FÜNF TEXTE DREI
(…)
***
Snowden ist lange tot
Die frühere North Raad Street in Elizabeth City, gegenüber dem ehem.
Albermarle Hospital,
in dem er am 21. Juni 1983 um 4:42 morgens geboren wurde,
an einem sommertag des jahres
18342
Die Server des Guardian
stehen im Londoner Sommer des Jahres ’13, lassen sich aber mobil
überall abrufen,
auch vor einem gut erhaltenen Exemplar der Hollerith-
Volkszählungsmaschine,
no?
In Heathrow wird von Arschlöchern das untersucht, was ich
David Mirandas Edelsteinsammlung
nenne. Der kristallisierte Rubin. Der ausgetrocknete Opal.
Der harzige Bernstein.
Der gebrannte Achat.
Das Bild einer Miranda-Speicherkarte und das Bild einer Hollerith-
Lochkarte liegen nebeneinander
auf dem Desktop
„Was ist Snowdens input in die Erde?“
„Es gibt Noösphäre“
wenn jemand eine offene Tüte Fruchtsaft in der abluft der server
liegengelassen hat
riecht es nach verkommenem Saft
Die konkrete Lesesituation vergeht, und mit ihr die Chance,
das Geheimnis zu bewahren,
zu leaken, Die Situation stirbt mit Ihnen,
Lesex
Denn mit Ihnen stirbt, meine ich, der Grund der Verheimlichung
die liebe Erd’ ist der
Grund des Geheimnisses
denn es gibt keinen leak der
lieben Erd’
Daniel Falb
AN ALLE UNTERGEHENDEN
Jemand brannte komplett aus und wurde,
von Innen zerknüllt,
ins Lageprofil einer Halde ausgegossen, hingegossen mit Erinnerung an
zwei, drei höchst gekonnte Todesfälle,
in Schlierensiedlungen –
Servietten –
Sabberte es raus, und schluckte keinen Tropfen davon.
Kollaps der untragbaren Lage; die Gelächelfossilien,
die übrigen … Liebesdinge.
Entfernen Sie das.
Warum?
Erinnerung an zwei, drei höchst gekonnte Todesfälle, – jemand loderte
komplett aus,
in Schlierensiedlungen.
Denis Larionow
Übersetzung Daniel Falb
Noha Abdelrassoul zu Ewgenia Suslowas „Acht Zimmer für den Krieg“ in der Akademie für Lyrikkritik – Fokus Russland
Ricarda Fait zu Gedichten von Denis Larionow in der Akademie für Lyrikkritik – Fokus Russland
Daniel Falb über Denis Larionow
Unser Übersetzungsworkshop mit Denis Larionow, Hendrik Jackson und mir war ein extremes Gespräch: endlos, weitläufig, verwinkelt und abwegig, und äußerst erhellend. Ich begann Denis meine kurz zuvor verfassten Gedichte, in denen ich Computergeschichte mit geologischer Geschichte verschränkte, auszufalten und die Wissenstopologien, auf die sie – hoffentlich – Durchsicht geben, zu beschreiben; und Denis musste irgendwie durch meinen Wortstrom hindurchnavigieren, sich an angeschwemmten Stücken nehmen, was ihm passte. Er, andererseits, ging ganz anders vor, viel sparsamer und langsamer: denn er musste der totalen Eingefaltetheit seiner Texte folgen, ihrer Ausdifferenzierung ins Innere der Wörter, von der wir zunächst immer nur den Rand der Falte zu sehen bekommen. Ins Innere einer Erinnerung: „Schlierensiedlungen“; ins Innere einer komplexen Struktur: Unterbrechung der Pause des Unfalls? – „Durchgang des Einhalts des Unfalls.“ So lebte ich einige Tage im postmodernen, hochphysiologischen und taktilen Gangsystem von Denis’ Lyrik. Ich hoffe, ich konnte in den Übersetzungen zumindest etwas davon ans Licht bringen.
Denis Larionow über Daniel Falb
Als ich den Brief der Kuratoren des VERSschmuggel bekommen hatte, konnte ich zuerst meinen Augen nicht trauen: Die selbstverständliche Freude wurde von einer immer wieder aufkommenden Frage begleitet, „Warum ich?“. Die Antwortvarianten wechselten, abhängig von der jeweiligen Stimmung und dem Gefühl, festen Boden unter den Füßen zu haben. Und als ich erfuhr, dass mein Partner bei der Übersetzungswerkstatt Daniel Falb sein würde, kam noch ein Gefühl von Interesse dazu: Seine Texte kannte ich schon von früher, hatte sie vereinzelt gelesen und sogar versucht, sie zu übersetzen, musste aber irgendwann aufgeben, weil die Herausforderung doch zu groß war. Ich kann nicht behaupten, über gründliche Kenntnisse des deutschen poetischen Kontextes zu verfügen, aber ich halte die Texte von Daniel für eine sehr wichtige und besondere Erscheinung in der internationalen Lyriklandschaft: Ich hoffe sehr, dass ich noch etwas ausführlicher darüber schreiben kann. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass ich nach Abschluss der Übersetzungswerkstatt jeden Tag an die Texte oder an Falb selbst gedacht habe.
Ich möchte den bestechenden, den unverfälschten Demokratiesinn der deutschen Kollegen erwähnen, ihr Interesse an der Arbeit des Anderen, welches aber auch eine besondere Aufmerksamkeit sich selbst gegenüber nicht negiert. Der Kontext, an den sich die deutschen Kollegen halten, ist sehr weitläufig, es ist im Grunde die Welt-Poesie in Verbindung mit einem akademischen Wissen und Praktiken der zeitgenössischen Kunst. Das kulturelle Feld, auf dem sie agieren, ist offenkundig weitläufiger – das nimmt Einfluss auf ihre Arbeit und auf die Grundsätze ihrer Beziehungen untereinander.
Diese Anthologie ist zugleich Tagebuch und Ergebnis einer einmaligen Sprachexpedition: Auf Einladung des Goethe-Instituts Moskau und der Literaturwerkstatt Berlin trafen sich sechs russische und sechs deutsche Dichterinnen und Dichter im Mai 2015 in Moskau, um das Abenteuer zu wagen, sich gegenseitig zu übersetzen, ohne die Sprache des anderen zu verstehen. Die Ergebnisse dieser Schmuggelei wurden in Moskau, St. Petersburg und Nishny Novgorod in öffentlichen Lesungen vorgestellt und diskutiert.
Was zunächst absurd klingen mag, beruht auf einer bewährten Methode, die als VERSschmuggel bekannt ist und in der Literaturwerkstatt Berlin entwickelt wurde: Die Dichter arbeiten paarweise auf der Basis von Interlinearübersetzungen und mit Hilfe eines Übersetzers zwischen ihnen zusammen.
Wie soll das aber funktionieren, wo doch eine poetische Übersetzung herzustellen oftmals als unmöglich bezeichnet wird? Man denke nur an die Worte Nabokovs, der über die Unmöglichkeit, die Eigenheiten der russischen Poesie zu übersetzen, klagte und schrieb:
I want translations with copious footnotes, footnotes reaching up like skycrapers to the top of this or that page so as to leave only the gleam of one textual line between commentary and eternity
(Ich will Übersetzungen mit üppigen Fußnoten, will Fußnoten, die wie Wolkenkratzer bis an die obere Kante dieser oder jener Seite reichen und nur den Schimmer einer Textzeile hindurch lassen zwischen Kommentar und Ewigkeit).
Und genau so sehen die Interlinearübersetzungen aus, die als Grundlage für die Zusammenarbeit dienen: Sie sollen in erster Linie den Sinn des Gedichts wiedergeben und in einem häufig umfangreichen Fußnotenapparat auf rhythmische und klangliche Besonderheiten, auf Bedeutungsvarianten und andere sprachliche Eigenheiten aufmerksam machen. Aber im Gegensatz zur Idee Nabokovs, der behauptete, Poesie zu übersetzen sei ein krimineller Akt und das Original eines Gedichts dürfte nur wörtlich wiedergegeben werden, sind die Interlinearübersetzungen nicht das Ende, sondern der Ausgangspunkt des Übersetzungsabenteuers. Sie sind die Landkarte in der Hand der Dichter – und mit einem Sprachmittler an der Seite kann die Reise beginnen.
Der Sprachmittler ist dabei ein feinsinniger Berater, der sich in beiden poetischen Landschaften gut auskennt und dafür sorgt, dass beide Dichter beim Übersetzen in ihrer Muttersprache bleiben und ihrem Partner intensiv, sehr persönlich und genau die Geschichten erzählen, die hinter den Worten des zu übersetzenden Gedichts liegen. So entsteht ein direkter Austausch, der ein intensives Schmuggeln von stilistischen Zusammenhängen, kulturellen Konnotationen, poetischen Traditionen und Kompositionsverfahren erlaubt. Der einzelne Dichter ist auch im Akt des Übertragens, des Übersetzens ein Dichter und autorisiert die Übersetzung des eigenen Gedichts durch den Kollegen: Das Eigene wird in fremde Verse geschmuggelt und entsteht als mit größtmöglicher Freiheit geschaffenes Neues – und vice versa, so dass in der anderen Sprache wieder ein Gedicht entsteht.
Das VERSschmuggeln stellt immer auch einen großen Raum fürs Experimentieren, für Sprachschöpfung dar. Manche Dichter verstehen den Prozess als Fortschreibung ihrer eigenen Poetik – sie setzen ihre eigene Poetik über, setzen sie quasi um. Andere halten ihre eigenen poetischen Vorstellungen zurück und dienen der Poetik des Kollegen. Am Ende, und darum geht es, sind in der Zielsprache Gedichte entstanden, die unserer Kritik als Leser genügen und trotzdem den anderen und fremden Kontext zugänglich machen.
In diesem Band sind vielfältige Facetten des poetischen Übersetzens vertreten. Die Lektüre der Anthologie kann zwischen Original und Übersetzung, zwischen eigener und fremder Poetik, zwischen Sprachen und Sprachwelten hin- und herwechseln. Ergänzt werden die Gedichte durch kurze Essays der Dichter sowie der Übersetzer, die einen persönlichen und anekdotenreichen Einblick in die Schmuggelaktivität gewähren.
So kann sich der Leser ein Bild von den Schmuggeltagen in Moskau machen, die fröhlich, intensiv und voller Humor waren.
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Aurélie Maurin, Thomas Wohlfahrt, April 2016, Vorwort
ist zugleich Tagebuch und Ergebnis einer einmaligen Sprachexpedition: Auf Einladung der Literaturwerkstatt Berlin / Haus für Poesie und des Goethe-Instituts trafen sich sechs deutsche und russische Dichterinnen und Dichter im Mai 2015 in Moskau. Sie haben das Abenteuer gewagt, sich gegenseitig zu übersetzen, ohne die Sprache des anderen zu verstehen. Beim VERSschmuggeln arbeiten die Dichter paarweise auf der Basis von Interlinearübersetzungen und mit Hilfe eines Literaturübersetzers, um die Texte des Kollegen in die eigene Sprachwelt zu bringen. Was für schöne, oft eigenwillige Nachdichtungen bei dieser Zusammenkunft der Stimmen herauskommen, ist in diesem durchgängig zweisprachigen Buch zu lesen.
Verlag Das Wunderhorn, Ogi, Klappentext, 2016
Aurélie Maurin und Rainer G. Schmidt: Übers Übersetzen von Gedichten
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