DIE SPRACHE GIBT DEN LÖFFEL AB
Wer kommt in meine Sprache?
Frag ich dich
frag du mich
du Schlaflose.
Komm
frag mich doch, du mich doch, ich dich dann wieder,
Gibt es das Tor in deiner Sprache
das auf mein Herzklopfen sich öffnet?
Hör mich doch, du mich doch, ich dich dann wieder.
Was können die Tränen in deiner Sprache?
Was können Tränen in deiner Sprache
wenn ich von der
Rebe
der Rebe des Weinen
die salzigen Trauben
heimkarre
und sie
auf dein Gesicht lege
läßt du sie dann rollen, rollen sie in deiner Sprache?
Frag ich dich, frag du mich, du mich doch, ich dich dann wieder.
Wollen sie heim
die erratenen Worte
heim in die Dämmerungsanstalt?
Was mußt du dann abgeben, du in deiner Sprache?
Du, den Löffel.
Ich, ich in meiner Sprache den Schlüssel
Da liegen noch ein paar Vergleiche im Keller.
Ich bin schuld! Du bist schuld!
Wer ist schuld!
Die verdammten Ratten sind schuld!
Frag du mich, frag ich dich, du mich doch, ich dich dann wieder.
Was erwartet die Hand in deiner Sprache?
Ich hatte ihren Kopf, einen an jedem Arm
damit ließe sich etwas anfangen
anfassen, umarmen.
Dir zeigt sie nur ihre Kehle
die Handkehle.
Was kann eine Kehle
außer singen, oder schreien
einschießen in die volle Traube.
Dann sing eben, sing, schrei, verschluck dich
schluchze, röchle
speie die Kummerbrocken
auf ein weißes Blatt:
Ein Bild. Ein Mädchen und eine Wildgans. Die Gans hat ein Bein hochgezogen.
Das Mädchen lehnt den Kopf an ihren dünnen langen Hals.
Wer kommt in meine Arme
hör ich dich, mich, hör du mich
hör doch
die erratenen Worte
haben das Herztor aufgestoßen
die Trauben
zertreten, zertreten, zertreten
Laß uns tauschen
gib mir den Löffel
nimm du den Schlüssel
Orsolya Kalász
Wundersame, seltsame Hände- und Wörterschüttelei. In den verschiedenphonen kanadischen Artikulationswäldern mit wienerischer Hacke bissl an den Rändern geritzt und schon geht die dortige Poesiepumpe los.
Begegnungen von Menschen, die wissen, dass sie an Sprachsucht erkrankt sind und in einer Gruppe an der Verewigung dieser Sucht arbeiten, das ist Versschmuggel.
Robert Schindel
Es ist wie das Erkennen eines herannahenden Straßenschildes bei schwerem Nebel, aus der Ferne betrachtet. Ein Gedicht, mit dem enormen Kraftaufwand einer dritten Partei, in die eigene Sprache zu übertragen, hinterlässt das Gefühl, an irgendeiner Stelle der Straße einen verheerend falschen Weg eingeschlagen zu haben. Ich konnte nur hoffen, dass das Gedicht auf englisch seinen eigenen Wert hatte und vielleicht an das frühere oder parallele Leben auf französisch oder deutsch erinnerte. Ich erinnere mich an Augenblicke während des Workshops mit Dichtern und Dolmetschern, an denen man spürte, dass eine große Menge an Informationen allein über das Lachen oder wildes Gestikulieren oder Schweigen vermittelt wurde. Vielleicht eine Illusion, aber deshalb nicht weniger aufregend.
Ken Babstock
gibt es das Tor in deiner Sprache
das auf ein Herzklopfen sich öffnet?
Orsolya Kalász
Der vorliegende Band vereint bisher Unerhörtes und nicht Gelesenes.
Nicht nur, dass kanadische/Québecer Gegenwartslyrik in Deutschland so gut wie unbekannt ist wie umgekehrt deutschsprachige in Kanada und Québec. Zu den schönsten Lese- und Hörerfahrungen dürfte nach der Lektüre fortan auch gehören, dass sich kanadische und Québecer Dichterinnen und dichter erstmals in Berlin begegnet sind und sich und ihren deutschsprachigen Kollegen in sehr intensiver Weise Einblicke in die eigene Dichterwerkstatt gewährt haben.
Die Literaturwerkstatt Berlin hat 18 Dichterinnen und Dichter aus den englischsprachigen Provinzen Kanadas und aus der französischsprachigen Provinz Québec, aus Deutschland, der Schweiz und Österreich 2007 zu einem Übersetzungsworkshop eingeladen, der während des poesiefestival berlin stattfand. Das bedeutete für jeden Dichter, beinahe eine Woche lang die Übersetzungen der eigenen Tete in zwei andere Sprachen zu begleiten und im Gegenzug Gedichtübersetzungen aus zwei anderen Sprachen in die eigene selbst zu erarbeiten.
Wie geht das, vor allem, wenn die anderen Sprachen nicht oder nur bedingt gut beherrscht werden?
Die Literaturwerkstatt Berlin hat für diese Art des Übersetzens eine Methodik entwickelt. Zunächst werden Interlinearübersetzungen aller Gedichte in die drei Sprachen in Auftrag gegeben. Auf dieser Materialgrundlage und mit Hilfe eines Dolmetschers zwischen beiden sich gegenseitig übersetzenden Dichtern konnte die Spracharbeit beginnen. Untereinander sind Dichter sicher ihre genauesten Gutachter. Ungewohnt ist, dass sie den Kollegen in seinem Beisein übersetzen. Genau darin liegen Abenteuer und Reiz des Verfahrens. Die Dichter haben sich die Gedichte und dann die Übersetzungen mehrmals laut vorgelesen und sich die oftmals intimen Geschichten, die hinter den Worten liegen erzählt. Sie haben in morphologischen und syntaktischen, letztlich in phonetischen und grafischen Ausweichmanövern neu erfunden, was nicht transportierbar war, um eines zu erreichen: Dass das Gedicht in der anderen Sprache eben nicht nur eine Übermalung oder Übertragung würde, sondern dem Original in Klang, Form und Gehalt so nahe wie möglich komme und (wieder) ein gutes Gedicht sei. Um dieses Ergebnis zu erzielen ist in der Anwendung der letztlich spracharchäologischen Verfahren größtmögliche Freiheit erforderlich. Die vorliegenden Übersetzungen dürfen auch deshalb als hervorragend bezeichnet werden, weil die Freiheiten von den Schöpfern selbst autorisiert wurden. Der Leser/Hörer wird verfolgen können, wie sich der Text- und Klangkorpus des übersetzten Gedichts gegenüber dem Original verändert hat, um ihm in form und Gehalt weitmöglichst zu entsprechen.
Dieser Band will ein Anfang sein und Leser und Hörer ermuntern, sich auf beiden Seiten des Atlantiks mehr füreinander zu interessieren. Es gibt keine andere Kunst neben der Poesie, in der so vieles neues zu entdecken wäre. Poesie ist eine eigenständige Kunst und tritt als solche erst allmählich in unser Bewusstsein. Jede Kunst hat ihre spezifischen Medien zu entwickeln. Poesie ist eine Kunst der Sprache, die dabei in musikalische Strukturen gefasst ist; in Klänge und Rhythmen. Es ist nur konsequent, Gedichte zu lesen und zu hören.
Auf den beiden CD ist das Sprach-Konzert als gebrannte Performance zu erleben, das während des poesiefestival berlin am 26. Und 27. Juni 2007 einem großen und begeisterten Publikum die Arbeitsergebnisse des französisch-englisch-deutschen Übersetzungsworkshops präsentierte: ein gelungener und zudem sinnlich-heiterer VERSschmuggel.
Aurélie Maurin / Thomas Wohlfahrt, Aus dem Vorwort, 2008
Erstmalig trafen sich englisch- und französischsprachige Dichter aus Kanada und Québec gemeinsam mit deutschsprachigen Kollegen. Das Ergebnis des gegenseitigen Übersetzens lesen Sie in dieser dreisprachigen Ausgabe und hören Sie auf den zwei CDs.
Literaturwerkstatt, Ankündigung, 2008
Erstmalig trafen sich englisch- und französischsprachige Dichter aus Kanada und Québec gemeinsam mit deutschsprachigen Kollegen. Jede Dichterin, jeder Dichter begleitete die Übersetzungen der eigenen Texte in zwei andere Sprachen und erarbeitete im Gegenzug Übersetzungen aus zwei anderen Sprachen in die eigene – eine Sensation auch in Kanada, da sich die Dichter unterschiedlicher Sprachen in diesem Rahmen zum ersten Mal begegneten. Aufgenommen wurden die Lesungen beim poesiefestival berlin 2007. Der Leser/Hörer kann verfolgen, wie sich Text und Klang des übersetzten Gedichts gegenüber dem Original verändert haben, um ihm in Form und Gehalt weitmöglichst zu entsprechen. Dieser Band will Leser und Hörer ermuntern, sich auf beiden Seiten des Atlantiks mehr füreinander zu interessieren. Poesie ist eine Kunst der Sprache, die dabei in musikalische Strukturen gefasst ist, in Klänge und Rhythmen. So ist es nur konsequent, Gedichte zu lesen und zu hören.
Verlag das Wunderhorn, Ankündigung, 2008
Aurélie Maurin und Rainer G. Schmidt: Übers Übersetzen von Gedichten
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