WENN X
Wenn X
abwesend wäre
wenn man zumindest bemerkt hätte
dass es an der Grenze nichts als perforierte Linien
aaaaagibt,
Gesichter, Tote, losfahrende Floße, Wolken,
aaaaaSchwärme. Wenn X
sich verpflichtet sähe, in der Ironie zu verharren
bis er in der Lage wäre, neue Worte abzuliefern,
würde er sich selber durchqueren.
Silvana Franzetti
übersetzt von Monika Rinck
Silvana Franzetti über Monika Rinck
Wenn die Poesie bereits an sich ungewöhnliche Ware schmuggelt, wiegt dieses Material in der Übersetzung sogar das Doppelte. Sobald sich außerdem zum Übersetzen zwei Dichter zusammenfinden, dann vervierfacht sich das Gewicht dieser Ware. Für das Überschreiten dieser Grenze, für das magische Passierscheine erstellt werden, um vorzutäuschen, daß dieses Gepäck kein Übergewicht hat, war Monika Rinck eine exzellente Reisekomplizin.
Monika Rinck über Silvana Franzetti
Eine Schwierigkeit unter all den anderen Schwierigkeiten (wobei: Übersetzungsschwierigkeiten sind gute Schwierigkeiten im Gegensatz zu finanziellen Schwierigkeiten oder bürokratischen Schwierigkeiten oder Schwierigkeiten bei der Einreise) war die, daß es im Spanischen kein Ü gibt. Wie macht es denn dann PHÜH? Und wir saßen an dem kleinen Tisch und intonierten immer wieder: PHÜH, bis es gelang, sich ihm mittels eines vokalischen Work-Arounds von der anderen Seite aus anzunähern.
Was kommt heraus, wenn ein Dichter und sein genauester Gutachter, ein anderer Dichter, aufeinander treffen? In der Regel ein Gespräch über Dichtung. Wenn die beiden Dichter jeweils eine andere Sprache sprechen, wird das Gespräch Möglichkeiten des Übersetzens und Publizierens im jeweils anderen Sprachraum mit einschließen. Sprechen sie häufiger miteinander, begründet sich nicht selten eine Freundschaft, die, da sie ein großes gemeinsames Thema hat, womöglich ein Leben lang hält.
Im Frühsommer 2005 trafen beim Poesiefestival Berlin zwölf deutschsprachige Dichterinnen und Dichter aus Deutschland, Österreich und der Schweiz auf zwölf ihrer Kolleginnen und Kollegen aus der spanischsprachigen Welt; aus Spanien, Mexiko, Chile, Argentinien, Kolumbien, Uruguay, Guatemala, Venezuela und Peru, um sich gegenseitig zu übersetzen. Wie aber geht das, wenn man die Sprache des anderen doch gar nicht spricht?
Die Literaturwerkstatt Berlin und das Instituto Cervantes Berlin als Veranstalter hatten vorab Interlinearübersetzungen von jeweils 10 Gedichten eines jeden Dichters in die andere Sprache anfertigen lassen. Das war das Material, das zur Verfügung stand, und drei-vier Tage saßen und arbeiteten zwölf Dichterpaare an der poetischen Neufassung in der jeweils anderen Sprache. Dicke Wörterbücher lagen zwischen ihnen und wurden im Zweifelsfall befragt, vor allem aber war es der Dolmetscher, den jedes übersetzende Dichterpaar zur Verfügung hatte, der die Interaktion beim neudichten ermöglichte.
Diese übersetzten und somit neuen Dichtungen können sich sehen und hören lassen, sind sie von ihren Schöpfern doch autorisiert! In die Übersetzungen eingegangen sind auch die oftmals intimen Geschichten, die hinter den Worten und Versen liegen, und die sich die übersetzenden Dichter natürlich erzählt haben. Weil das alles wieder Form, also Vers werden mußte in der anderen Sprache, haben sich die Dichterinnen und Dichter in den Tagen des miteinander Arbeitens ihre Gedichte mehrfach vorgetragen und damit geprobt, was an zwei Abenden öffentlich vorgestellt wurde: Die Ergebnisse eines großen Übersetzungsworkshops, der ästhetisches wie menschliches Abenteuer in einem war. Der vorliegende Band präsentiert diese Ergebnisse und läßt uns via CD teilhaben an den beiden spanisch-deutschen Sprach-Konzerten, wie sie am 28. und 29. Juni 2005 in Berlin über die Bühne gegangen sind. Jeder Dichtung ist hier ihr Instrument, die Stimme des Dichters, beigegeben, die uns in die Lage versetzt, unser Lektüreerlebnis um den Klang von Versen in Sprachen zu erweitern.
Es ist der Poesie als eigenständiger Kunst nur angemessen, wenn sie medial gesehen doppelt auftritt; als zu Hörendes und zu Lesendes, denn es sind die im Geschriebenen verborgenen musikalischen Strukturen und Elemente, die ein Gedicht erst Dichtung werden lassen. Die CD macht hörbar, daß die Übersetzung von Poesie nicht ein der Grammatik gehorchender Vorgang ist, sondern eine musikalische Umsetzung, die wieder gute Dichtung werden will und somit nicht selten in Variationen auftritt. In jeder Konstellation haben die Dichter ihren eigenen Ton mit eingebracht in die Übersetzung und sich auf dem Weg zum guten neuen Gedicht somit die Freiheit genommen, die sie dafür brauchen. Verse-Schmuggeln geht eben nicht entlang geregelter Bahnen sondern ist ein komplexer Vorgang, der alle sprachliche Findigkeit erfordert, weil er an den strukturellen Hürden der anderen Sprache vorbei, bzw. sich damit arrangieren muß.
Je nachdem wie gezählt wird gilt Spanien mit seinen über 400 Millionen Sprechern als die viertgrößte Sprache der Welt. Deutsch wird von etwa 100 Millionen Menschen gesprochen. Die jeweilige Dichtung hingegen ist im wesentlichen nicht bekannt. Mit dem vorliegenden Band ist also ein erster Schritt getan, zeitgenössische Dichtung zweier riesiger Sprachräume mit grundverschiedenen, aber jeweils großartigen ästhetischen Traditionen und eigenständigen Modernen einander näher zu bringen. Die Herausgeber sind sich bewußt, daß hier nur eine Orientierung gegeben werden kann, was im jeweils anderen Sprachraum als wichtige zeitgenössische Dichtung gilt, zumal verschiedenste kulturelle Zusammenhänge oder Brüche zwar unter dem Dach der gemeinsamen Sprache Platz haben, aber zu grundlegend verschiedenen Referenzen im jeweiligen gesellschaftspolitischen Raum geführt haben. Ein in Spanien entstandenes Gedicht verweist auf andere Zusammenhänge als ein Gedicht aus Lateinamerika oder der Karibik. Das gilt im deutschen Sprachraum nur bedingt…
Aurélie Maurin und Thomas Wohlfahrt, aus dem Vorwort
aus neun spanisch- und drei deutschsprachigen Ländern sind sich diesmal begegnet, um ihre Poesie über die Grenzen der Sprachwelten hin- und herzuschmuggeln. Silbe für Silbe, Laut für Laut stimmten sich die Dichter aufeinander ein und entwickelten in filigraner Wortarbeit eine poetischen Neufassung ihrer Gedichte in der jeweils anderen Sprache. Die Ergebnisse dieses großen Übersetzungstreffens sind zu lesen als Buch und zu hören auf CD. Aufgenommen wurden die Lesungen Im Berliner HAU-Theater, im Rahmen des poesiefestival berlin 2005, das die Literaturwerkstatt Berlin jährlich veranstaltet. Der Band ist gleichzeitig bei Huerga y Fierro Editores in Madrid erschienen.
Mit: Nico Bleutge, Helwig Brunner, Ulrike Draesner, Gerhard Falkner, Silvana Franzetti, Antonio Gamoneda, Eugen Gomringer, Harald Hartung, Clara Janés, Johannes Jansen, Gregor Laschen, Eduardo Milán, Vicente Luis Mora, Fabio Morábito, Eugenio Montejo, Carmen Ollé, Monika Rinck, Ana María Rodas, Juan Antonio Masoliver Ródenas, Armando Romero, Frank Schablewski, Christian Uetz, Elisabeth Wandeler-Deck, Raúl Zurita. Zu lesen und zu hören sind jeweils spanisches Original und deutsche Übersetzung.
Verlag das Wunderhorn, Ankündigung, 2006
Wer im deutschen Sprachraum an Literatur in portugiesischer Sprache denkt, dem fallen wahrscheinlich Fernando Pessoa, José Saramago, Antonio Lobo Antunes, vielleicht auch Lídia Jorge und der brasilianische Bestsellerautor Paulo Coelho ein – sonst kaum jemand. Dies jedenfalls muss man aus der kargen Auswahl schließen, die deutschsprachige Verlage (mit wenigen Ausnahmen) dem Leser anbieten. Tatsächlich aber ist die Dichtung portugiesischer Sprache reichhaltiger, differenzierter und interessanter. Zeugnis davon hat das diesjährige Poesiefestival in Berlin abgelegt, das dieser Lyrik gewidmet war. Autoren aus Angola, Brasilien, Kap Verde, Guinea-Bissau und Mosambik boten dem Berliner Publikum ein facettenreiches Bild von dem, was diese geographisch und kulturell weit gefächerte Literatur zu bieten hat. Zehn von ihnen trafen sich mit einem österreichischen und neun deutschen Kollegen zum – so darf man inzwischen wohl sagen – traditionsreichen Versschmuggel.
Drei Tage lang arbeiteten je ein deutsch- und ein portugiesischsprachiger Autor zusammen, um ausgewählte Gedichte des Partners in die eigene Sprache zu übertragen. Das Besondere an dieser Begegnung war, dass beide bis dahin weder sich noch (mit wenigen Ausnahmen) die Sprache des anderen kannten. Diese Arbeit diente somit der interkulturellen Erfahrung, dem literarischen Erleben und der Übertragung von bislang noch nicht übersetzter Lyrik für ein breiteres Publikum – jenseits der engen Grenzen kommerzieller Verlagsproduktion.
Ein solches Unternehmen will sorgfältig vorbereitet sein. An die mehrere Monate währende Phase der Auswahl lusophoner Dichter mit Hilfe einer deutsch-portugiesisch-angolanischen Expertengruppe schloss sich die der Findung ihrer deutschsprachigen Gegenspieler und die Zusammenstellung der Paare an – ein Vorgang, der neben einer guten Kenntnis der beteiligten Dichterinnen und Dichter Einfühlungsvermögen erforderte. Jeder Lyriker wurde gebeten, Gedichte aus seinem Werk einzuschicken. Von diesen wurden dann durch Kenner der portugiesischen und der deutschen Sprache „Interlinearversionen“ in der jeweils anderen Sprache erarbeitet – nicht um Interlinearversionen im sprachgeschichtlichen Sinn, wie sie deutsche Mönche im Mittelalter für ihr besseres Verständnis liturgischer Texte angefertigt hatten, indem sie unter oder über die lateinischen Texte die deutschen Wörter für die ihnen nicht vertrauten fremden Vokabeln schrieben, sondern genauer: unkommentierte Rohübersetzungen, die nicht auf poetische Qualität angelegt waren, sondern inhaltlich möglichst exakte Übersetzungen, die sich sprachlich so eng wie möglich an die Originalfassung anlehnen und in Fußnoten auf Doppelbedeutungen, Wortspiele und Hintergründe hinweisen sollten. Außerdem stand jedem der beteiligten Dichterpaare ein Sprachmittler zur Verfügung, der die Gespräche zwischen den beiden dolmetschte, Rückfragen zu Form und Inhalt ermöglichte und stilistische Probleme zu erörtern half.
Dass Dichter andere Dichter übersetzen, ist nichts Ungewöhnliches; ungewohnt ist jedoch, dass sie dies aus einer Sprache tun, die ihnen nicht vertraut ist, und dass sie es im Beisein des zu Übersetzenden tun. So kann derjenige, welcher übersetzt wird, zwar den Prozess der Übertragung miterleben, diskutieren und beeinflussen, ist aber letztlich doch darauf angewiesen, seinem Partner zu vertrauen, weil er ja dessen Sprache nicht beherrscht oder nicht so, dass er das Ergebnis kontrollieren könnte. Im Ergebnis mischen sich größerer Abstand durch Fremdheit mit größerer Nähe durch direkte Begegnung, stärkere Einflussnahme auf den Übersetzungsprozess durch das Gespräch mit weniger Kontrolle und mehr Vertrauensvorschuss.
Beeindruckend für den teilnehmenden Beobachter war, wie viel Freiheit die Dichter einander gewährten, wie viel Vertrauen sie einander entgegenbrachten und wie souverän als Folge dessen die Übertragungen wurden. Der mosambikanische Dichter Luis Carlos Patraquim z.B. drückte es so aus: Er sehe es nicht als seine Aufgabe an, die Gedichte von Richard Pietraß, mit dem er zusammenarbeitete, bloß zu „übersetzen“, sondern sie ins Portugiesische zu „verändern“, und Richard Pietraß nahm dies nicht nur hin, sondern griff das Verfahren für die Übertragung der Gedichte seines Partners ins Deutsche auf, wobei der eine mehr auf originelle Formulierungen in seiner Sprache Wert legte und der andere eher auf Verknappung und Verdichtung. Im Ergebnis verfassten beide Gedichte, die ihrer Vorlage mehr in Stil und Duktus glichen als in Inhalt und Form und deren poetische Struktur stark durch die Persönlichkeit des Übertragenden geprägt wurde.
Durch ein Statement über seine Erfahrung bei dieser Werkstatt soll mit Arne Rautenberg stellvertretend für alle einer der Dichter selbst zu Wort kommen, denen wir die Übertragung der portugiesischen Verse in unsere Sprache zu verdanken haben:
Es ist dieses verrückte Drehen am Wort, die Drehung um das Wort herum; es fühlt sich an, als stünde man in einem Sumpf: Mit jeder Bewegung, die man macht (um wieder herauszukommen) gerät man tiefer hinein — und plötzlich ist man ganz verschwunden und woanders, trifft Menschen vom anderen Teil der Erde, denen es genauso geht. Zu zweit taucht man dann an einem völlig neuen Ort wieder auf und überlegt, was man erkennen könnte und was nicht; denn vieles Bekannte erscheint in einem neuen Licht und vieles, was vorher unbekannt schien, lässt sich mit einer großen Selbstverständlichkeit greifen. Als würde man Poesie mit Poesie übersetzen. Und eben diese Idee macht die Größe von Versschmuggel aus: dass Dichterinnen und Dichter Dichterinnen und Dichter aus aller Welt übersetzen.
(…)
Kurt Scharf, Ostragehege, Heft 52, 2008
Aurélie Maurin und Rainer G. Schmidt: Übers Übersetzen von Gedichten
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