MÜLLHALDE
Die Tage gehen sich
fotokopieren
die Nächte verrollen
wie Stoffknäuel
ein Märzwind
vermengt und verschlingt
die Stadt ist
eine Müllhalde
wo die Alten
den Urin nicht mehr halten.
Im wohl einzigen Interview, das Attilio Lolini (geb. 1939 in der Provinz Siena) je einem Presseorgan zugestanden hat, antwortet er auf die Frage, ob sich seine Verse „Erbärmlich sich zu verkaufen / wenn niemand dich kauft“ auf die heutige italienische Poesie beziehen, mit: „Ja. Nachdem sie jeden Sinn, jede gesellschaftliche Funktion sowie Publikum und Leser verloren hat, müssten die Dichter zu klassischen Eremiten werden, sich von ihren Heften und ihren Verlagen lossagen, doch was machen sie? Sie verkaufen Vater und Mutter, um veröffentlicht zu werden. Doch es nützt nichts. Ich verbreite hier nicht die Mär vom Ende der Poesie, des Romans, aber der letzte große Dichter war Montale. Der Rest: Leute auf der Suche nach Käufern.“
So verwundert es nicht, dass Lolini während dreißig Jahren darauf bestanden hat, nur in Klein-, Kleinst- und Miniaturverlagen zu veröffentlichen, oft unverkäufliche Plaquettes in minimalen Auflagen, und dies, obwohl schon sein erstes, 1974 erschienenes Bändchen von Pasolini begeistert rezensiert worden war.
Auch ich sollte
die drei oder vier
klugscheißer die in den kloaken
(sprich: anthologien) platz
finden nachäffen?
meinte Lolini in einem Gedicht aus dem Jahre 1975. Und eines seiner letzen Gedichte endet mit den Strophen:
Es gebührt sich
den Mund zu halten
da man doch nie
etwas gesagt hat.
Gedichte schreiben hat Lolini immer als Schuld angesehen („nun wiederholen / wir müde / Worte die / unschuldig waren“), und es verdankt sich nur dem Drängen seiner Aficionados, mittlerweile eine doch beachtliche Zahl, dass er seine Scham überwand und in der Weißen Reihe des Einaudi-Verlags eine umfassende Auswahl aus seinem lyrischen Gesamtwerk (rund dreißig meist sehr schmale Bände) zum Druck freigab. Dieser Band, Nachrichten aus der Nekropolis, hat denn auch großes Echo gefunden und ist praktisch in allen wichtigen Zeitungen rezensiert worden. Lolini hat sogar einen bedeutenden Literaturpreis gewonnen, dessen Prestige ihm allerdings herzlich wenig bedeutet. „Preise? Mich interessiert nur der Check. Alles langweilig, und mühselig die Anreise.“
Nicht weniger mühselig und langweilig muss aber auch Lolinis Leben sein, zumindest seit er sich, nach einer kurzen Zeit der Rebellion und des Vagabundierens, von jeglicher Militanz entfernt hat und zurückgezogen in der Provinz Siena lebt, wo er sich – engagiert, aber stets im Hintergrund – kulturell betätigt, als Journalist, Übersetzer, Herausgeber, Initiator und Librettist (und wohl weltweit bedeutendster Mascagni-Kenner). Seine Begleiter sind der Kater Totti, Amphetamine, Benzodiazepine, das mit Abscheu erblickte Morgengrauen, endlose Tage, die sich wie „Dosen in den Supermärkten“ monoton aneinanderreihen.
Sein Werk ist denn auch eine „Geschichte des Ekels vor sich und vor der Welt, eine fast bewegungslose Geschichte der Bewegungslosigkeit, die Anatomie des Sinnlosen, das Krankenjournal eines dreißigjährigen Schmerzes“, wie Alfonso Berardinelli in seiner klugen Rezension schreibt. Und zu Lolinis Poetik meint er:
„Wo keine Dauer ist, ist Wiederholung. Wo keine Überzeugung ist, ist Obsession. So bringt Lolini alles sofort auf Null zurück und beginnt immer wieder von Null. (…) Lolini arbeitet nicht viel an den Texten. Wenn er es tut, dann, um etwas wegzunehmen. Kleinere Variationen, Ausbesserungen, denke ich mir. Ein weiterer Zusatz. Noch ein Vermerk, der aber auch anderswo stehen könnte. Seine Art Gedichte zu schreiben ähnelt derjenigen, Aufzeichnungen zu machen. Nur durch die Wiederholungen und das treue Beharren auf negativen Diagnosen wird die Form erreicht. Die Form ist ein Sich-Zurückbesinnen des Geistes und der Worte auf sich selbst. Am Ende aber kommt man, und zwar ganz natürlich, auf den Reim und auf die Minimalstrophe. (…) Die sprachlichen Mittel, die Lolini gebraucht, sind reduziert und direkt. Das Spiel der Wahrheit schwankt zwischen Kurzvermerk und dem (fast) ungewollten Epigramm. Was beeindruckt, ist mehr die Wahrheit als das Spiel, eine Wahrheit aber, die nie vom Stil neutralisiert wird.“
Man könnte auch von einer Poesie des Verzichtes sprechen. Lolini misstraut dem vollmundigen, diskursiven, wohlabgewogenen Wort. Er schreibt einen gewollt unrhetorische, „arme“ Sprache, manchmal abgehackt, zersplittert. Flashartige Bilder, kurzatmige Impressionen, knappste Reflexionen bestimmen seine Lyrik, wobei die späten und kürzeren, gewiss vollendeteren Gedichte gelegentlich ein wenig aseptisch wirken, was aber ihren kühlen Reiz noch erhöht:
Wann ist’s
nur gewesen
dass mein blasses
Gesicht
einfror
ein Verfallsdatum darauf
such ich vergebens
Voller Leben und Rebellion sind hingegen die frühen Gedichte. In ihrer ausbrechenden, bukowskihaften Vitalität haben sie bei Kennern sofort Verständnis und Zustimmung gefunden. Ohne die Beat-Generation und die Achtundsechziger Jahre sind diese Gedichte sicher nicht denkbar, sie sind aber ein spätes Produkt der Stundentenunruhen, der sogenannten Contestazione, ein reifes, ironisches, literarisches Produkt (auch das betont Pubertäre darin ist nichts als neckisches Spiel), gerade deswegen aber eines der ganz wenigen, das in der italienischen Literatur Bestand haben wird. Der Wert dieser Gedichte, in denen sich Melancholie und Sarkasmus paaren, liegt aber auch darin, dass Lolini hier als erster ideologisch frei schreibt, was z.B. in folgenden, an den Kommunistenführer Pietro Ingrao gerichteten Versen mit entwaffnender Einfachheit zum Ausdruck kommt:
die armen, wie sehr sie einander
verachten, verehrter ingrao
So konnte denn Pasolini 1974 mit Recht sagen „Um Lolini herum herrscht tiefstes Schweigen.“ Und nachdem er die geistigen Väter Lolinis genannt hat (Leopardi, Gozzano, Ginsberg, Ferlinghetti, Montale; man könnte Villon, Baudelaire, Larkin, Benn, Lowry und Jabès hinzufügen), führt er aus:
„Lolini ist also ein gebildeter, bürgerlicher Dichter. Trotzdem hat er Ekel vor der Kultur, und was die Poesie betrifft, so verachtet er sie: Sie ist ein Instrument der Herrschenden, erstes Zeichen jeder Integration und jedes Verrats, eine Hanswurstiade. Er macht sich also zum Objekt einer gnadenlosen und globalen Selbstkritik, da er eben ein Hanswurst ist, ein ‚Verrückter‘, der Verse schreibt. In diesen letzten Jahren hat man ganze Wortströme über die Contestazione gelesen (auch wenn man sie seit kurzem plötzlich wieder verschweigt). Lolini ist wirklich der letzte. Vielleicht werden die Unruhen wieder beginnen; aber jetzt herrscht um Lolini herum tiefstes Schweigen. Er kommt zu spät. Aber in diesem Zuspätkommen findet sich seine Ehrlichkeit. Er lügt nämlich. Seine Wut ist rekonstruiert, sie ist nicht direkt, sie ist also keine Notwehr. Er macht aus ihr eine Manier und fügt sie in die Literaturgeschichte ein.“ Und weiter unten:
Lolini beichtet (mit zu zwanghafter Beharrlichkeit, als dass sie noch als natürlich gelten könnte) von einem Leben, das dem durchschnittlichen Leser nicht anders als verworfen und skandalös erscheinen muss: denn es handelt sich nicht nur (z.T. ist es auch so) um das Leben eines Poète maudit, der aber alles in allem ein Bürgerlicher bleibt, sondern auch um dasjenige eines ‚Randständigen‘, eines ‚Elenden‘, eines ,Penners‘ und ‚Strichers‘; das sind nichts anderes als Tatsachen. Aber derartige, die alle skandalisieren, nicht nur um ihretwegen, sondern wegen der Ideologie, die sie dominiert: d.h. wegen des Hasses gegenüber den ‚wundervollen und progressiven Geschicken‘ jeder Art (Entwicklung nach Rechts oder Fortschritt nach Links): das Register aber ist das einer Bitterkeit, die, so sehr sie auch manieriert ist, am Schluss merkwürdigerweise doch ehrlich klingt und die den freien Leser mitzureißen vermag.
Man bedenke: Pasolini schrieb diese Zeilen wenige Monate vor seinem Tod, zu einer Zeit also, in der es relativ wenige „freie Leser“ gab und Lolinis im doppelten Sinne freie Verse Anstoß erregen mussten. Der freie Leser aber findet heute noch höchsten Genuss an diesen frühen (pseudo?)-rebellischen Gedichten. Obwohl sie Lüge sind, haben sie von ihrer Jugendfrische und ihrer Überzeugungskraft noch rein gar nichts verloren, vielleicht ein Zeichen, dass es sich bei Lolini doch um einen großen Dichter handelt, einen großen Dichter womöglich deswegen, weil er die Poesie hasst und alles, was mit Poesie zu tun hat, verachtet.
Christoph Ferber, Vorwort
so beklagt sich ein fiktiver Briefschreiber in Attilio Lolinis Collage „Marradi“ (in: Belle Lettere, Turin: Einaudi, 1991), bevor er die Vorhänge seines Hotelzimmers zerschneidet – „Devono ben ricordarsi di me.“ −, um schließlich vor einem mit „autentica merda“ aufgewerteten Spiegel zu ,verenden‘. In einem kurzen Absatz werden dort die Fixsterne des Lolini’schen Universums aufgezählt: Künstlichkeit, Aggression, Fäkalismus, Alter, ja mehr noch: Posterität. Auch in Lolinis Gedichten, die nun in kleiner Auswahl auf deutsch erschienen sind, spricht ein Ich, das mal angeekelt, mal wehmütig den eigenen Kadaver betrachtet.
Hinter der Maske melancholischer, abgewrackter und verdrogter Pennergestalten, feixt hier immer wieder ein Dichter, der sich dem Betrieb verweigert, und wirft „müde / Wörter / die unschuldig / waren“ weg. In anschaulichen Alltagsmetaphern lamentiert und spottet er über das Zeitalter der künstlichen Reproduzierbarkeit, in der die Tage Dosen oder Photokopien und die Ichs Klone sind. Aber er ist kein benjaminisch gestimmter Nostalgiker, sondern flüchtet sich frei nach Baudelaire in künstliche Träume, läßt Plastikblumen erblühen wie Trostpreise und ernährt sich selbst von „surgelati“. Das erfrischende an diesen kleinen, nicht besonders kunstvollen Texten ist gerade die Bejahung des Schäbigen und Asozialen, die beinahe lustvolle Selbstverleugnung. Hin und wieder klingt die bittere Akzeptanz der Vergänglichkeit ein wenig nach Barock, alles ist „vorbei wie es sein musste“, und auch die Worte täuschen immer schlechter über die groteske Sinnlosigkeit einer dem Ende und Nichts geweihten Existenz hinweg. Im Grunde aber weht hier keineswegs der Geist menschlicher humilitas, im Gegenteil: die Vergänglichkeit ist eine selbst gewählte, auf die Spitze des Paradoxons getriebene. In pessimistisch misantropher Tradition sitzt dem Sprecher nicht etwa seine Sterblichkeit im Nacken. Vielmehr stören ihn seine Geburt und die vervielfältigten Oberflächenreflexe seines Lebens, z.B. in Photographien, von denen er ungläubig feststellen muß: „c’entro dentro“. Mit der Sprache hingegen, und das ist ein ganz und gar sympathisches Projekt, läßt sich für ein Leben sprechen, das man nicht oder nicht mehr hat, läßt sich so tun, als sei man geboren, und dabei auch der Zombi-Vorteil des uomo già fui-Status nutzen. Was so produziert wird, ist streng genommen nicht für die Müllkippe, es ist das Leben oder – wie es an anderer Stelle (Belle Lettere) heißt – das Epos als Müllkippe.
Attilio Lolini hält, soweit Informationen über ihn überhaupt vorhanden sind, was er verspricht, bleibt abseits, wenn nicht versteckt, versucht es erst gar nicht mit dem großen Publikum. Was natürlich nicht bedeutet, daß nicht auch er die ganz großen Themen hat. In den neunziger Jahren beispielsweise übersetzte er den Faust I für die Compagnia Giorgio Barberio Corsetti, die Presseberichten zufolge das ehrwürdige Schauspiel anschließend „ehrfurchtslos in den Dramenhäcksler (steckte)“. Erfreulich also, daß deutschsprachige Leser nun eine Kostprobe seines eigenen dichterischen Werks der letzten dreißig Jahre gereicht bekommen – vermutlich ganz nach Lolinis Geschmack veröffentlicht in einem kleinen Galerieverlag und begleitet von mal evokativen, mal enigmatischen Kohlezeichnungen.
Die von Christian Ferber getroffene Auswahl erscheint dem Rezensenten als kohärent und repräsentativ. Unverständlich bleibt einzig, weshalb in einer deutschen Übersetzung gerade das Gedicht „Benn“ fehlt, das der italienische Band Notizie dalla necropoli (Turin: Einaudi, 2005), dem alle Texte entnommen sind, enthält. Darin wird Benn, durchaus nicht unpassend, selbst zum Bierfahrer, in dem eine italienische Aster blüht. Eine Übersetzung, zumal von Lyrik, ist sicher immer streitbar – warum wird im Titel des Bandes aus einem passato remoto ein Präsens? Macht das nicht einen gewaltigen Unterschied? −, wenn sie aber dazu dient, einen Autor, den hierzulande niemand kennt, etwas bekannter zu machen, kann man ihren Urheber nur beglückwünschen.
Sven Thorsten Kilian, Horizonte, 2008/2009
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