische Lebensweise und jenen sozialistischen Staat – „des sachverständigen, werktätigen Volkes kluge Versammlung“,16 „den Feinmetall-Staat“17 –, mit deren Gestaltung die internationale Arbeiterbewegung in unserer Zeit begonnen hat; jene vernünftige, sinnvolle Einheit von Demokratie und Disziplin, an deren Verwirklichung wir arbeiten:
wo Freiheit und Ordnung eins heißen,
erspür ich stets Unendlichkeiten.18
Der große Dichter der ungarischen Arbeiterklasse schuf mit seinem Werk eine sozialistisch-realistische Lyrik. Trotz zeitweiliger Nichtübereinstimmung mit den Schritten der Partei und vorübergehender Kontroversen mit einzelnen Führern akzeptierte und befolgte er deren Politik und große Strategie, erwies er sich auch im künstlerischen Bereich als ein Dichter der Partei: ein parteilicher Dichter.
Ästhetisch-kritische Auseinandersetzung mit Problemen der Kunst und Literatur
Józsefs produktives Verhältnis zum Marxismus belegen nicht nur seine Lyrik und politischen Äußerungen, sondern auch seine kritischen und theoretischen Schriften.
Bereits zu Beginn seiner Dichterlaufbahn beschäftigte er sich mit allgemeinästhetischen Fragen der Kunst und Literatur. Den Grad der Verallgemeinerung, den József anstrebte, charakterisiert eine Stelle der 1930 entstandenen, äußerst polemischen Kritik über Mihály Babits:
Außer in Kunstwerken haben wir niemals die Möglichkeit, Ganzes zu schauen. Inspiration ist also die qualifizierende Kraft des Geistes, durch die die Materie zu einer endlichen gemacht wird. Demnach stellt das Werk eine unmittelbare Universalität dar, oder wenn wir uns vor Augen halten, daß es in seinem Inneren unerschöpflich ist, können wir es auch als begrenzte Unendlichkeit bezeichnen.19
In den Frühschriften dominiert noch die hegelianische Diktion, Nach 1930, als József bereits Mitglied der illegalen KPU geworden war, beschäftigte er sich noch eingehender mit Fragen der Ästhetik. Bedeutendstes Resultat dieser Bemühungen ist ein aus dem Jahre 1931 stammender Text mit dem Titel „Literatur und Sozialismus“,20 der als Niederschrift eines vor Arbeitern gehaltenen Vortrags erhalten blieb. Es ist im Grunde ein Versuch, seine Gedanken zur Problematik des Ästhetischen in ein System zu fassen. József geht darin auf die spezifischen Besonderheiten des Künstlerischen, auf die Zusammenhänge zwischen Kunst und Gesellschaft – also auf Grundfragen der Ästhetik – ein und ist bemüht, das Künstlerische und Gesellschaftliche miteinander zu verbinden. So schlußfolgert er, ausgehend von der These „Der Inhalt der künstlerischen Form ist stets universell und gesellschaftlich“, nach der Analyse einer Gedichtpassage:
Warum ist das Gedicht nun in dieser Fassung so schwach, und warum empfinden wir es nicht als Kunst? Doch deshalb, weil es zuvor ohne das Wörtchen, das der Zeitbestimmung dient, sein künstlerisches Wesen infolge der Unbestimmtheit des gesellschaftlichen Gehalts einbüßte, und ihm nunmehr das Künstlerische durch die Lüge im gesellschaftlichen Gehalt genommen wird. Ja, sehen wir genauer hin, so stellt sich heraus, daß es überhaupt keinen wirklichen gesellschaftlichen Bedeutungsinhalt besitzt, denn der wirkliche gesellschaftliche Bezug soll ja gerade verdeckt werden. Ein künstlerischer Inhalt kann also gesellschaftlich nicht verlogen sein. Doch dies soll nun nicht zur Torheit verleiten, vom Künstler Aufrichtigkeit zu verlangen. Aufrichtig und ein Konterrevolutionär kann schließlich auch jemand sein, weil er geistig beschränkt und ein Schwachkopf ist, trotzdem kann er kein Kunstwerk schaffen, ebensowenig wie die recht oft aufrichtigen Tantchen Kunst schaffen.21
Außerordentlich wichtige Aufschlüsse über Józsefs Schaffensmethode und die Bewußtheit seines Vorgehens vermittelt der folgende Gedankengang:
Wie entsteht ein Kunstwerk? Zunächst wird die Wirklichkeit durch den künstlerischen Akt, nennen wir ihn Inspiration, zweigeteilt, indem der Künstler sich nämlich den Teil an Wirklichkeitselementen aussucht, aus denen er sein Werk schaffen wird. Das bedeutet natürlich nicht, daß er einen Haufen Worte nimmt und beschließt, daraus ein Gedicht zu machen. Wohl aber ist es so zu verstehen, daß ein, zwei Zeilen des Gedichts infolge der wechselseitigen Abhängigkeit von vornherein alle anderen determinieren –, d.h., jeder Punkt in der Welt eines Kunstwerks ist ein archimedischer. Und indem der Künstler diese ein, zwei Zeilen akzeptiert, ist die Auswahl eines Segments der Wirklichkeit theoretisch bereits vollzogen – das bestätigt die Hervorbringung jedes guten Kunstwerks. Mit diesen ausgewählten Wirklichkeitselementen verdeckt dann die Inspiration, der künstlerische Akt, all die anderen, die nicht ausgewählten, vor unserer Anschauung. Schön jetzt ist klar, daß das ausgewählte Segment der Wirklichkeit durch die Inspiration fixiert wird, und ebenso steht außer Zweifel, daß die von der Inspiration fixierte Wirklichkeit nur ein Teil der Wirklichkeit ist.22
Des weiteren beschäftigt sich József ausführlich mit der Dialektik von konstanten und variablen Elementen im Kunstwerk, wobei er sehr feinfühlig das gesellschaftlich Variable, d.h. das Moment der gesellschaftlichen Gültigkeit eines Kunstwerks herausarbeitet.
An einer anderen Stelle des Vortrags ist der Grundgedanke seiner Kunstauffassung formuliert, zu dem er den positiven Gegenbeweis mit seiner Dichtung selbst erbrachte.
Wenn eine Klasse nicht fähig ist, das ihr eigene Lebensgefühl gesellschaftlich, d.h. künstlerisch auszudrücken, dann fehlt ihr auch die Kraft dazu, im Namen der ganzen Menschheit auf die Bühne der Geschichte zu treten.23
In den Anfang der dreißiger Jahre verfaßten Schriften sind Józsefs ästhetische und politische Überzeugungen ohne Umschweife und offensiv formuliert. Einen heftigen Angriff richtete er 1931 gegen die in früheren Phasen der Avantgarde festgefahrene Kunst von Lajós Kassák,24 aber auch gegen eine Gruppe junger Literaten, die sich in romantischen Vorstellungen einer bodenständigen, im Bauerntum wurzelnden Kultur verfangen hatten. Seine Meinung dazu veröffentlichte er in einer von ihm herausgegebenen halblegalen Zeitschrift:
Die Kultur der Zukunft wird von jener Klasse geschaffen werden, die die Zukunft gestaltet. Diese Klasse ist das Proletariat. Die Volkskunst gehört der Vergangenheit an, die bürgerliche Kunst der Gegenwart, und der proletarischen Kunst gehört die Zukunft. Ihren Ahn sieht die proletarische Kunst in der Volkskunst, denn diese ist traditionsgemäß eine kollektive Kunst. Die Volkskunst ist angesammelte und gegenwärtige Vergangenheit, ein produktives Erbe, das die Zukunft lenkt – allerdings die Zukunft dessen, der eine hat. Auch die Sichel-Jugend25 ging von der Volkskunst aus und fand zum Volk hin, zum werktätigen Volk; sie sammelten ihr lebendiges Material nicht für Museen, weil sie einsahen, daß der Weg zur kulturellen Befreiung des werktätigen armen Volks vom Kampf um die ökonomische Befreiung, vom Sozialismus nicht zu trennen ist. Dieser Weg steht der intellektuellen Jugend auch in Ungarn offen.26
Die kritische Auseinandersetzung mit Problemen der Kunst und der Gesellschaft setzte József bis an sein Lebensende fort. Kurz vor seinem Tode nahm er das Erscheinen der gesammelten Gedichte des von ihm hochgeschätzten Dezső Kosztolányi zum Anlaß, um seine eigene ästhetische und politische Position zu bestimmen:
Kosztolányi hält sich für einen Homo aestheticus, d.h. für einen Mann des sinnenhaft Schönen und stellt diesen Homo aestheticus dem Homo oeconomicus, d.h. dem Mann der Wirtschaft und dem Homo moralis also dem um das Sittliche, Soziale und Gute bemühten Menschen gegenüber. Er setzt den Beschauer gegen den Handelnden. Die Aufgabe des Dichters sei es – so sagte er einmal –, Betrachtungen über die Fragen von Leben und Tod anzustellen. Und dies, da nun gerade Aufgabe des Dichters das Schreiben von Gedichten ist, was Kosztolányi auf seine Weise tatsächlich mit unerhörter Sicherheit leistet. Dies ist ja nun doch ein Handeln, noch dazu ein moralisches und ökonomisches zugleich.
Mit dieser Theorie verteidigte Kosztolányi sein Recht auf seine eigene Traumwelt heute, in einer Zeit andersgearteter, nämlich sozialer Träumereien. Aber die Theorie hilft eben auch die Traumhaftigkeit der Gedichte Kosztolányis besser verstehen. Als Homo aestheticus kann sich, bei Außerachtlassen der ökonomischen und moralischen Bedeutung des ästhetischen Gegenstands, nur einer begreifen, dem nicht bewußt geworden ist, daß seine Existenz im gesellschaftlichen Leben, in den gesellschaftlichen Verhältnissen wurzelt, der sich mit den grundlegenden Prinzipien, die das gesellschaftliche Sein regulieren, nicht zu identifizieren vermag. Er ist letzten Endes das Kind, das mit seinem instinktiven Blick diese moralische Welt der Erwachsenen als sinnlos ansieht und das sich später als Erwachsener zwar in die Ordnung der Welt gezwungenermaßen einfügt, sie in der Tiefe seines Herzens jedoch negiert. Ein solcher Mensch entpuppt sich bei gegebenem Anlaß als Nihilist, jener vom Geschmacklichen Besessene, der im Namen des Geschmacks den Urheber des Geschmacks, den Homo socialis, verleugnet.27
Mit diesen wenigen Zitaten ist die Vielfalt und Originalität des theoretischen und ästhetischen Denkens Józsefs nur angedeutet. Eine der unmittelbaren Quellen seiner marxistischen Bildung war das Studium der Werke von Marx und Engels im Original, und zwar in den damals erschienenen Bänden der MEGA;28 mit großem Gewinn las er außerdem Publikationen aus der ideologischen Arbeit der KPD vom Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre. Darauf berief er sich auch, und in seinem Büchernachlaß konnten Hefte der Marxistischen Arbeiterschulung sowie Jahrgänge des Roten Aufbau gefunden werden, aus denen er einen Teil seiner theoretischen Bildung, seiner ökonomischen und sozialen Kenntnisse schöpfte und die er dann selbständig verarbeitete, um sein gedankliches System weiter auszubauen. Und natürlich stützte er sich – und berief sich, soweit es die damaligen Verhältnisse in Ungarn zuließen – auf Lenin, dessen Gedanken in mehreren Artikeln Józsefs nachweisbar sind; offenbar ist ihm auch einiges an sowjetischen Publikationen zugänglich gewesen. Nur ein Beispiel: In seinen Briefen beruft er sich wiederholt auf ein Luppol-Buch, wobei er zuweilen nur die Farbe des Buchs erwähnt, und dabei handelt es sich um Lenin und die Philosophie von I.K. Luppol (Wien – Berlin, 1929).
Aufschlußreich für die Richtung seines Interesses und seiner Orientierung sind zudem die Nachdichtungen, selbst wenn dabei mancherlei Zufallsmomente – wie Aufträge und ähnliches – eine Rolle gespielt haben. Außer Villons Balladen übersetzte er zumeist Werke von demokratischen bzw. sozialistischen Dichtern aus den benachbarten Ländern, und besonders nahe stand ihm die Lyrik von Jiři Wolker und einigen rumänischen Dichtern. Sowohl die Namen der Autoren als auch der Gegenstand der Gedichte zeigen, daß er insbesondere von der Darstellung des Arbeiterlebens, revolutionären Zorns und Trotzes und der menschlichen Größe, aus der Großstadtwelt auszubrechen, angezogen wurde. Und fügen wir hinzu: Eine seiner schönsten Übersetzungen ist die in der Nachdichtung von Engels bekannte Ballade vom Herrn Tidmann aus dem 17. Jahrhundert,29 die József unter Berufung auf die deutsche Fassung von Engels an die Redaktion der sozialdemokratischen Tageszeitung Népszava (Volksstimme) schickte.
(…)
Miklós Szabolcsi, aus Miklós Szabolcsi: Attila József, Akademie Verlag, 1981
Als ich ihn vor zehn Jahren in Pest kennenlernte, war er schon am Ende seiner lachenden Jugend. Er hatte noch maßlos humoristische Ausbrüche, zuweilen kochte noch sein bengelhafter Hochmut auf, doch im großen und ganzen hatte das Leben seine Kanten schon abgestumpft, und sein Widerstand gegen die Welt wurde immer abgerundeter und zog sich tiefer in sein Herz hinein. Er lebte in großem Elend… Wann tritt der Augenblick ein, in dem der Jüngling vor den zu hohen und unwürdigen Hindernissen der Wirklichkeit scheut, sich umdreht und in die Einsamkeit flüchtet? Und wann kommt der andere Augenblick, wenn er die Einsamkeit nicht länger aushält, wieder hervorkommt und Gefährten sucht, um mit ihnen die Wirklichkeit zu verändern? Die Seele entwickelt sich nicht in der Zeit, sondern in einem rauheren, körnigeren Stoff, der bald dünner und bald dicker ist und dementsprechend mit einem größeren oder geringeren Druck den Menschen in der sich ballenden, strömenden Materie der Ereignisse gestaltet. Attilas Seele gestaltete sich und alterte schnell. Die unheilvollen Ereignisse stauen sich, und unter diesem gesteigerten Druck kann schon in der Seele eines Jünglings die Reaktion entstehen, die bei anderen erst am Ende eines stillen Alters eintritt. Wann im jungen Leben des Dichters der Augenblick eintrat, in dem er begriff – vielleicht in seinem zehnten Lebensjahr –, daß er zum Mann geworden war, und wann der andere Augenblick – vielleicht in seinem 30. Lebensjahr –, als er merkte, daß er alt geworden war, ist schwer zu entscheiden. Nicht er selbst alterte, sein Leben machte ihn alt. Die Seele hat zwar eine besondere Anziehungskraft für die zu ihrer Veranlagung passenden Ereignisse, und Attila zog die Armut, das Übergangenwerden, die Verständnislosigkeit an wie der Magnet das Eisen; zugleich ist aber der Mensch auch fremden Schicksalsschlägen ausgeliefert, die nichts mit seinem Körper und seiner Seele zu tun haben, und in diesem doppelten, komplizierten Kreislauf reklamiert man bald bei sich selbst, bald bei der Welt das Glück. In den ersten Jahren unserer Freundschaft zog er die Zeit zur Rechenschaft. Er war arm und sehnte sich nach Freuden.
Er suchte die äußeren und nachweisbaren Gründe der Armut, er untersuchte die Gesellschaft, fand die Klasse und seinen Platz in ihr. Er war nicht mehr ganz allein. Seine Unzufriedenheit rieb sich an der Unzufriedenheit einer Klasse und fing Feuer. Das Gemeinschaftsgefühl warf ihn wie vom Luftdruck geschleudert hoch über sich selbst hinaus. Er trieb sich in Vorstädten herum, genauso hungrig und mager wie diejenigen, zu denen er sprach. Er legte bei Wind und Wetter im Winter lange Strecken zu Fuß zurück, weil er das Fahrgeld nicht hatte und ein Seminar in Újpest oder Rákospalota nicht versäumen wollte. In schäbigen Kneipen an der Peripherie versuchte er sein Leben zu formulieren. Er traf mit Menschen zusammen, die noch lieben konnten. Ich kannte einen Schneidergesellen, der seine Familie von 14 Pengő erhielt. Sooft er Attila besuchte, ließ er unbemerkt jedesmal einen Pengő in der Wohnung zurück wie die silberne Fußspur einer guten Fee. Der junge Dichter schrieb damals die schönsten Proletarierverse seiner Zeit und ganz gewiß die schönsten der ungarischen Literatur.
Tibor Déry, aus Attila József. Leben und Schaffen in Gedichten, Bekenntnissen, Briefen und zeitgenössischen Dokumenten, herausgegeben und eingeleitet von Miklós Szabolcsi, Corvina Verlag, 1978
Miklós Szabolcsi: Attila József
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