Auswahl 86

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch Auswahl 86

Auswahl 86

zum volksmund vier treppen runter gehen
ins katzenköpfische ecke belforter
wo sich döblin rumgetrieben hat
spricht das nackte pflaster knusprige verse
in die krakelur meiner fußsohle

Eberhard Häfner

 

 

 

Worte auf den Weg

Es wäre weder gescheit, noch ist es angebracht zu behaupten, NEUE NAMEN wird es mit dem fortschreitenden Leben und dem Fortschreiben der Literatur immer wieder geben. Mit solchen Selbstverständlichkeiten sollten wir uns nicht begnügen. Wir Schreiber, die wir im unbequemen Umgang mit dem Wort Selbstbestimmung erreichen und Selbstverwirklichung erwägen, haben mögliche Bekundungen einer Selbstgenügsamkeit in der Schublade zu lassen. Auch wenn es nicht gerade neu wirkt, nach dem Standpunkt und dem Standort von Autoren zu fragen, so muß es mit Fragen sicherlich beginnen, es muß ja nicht immer die Frage nach dem auf den Sockel gehobenen Sujet sein. Eher schon danach, wie die hier vorliegende Lyrik ihr prinzipielles gesellschaftliches Verlangen einbringt, wie sie sich als Prägung und Muster zugleich versteht, wie sie ihren Anspruch, von weit her aus Raum und Zeit zu kommen, einlöst. Denn sie bringt mit der Lebenserfahrung auch eine jahrtausendalte Kunsterfahrung mit und hält beide fürs Denken, Fühlen, Schreiben und Freuen wie zwei unversiegbare Quellen im Fluß beisammen.
Sind sie, an solchen Kriterien gemessen, schon angekommen, die Autoren mit den neuen Namen? Manche unter ihnen suchen in ihrem Unterwegssein noch nach dem eigenen Gesicht, der unverwechselbaren Handschrift und den Möglichkeiten der Sprache. Aber man sieht sie von überallher kommen, vielseitig gebildet (weil allseitig womöglich im einmaligen Menschenleben nicht geht). Sie gefallen sich im Aufwind der Zeit und in ihren Raumfahrten. Einige, schon „flügge“, halten es mit vielversprechenden Parametern, andere kriechen, noch nicht aus allen Häuten geschält, zwischen Haut und Hemd hervor. Sie schauen sich in den Belustigungen unseres Lebens um oder in den Lustbarkeiten der Liebe. Sie gärtnern und okulieren, garnieren und schockieren, sie strapazieren oder schikanieren das Vokabular, sie entschärfen Schreihälse und putzen die selbstgebastelten Speerspitzen. Sie kommen sogar aus Kriegen, in denen sie nicht gewesen sind, ein bemerkenswerter, nachdenklich stimmender Vorgang, der auch den nachwachsenden Generationen Lücken im historischen Bewußtsein schließen hilft. Sie klammern das Inferno eines Krieges nicht aus und gewinnen eigene Ansichten dazu, um nicht leichtfertig hinzuschreiben, daß der Frieden ein Geschenk für die Menschheit ist.
Nicht jeder Vers kann und will den Geschmack ästhetischer Feinschmecker erfüllen. Und welcher Stoff läßt sich schon restlos ausschöpfen? Aber warum nicht auch über einen Stöpsel oder einen Schnürsenkel schreiben, wenn sich am Ende herauslesen läßt, daß es eine Kunst ist, ein Mensch zu werden? Wenn der Dichter Realität nicht auf das „Wirkliche“ reduziert, sondern das Erwartungsvolle und Spannungsgeladene, das Vorausgeahnte oder Eingebildete als seinen Gegenstand ansieht? So gesehen, erweist sich der vielstimmige Sammelband auch als vielfältiger Anschauungsunterricht für noch „ungeübte“ Lyrikleser. Anders blickt wahrscheinlich der erfahrene Leser drein, der sich statt des „Kurvendenkens“ in einigen Gedichten mehr vom Salz der Erde wünschte. Er wird vielleicht schon beim Blättern die Auslese der Auswahl bestimmen können. Nicht unbedingt auf den ersten Blick wird zu merken sein, daß zum Beispiel Klarheit etwas anderes ist als Schärfe und daß Schärfe wiederum weder Maßstab noch Ersatz für Präzision sein kann. Und als streitbare Schlußbemerkung wollen dem Geleitverantwortlichen noch die verläßlichen Worte über die Zunge: Schöpfungen sind maßvolle Versprechen, aber auch ungewöhnliche Risiken…

Walter Werner, Vorwort

 

Maßvolle Versprechen, ungewöhnliche Risiken?

Wenn im Kreuzworträtsel „Auswahl“ gefragt ist, lautet das Lösungswort „Elite“. Mit den Auswahl-Bänden, die vom Verlag Neues Leben, dem Aufbau-Verlag und dem Mitteldeutschen Verlag seit den sechziger Jahren im zweijährigen Rhythmus und zum fixen Preis von 3 Mark 90 herausgegeben werden, ist offenkundig etwas anderes gemeint. Die Vielzahl der Namen und die Vielheit der Äußerungsformen und Handschrift (die nicht unbedingt mit Vielfalt und Mannigfaltigkeit identisch sein muß) sollte wohl von jeher einer Bildung privilegierter Lyrik-Eliten entgegenwirken. Andererseits scheint – blättert man frühere Bände der Reihe durch – die Veröffentlichung in der Auswahl für manchen das Visum für den Eintritt in den engeren (d.h. durch eigene Buchpublikation geweihten) Kreis der Literatur gewesen zu sein. Auch unter den Autoren des 86er Auswahl-Jahrgangs haben es einige schon geschafft (Kerstin Hensel – siehe Poesiealbum 222; Gedichtbände von Drawert und Lummitsch sind angekündigt.) Einige Autoren sind wiederholt in der Auswahl vertreten (Drawert, Häfner, Hensel, König, Lehmann) – dies mag gerechtfertigt sein, kann so in einzelnen Fällen auch dann eine Entwicklung lyrischer Handschriften dokumentiert werden, wenn sie noch nicht zu dickleibigen Resultaten geführt hat. Die übrigen sind „neue Namen“, zumindest was die „Auswahl“ betrifft; dennoch werden es für den aufmerksamen Beobachter jüngerer Lyrik keine ganz unbekannten Namen sein. Ob die Auswahl mehr ein Sammelband für ungeübte Lyrikleser oder mehr eine Insiderpublikation ist, kann ich nicht untersuchen und nicht entscheiden, aber ungeachtet dessen, daß ich persönlich mehr zu der zweiten Ansicht neige, bedauere ich Mehrfachpublikationen bestimmter Texte (z.B. bei Kerstin Hensel und Ina-Kathrin Koutoulas) und hätte mir angesichts nicht eben überreichlicher Publikationsmöglichkeiten lieber mehr „brandneue“ Texte gewünscht. Eine entscheidende Neuerung gegenüber dem 84er Jahrgang (und den meisten der vorangegangenen) ist die Verminderung der Anzahl der Beiträger: Wurden 1984 noch dreißig Autoren mit wenigstens einem Gedicht bis höchstens vier Texten vorgestellt, präsentiert die 86er Auswahl sechzehn Autoren mit jeweils fünf bis acht Texten. Dies ist vielleicht enttäuschend für eine Reihe von Autoren, die aufgrund dieser Entscheidung nicht berücksichtigt wurden, dafür aber ist es eine faire Chance für die Beiträger, ihr Leistungsvermögen (oder ihre Leistungsgrenzen) zu zeigen und jene Kunstfertigkeit nachzuweisen, die man gemeinhin die „eigene Handschrift“ nennt.
Das größte Übel, das einer Auswahl-Anthologie widerfahren kann, ist, daß sich alle Texte lesen, als wären sie von einem (aber doch dann keinem bestimmten) Autor verfaßt. Den von ihren Verlagen bestallten Herausgebern Ingrid Hähnel, Joachim Rähmer und Mathilde Dau ist es aber gelungen, den einzelnen Beiträgern persönliches Profil abzufordern. Allerdings stimme ich dem „Geleitverantwortlichen“ Walter Werner zu:

Manche unter ihnen suchen in ihrem Unterwegssein noch nach dem eigenen Gesicht, der unverwechselbaren Handschrift und den Möglichkeiten der Sprache.

Nur sind mir Texte, die das Unterwegssein ausweisen, das sprachliche Experiment nicht scheuen, den Untertitel „Neue Lyrik“ im vollen Sinne rechtfertigen, entschieden zu spärlich vertreten. „Schöpfungen sind maßvolle Versprechen, aber auch ungewöhnliche Risiken…“, meint Walter Werner im Vorwort. Der Leser wird dem Maßvollen eher begegnen als dem Riskanten. Vielleicht hätte doch der eine oder andere „neue Name“ die Auswahl noch bereichern können. Und daß einige der Autoren die flugs übergestreifte Maske vielleicht schon für das eigene Gesicht gehalten haben, mag auf Dauer anzukreiden sein, hat aber in einer Momentaufnahme wie der Auswahl auch seinen ästhetischen Reiz.
Um nicht weiter davon zu reden, wie ich mir die Auswahl vorstelle, nun zu dem, was in der Auswahl ist.
Auffallend ist eine starke Beziehung der Autoren zu geschichtlichen Vorgängen, zu überlieferten und gleichsam „ererbten“ Gegebenheiten, das kulturelle und literarische, das nationale wie internationale Erbe eingeschlossen. „Da erzählen / Stadtmauersteine vom Bürgermeister / der hier 1329 starb und von den / Feuernächten des April“, schreibt Udo Degener mit dem beziehungsreichen Titel „Ankunft“. Kurt Drawert übt sich in barocker Form („Schäfers Tod, ein Volkslied“). Eberhard Häfner will „zum volksmund vier treppen runter gehen“, dorthin „wo sich döblin rumgetrieben hat“. Drei Beispiele unterschiedlicher poetischer Methoden nur der ersten drei in alphabetischer Folge gereihten Autoren. Aber rund ein Drittel der Texte sind von diesem thematischen Bereich mehr oder weniger bestimmt, und anderes noch wäre zu nennen: so Gerald Lehmanns Versuch, in seinem Zyklus „Herkunft“ mit Porträts von vier Generationen der eigenen Familie Kontinuität und Diskontinuität im Geschichtsverlauf erlebbar zu machen. Stärker als andere vermag Gregor Kunz das Geschichtliche in die Gegenwart hinein zu verlängern. In dem Gedicht „Dein Bild auf den Dielen“ rücken die Vorgänge eng zusammen, „… das Zimmer ist leer man hat uns bestohlen / Wieder wird ein haus abgerissen in dem ich wohne / Alte städte, die ich nicht leben kann…“, das Bild, die Fotografie selbst aber:

… es ist das jahr 1904 über der radrennbahn Reick
Die toten des weltkrieges sind am leben, blicken sich an
als wüßten sie’s, in ihre zukunft im volksstaat der roten republik
derweil sie seile halten kommandieren ein bier
trinken an nichts denken…

Kunz bündelt historisch gewachsene Räume und geschichtliche Erfahrung in einem, zufällig wirkenden Moment von Gegenwart, in dem er die Verantwortlichkeit von uns Heutigen ausspricht. Kunz lebt in Dresden. Wer dort lebt, stößt vielerorts und in vielerlei Gestalt auf Zeugnisse des Infernos vom Februar 1945.

Die tiere vom zirkus, als ich die schwester suchte
Unter bäumen angebunden, es roch nach verbranntem
Papier chemikalien & fluß. Wächter mit goldenen schnüren
Mützenband MS Sarasani. Am jägerhof der bottich voll wasser
Zur elbe die wahnsinnigen pferde…

(„Zeugen“).

Mythologische Bezüge und Motive werden von Kunz nicht als Etiketten gebraucht.

Blutdunkle bilder & hämmern auf holz ineinander, verschoben
Die sprünge. Ich weiß keinen namen…

scheinbar eingängige Erklärungsmuster, die sich in ganz gegenwärtiges Weltempfinden drängen, werden in Frage gestellt.

Ich bin der vergeßliche bote. Wieder, wir haben gesiegt.
Wem sag ichs. Das ist erst die vorstadt.

(„Marathon“).

Demgegenüber wirkt Olaf Trunschkes Umgang mit Mythologie etwas „geradeaus“, gleichsam herbeizitiert um der Pointe willen.

Zerstört die Häuser und verfallen die Wälle
der standhaften Stadt…

heißt es in „Troja“, „weil / keiner auf den Zahn fühlte dem scheinbar / geschenkten Gaul.“ Die Pointe ist nicht nur für einen Gag zu blaß, sie bleibt auch hinter dem Mythos allzuweit zurück. Ähnlich empfinde ich bei „Labyrinth“, wo über Dädalus gesagt wird, „daß jenes Gemäuer, / welches er / richtet, ein Spiegel ist seines / Geistes, daraus nur ein Entkommen wäre, gelänge / ihm zu enträtseln der eigenen Gedanken wirre Gänge.“ Wirklich ärgerlich aber machen mich Udo Degeners Pseudo-Paradoxa in dem Gedicht mit dem bedeutungsschwangeren Titel „Nach der Schlacht“:

die verdursteten entdecken fremde ufer
die verhungerten braten die heilige kuh
… die stummen versagen sich nicht die stimme
die analphabeten schreiben ein neues dekret

usw. – Abstrakta, die sich der ihnen zugewiesenen Rolle, über sich selbst hinauszuweisen, standhaft verweigern. Dafür wirken sie zu leicht hingeschrieben, um Existentielles, die eigene Lebensproblematik zu tragen.
Solche individuelle Lebensproblematik und -programmatik nimmt neben der geschichtlichen Thematik ebenfalls relativ breiten Raum ein. Der Blick in die geschichtliche Totale schärft das Auge für die Bestimmung des eigenen Standorts und die sogenannten „großen Fragen“. Kaum ein Autor verzichtet darauf, seine Standortbestimmung ausdrücklich zu formulieren. Kurt Drawert:

Mein Name, mein Leben
aus, zweiter Hand

bleibt unbewiesen, eine Vermutung
der anderen…
(„Wunsch“).

Eberhard Häfner:

ich bin der witz
der weinbrand und die redensart…

(„Tischrede“),

aber manchmal bin ich pyramüde spitz; windig…
(„Wechselstrom“).

Johannes Jansen:

Gemeinsam frühstücken wir nach träumen, in denen nicht viel passiert,
außer der angst vielleicht einen zug zu verpassen, oder hoffnung auf
abschied.

(„Vielleicht ein Liebesgedicht“).

Ina-Kathrin Koutoulas-Schildhauer:

Ich schreibe Krug, tauche unter das Wasser.
Ich schreibe Mond, halbiere die Nacht.
Wenn ich schreibe Tür, betrete und verlasse ich das Haus.

(„Wohin meine Worte mich führen“).

Gerald Lehmann:

nun ist es an mir zu sagen
:der apfel wirft sich weit vom stamm und
:alles zu seiner zeit.

(„Stammbaum“).

Auch diese Beispiele nicht mehr als ein Streifzug, der indes erkennen läßt: Oft werden existentiell wesentliche Aussagen unabhängig von einer konkreten (und für den Leser erkennbaren) Lebenssituation getroffen. Damit ist freilich nichts über die poetische Qualität der Texte gesagt, doch müssen sich solche Aussagen unter Umständen den Vorwurf gefallen lassen, als lediglich behauptet zu gelten, In dieser Hinsicht anders gehen Kerstin Hensel („Übers Gedichteschreiben“) und Uwe Lummitsch („Kopf, mein Lieber“) vor. Beide bekennen, sich als „Kopfarbeiter“, als Schreibende zur Welt zu verhalten. Aber Kerstin Hensels Verhalten ist dominiert von alltäglich-praktischen Dingen, durch die sie sich hindurchschlägt bis zur Überlebensfrage der Menschheit; bei Lummitsch dominieren intellektuelle und politische Aspekte in der Problemlösungsstrategie. Unter anderem dieser Unterschied (der wiederum apriori nichts über die poetische Qualität der Texte aussagt) verleiht beiden „in ihrem Unterwegssein“ ein „eigenes Gesicht“.
In der Gestaltung des Alltags, der einen beträchtlichen Anteil an den Texten hat, fehlen weitgehend Beziehungen zur jeweils konkreten Arbeitswelt. Betrachtet man sich die Kurzbiographien im Anhang des Bandes, nimmt das nicht mehr wunder. Fast alle Autoren arbeiten in künstlerischen oder pädagogischen Berufen, studieren oder haben für sich die Entscheidung, als Schriftsteller zu arbeiten, bereits gefällt. In diesem Sinne repräsentiert die Auswahl wirklich schon eine Elite. Verständlicherweise rückt ein intellektuelles Verhältnis zur Außenwelt in den Vordergrund poetischen Gestaltens anstelle der Widerspiegelung praktisch-gegenständlichen Verhaltens. Das kann Gewinn und Verlust zugleich bedeuten. Ich bedauere die Aussparung eines wichtigen thematischen Feldes, ebenso wie ich die Abwesenheit überzeugender Liebeslyrik bedauere – bis auf zwei Ausnahmen, die ich ausdrücklich erwähne. Den beiden jüngsten Beiträgern  Johannes Jansen (geb. 1966) und Koutoulas-Schildhauer (geb. 1965) verdankt der Band in diesem Bezug die Ehrenrettung: Jansens schon erwähntes „Vielleicht ein Liebesgedicht” und „Nachträgliche Rede an ein Mädchen aus dem Café Mosaik“ dokumentieren dabei eine gewisse innere Distanz zu den eigenen Empfindungen – schon die Titel machen dies deutlich. „Perlenfischer“  und „Immer, bevor du gehst“ von Kathrin Koutoulas-Schildhauer rücken das Uralte auf überraschend neue Weise ins Bild; ihr Gedicht „Verständigung“ gehört für mich zu den besten des Bandes und ist das schönste Liebesgedicht, das ich seit langem las.
Mein kritischer Streifzug zieht eine überwiegend positive Bilanz. Manches an weniger Gewichtigem blieb bisher unerwähnt: Degeners „Berufe der Liebe“, Hofmanns „neckische“ Andichtungen von „Ausguß“, „Stöpsel“ und „Vogelscheuche“, wohl Greßmanns Methode verpflichtet, Königs worterfindungsreiche „Psychoscheune“ und der von willkürlichen Zeilenbrüchen deformierte Text „Deformation“ u.a. Interessante Vergleiche könnten noch gezogen werden, z.B. wie Jansen („TV-Montage“) und König („Fernsehempfänger“) das Verhältnis zu den Medien gestalten. Andererseits kann auf manche beachtenswerte Handschrift allenfalls kurz verwiesen werden, so auf Frank Linecks Spiel mit musikalischen Termini in „Divertimento per flauti e basso continuo“ und den Text „Die Freude oder Fragen des Konzertbesuchers“; oder auf die konservativ wirkende, vom Ton Gottfried Benns nicht unberührte Schreibart von Norbert Weiß.
Der AuswahI 86 ist es gelungen, ein mannigfaltiges Bild der „Neuen Lyrik“ zu zeigen und eine Reihe „Neuer Namen“ zu präsentieren. Alle Wünsche können gewiß niemals erfüllt werden. Aber diese Wünsche werden zu einem guten Teil durch das beachtliche Angebot an Gedichten Jüngerer selbst geweckt.

Thomas Wieke, neue deutsche literatur, Heft 418, Oktober 1987

Die Lyrikreihe Auswahl

ein Sprungbrett für junge Talente in der DDR?1

1. Einleitung
Als Elke Erb Anfang des Jahres 1984 im Vorwort der von ihr zusammen mit Sascha Anderson herausgegebenen und nur im Westen erschienenen Anthologie „neue[r] Literatur aus der DDR“, Berührung ist nur eine Randerscheinung, feststellte, daß ihr „kein Autor [der aufgenommenen] von publizierten Texten her bekannt geworden“ war, abgesehen von Uwe Kolbe,
2 so lag das nicht unbedingt daran – wie es in späteren Ausführungen anderer zum Thema den Anschein hatte3 –, daß die betreffenden wirklich überhaupt keine Texte offiziell in der DDR hatten publizieren können. Um ein paar Beispiele zu nennen:4 In der Zeitschrift Temperamente5 wurden Gedichte von Bert Papenfuß-Gorek (77/2), Stefan Döring (77/2, 81/3), Rüdiger Rosenthal (79/3) und Fritz-Hendrik Melle (83/1) veröffentlicht. In NDL wurde vor 1985 Lyrik publiziert von folgenden in Berührung… aufgenommenen Autoren: Sascha Anderson (78/4), Uwe Hübner (79/4), Katja Lange-Müller (76/12), Roland Manske (als Manzke, 76/5), Lutz Rathenow (80/2) und Rüdiger Rosenthal (81/2).6 Einige Literaturwissenschaftler weisen darauf hin, daß auch die „jungen Wilden“7 mit – zwar wenigen – Texten in DDR-Anthologien vertreten waren,8 wenige unterdessen erwähnen in der Hinsicht die Reihe Auswahl [Jahr]. Neue Lyrik – Neue Namen.9 Die geringe Aufmerksamkeit mag denjenigen erstaunen, der weiß, daß sie seit ihrem Beginn – 1963 oder eigentlich 1964 – bis zum letzten Band im Jahr 1988 Gedichte von 251 Autoren (davon nebenbei bemerkt nur 57 Frauen)10 mit Foto und Kurzbiographie einem Publikum vorgestellt hat.11 Zu ihnen gehörten, wie sich zeigen wird, sieben Autoren aus der Berührung-Anthologie.
Die Reihe startete 1963 als direkte Folge von Autorenlesungen, die damals von der FDJ organisiert und später mit dem Slogan ,Lyrikwelle‘ bezeichnet in der DDR stattfanden, nachdem Stephan Hermlin schon im Dezember 1962 seinen berühmt gewordenen Lyrikabend unter der an den Namen der späteren Anthologie anklingenden Parole „Neue Lyrik – unbekannt und unveröffentlicht“ in der Akademie der Künste organisiert hatte. Die für ihn unglücklichen Folgen sind bekannt: Er wurde als Sekretär der Sektion „Dichtkunst und Sprachpflege“ abgesetzt. Gelesen hatte er Gedichte von 26 Autoren; zum ersten Mal kamen so z.B. auch Texte von Wolf Biermann an die DDR-Öffentlichkeit. Dadurch, daß die FDJ die Veranstaltung weiterer öffentlicher Lesungen übernahm, konnte sie bestimmten Unerwünschtheiten vorbeugen: z.B. dem Lesen nicht von ihr genehmigter und ihr nicht genehmer Texte, wohl in der Hoffnung, daß Auseinandersetzungen wie an und nach dem Hermlin-Abend damit in Zukunft zu vermeiden seien.
12 Das mag ihr gelungen sein, als jedoch die Autoren immer mehr auf eigener Auswahl der zu lesenden Texte bestanden, klangen die Vortragsabende schon etwa 1964/65 ohne viel Aufhebens aus.13
Immerhin aber war mit ihnen eine Lyriksammlung-Reihe geboren, die bis zum Ende des DDR-Staates Bestand hatte: ein Vierteljahrhundert. Sie verdient schon aus Achtung vor der Quantität eine nähere Untersuchung. Das Vorwort zum ersten Band, Auftakt 63,
14 bezeichnet diese Publikation tatsächlich als direkten Niederschlag erwähnter Lesungen, ohne daß übrigens deutlich wird, ob die 29 in dem Band vorgestellten Dichter sich auch wirklich an ihnen beteiligt haben.15 Wohl wird klar das Vorhaben zu erkennen gegeben, es nicht bei diesem einen Band bewenden zu lassen: Weitere Lyrik-Abende und die Veröffentlichung der Gedichte in Form kleiner Bände sollen von dieser Gemeinschaft der jungen Lyriker und derer, für die sie ihre Gedichte schreiben, Zeugnis ablegen. Der Auftakt 63 ist also der Beginn.16
Nach Auftakt ändert sich 1964 der Name in Auswahl, und zwar mit dem Untertitel „Neue Lyrik – Neue Namen“. Bis 1988 erscheint alle zwei Jahre ein solcher Band. Das Konzept – soweit es 1963 eines war – mußte sich gezwungenermaßen mit dem Einstellen der öffentlichen Auftritte – bei denen mit dem Publikum diskutiert wurde
17 – auch ändern. Infolgedessen gibt, wie Anneli Hartmann zu Recht bemerkt,18 ab 1966 der Zentralrat der FDJ die Bände nicht mehr selber heraus, sondern übernimmt dies sein Verlag Neues Leben. In dem Jahr wird auch zum ersten Mal explizit vermerkt, wer die Auswahl besorgt: Ein konstanter Faktor neben wechselnden Mitarbeitern19 ist in den nächsten zehn Jahren – bis zu seinem Wegbleiben nach der Biermann-Ausbürgerung – der Mann, der 1967 beim gleichen Verlag die Reihe Poesiealbum initiierte: Bernd Jentzsch.20
Der Untertitel der Anthologie, so eindeutig er auf den ersten Blick erscheinen mag, läßt, wenn man ihn auf die Leitidee des Projekts hin befragt, doch manches offen. Es tritt zweimal das Adjektiv ,neu‘ auf, durch einen Gedankenstrich verbunden. Da möchte man wissen, ob dieser Strich in der Bedeutung von ,und‘ oder in der von ,oder‘ gesetzt ist. Mit anderen Worten: gab es die Möglichkeit, „neue Lyrik“ von ,alten‘ Namen aufzunehmen, oder wurde nur unbekannten Talenten Platz eingeräumt. Und wie steht es um den Bedeutungsinhalt des Adjektivs: war ,neu‘ gleich ,jung‘, vielleicht ,innovativ‘,
21 oder meinte es lediglich ,unbekannt‘. Außerdem stellt sich die Frage nach der Beständigkeit des anfänglichen Konzepts.
Wenn man das Durchschnittsalter der Autoren bei Erscheinen des jeweiligen Bandes berechnet, so stellt sich heraus, daß sich das in all den Jahren nicht verändert hat. Es liegt immer zwischen 29 und 32 Jahren. Die jüngsten aufgenommenen Autoren sind immer zwischen 19 und 22 Jahre alt; nur einmal ist der jüngste 17
22 und einmal 23 Jahre.23 Fünfmal sind die Ältesten 50 oder älter,24 zweimal unter 40.25 Der Unterschied in Jahren zwischen dem jeweils jüngsten teilnehmenden Autor und dem ältesten variiert von 16 (1982 ist der jüngste 22 und der älteste 38 Jahre alt) bis zu 33 Jahren (1976 ist der jüngste 21 und der älteste 54 Jahre).26
Die Gründe für die Aufnahme eines Autors von über fünfzig könnten darin liegen, daß er bis dahin noch nichts hat veröffentlichen können und tatsächlich ,neue‘, d.h. unveröffentlichte Gedichte vorstellt. Recherchen können diese Vermutung für die (über) Fünfzigjährigen von 1972, 1974 und 1976 (Hartmut Zenker, damals 50, 52 bzw. 54); 1980 (Veronika Herzfeld, damals 53); 1984 (Hans Schlüter, damals 50) nur bestätigen: Von ihnen lagen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung in Auswahl tatsächlich keine selbständigen Publikationen vor.
27

2. Die Ansprüche
Die Frage nach dem Konzept der Reihe faßt in erster Linie die im jeweiligen Vorwort von den Herausgebenden zum Ausdruck gebrachten Positionen ins Auge. In den beiden ersten Jahren, 1963 und 1964, sind die einleitenden Worte von politisch-didaktischen Forderungen nach Bitterfelder Art geprägt:

Er [der Band, A. V.] soll ihn [den Leser, A. V.] veranlassen, teilzunehmen an der Entwicklung unserer realistischen Kunst, an der Kunst, die die Wahrheit und Schönheit sowie die Kompliziertheit des Kampfes um den sozialistischen Fortschritt richtig widerspiegelt.28

Und:

Der vor allem die junge Generation beflügelnde Auftrag, die Welt zu verändern, alles zur Vervollkommnung unserer Gesellschaft zu tun und sich nicht mit dem Erreichten zufriedenzugeben, hat die Lyriker und die Zuhörer zu tieferem Eindringen in die Probleme der gesellschaftlichen Entwicklung angeregt.29

1966 wird dem Band „nachdrücklich ein Leitthema“, Vietnam, gegeben, „vor dem kein Künstler gleichgültig bleiben kann, wenn es ihm ernst ist mit der Kunst und mit dem Leben“.30 Parteilichkeit in großem Ausmaß ist gefragt: „Verbunden fühlen sie [die Autoren, A. V.] sich allen Menschen, die Aggressoren und Unterdrückern Widerstand leisten: Der Kampf des tapferen Vietnam ist auch ihr Kampf“.31 Trotzdem beschäftigen sich nur vier Texte explizit mit diesem Thema. Es kann Wulf Kirsten durchaus in vier Gedichten seine „Erde bei Meißen“ besingen, es werden von Inge Müller im Jahr ihres selbstgewählten Todes fünf Gedichte aufgenommen, die ihre entsetzlichen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg auf persönlichste Weise reflektieren (vgl. S. 109).
Der Lyriker-Herausgeber Bernd Jentzsch geht 1968 zum ersten Mal auf die formalen Eigenschaften der aufgenommenen Gedichte ein, indem es in der ersten Zeile seines Vorworts heißt:

Ein Kennzeichen unserer jungen Dichtung ist ihre Neigung zum erzählenden Gedicht.32

Nachdem in den beiden ersten Bänden zur SED als Stützpunkt Bezug genommen wurde, verbindet Jentzsch hier die Kunstauffassung des romantisch-surrealistischen Dichters Lautréamont mit dem sozialistischen Wunsch, Literatur solle sich ,an alle‘ richten:

Eingedenk der Forderung Lautréamonts, nach der Poesie von allen und nicht von einem gemacht werden müsse, leisten die Beiträger der Anthologie Vorarbeiten, indem sie Gegenstände ins Gedicht rücken, die von allgemeinem und öffentlichem Interesse sind.33

Er meint, daß die unterschiedliche Lebenserfahrung zu unterschiedlicher literarischer Qualität führt, will aber einen „Querschnitt durch die gegenwärtige Situation der jungen Lyrik“ vermitteln, auch Texte von bekannten Dichtern sind deshalb aufgenommen, um die „Kontinuität unserer Dichtung“ zu zeigen.34 Jentzsch geht auf die Skala an inhaltlichen und formalen Eigenheiten in den Texten der Anthologie ein, auf Vorbilder für die jungen Dichter – „von Trakl und Brecht über Bobrowski und Enzensberger bis zu Maurer“ –, kann am Schluß auf die Widerspiegelung allerdings wohl nicht verzichten: „Die Wirklichkeitsbesessenheit, mit der gesellschaftliche Konflikte gespiegelt werden, begründet das Interesse, das die Gedichte […] beanspruchen dürfen“.35
Auch in den Jahren, in denen Bernd Jentzsch für die Bände (zum größten Teil) verantwortlich zeichnet, ändert sich die Konzeption wiederholt. Auffallend ist die Ausgabe von 1970, wo die „Vorbemerkung“ von zehn Fragen an die aufgenommenen Autoren gefolgt wird, die zu einer Stellungnahme in bezug auf Biographisches, Poetologisches (auch verbunden mit Tradition) und Gesellschaftliches (Wirkungsmöglichkeiten) einladen. Der nicht mit Namen genannte Verfasser des Vorwortes spricht den Wunsch aus: „Wir hoffen, daß die Antworten Zu- und Widerspruch auslösen“.36 Eine kleine Lyrikdiskussion zwischen den beiden großen von 1966 in Forum und 1971/1972 in Sinn und Form?37 Auch die von 1966 wurde eingeleitet von (drei) Fragen an Autoren. Jedoch waren die Antworten damals eigensinniger und provozierender. Nicht einmal der – Bechersche – Begriff der ,Volkstümlichkeit‘, nach dem in Auswahl gefragt wird, löst Widerspruch aus. Sogar wenn eine Frage ein wenig ostentativ formuliert ist, gehen die meisten Autoren nicht auf die Herausforderung ein:

Was halten Sie vom Reim und der Streitfrage: Sind strenges Metrum oder freie Rhythmen zeitgemäßer? Oder ist das nicht auch bedingt vom Stoff abhängig?38

Da zeigen fast alle Autoren, daß sie wissen um die Schwierigkeiten und Möglichkeiten/Chancen des Reims. Keine Streitfrage also.39 Widerspruch lösen auch die anderen Fragen kaum aus, sowenig wie die Antworten auf die Frage nach den Vorbildern Erstaunen auslösen, nur daß vielleicht eine häufig vorkommende Verweigerung einer Beantwortung nicht unbedingt den Erwartungen entspricht. Auffallend oft wird Bobrowski genannt als ein Autor, von dem man meint lernen zu können.
In den nächsten Jahren fügen die Vorworte wenig neue Aspekte hinzu, obwohl – abhängig vom Autor – das eine Mal mehr auf den einen, das andere mehr auf einen anderen Gesichtspunkt eingegangen wird. Ab 1974 wird wiederholt und mit unterschiedlicher Bewertung hervorgehoben, daß in den Gedichten betont ,ich‘ gesagt wird. Uwe Kolbes späteres ,Hineingeboren‘ wird in dem Jahr schon von Heinz Kahlau vorweggenommen; ein Zustand allerdings, den er, im Gegensatz zu Kolbe 1980, mit „Hingabe“ an die „Daseinsweise“, die aus einer „kommunistischen Gesellschaft“ hervorgeht, verbindet.
40 1982 stellt Horst Haase dann im Gegensatz dazu fest, „wie schwer sich der Alltag diesen Dichtern poetisch erschließt“.41
Selten und nie ausführlich wird in den Vorworten auf poetologische Kriterien und Zielsetzungen der jeweiligen Auswahl eingegangen. Erst 1980 hebt Paul Wiens in der zweiten ,Vorbemerkung‘ zum Band explizit hervor, daß eine Selektion es nicht unbedingt zuläßt, Schlußfolgerungen zum ganzen Feld der neuen DDR-Lyrik des betreffenden Jahres anzustellen. Man sollte im Gegenteil nicht vergessen, daß man

hier nicht die urwüchsige Heimat vor [sich hat],
nicht ein wildes Wiesenstück in Blüte,
sondern
das gepflegte Arrangement des Gärtnerkollektivs!42

Dies, obwohl Mathilde Dau als einer der Herausgeber in ihrem Vorwort „den Hauptzweck“ der Auswahl darin gesehen hatte, „eine gewisse Breite im Spektrum des derzeitigen Angebots junger Lyrik zu vermitteln“. Allerdings beanspruchte sie „Subjektivität […] auch für Auswählende […] [Hervorhebung A. V.]“,43 nachdem diese für Schreibende offenbar schon als selbstverständlich vorausgesetzt war…
Hannes Würtz sieht 1984 die Funktion der Reihe in einer dem Untertitel gerechtwerdenden „Begabtenförderung“; in dieser Aufgabe macht sich für ihn die Verbindung zum FDJ-Poetenseminar, das alljährlich in Schwerin gehalten wurde, bemerkbar.44 Er sieht deren Niederschlag namentlich im Heft des Jahres 1984.

Obwohl auch in den früheren Jahren durchaus Texte von Autoren aufgenommen wurden, die bei anderen Verlagen publizierten, wird erst 1972 explizit eine Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Verlagen im Rahmen der Auswahl-Reihe erwähnt:45

Drei Verlage, die seit Jahren die Arbeit junger Schriftsteller editorisch unterstützen, haben sich zu einer Gemeinschaftsanthologie entschlossen. Die Zahl der vorgestellten Autoren erhöhte sich, die thematische Skala wurde vielfältiger. Dadurch entwickelt sich die Anthologie zu einem repräsentativen Jahrbuch für neue Lyrik und neue Namen.46

Es wird jeweils angegeben, für welchen Verlag ein bestimmter Autor ausgewählt wurde. Die teilnehmenden Verlage sind: der dem Kulturbund gehörende Aufbau-Verlag, der Mitteldeutsche Verlag und der schon oben erwähnte FDJ-Verlag Neues Leben. Am letzten Band der Reihe beteiligten sich zum erstenmal noch zwei andere: der der NDPD47 gehörende Verlag der Nation sowie der FDGB-Verlag48 Tribüne.
1976 übernimmt Richard Pietraß von Bernd Jentzsch die Auswahltätigkeit für die Bände von 1976 und 1978.49 Die Konzeption verändert sich damit nicht einschneidend: Zahl der Autoren und der Gedichte bleibt weitgehend gleich. Erläuterte Bernd Jentzsch seine Auswahl selber nur in den Vorworten der Bände von 1968 und 1972, Richard Pietraß (sowenig wie seine Mitauswählenden) expliziert das Konzept der beiden Jahre überhaupt nicht. Die Vorworte dieser Bände in der Art einer Leseimpression stammen von der Feder der Lyriker Peter Gosse50 und Wilhelm Tkaczyk.51 Gosse unternimmt den Versuch, die inhaltliche Füllung der politischen Kategorie bei der Beurteilung eines Gedichts kaugummimäßig auszuweiten, so daß sie auf nahezu jeden Text zutrifft:

An Versuche, Welt zu entwerfen, an direkte Vorschläge, sie zu modeln, gerät man hier wenig. […] Dies klingt so, als spare diese Lyrik Wirklichkeit aus (oder als sperre sich diese der Lyrik). Gute Gedichte jedoch sind welthaltig, oder sie sind nicht gut. Was sich einem einprägt, einen mitprägt, das muß wohl mitgeprägt sein von der Epoche, ob dies dem Dichtenden bewußt ist oder nicht.52

In einer früheren Phase der DDR-Lyrik wäre eine Formel wie „ob dies dem Dichtenden bewußt ist oder nicht“ sicherlich verurteilenswert gewesen, war doch gerade das Bewußtsein des Neuen und Fortschrittlichen der eigenen Wirklichkeit ein Aspekt, der im Wissen um die erzieherische Aufgabe des Dichters ,in unserer Zeit‘ in das Gedicht eingebracht werden sollte. Gosses biegsame Formulierung hält jedoch ebenfalls die Möglichkeit offen, ein Gedicht wegen Mangel an ,Welthaltigkeit‘ abzulehnen.
Das Vorwort von Wilhelm Tkaczyk im Band von 1978 formuliert die Frage nach politischer – sozialistischer – Anteilnahme expliziter:

Wo bleibt das Engagement, wie wir es bei Majakowski, Becher, Brecht, Weinert, Pablo Neruda und Nâzim Hikmet erlebten?53

Sein Eigenlob in dieser Sache schränkt er zwar wieder ein, ohne die damit bezweckte Intention jedoch gänzlich zurückzunehmen:

Uns brauchte man nicht zu rufen, wir fühlten uns gedrängt, unsere Feder ins Waffenarsenal einzutragen. Aber ich bedenke, daß man den Begriff des politischen Gedichts und des Engagements nicht zu eng begrenzt auffassen sollte. […] Ich halte Goethe für einen politischen Dichter.54

Das heißt indessen keineswegs, daß alles immer im richtigen Sinne zur Politik wird:

Einige der jungen Menschen sind von ihren eigenen Problemen so erfüllt, daß sie nicht in der Lage sind, die Probleme ihrer Mitmenschen, ihrer Umwelt und der Zeit, in der sie leben, wahrzunehmen. Hier muß man anscheinend Geduld haben.55

Der letzte Absatz des Vorwortes bildet eine Art Aufruf traditionell-sozialistischer Prägung zum Klassenkampf neuer Art:

Wir, in der DDR lebende Schriftsteller, haben es nicht mehr nötig, uns mit dem Kapitalismus im eigenen Hause zu balgen, weil er hier ausgespielt hat, aber der Kampf wird auf einer höheren, erweiterten Ebene fortgesetzt. Wer da mitkämpft oder abseits steht, das ist eine Frage des Bewußtseins.56

1980 ist zum ersten Mal in der Existenz der Reihe eine Literaturwissenschaftlerin, Mathilde Dau, für die Auswahl hauptverantwortlich.57 Sie schreibt das knappe Vorwort, in dem den Auswählenden Subjektivität eingeräumt wurde (siehe oben S. 95). Wie schon vorher Bernd Jentzsch, will auch sie dem Leser unterschiedlichste lyrische Positionen innerhalb der ,jungen Lyrik‘ vorführen. Anders als er, prätendiert sie nicht, ein „repräsentatives“ Buch herauszugeben, sondern gibt dem bescheideneren Bestreben Ausdruck, „in der Unterschiedlichkeit individueller Seh- und Ausdrucksweisen etwas [Hervorhebung A. V.] von der Vielfalt poetischer Haltungen zur ,kleinen‘ und ,großen‘ Welt spüren zu lassen“.58 Sie weist außerdem darauf hin, daß unterschiedlichen literarischen Auffassungen Rechnung getragen werden soll. Als politisch zu deutender Faktor bleibt als artikulierte Forderung an die Auswahl übrig:

Es sollte zu sehen sein, wie der Widerspruch als das „Bewegende der Welt“ auch das Gedicht bewegt.59

Die Formulierung ist einigermaßen vage, bezieht sie sich doch eigentlich auf das marxistisch-leninistische Prinzip, daß ,nicht-antagonistische Widersprüche‘, d.h. deren „Entfaltung und Lösung“, zur „gesellschaftliche[n] Bewegung und Entwicklung“ beitrügen.60 Dau meint ferner, daß die Auswählenden sich bemüht haben, die Präsentation der in den Gedichten erkennbaren divergenten poetologischen Auffassungen nicht zum Vorteil einer vielleicht von ihnen bevorzugten ausschlagen zu lassen.61 Darauf wird noch zurückzukommen sein.
Die einführenden Worte in den Bänden von 1982 bis 1986 treten intensiv für die ideologisch-politische Komponente ein. Im Gegensatz zu dem, was Mathilde Dau ganz bewußt behauptete vermieden zu haben, werden hier, zumindest in den Vorworten, „,Richtungen gegeneinander aus[gespielt]“.
62 So spricht der Literaturwissenschaftler Horst Haase in seiner „Vorbemerkung“ zum Band von 1982 auf unzweideutige Weise die traditionell-sozialistische Bevorzugung der Untergattung des Liedes aus,63 und zwar mit der ebenso traditionellen Begründung, daß das Lied – im Gegensatz zu den (anderen) Gedichten – auf Kommunikation ausgerichtet sei. Der Band liefere den Beweis dafür, daß „das Lied ein Kernstück des Poetischen“ sei.64 Die übrigen Gedichte faßt Haase unter dem Schlagwort eines „monologische[n] Gestus“ zusammen,65 denen „die liedhaften Gedichte […] an Intensität und leidenschaftlicher Bewegtheit voraus“ seien.66 Daß in manchen Texten Kritik laut wird, ist seines Erachtens insofern nicht weiter gravierend, als die „junge Lyrik“ „ihren politischen und weltanschaulichen Ausgangspunkt festig[t] und sich in unserer sozialistischen Wirklichkeit immer fester veranker[t]“.67 Bei allen Einwänden, die Haase in bezug auf die aufgenomme Lyrik formuliert, kann diesem Satz eine gewisse Ähnlichkeit zu Gosses Versuch, Weltanschauung, wenn sie schon nicht vordergründig zu identifizieren ist, dann doch mindestens in die Gedichte hineinzudeuten, nicht abgesprochen werden.
Hannes Würtz greift Haases Wort des sich den Lyrikern schwer erschließenden Alltags in seiner Vorbemerkung zum Band von 1984 auf.
68 Trotz der geringen Zahl von Gedichten mit einer direkten Beziehung zur DDR (Vergangenheit und Gegenwart) lobt Würtz, daß „das Friedensbegehren und das Kriegserwehren“ angesichts der Bedrohung allen Lebens durch „Cruises und Pershings“ (die sowjetischen Kurzstreckenraketen werden einfachheitshalber vergessen) „in dieser Sammlung einen bestimmenden Raum einnimmt“.69 Texte eines derartig ideologisch-politischen Gehalts würden von der „hohe[n] politische[n] Verantwortung dieser jungen Dichtergeneration“ zeugen.70
Im ganzen Vorwort besagt lediglich der „Eifer des Experimentierens und der Suche“, der in der präsentierten jungen Dichtergeneration gelegentlich begegne und seine Ursache habe in „der Liebe zu den Wörtern“,
71 Minimales über die Form der aufgenommenen Texte. Der Rest ist nicht Schweigen, sondern Reden von Aufgabe, Inhalt und Verantwortung des Dichters bzw. seines Textes.
Walter Werner
72 verbindet in seiner Vorbemerkung von 1986 – und das darf als bescheidene Entwicklung betrachtet werden – Qualitätskriterien für Inhalt und Form miteinander und setzt sie in Beziehung zu einer nicht näher umschriebenen Tradition „jahrtausendalte[r] Kunsterfahrung“.73 Er hebt zwar die Frage „[…] danach, wie die hier vorliegende Lyrik ihr prinzipielles gesellschaftliches Verlangen einbringt“,74 explizit hervor, verknüpft sie jedoch mit ästhetischen Aspekten. Das Wissen um die Tradition sei unerläßlich, denn in der Kombination mit „Lebenserfahrung“ sei es für den Dichter eine „unversiegbare Quelle […]“.75 Es ist ihm anzumerken, daß er Schwierigkeiten hat, den ,kleinen Gegenstand‘ als poetisches Thema zu akzeptieren, er räumt jedoch ein, daß auch seine Gestaltung möglich sein muß, unter der Voraussetzung, daß am Ende deutlich wird, „daß es eine Kunst ist, ein Mensch zu werden […]“.76
Thomas Rosenlöcher greift 1988 in seinem Vorwort – das nun auch wieder einfach so heißt
77 – die Verbindung zur lyrischen Tradition, wie sie Werner ganz allgemein zur Sprache gebracht hatte, auf, indem er einen Vers aus Walther von der Vogelweides „Elegie“ vorausschickt. Anhand dieses Textes macht er poetologische Prinzipien deutlich, wobei – wie beiläufig und nicht als Forderung formuliert – Ideologisches einfließt:

Und doch will das Alte mit möglichst unverwechselbarer Stimme immer wieder neu gesagt werden, womöglich indem sich das kleine Ich mit der soeben ihren Gang gehenden Geschichte verknüpft zeigt […].78

Rosenlöcher sieht eine Parallele zwischen der in Vogelweides Gedicht ausgedrückten Grundbefindlichkeit und der der in Auswahl aufgenommenen Texte, was ihm in Anbetracht des obigen Zitats die Möglichkeit bietet, herauszuarbeiten, daß manche Autoren den eigenen Ton, das Neue, eben noch nicht haben herauskristallisieren können, bei anderen hingegen ein Ansatz da ist. Auf die Form der Auswahl-Texte geht auch er nicht ein.

3. Die Rezeption
Ziel dieses Abschnitts ist es nicht, die Rezeption aller Auswahlnummern evaluierend zu betrachten, sondern anhand einiger Bände Tendenzen und Umschlagpunkte in der Aufnahme deutlich zu machen. Wenn mehrere Rezensionen zu einzelnen Bänden vorliegen, gehe ich bei ähnlich verlaufender Argumentationsweise explizit ein auf die, in der diese am ausführlichsten dargelegt wird bzw. in der die meisten Aspekte der betreffenden Auswahl angesprochen werden.
Der Rezeptionsdokumentation der Reihe ist kein besonders umfangreiches Interesse an den jeweiligen Bänden zu entnehmen. In der BRD werden sie kaum als Reihe gesehen, sondern wenn sie überhaupt wahrgenommen werden, dann separat oder – wie bei Anneli Hartmann – im Kontext des gesamten literarischen und gesellschaftlichen Prozesses.79 Letzteres führt dazu, daß die Konzeption des jeweiligen Auswahl-Bandes nicht gesehen wird. Die einzige westliche literaturhistorische Übersicht, die die DDR-Literatur bis zum Jahr 1988 verfolgt, Wolfgang Emmerichs Kleine Literaturgeschichte der DDR, geht in ihren 470 Textseiten nirgendwo auf die Anthologie ein, im bibliographischen Teil erscheint sie im Abschnitt „Anthologien“ mit dem für den Initialband falschen Titel „Auswahl 63 (ff.) […] Hrsg. (1966–1976) von B. Jentzsch“,80 damit mindestens – wenn auch unbeabsichtigt – suggerierend, daß 1976 nicht nur Jentzsch als Herausgeber ausscheidet, sondern die Reihe überhaupt aufhört.
In seiner Darstellung der ostdeutschen Kulturpolitik von 1945 bis 1981 (eine überarbeitete und aktualisierte Auflage ist m.E. dringend erwünscht) erwähnt Manfred Jäger nicht nur die Auswahl-Reihe nicht, auch hält er die mit ihrem Beginn eng verbundenen öffentlichen Lyrikabende bzw. die ,Lyrikwelle‘ offenbar für kein einschneidendes kulturpolitisches Ereignis, denn auch sie bleiben ungenannt. Dies, obwohl die später von Literaturwissenschaftlern und -kritikern wiederholt festgestellten persönlich-literarisch engen Beziehungen81 gerade in der hier zum großen Teil bekannt gewordenen Lyrikergeneration mit diesen Auftritten zusammenhängen könnten.82
Jedoch auch die institutionalisierte Rezeption in der DDR selber gab sich in bezug auf die hier untersuchte Reihe mit wenig zufrieden. Im 11. Band der Geschichte der deutschen Literatur: Literatur der DDR, wird sie wohlbemerkt viermal herausgestellt:83 Einmal, wenn im Kapitel zur „Neue[n] Dichter-Generation am Anfang der sechziger Jahre“ Auftakt 63 zusammen mit Bekanntschaft mit uns selbst als eine Anthologie, in der „die jungen Lyriker ihre Ergebnisse vor[legten]“,84 aufgeführt wird. Gleich darauf heißt es zwischen Klammern: „[…] mit neuen Auswahl-Bänden junger Dichter 1964, 1966, 1968, 1970, 1972 fortgesetzt“, so daß es hier merkwürdigerweise den Anschein hat, daß die Reihe mit letztgenannter Jahreszahl zu Ende ist, obwohl fast 300 Seiten weiter ein Bild mit dem Umschlag des Bandes von 1974 abgedruckt ist.85 In einer Fußnote zum Kapitel „Lyrik des Übergangs zum Sozialismus“ wird auf die Lyrikabende von 1963 eingegangen. Als Beleg für angeführte Daten werden zwischen Klammern Auftakt 63 und Auswahl 64 erwähnt.86 Eine Fußnote zum Abschnitt „Sicht der Lyrik auf den Menschen in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ zitiert aus dem Vorwort von Bernd Jentzsch zu Auswahl 68 die auch von mir vorgebrachten Worte zu den Vorbildern der jungen Dichter (vgl. oben S. 93). In Die Literatur der DDR wird daraufhin bemängelt, „daß die jungen Beiträger dieser Anthologie den Reichtum sozialistischer Dichtungs-Tradition nicht voll ausschöpfen“.87 Für diese Tradition stünden „Namen wie Becher, Weinert und Fürnberg“,88 eine bestimmte Linie sozialistischer Tradition also, die mit den von Jentzsch angeführten Namen Brecht und Maurer keineswegs gemeint war.89
Trotz dieser beschränkten Aufmerksamkeit von seiten der offiziellen Literaturgeschichtsschreibung gibt es doch – wenn auch wenige – Rezensionen aus der damaligen DDR zu einzelnen Bänden der Auswahl-Reihe. Zwar wird der erste Band, Auftakt 63, nicht in den bekannten Literaturzeitschriften Neue Deutsche Literatur, Weimarer Beiträge oder Sinn und Form besprochen, wohl aber gibt es in der Wochenzeitung des Kulturbundes Sonntag eine Rezension von Dieter Schiller. Er meint, aus diesem Band würde ersichtlich, daß der aktuelle Reiz der Lyrik in der DDR (Lyrikabende) aus „einer Reihe inhaltlich neuer Momente, neuer Gegenstände, Fragestellungen und Empfindungspositionen“ bestehe.90 Abgesehen davon, daß die jüngste Lyrik „Konflikte“ und „Widersprüche“ in einem „aggressiver[en]“ Ton hervorhebe, umreißt er das „Wesen“ dieser Lyrik mit der von ihr geleisteten Darstellung der ,neuen‘ Wirklichkeit. Er betont: „Im Mittelpunkt steht dabei die Frage: Wie stehe ich zu und in dieser Zeit?“, so das subjektive Element in der Gestaltung der Wirklichkeit herausteilend.91 Damit verbunden sei die „Poetisierung des kleinen Gegenstands“ und die „skeptische Haltung gegenüber einer eng agitatorischen und allgemein preisenden Dichtung“. Schiller bewertet beide Aspekte keineswegs, wie es Hartmann suggeriert, nur negativ;92 im Gegenteil, er meint: „die Hinwendung zum kleinen Gegenstand, zum poetischen Ausleuchten des Alltäglichen und der intimen Sphäre ist ihrem Wesen nach für unsere junge Lyrik ein heilsamer Schritt zur ,konkreten Bestimmtheit des Gegenständlichen‘“. Die Berufung auf Goethe im letztzitierten Satz und die folgende einschränkende Bemerkung93 revozieren das keineswegs.
Dem Lyriker-Kritiker Adolf Endler geht es fünf Jahre später, 1968, in einer Einführung vor dem „Aktiv Lyrik und Literaturkritik“ des Schriftstellerverbandes primär um die Qualität der Literatur- und dabei insbesondere um die der Lyrikkritik. Er stellt dort analysierend fest, daß die „diskontinuierliche Kritik“ in der DDR

sich die neuen Erscheinungen in unserer Lyrik von heute nur unzureichend erklären kann, weil sie es versäumt hat, sich die neuen Erscheinungen unserer Lyrik von gestern zu erklären, z.B. die Liebeslyrikwelle. Mit diesem Rückzug in private Kleinmalerei korrespondiert z.B. die jüngste Tendenz, die einen ungewöhnlich großen Teil unserer Poeten zur Zeit in die Idylle führt, Grund zu Kritik, wie ich meine.94

Gleich darauf lenkt er jedoch ein, daß „[…] man auch nicht übersehen soll, daß selbst diese Arbeiten, wenn man sie mit den 64-er Liebesgedichten vergleicht, vom Wachstum der Lyrik Zeugnis geben“.95 Die Lage der jungen Lyrik verbessert sich also zusehends. Ist zwar die Auswahl 66 noch schwach, „[d]ie schwächste Anthologie der ,Auswahl‘-Reihe […] ist nicht die von 1966, sondern ohne Zweifel die von 1964“.96 Und doch sind unter den 35 in den 64er Band aufgenommenen Namen die von Bobrowski, Braun, Jentzsch, den Kirschs (Sarah und Rainer), Kunert und Wiens, um nur einige zu nennen. Daß andererseits der mit einem Text vertretene Manfred Krug sich z.B. wohl doch mehr als Schauspieler denn als Dichter fühlte und man folglich auf lyrischem Gebiet nichts mehr von ihm gehört hat, muß für einen Debütantenband nicht weiter verhängnisvoll sein.
Auch Dieter Schiller übt in einer Rezension zu den Anthologien Auswahl 64 und Sonnenpferde und Astronauten97 Kritik an beiden. In bezug auf die erste im Unterschied zu Endler nicht wegen idyllischer Züge,98 sondern weil „[d]as Gesicht des Bandes […] weitgehend bestimmt [wird] durch den Abdruck einer Reihe von heftig umstrittenen Gedichten“.99 Außerdem sei der Band „wahllos zusammengestellt“ und zeuge „von einer prekären Inflation der Wertmaßstäbe“, die Schiller unerläutert läßt.100 Anhand thematischer Schwerpunkte geht er auf Texte ein, ohne in jedem Falle anzugeben, in welchem Band sie jeweils enthalten sind. Das bietet ihm die Möglichkeit, sich auf „umstrittene“ Gedichte nicht einlassen zu müssen, den betreffenden Autor jedoch keineswegs unerwähnt zu lassen.101 Als von Schiller herausgestellte Motive sind zu nennen: die Stellung des lyrischen Ich im Verhältnis zur Wirklichkeit,102 das „Problem des Verhältnisses von Stadtlandschaft und Naturlandschaft,103 die Mauer,104 Generationsproblematik,105 Gegenwart und Zukunft.106 Außerdem fungieren die Gedichte Sarah Kirschs als Anlaß, auf Chancen und Gefahren des ,Parabelgedichts‘ hinzuweisen, wobei Schiller ausdrücklich eintritt für eine „echte öffentliche Debatte“ zur Lyrik, vor allem, weil er hervorhebt, daß „die Fragen von gestern […] nicht unbedingt die von heute [sind]“. Veränderung, so meint Schiller, brauche Experimente statt ängstliches Festhalten an Erreichtem.
Ansätze einer solchen Auseinandersetzung gab es dann im Jahr 1966 mit der Ersten Lyrikdiskussion. Darauf bezieht sich Horst Haase, wenn er die Auswahl 66 in seiner ausführlichen Rezension im Sonntag107 in den Kontext der „jüngsten Diskussionen“ um die Lyrik stellt, die, so der Rezensent, darum gehen, „in welcher Richtung sich unsere Lyrik weiterentwickelt“.108 Diese Entwicklung mißt er, wie aus dem ersten Absatz explizit hervorgeht, mit weltanschaulichen Kriterien.109 In der frühen Lyrik von Volker Braun.110 bei Franz Fühmann111 und Anna Seghers findet er seine Voraussetzungen realisiert. Hinter ihnen bleiben z.B. Joochen Laabs, Peter Gosse und Hans Drawes zurück. Es mangelt ihren Versen bzw. dem dort auftretenden lyrischen Ich an „konkreter Anschauung“, „konkret-historische[r] Einordnung“, „spezifisch sozialistische[m] Gehalt“ oder „Realismus“.112 Den Vergleich mit Volker Braun in der Gestaltung des Alltags der DDR halten Wulf Kirsten – „am stärksten, wenn er das alte Dorf besingt“ – und Andreas Reimann am besten aus, so meint Haase. Vom Letztgenannten zitiert er die letzte Strophe des dreistrophigen Gedichts „Wegsuche“, das er „programmatisch“ für die „jüngste […] Dichtergeneration sozialistischer Lyriker“ nennt.113

Hier leb ich, irr ich. Blutig abgenabelt
von mutter kriegsangst, bin ich gänzlich frei
von dem komplex des königs ödipus.
Es sei mein credo in die welt gekabelt:
Hier leb ich. Such ich. Finde mich dabei.
Ich lieb dies land. Ist hier nicht denken pflicht?
Und dies ist höchster menschlicher genuß.114

Haases Begründung dafür, daß er meint, der Name Andreas Reimann lasse von denen in Auswahl „am meisten aufmerken“, machen die Maßstäbe deutlich, mit denen er mißt, und ebenso, daß sie mit Ästhetik nur sehr bedingt zu tun haben:

In diesen Versen vereint sich Selbstbewußtsein, geschichtliches Verständnis115 und Heimatliebe mit einem unbelasteten Verhältnis zwischen den Generationen,116 mit literarischer Tradition (Brecht) und der Übereinstimmung mit der revolutionären Partei der Arbeiterklasse, die die Losung vom Denken als erster Bürgerpflicht aufgenommen hat und darin eine wesentliche Voraussetzung für die Durchführung ihrer wissenschaftlich begründeten Politik sieht.117/footnote]

Aus heutiger Perspektive ist es fast zynisch, der SED zu unterstellen, sie hätte „Denken als erste […] Bürgerpflicht“ gefordert, wenn doch gerade solche, die Ergebnisse ihres Nachdenkens vorgebracht hatten, verhaftet oder ausgebürgert wurden. Sofern es die von ihm besprochenen Gedichte betrifft, zeigt der Rezensent Haase jedenfalls, daß er lediglich darüber nachdenkt, ob ein Text in Übereinstimmung zu sehen ist mit der Parteilinie. Das ist bei Reimanns Gedicht offensichtlich der Fall. Und die Form bestätige in positivem Sinne den Inhalt:

Die variierte Anapher; der straffe, nur durch den Zeilensprung aufgelockerte Strophenbau; ein wirkungsvolles Reimschema; sie unterstreichen die poetische Leistung, die sich hier darbietet.[footnote]Ebd.

Verständlichkeit ist in der Besprechung dieser Lyriksammlung genauso eine Beurteilungskategorie wie sie es in der Forum-Lyrikdiskussion war: Eine „ungewöhnliche Verwendung der Sprache“ kann Haase lediglich billigen, wenn „das lyrische Ich ausgeprägt und der Gegenstand souverän beherrscht“ ist,118 was in Leisings Gedicht „Orion“ seiner Meinung nach nicht gelungen ist:

Die Zeit wird dunkler, und die Schatten fallen
des November, Held Orion kommt
mit aufgerissenen Augen früher später
dem blanken Messer übern Horizont
da sinkt der Schnee daß der es hell hat, leiser
daß der gehört wird nicht, und hockt aufs Dach
ich lösch die Lampe, Licht durchsucht mein Zimmer
in meinem Rücken steht die Winternacht
.119

Wenn auch dieses Gedicht nicht genial ist, in dem Band sind viele, vor allem die, die einen sogenannten ,kleinen Gegenstand‘ zum Thema haben, die ihm mit Sicherheit unterlegen sind.120 Haase aber meint, der Text ziehe die ganze Aufmerksamkeit auf die Form und mache so den Inhalt unwichtig. Ein Kritikpunkt, der noch mehr ins Gewicht fällt, scheint jedoch der Mangel an Optimismus und Aktivität zu sein.121

Vor der Zeit aufgewacht, seh ich durchs Fenster
Schnee auf den Ästen des Birnbaums im Garten.
Der erste Schnee des Jahres!
Frierend hör ich, wie draußen im Garten
Jemand vergnügt durch den Schnee stapft.
Schnell zieh ich mich an.

(In: Auswahl 66. A.a.O. S. 44.)

Haases Argumentationslinie weicht, so kann man konkludieren, kaum von der seines Forum-Beitrags ab. Weltanschauung, Parteilichkeit und Verständlichkeit sind auch hier Kernbegriffe seiner Urteilsbildung. Nur ganz am Schluß verläßt er sie wider Erwarten und lobt die Texte Inge Müllers, die den Band, der sonst keine positiven oder negativen Überraschungen erhalte, „doch besonders wertvoll“ machen.122 Er zitiert das längste ihrer fünf abgedruckten Gedichte, „Das Gesicht“,123 vollständig, an dem er den „eigene[n] Ton, eine schlichte, schöne und anspruchsvolle Sprache“ hervorhebt. Der Darstellung einer „Ausgangserfahrung“ von „Krieg und Nachkrieg“ wird hier nicht mit Ablehnung begegnet, sondern sie erscheine als „Nationalgeschichte, ganz individuell gefaßt“.124 Auch das zitierte Gedicht berichtet von einer Erfahrung im Krieg: „Die das gestürzte Pferd beweinten / Sah ich treten und spucken auf Menschenleiber / Tränenlos“, so die ersten Zeilen. Die Schrecken des Krieges werden in der Frage nach Humanität berührt:

Und fragte immer wieder wer
Macht unser Gesicht
Wer hat es gemacht?

Der durch den lapidaren Ton um so erschütterndere Schluß: „Was jetzt wird ist interessant / Und da leb ich nicht mehr“, deutet, wie Haase zu Recht bemerkt auf den Tod der Autorin hin:

Am Morgen lag daneben ein Mann mit Gewehr
Der sagte, als ich ihn verband:
Keine Worte mehr. (Und gab mir die Hand.)
Was jetzt wird ist interessant
Und da leb ich nicht mehr.

Haases Konklusion jedoch:

[…] er [der Schluß, A. V.] weist hinaus in die bessere Zukunft, die begonnen und jene Zeit beendet hat, die das Gedicht noch einmal heraufbeschwört,

läßt das Ausmaß an Traumatischem weitgehend unberücksichtigt und nimmt auch nicht wahr, daß beschriebene Unmenschlichkeit nicht abstrakt als Folge einer ,Zeit‘ oder bestimmter Umstände erscheint, sondern eher als unvermeidlich dargestellt wird. Das Kommendes andeutende Wort „interessant“ wird kaum lediglich, weil es sich auf „verband“ und „Hand“ reimt, gewählt sein. Dies scheint aber Haase durch die Gleichsetzung mit ,besser‘ nahezulegen. Er geht damit an der zumindest partiellen semantischen Offenheit von „interessant“ vorbei, die es bei abflachendem Gebrauch des Wortes zuläßt, nicht unbedingt Positives zu benennen. Haase mag im Jahr 1966 nicht mehr als die fünf Texte Müllers gekannt haben, die in Auswahl aufgenommen waren, spätestens 1976 muß ihr Poesiealbum125 die Unhaltbarkeit seiner Interpretation des Gedichtschlusses deutlich machen.
Die Reaktionen zu den nächsten Auswahl-Bänden unterscheiden sich in den Bewertungsmaßstäben nicht nennenswert von denen zur Ausgabe von 1966.126 Das ,Neue‘ des Titels wird weitgehend gemessen an der Größe des Schrittes im Erkennen des sozialistischen Fortschritts. Andere Entwicklungen der formal-inhaltlichen Komponenten werden selten gesehen, sei es in der Verarbeitung inhaltlicher Traditionen, Innovationen in der Art der Aufnahme des (Sub-)Genres, verarbeiteten Erbe-Auffassungen usw. Solche Aspekte betreffendes Fragen hätte nicht unbedingt zu großartigen Entdeckungen geführt, zumindest aber hätten Aussagen zu fehlenden Erneuerungen dieser Art Licht auf die literarische Qualität geworfen.
Wenn Anneli Hartmann für die Anthologien der sechziger Jahre konkludiert, sie werden „im Vergleich zu denen der 50er Jahre – entschieden ,entpolitisiert‘ und ,literarisiert‘ oder lassen das Bemühen um eine Integration von Politischem und Literarischem erkennen“,127 so müßte man in einer Parallelisierung zur Rezeption des gleichen Zeitraums „entschieden“ durch ,vorsichtig‘ ersetzen, um Gültigkeit beanspruchen zu können.
Eine Reaktion in Sonntag zu Auswahl 72128 berührt zum ersten Mal das Problematische eines nur ideologischen Umgehens mit Lyrik, zwar nicht als Kritik an der Rezeption, sondern an der Aufnahme bestimmter Texte in den Band. Der Rezensent meint:

Aus meiner Kenntnis der Arbeiten einiger Autoren habe ich auch den geheimen Verdacht, daß nicht immer die besten Gedichte ausgewählt worden sind, sondern man mitunter dem thematisch aktuelleren den Vorzug vor dem besseren Gedicht gegeben hat.129

Daraufhin stellt er fest, „das Qualitätsgefälle“ sei „erheblich“.130 Michael Franz’ Rezension in NDL zum gleichen Band ist weiterhin geprägt von politisch-ideologischen Urteilen,131 wobei er die formale Seite im Aufspüren von Fehlendem zumindest streift: Es überwiege der „unregelmäßige, frei rhythmisierte Vers, aber im wesentlichen epigrammatisch ausgeprägt, nicht auch odisch, elegisch, satirisch balladesk oder gar liedhaft“.132 In der literaturkritischen Betrachtung machen sich im Verlauf der siebziger Jahre keine fundamentalen Veränderungen bemerkbar.133
Die ausführliche Besprechung Mathilde Daus zum Band von 1976134 geht sowenig wie das Vorwort zum betreffenden Band ein auf das Ausscheiden von Bernd Jentzsch als Auswählendem;135 frappant ist hingegen ihr Unterfangen, durch eine vergleichende, punktuelle Darstellung der ersten Auftakt-/Auswahl-Bände mit denen der siebziger Jahre, für die sie dann lediglich Beispiele aus dem 76er Band gibt, zu einer negativen Beurteilung der Verdienste der ,Jentzsch-Periode‘ kommen zu können. Dies allerdings, ohne seinen Namen auch nur einmal zu erwähnen. Es muß nicht erstaunen, daß dabei das Mißlingen von „Versuchen, über den Ich-Gewinn zu einem echten Welt-Gewinn zu kommen“, eine große Rolle spielt. Dau stellt fest, daß öfter „[…] statt Selbstverwirklichung […] lediglich Privatisierung erreicht“ wird. Dann ist auch „die unbestreitbar fortgeschrittene formal-technische und sprachliche Ausgefeiltheit mancher Gedichte nur ein schwacher Trost“, weil „blanke Manier“. Das sei vor allem der Fall in Gedichten, „die von einem eigentümlichen, aber diffusen, nicht näher ausgewiesenen Ton der Klage und des Leidens beherrscht sind“. So kommt sie dann – es geht ja angeblich stets um die Tendenz in der ,jungen Lyrik‘ insgesamt – zu einer Aburteilung der lyrischen Texte von Uwe Kolbe und Frank-Wolf Matthies – auch wieder ohne Namensnennung –, die in Heft 6 von Sinn und Form abgedruckt waren:136

Man hat den Eindruck, daß Probleme artikuliert werden, die ,im Halse steckengeblieben‘ sind. Oder es werden einfach spätbürgerliche Entfremdungshaltungen ,nachempfunden‘. Das Verharren in spätbürgerlichen Empfindungsmustern, in resignativer Entfremdungsklage, macht noch kein neues Gedicht.

Wohl stellt Dau gleichzeitig fest, daß es sich im Falle dieser Lyriker um „echte poetische Begabungen“ handele; eine Behauptung, für die sie keinerlei Beleg anführt.
Da die von Dau beschriebenen Tendenzen ihrer Darlegung nach bereits seit einigen Jahren im Gange sein müßten, wirkt ihre Schlußfolgerung leicht befremdlich, und in ihr klingt dann doch etwas von den Wirrnissen nach der Biermann-Ausbürgerung an:

[…] in gewisser Weise befinden wir uns […] wieder am Beginn einer neuen Entwicklung in der Gesellschaft wie in der Poesie.137

Erst die Aufnahme des Bandes von 1980 knüpft nicht nur an die Rezension zum Band von 1972 in Sonntag an, sondern zieht, indem der prinzipiell subjektive Aspekt jeder anthologistischen Darbietung hervorgehoben wird, auch die literaturkritische Konsequenz aus dieser Sichtweise. Sie macht es nämlich sowohl möglich als notwendig, die Repräsentativität einer Sammlung als eingeschränkte zu sehen. Christel Hartingers Ansichten stimmen mit denen der Zusammenstellerin in diesem Punkt überein (vgl. S. 97). Hartinger verbindet damit die Schlußfolgerung, daß ein „literaturkritische[r] Umgang“, eben wegen der Subjektivität der Sammler und der Beschränktheit des Materials, nicht zu „absolute[n] Schlüsse[n] (zu denen wir […] allzu rasch drängen)“ führen kann.138 Trotz auch ihrer weitgehend weltanschaulich fundierten Beurteilungskriterien139 markiert Hartinger mit der Herausstellung der Vorläufigkeit des eigenen Urteils in dieser Hinsicht einen Bruch mit der bis dahin vorherrschenden DDR-internen Rezeption der Reihe. Auch bietet die von ihr vertretene Auffassung den Raum, Sozialismus nicht expressis verbis bejahende Texte ohne sofortige Verketzerung zu besprechen und somit zu einer mehr literatur– als ideologiekritischen Betrachtungsweise zu kommen.140
Ein nächster Entwicklungsschritt in der Rezeption der Auswahlreihe bildet die Einzelbandbetrachtung von 1984 mit bilanzierendem Charakter in Weimarer Beiträge.141 Obwohl er seine Befunde ausdrücklich als „Leseerfahrungen“ dieses Einzelbandes präsentiert,142 deckt sich das von Harry Riedel unterstrichene „Disziplinierte des Sprachlichen“143 im von ihm besprochenen Band mit einer Entwicklungstendenz, die sich in einer Schwerpunktverschiebung von der inhaltlich-mitteilenden Seite auf formal-sprachliche Aspekte des Gedichts im Verlauf der zwanzigjährigen Reihenexistenz darbietet. Im Band von 1984 macht sich das in Verdichtung einerseits und im Rekurs auf tradierte Formen wie Sonett, Hymne, Ritornell und Psalm bemerkbar. Riedel stellt weiter fest, daß der Experimentierspielraum – Form und Semantik des Textes betreffend – im Vergleich zu z.B. den sechziger Jahren erheblich größer geworden ist. Damit einher geht, so Riedel, eine „stärkere Besinnung auf Traditionslinien“, nicht nur „seit Klopstock, Hölderlin in der deutschen Literatur“, sondern auch in „der neueren Lyrik – etwa seit Rimbaud, den Expressionisten und anderen“.144
Sein Vorwurf betreffs der lyrischen Darstellung von Erfahrenem richtet sich nun nicht mehr explizit auf den Mangel an sozialistischer Parteilichkeit usw., spricht auch ,fehlende Objektivität‘ nicht in althergebrachten Vokabeln aus, sondern äußert sich in dem Falle, ausgehend von einem abstrakten Leser, folgendermaßen:

Lyrische Subjektivität erreicht den Rezipienten nicht als Partner, weil dieser das Unverbindliche nicht als Bedeutsames annehmen will.145

War es in frühen Auswahl-Bänden kritikwürdig, wenn aufgenommene Texte allzu sehr an der Lyrik eines Johannes Bobrowski orientiert waren, jetzt wird beanstandet, wenn die Produkte der jungen Lyriker in einer bestimmten Hinsicht hinter der Leistung seiner Gedichte zurückbleiben: im „[T]ragen oder [A]ufbauen“ von „bedeutende[n] lyrische[n] Welt- und Zukunftsvisionen“, in dem Riedel den „produktiven Ansatz“ u.a. Bobrowskis sieht.146 In eben diesem Punkt der „epochalen Reflexion“, waren die Auswahl-Gedichte der sechziger Jahre denen der achtziger überlegen.147 Assoziativ-reflexive und verdichtende Elemente werden letztendlich doch wieder durch den Bezug auf sozial-politische Veränderungen – auch beim Rezipienten – legitimiert:

Viele Gedichte des Bandes erschließen sich nicht auf den ersten Blick, sie fordern zum Nachsinnen, Verweilen, Überdenken, zur Assoziationsbereitschaft, zum wiederholten Prüfen auf. Angesichts der Bedrohung unserer Existenz und unserer Welt sind die komplizierte Struktur und auch das assoziativ-reflexive Gedicht nicht wegzudenken.148

Jedoch ist nicht alles zuzulassen. Daß es Grenzen gibt, die eingehalten werden sollen, wird deutlich ausgesprochen, wo sie liegen nicht.
Dem in dieser ausführlichen Rezension Angeführten ist bis 1988 nicht mehr viel hinzuzufügen. Neue Momente werden in zwei Besprechungen zum 86er Band lediglich darin gesehen, daß die aufgenommenen Autoren Intellektuelle sind und demzufolge den Alltagsbereich Arbeit – verstanden als „Bereich der materiellen Produktion“149 – nicht oder kaum thematisieren. Statt dessen tritt „ein intellektuelles Verhältnis zur Außenwelt in den Vordergrund poetischen Gestaltens“.150 In der Hinwendung zum Geschichtlichen signalisieren beide Rezensenten eine kontinuierliche Entwicklung, ebenso im – bereits von Riedel zu Auswahl 84 angedeuteten – Rückgang in der Thematisierung von Liebe.

Abschließend zu diesem Abschnitt kann angemerkt werden, daß die Entwicklung der Rezeption der Reihe in der DDR sich inhaltlich weitgehend mit den Veränderungen im Charakter der Reihe selber deckt. Anfangs nachdrücklich auf die inhaltlich-ideologische Seite ausgerichtet, verschob sich das Interesse allmählich auf den Zusammenhang von formalen und inhaltlichen Aspekten, denen, auch wenn sie nicht streng weltanschaulich zu interpretieren waren, im Verlauf der Zeit Signifikanz nicht länger abgesprochen wurde. Im nächsten Abschnitt wird zu zeigen sein, daß die Reihe insgesamt einen vorsichtigen Blick auf aufgenommene Autoren warf: formale wie inhaltliche Radikalisierungen wurden von ihr nicht signalisiert. Parallel dazu verlief die Rezeption: nie extrem unfreundlich, niemals auch besonders begeistert. Und fast immer die Idee vermittelnd, daß es immer wieder Talente gäbe, die es zu fördern lohne, die sich eventuell noch nach-formen ließen. Die Enttäuschung über Lyriker, die doch nicht weiterschrieben, das Land nachher verließen oder sich in beträchtlichem Maß abweichend dem von Auswahl Versprochenen entwickelten, floß in spätere Rezensionen auch gleicher Rezensenten nicht ein.

4. Repräsentativität?

4.1. In bezug auf eine ,allgemeine‘ Lyrikentwicklung

Wenn man unterstellt, der erste Auswahl-Band sei wirklich einer für Anfänger, so wird man bald eines Besseren belehrt. Von den 35 präsentierten Lyrikern hatten 11 bereits 1963 einen eigenen Band herausgebracht und galten somit nicht mehr als Debütant.151 Auch relativ gesehen hat Auswahl 64 innerhalb der Anthologie-Reihe damit die meisten Nicht-Anfänger aufgenommen.152 Wohl als Debütanten sind, nachdem man die 6 abzieht, die darüber hinaus schon in Auftakt vertreten waren, 18 Autoren zu bezeichnen. Von ihnen findet man nur drei, Gerd Eggers, Peter Gosse und Dieter Mucke, in dem Sammelband Lyrik der DDR153 wieder, der immerhin den Anspruch erhob, „die historisch neue Qualität unserer Lyrik an künstlerisch bedeutenden Beispielen zu zeigen.“154 Auch Wolfgang Emmerichs Literaturgeschichte erwähnt die restlichen 18 Autoren in bezug auf ihre lyrischen Leistungen nicht. Nur von Joochen Laabs wird vermerkt, daß er überhaupt mit Gedichten angefangen hat,155 und von Günter Wünsche wird das Wort vom „gescholtene[n], geschmähte[n), denunzierte[n] Ich“ aus seinem Gedicht „Rehabilitierung des Ich“ zitiert.156

Man kann also, auch wenn man nicht mit inhaltlichen Kriterien arbeitet, mit Adolf Endlers Einschätzung (vgl. oben S. 104) übereinstimmen und schlußfolgern, daß es Auswahl 64 nicht gelungen ist, bedeutende Talente – zum ersten Mal – vorzustellen.157 Im nachhinein ist außerdem deutlich geworden, daß 13 von den 18 Anfängern sich auf dem Feld der Lyrik für Erwachsene nach meiner Untersuchung nicht weiter betätigt haben.158
War an den Titeln in Auftakt kaum zu übersehen, daß politische Kriterien bei der Zusammenstellung sicherlich eine Rolle gespielt haben, so hat sich das mit Auswahl 64 verändert. In letztgenanntem Band würde man auf den ersten Blick als politisch einordnen Gedichte mit Überschriften wie „Für Baggerführer Harald K.“ und „Stahlwerk Riesa oder Den Silbermondsingern“ von Peter Gosse, „Ihr alle“ von Manfred Krug, „Redet ein menschliches Wort“ von Helmut Preißler und „Wertschätzung des Tags“ von Joachim Rähmer.
Tatsächlich ist das erste Gedicht von Gosse als ein lyrischer Beitrag zum Bitterfelder Weg zu sehen. Es beschreibt in lobender Weise und mit vielen Ausrufezeichen versehen die Arbeit und Einstellung eines Baggerführers. Sein zweites Gedicht liest sich aus einem zeitlichen Abstand von beinahe dreißig Jahren fast als Parodie. Es ist ein einleuchtendes Beispiel für die Begeisterung, mit der man in den sechziger Jahren in der DDR die Industrialisierung der Natur in Angriff nahm, ohne die Folgen nur zu problematisieren.159 Gosses Gedicht lobt das Stahlwerk Riesa, und dort, wo in anderen Zeiten die Natur mit der Gefühlslage des lyrischen Ich konform war, geht hier seine Stimmung aus der Arbeit und Umgebung des Stahlwerks hervor. Der Untertitel des Gedichts richtet sich sogar widmend an frühere Dichter: „Den Silbermondsingern“. Das, was von der Natur noch in das Gedicht eingeht, wird als nutzlose Verzierung beschrieben. Sie selber erscheint unbetroffen vom Produktionsprozeß, von dem das lyrische Ich so angetan ist: dem „breiten Chamäleon-Himmel, / [ist] alles schnuppe […]“.160 Sogar für die elementarste, lebensnotwendige Tätigkeit des menschlichen Körpers, werden Sonne und Himmel nicht gebraucht:

Es atmet sich gut, wenn die hagere Reihe Schornsteine
den sentimentalen Himmel zerqualmt.
Wenn die Pappmachesonne hinhopst an den Schwaden, braungescheckt
.161

In der dreizeiligen letzten Strophe wird ,Sonne‘ dann doch noch in übertragenem Sinne, etwa im Sinne von ,bessere Zukunft‘, verwendet, wenn es in der letzten Zeile des Textes heißt: „wir brüten unsre Sonne aus in den Öfen“.
Manfred Krug wagt es in seinem Gedicht dagegen, den Mond „Liebesleuchte“ und die Sonne „älteste Göttin. / Dicke, runde gute Weltmutter“ zu nennen.162 Er erkennt die Gefahr, die entsteht, wenn es die Sonne einmal nicht mehr geben sollte:

Wehe, du kneifst mal
dein Goldauge zu
163

Jedoch, wie er schon die Folgen einer Ausschöpfung der Erde lässig zur Seite geschoben hatte:

Wenn Du mal alle bist,
essen wir die Bücher, die wir aus dir
gedruckt haben. Und dann
befallen wir
einen neuen Kopf
[,]

vertraut er auch hier auf den Erfindungsgeist des auf geklärten Menschen, den er mit dem Gedichttext besungen hat:

Manchmal, nachts, träumen wir
uns schon vorsichtshalber
in ein anderes All

Aus dem ganzen Gedicht spricht das Wissen darum, daß das lyrische Ich in einer Zeit lebt, in der der Mensch sich bemüht, alles zu ermöglichen: die Mondlandung und das Schaffen eines Zustands, in dem man nur noch „von selbst sterben“ wird und nicht „[v]on den Menschen“.164
Helmut Preißlers längeres Gedicht „Redet ein menschliches Wort“, aus dem in Auswahl 64 die Abschnitte 6 und 24 abgedruckt sind, würdigt ebenfalls das menschliche Wissen und Können: „jedem will ich geben / das Wissen um seine Allmacht“,165 und Joachim Rähmer preist die von den Menschen ständig perfektionierte Zeit, in der er lebt: „ein Feiertag täglich, an dem wir verkünden / den kommenden Tag“.166 Fritz J. Raddatz hat also nicht völlig unrecht – obwohl er es etwas böse formuliert –, wenn er zur Lyrik von Debütanten 1964 meint:

Das dichtet zur Volkswahl und zur Mauer, zu Frühlingsbeginn oder zum Märzmorgen. Schön, daß man auf Grund der Titel immer schon weiß, was einem droht […]167

Allerdings: im Vergleich zu Auftakt 63 sind die Titel – wie die Gedichte selber – erheblich weniger eindeutig geworden. Dort stieß man auf Überschriften wie: „Du, unsere Zeit“ (Werner Bräunig), „Wie ich zur Gegenwart stehe“, „Ein Parteiloser spricht“ (Joachim Rähmer), „Der Revolutionär“ (Rose Nyland), „Der alte Prolet“ (Reinhard Geng), „Wer ist Partei?“ (Günter Engelmann).
Trotz dieser deutlich aus politischen Gründen aufgenommenen Texte wird der Leser des Auftakt-Bandes manchmal überrascht: Bei einem Gedicht mit dem Titel „Hierzulande“168 würde man im Kontext des Bandes einen Lobvers auf die sozialistische Heimat erwarten. Es werden im Gegenteil Gangarten verschiedener Tiere auf humorvolle Weise beschrieben. Der vom Tausendfuß-Ich gesprochene Satz: „Es geht sich halt schwer / Auf zwei Beinen“ ist wohl schwerlich spezifisch politisch zu deuten. Dieser Text von Sarah Kirsch ist nicht untypisch für ihren lyrischen Anfang: in Landaufenthalt169 sind Texte ähnlich kindhaft-naiven Tons durchaus enthalten. Abgesehen von Sarah Kirsch sind in Auftakt 63 u.a. Uwe Greßmann und Volker Braun als Autoren, die noch keine selbständige Lyrikpublikation vorgelegt hatten, vertreten. Die ebenfalls aufgenommenen Heinz Czechowski, Bernd Jentzsch, Adolf Endler, Heinz Kahlau, Paul Wiens u.a. hatten bereits früher einen Lyrikband herausgegeben, während Karl Mickel im gleichen Jahr 1963 seinen Band Lobverse und Beschimpfungen170 publiziert.
Die beiden ersten Bände der Reihe markieren in ihrem gesellschaftlichen sowie kulturpolitisch-literarischen Kontext den Stellenwert von Lyrik zu dieser Zeit. Wie bereits erwähnt, stellt Anneli Hartmann eine Entpolitisierung von Anthologien für die sechziger Jahre fest (vgl. S. 109), die für die Auswahl-Bände, auf Grund des späteren Beginns der Reihe, lediglich im Vergleich zu andersartigen Sammlungen ausmachbar wäre. Dagegen deutet ein Vergleich der ersten Bände mit späteren auf eine ähnliche Gewichtsverschiebung vor allem in den siebziger Jahren. Der Band aus dem Jahr 1968 ist z.B. der letzte, dessen Texten ausdrücklich eine Rolle im Bewußtwerdungsprozeß hinsichtlich politischer Geschehnisse (Vietnam, die Ermordung Martin Luther Kings, westdeutsche Notstandsgesetze und Studentenproteste) zugeschrieben wird.

Eine Gegenüberstellung der Thematiken bei den profiliertesten Lyrikern aus den Anfangsbänden mit denen der bekannteren Autoren aus den letzten Bänden ergibt nicht in allen Fällen eine Verlagerung in der Schwerpunktsetzung betreffs ideologischen Gehalts. Von den vier Texten, die Sarah Kirsch zu Auftakt 63 und Auswahl 64 beiträgt, hat nur einer direkte Bezüge zur Arbeitswelt: „Gleisarbeiterschutzengel“, obwohl es weniger um diese selber geht als um eine bestimmte Person in ihr.171 Daneben sind zwei ,Tiergedichte‘ („Hierzulande“ und „Kängeru und Laus“)172 zu verzeichnen und eines mit einem sogenannten ,kleinen Gegenstand‘ („Schöner Morgen“).173 Die Frauen aus den Bänden der Jahre 1986 und 1988, die es unterdessen zu einiger Bekanntheit gebracht haben, sind Kerstin Hensel (1984 und 1986)174 und Barbara Köhler (1988).175 Als größter Unterschied zwischen Kirschs Texten und denen der beiden jungen Lyrikerinnen ist der im Ton anzumerken: Kirschs Texte sind durch eine naiv anmutende Heiterkeit gekennzeichnet, die den anderen Texten abgeht. Köhlers Gedichte weisen höchstens eine leichte (Selbst-)Ironie auf:

SELBSTPORTRÄT

ICH STELLE MICH VOR vollendete tatsachen (die mauer
im rücken halbdunkel im kopf die hand zwischen den
schenkeln nach welt schreien): undurchsichtig was ich
gelegentlich durchschaue als tarnung einer gewissen
abneigung TRANSPARENT zu sein um nicht zu ver-
schwinden tauche ich unter agent provocateur in der drit-
ten person ICH IST DAS SPIEGELBILD MEINES SPIE-
GELBILDS: ER SIE ES die unvollendete gegenwart als
zeitform jeglicher revolte gegen das gesagtsein nach den
gesetzen deutscher grammatik gefoltert vom schweigen
rede ich um mein leben bringe mich wort für wort um
kopf und kragen müßten mal wieder gewaschen werden
– DAS SIEHT MIR ÄHNLICH
176

während die Hensels durchgehend ernst sind, wie z.B. das Gedicht „Vom einfachen Gehen“:

Ach, Liebe, fremde, laß die Katzen jammern

durch meine dürre Brust
in Wind und Farn:
was gehts dich an, was doch daraus nicht geht?
Es bleibt
auf kühler Klinke lau ein Druck
von meinem Arm.
Kehrt’ ich zurück zu dir, kämst du zu mir
zu spät.

Weiterhin fällt ein in den Auswahl-Gedichten Kirschs fehlendes Rekurrieren auf literarische Vorlagen bei sowohl Hensel als auch Köhler ins Auge, das bei Köhler mit einem gewissen Verlust an ungespaltener Identität einhergeht. Dadurch daß Hensel sich z.B. auf Autoren wie Platonow und Pablo Neruda bezieht, ist bei ihrem Traditionsbezug eher eine politisch-revolutionäre Konnotation auffällig. Bei Köhler spielt die literarische Figur der Ophelia eine wichtige Rolle. Ähnlich der Gestaltung dieser Figur in Heiner Müllers177 Hamletmaschine erscheint ihr Wahnsinn im Weltkontext als die ,normalere‘ Haltung – z.B. im Vergleich zu Hamlet, dessen Vorstellungen bloß in den Tod führende Wahnideen sind. Eine politische Ladung erhalten solche Gedichte (wie „Über die Brücke“178 und „Die altgewordene Ophelia“179) damit auf einer viel abstrakteren Ebene als die Hensels.
Gegenwartsbezüge finden sich bei Kerstin Hensel und Barbara Köhler – in der Hinsicht gibt es keinen Unterschied zu Kirsch – nicht in direkter, ausschließlicher Verbindung mit dem Staat DDR, sondern verknüpfen sich mit allgemein Menschlichem – in Form der Bedrohung allen Lebens,180 nicht-realisierter bzw. beendeter Liebesbeziehung und – abstrakter – als bloßes Jetzt, ein Ort des Noch-nicht-Todes, in dem es nicht möglich scheint, „zu gewinnen ohne siegen zu müssen“.181 Sarah Kirsch stellt Anfang der sechziger Jahre ebenfalls allgemein menschliche Begebenheiten dar, jedoch optimistisch und ungetrübt. Bei ihr wird auch nicht die Stellung des eigenen Ich problematisiert, obwohl der Duktus ihrer tierfabelähnlichen und anderen Texte in der ungewöhnlichen Sichtweise, die am scheinbar Unwichtigen Wesentliches bemerkt, durchaus von einer erheblichen Subjektivität geprägt ist.
Beim Vergleich zwischen markanten männlichen Autoren182 aus dem Beginn und dem Ende der Reihe bietet es sich an, Texten von Volker Braun die Rainer Schedlinskis gegenüberzustellen. Brauns eigenwillige politische Anfänge sind genügsam bekannt, Schedlinskis Texte wurden – in West und Ost – durch ihren angeblichen „Abschied von der Doktrin“, der sich in einem „radikalisierte[n] Umgang mit Sprache“ zeigte,183 politisch gelesen. Eine Lesart, die von essayistischen Äußerungen Schedlinskis unterstützt wurde. Die Texte dieser beiden Autoren bieten unter dem Gesichtspunkt gleichsam zwei Pole eines politischen ,Engagements‘ dar: einerseits das Eintreten für den sozialistischen Staat, allerdings bei Braun in von Präskriptionen abweichender Form, wie in seinen Gedichten „Provokation für mich“184 und „Jazz“;185 andererseits bei Schedlinski – allerdings unter persönlichem Einsatz für die ,Interessen‘ des politischen Machtapparats dieses Staats als ,Inoffizieller Mitarbeiter‘ des Staatssicherheitsdienstes186 – die Absage an die Ideologie des sozialistischen Staats bis in die sprachliche Ausprägung des Gedichts hinein. Übrigens entspricht lediglich einer seiner Texte in Auswahl 88 uneingeschränkt einer solchen Interpretation, nämlich „Fraktur“:187

verwittert am anfang / das chaos
gestein & gestein / zum vergleich
ein strenges gelübde / von allem
gebrochen / wir türmen

die steine zu mauern / mauern
& mauern / pressen die stadt
in die augen / wie marmor
brüche / des wissens


griechische steingläubigkeit / fort
gepflanzt in der säulen / gestalt
die gebiert / ohne empfangen zu haben

nichts wächst / nur der stein
bricht vom stein / bricht
mit allem / woraus er entstand

Aus Strophen zusammengestellte Texte sind in Schedlinskis Gedichtband eher Regel als Ausnahme, der hier zitierte ist aber das einzige (italienische) Sonett.

4.2. Statistisch – im Vergleich

Es wird ein Vergleich vorgenommen zwischen Auswahl (als Reihe) und den Anthologien Lyrik der DDR, Die eigene Stimme und Ein Molotow-Cocktail auf fremder Bettkante hinsichtlich der in sie aufgenommenen Autoren.188 Die Anthologie Lyrik der DDR erhebt bereits durch ihren Titel einen gewissen Anspruch auf Repräsentativität,189 die allerdings namentlich in der ersten Auflage der Sammlung im Jahr 1970 durch die direkte Entgegensetzung zu der von Adolf Endler und Karl Mickel 1966 herausgegebenen Anthologie In diesem besseren Land bewußt eingeschränkt wird. In dieser Untersuchung wird auch deshalb die letzte, aktualisierte Ausgabe aus dem Jahr 1984 verwendet; ein zweiter Grund dafür liegt in dem Umstand, daß so die Zeitspanne zwischen dem Erscheinen des Auftakt-Bandes und dieser Anthologie – und damit die Aufnahmemöglichkeit einzelner Autoren – größer ist.
Die von Ursula Heukenkamp, Heinz Kahlau und Wulf Kirsten 1987 herausgegebene Anthologie Die eigene Stimme steht an zweiter Stelle, weil sie sich zum einen durch ihren Untertitel als Nachfolgeanthologie zu Lyrik der DDR kenntlich macht und zum anderen explizit den Anspruch auf Repräsentativität erhebt.
190 und zwar gemessen an ästhetischen Kriterien: „eine Dokumentation literarisch relevanter Leistungen“, bei der „[d]er künstlerische Anspruch, den die Lyriker an das Gedicht stellen“, als „zentraler Maßstab“ betrachtet wurde.191 Wohl wird dabei die Einschränkung formuliert, „die Formlosigkeit sowenig gelten [zu] lassen wie Ignoranz gegenüber der Tradition“,192 denn „[ä]sthetische Kategorien für sich genommen, abgezogen von aller gelebten Wirklichkeit, wollen nicht viel besagen“.193 Die eigene Stimme erschien zu einem Zeitpunkt, wo die Sterbestunde der DDR zwar noch nicht abzusehen, aber doch – so scheint es im nachhinein – unvermeidlich nahe war. Sie bietet folglich die letzte ,echte‘ DDR-Überblicksdarstellung der eigenen Lyriklandschaft. Die Sammlung bemühte sich, mit der Aufnahme von Namen einiger ,Weggegangener‘ wie Sarah Kirsch und Kurt Bartsch, samt sogenannten Prenzlauer-Berg-Dichtern wie Eberhard Häfner und Bert Papenfuß-Gorek, politisch-ideologischen Vor-Urteilen zu entgehen.194 Peter Geists 1991 erschienene Anthologie Ein Molotow-Cocktail auf fremder Bettkante stellt in gewissem Sinne einen ,Wende-Punkt‘ dar. Sein ,Zorn‘ und seine ,Motivation‘ entstammen, wie er selber in seinem Vorwort vermerkt, zumindest teilweise den doch noch vorhandenen politischen Vorbehalten der Vorgänger-Auswählenden. Daß eine zeitlich kaum distanzierte, reaktiv begründete Argumentation der Auswahl zu inkongruenten Gewichtungen führt, hat Gerd Labroisse in seinem Artikel „DDR-Lyrik der achtziger Jahre im Blick von draußen“ festgestellt,195 in dem er u.a. darauf hinweist, daß die ,Prenzlauer Berg-Lyrik‘ bei Geist nicht nur disproportional vertreten ist, sondern ihre „Konzeption“ sogar als „Absolutsetzung“ innerhalb der Lyrikentwicklung der DDR erscheint.196 So vermittelt jede Auswahl immer zusätzlich ein Bild von der Zeit, in der sie entstanden ist.
Von zusammengezählt 300 Autorinnen sind nur 22 in allen vier Anthologien vertreten.
197 Zu diesen gehören erstaunlicherweise die beiden ,Weggegangenen‘ Kurt Bartsch198 und Günter Kunert,199 erwartungsgemäß viele in den dreißiger und vierziger Jahren Geborene:200 Ulrich Berkes.201 Volker Braun,202 Heinz Czechowski,203 Adolf Endler,204 Elke Erb,205 Harald Gerlach,206 Peter Gosse,207 Christiane Grosz,208 Uwe Grüning,209 Heinz Kahlau,210 Rainer Kirsch,211 Wulf Kirsten,212 Dieter Mucke,213 Walther Petri,214 Richard Pietraß,215 Andreas Reimann,216 Jürgen Rennert,217 lediglich einer von den älteren: Paul Wiens,218 und eine jüngere: Gabriele Eckart.219
Festzustellen ist ferner, daß von den 251 in Auswahl vertretenen Autoren 161 in den anderen Anthologien nicht vertreten sind. Daraus die Schlußfolgerung zu ziehen, diese Autoren hätten sich auf dem Gebiet der Lyrik nicht bewährt, wäre etwas vorschnell, weil keine dieser Anthologien den ganzen Zeitraum der Auswahl-Bände berücksichtigt. Deswegen mag es aufschlußreich sein, einmal umgekehrt zu fragen, danach nämlich, wie viele und welche Autoren von den in eine der drei anderen Anthologien aufgenommenen nicht in Auswahl vertreten sind. Es geht dann um insgesamt 147 unterschiedliche Autoren, von denen 59 nicht in Auswahl erschienen sind. Teilt man diese wieder nach Anthologien auf, ergibt sich, daß es in 24 Fällen Lyriker betrifft, die sonst nur in Ein Molotow-Cocktail begegnen,220 4, die ausschließlich in Die eigene Stimme repräsentiert sind, 7 allein in Lyrik der DDR aufgenommene, 7 in allen drei anderen vorhandene, 3 in Die eigene Stimme und Ein Molotow-Cocktail aufgenommene und 14 sowohl in Lyrik der DDR als auch in Die eigene Stimme vertretene. Die Skala der Lyriker, die nicht in einem Auswahl-Band herausgestellt sind, reicht von älteren wie Erich Arendt, Helmut Bartuschek, Uwe Berger, Bertolt Brecht, Franz Fühmann, Hans Lorbeer, Jo Schulz, Erich Weinert und Max Zimmering bis zu jüngeren wie Sascha Anderson, Siegmar Faust, Jayne-Ann Igel, Gabriele Kachold, Raja Lubinetzki, Stefan Stein, Michael Thulin und Michael Wüstefeld, um einige hervorzuheben.
Die Differenz zu Ein Molotow-Cocktail... betrifft vornehmlich junge, z.T. sehr junge Autoren, von denen einige vor der ,Wende‘ aus der DDR ausgereist (worden) sind. Auf der anderen Seite haben die bei Geist vertretenen, in der Forschung ebenfalls zur ,anderen‘ DDR-Lyrik gerechneten Lyriker
221 Stefan Döring, Jan Faktor, Eberhard Häfner, Johannes Jansen, Uwe Kolbe, Bert Papenfuß, Lutz Rathenow, Rainer Schedlinski, Bernd Wagner, Bettina Wegner(-Schlesinger) durchaus Texte in Auswahl publiziert.222 Von den 29 in der am Anfang dieses Beitrags erwähnten Anthologie Berührung ist nur eine Randerscheinung vgl. S. 87) vorgestellten Autoren sind 7 ebenfalls in Auswahl vertreten.223 6 von ihnen sogar Jahre vor Erscheinen der Anthologie 1985.224
In der Frage der Repräsentativität ist, so wird klar, eine unzweideutige Antwort in bezug auf die jüngste Generation von Lyrikern wohl am wenigsten möglich. Auf keinen Fall aber kann die Leistung oder Leistungsschwäche geradlinig und ausschließlich aus ideologischen Prämissen erklärt werden. Die Skala der aufgenommenen Autoren ist viel breiter, als aus einem wie auch immer gelockerten Begriff von sozialistischem Realismus abgeleitete Selektionskriterien zulassen würden. Allerdings kann diese Schlußfolgerung nur vorläufige Geltung beanspruchen, insofern sie nämlich nur auf ausgewählte Namen zutrifft. Sie ist deswegen an Texten noch zu prüfen.

4.3. In bezug auf die Textauswahl einzelner Autoren

Eine nähere Betrachtung aufgenommener Gedichte im Hinblick auf den Aspekt der Repräsentativität für das lyrische Werk des betreffenden Autors soll im folgenden exemplarisch anhand einiger Autoren für die siebziger und achtziger Jahre vorgenommen werden. Christian Lösers Rezension zu Auswahl 66 vermittelt, wenn sie auch durch das Artikulieren von Allgemeinheiten und Unverbindlichkeiten gekennzeichnet ist,225 doch eine wichtige Einsicht: In die Anthologie wurden ausgesuchte Gedichte aufgenommen, die eine bestimmte Seite des jeweiligen Autors erhellen. Löser macht das an einem Beispiel deutlich:

[…] die freundlichen Gedichte auf den Clown, die Verkäuferin und die Männer im Elektrizitätswerk in der Auswahl 66 zum Beispiel scheinen von einem ganz anderen Kurt Bartsch zu stammen als die sensiblen, verspielt melancholischen Liebesgedichte des gleichen Autors in der Sammlung Erlebtes Hier.226

Zur Beantwortung der Frage danach, inwiefern die von Auswahl vorgestellten Texte charakteristisch für die Lyrik eines Autors sind, wird zunächst auf Gedichte einer Lyrikerin eingegangen, über deren literarische Qualität in der DDR ein Konsens bestand – sie war in den vier hier aufgeführten Anthologien mit Texten vertreten. Auch in westlichen Publikationen ist sie nicht umstritten, wie z.B. ein Artikel zur „Frauenliteratur-Lyrik in der DDR“ von Gerd Labroisse zeigt, in dem die angeführten Gedichte als „[f]rauenliterarisch-[e]manzipatorisch [Hervorhebung A. V.]“ zu verstehen sind und von daher durchaus mit einem Qualitätsanspruch gebracht werden.227 Es handelt sich hier um Christiane Grosz, die im Jahr 1976 in Auswahl aufgenommen wurde. Im Jahr 1978 erschien – abgesehen von Kinderbüchern – ihre erste selbständige Veröffentlichung: der Gedichtband Scherben.228 1983 und 1991 folgten dem weitere Gedichte unter den Titeln Blatt vor dem Mund und Die asoziale Taube.229 Es sind von dieser Autorin vier Gedichte in Lyrik der DDR aufgenommen, eine gleiche Anzahl in Die eigene Stimme, fünf in Ein Molotow-Cocktail (bei einer angegebenen Höchstzahl von sieben Gedichten pro Autor) und zwei in Auswahl. Nur ein Gedicht begegnet zweimal: „Im St.-Anton-Krankenhaus“ aus dem ersten Band Scherben ist in Die eigene Stimme wie in Ein Molotow-Cocktail aufgenommen.
Sowohl nach Form als auch nach Inhalt unterscheiden sich die beiden Gedichte in Auswahl von denen in den anderen Anthologien. Sie sind Teil eines kleinen Zyklus, dessen insgesamt sechs Teilgedichte alle unter dem Titel „Wege“ in Scherben publiziert wurden. Der Untertitel, in Auswahl als Titel, gibt an, daß sie auf der „Erzählung Wege von Nikolai Chaitow“ basieren.230 Es ist der einzige Zyklus in den Bänden von Grosz und das einzige Mal in ihrem ersten Band, daß sie ein literarisches Werk ausdrücklich als Vorlage erwähnt. Die Gedichtfolge setzt heiter ein mit drei Texten, die nicht unbedingt auf Chaitow verweisen. Erst das vierte Gedicht stellt eine deutliche Beziehung zur Vorlage her; damit ändert sich auch der Ton entscheidend. Auf semantischer Ebene ist dieser vierte Text metaphorischer als die drei ersten, in denen dem übertragenen Sinn zumindest ein vordergründiger vorausgeht. Oder man müßte vielleicht genauer formulieren und sagen, daß dort, wo der Leser im vierten Gedicht bei fast jedem Wort wählen muß zwischen sinnbildlicher und konkreter Bedeutung, er diese Entscheidung bei den ersten drei erst am Ende des Gedichts bzw. manchmal gar nicht treffen muß. Das heißt, daß ein Bild dort einen Text lang durchgespielt wird. Insofern ist Text IV komplexer in der Aussage und weniger pointiert. Zum Vergleich zitiere ich hier nacheinander das zweite und das vierte Gedicht des Zyklus:

II

Komm raus ich möchte dich berühren
Ein Schneckenhaus braucht keine Türen
Denn wohnt wer drin ist voll das Haus
Und stirbt der aus der darin wohnte
gibts nichts das zum Besuch noch lohnte

IV

Wer wird den ersten Schritt zu Wlascho gehn
Wenn dieser schneidet von des Apfels Schale
den Weg uns zeigend die gewundene Spirale
Komm laß uns auf des Weges Mitte stehn

Muß ich den Weg allein zurück begehn
Füll ich ein fremdes Lied in eine Schale
Verbittert seh ich dich zum letzten Male
durch mich Umsonst hab ich den Weg gesehn

Wir wollen keine stummen Lieder singen
Der Himmel schlägt schon auf sein hohes Zelt
Wenn Haar und Arm sich ineinanderschlingen
dann tragen wir in uns ein Stück der Welt

Eben dieses vierte und das sechste (= letzte) Gedicht des kleinen Zyklus wurde in Auswahl aufgenommen, dort allerdings unter den Titeln: „Zum Thema ,Wege‘ von Chaitow I“ und ,[…] III‘. Dieser Numerierung zufolge könnte das bedeuten, daß die Texte, die in Grosz’ Gedichtband als die Nummern I–III erscheinen, erst später hinzugefügt wurden, so daß die Auswählenden der Anthologie nicht unbedingt das spielerische Element mit Absicht ausgelassen haben müssen. Andererseits ist es kaum wahrscheinlich, daß nur diese Texte zur Verfügung standen; wenn schon zwei Jahre später Scherben erschien, muß eine größere Anzahl von Gedichten vorgelegen haben. Den beiden ausgewählten Texten fehlt das lakonisch-wehmütige Spielen mit umgangssprachlichen Redewendungen, das Grosz auch später beibehält,231 sowie das für ihre Gedichte typische „Verworten besonderer weiblicher Rollen-Erfahrung in der DDR-Wirklichkeit“, wie es Labroisse nennt.232 Wohl enthalten sie aber die Melancholie des – vorausgeahnten – Verlustes, von der der ganze erste Band durchdrungen ist. Die Strophenform ist nicht ,typisch‘ für Grosz’ ersten Band, begegnet auch in den späteren Bänden relativ selten.
Zum Vergleich soll jetzt auf Gedichte des um elf Jahre jüngeren und in den Auswahl-Bänden der Jahre 1980 und 1982 vertretenen Thomas Böhme eingegangen werden. Sein erster Lyrikband erschien im Jahr 1983: Mit der Sanduhr am Gürtel.233 Auf den 1980 in Auswahl aufgenommenen Text stößt man in diesem ersten Band wieder; der Untertitel ist jetzt zum Haupttitel geworden: „Karlanovo“. Das Gedicht wurde von Christel Hartinger in einer Rezension wegen seiner „sensiblen Wachsamkeit’“, mit der er der Gefahr des Verbreitens von „klischeehafte[n] Situationen […], Kulissen […], Urlaubsillusionen“ entgehe, gelobt:234

Kommst du nach karlanovo unter ägäischer sonne zwischen olymp & pirin, findest
du auf den steinstufen vor seiner bilderbuchtür Kerouac auf einer bastmatte, liegend wie ein schlummernder Laudse, seinen nackten fuß dir entgegengestreckt, angewinkelt das bein mit dem strumpf & pantoffel, den schlapphut auf seinem gewaltigen bauche und seine pergamentene herrliche hand ruht bedächtig auf dem rand seines hutes.

[…]

Zu rasten in diesem orte sei wohlerwogen, jedoch keine kneipe lädt ein, nicht mal
ein winziger laden, aber du kommst ja als einer von ihnen, drum klopfe am haus nr. 38, und wenn eine alte dir öffnet so grüß sie vom rotbärtigen Allen & öffnet ein mädchen mit griechischen augen so grüß sie von Dean und von Tom, sicher wird sie erröten & tanzen und träumen. Der alten aber reich deine flasche, damit sie sie fülle randvoll mit dem blutschweren weine, den diese landschaft gebärt.

[…]

Raste nicht länger als eine stunde, länger darf auch die alte nicht ruhen, doch sooft
der krug leer wird füllt sie ihn neu, sie bleibt in eurer nähe, bereit euren dürftigen worten zu lauschen, sie nickt zu den unverständlichen sätzen (nicken heißt in dieser gegend sich wundern), sie wundert sich sehr doch sie weiß längst daß Jack euch mit seinem schmutzigen großen zeh hierher den weg wies, sie schmunzelt und nimmt auch einen kräftigen schluck.

Wanderst du weiter nach Roshen, so wirst du im rücken die feurigen griechischen
blicke spüren, dann winke nochmal zu dem schiefen balkon und trau deinen augen, wenn hinter geranientöpfen Aphrodite erscheint
.235

Böhmes Texte in Auswahl 80 und 82,236 reflektieren den Einfluß der amerikanischen Beat Generation sowie Rolf Dieter Brinkmanns237 in Namensnennung (z.B. Kerouac und Ginsberg in „Karlanovo“) und Struktur sowie Thematik. (Pop- und Blues-)Musiker, bildende Künstler, Filmemacher und Filmstars, Autoren unterschiedlichster Tradition spielen eine Rolle in Böhmes Texten – konform der Beat-Generation-Verwandtschaft einhergehend mit einer dominanten Stellung für die Empfindungen und das Innenleben des lyrischen Ich. Freilich, bereits im ersten Band befinden sich aus Strophen und Metren aufgebaute Texte, die im dritten die freirhythmischen Langzeilen vollkommen ersetzt haben.238 Nur, eine solche Entwicklung ist, wenn anfangs beide Formen vorkommen, schwer voraussehbar. Wohl enthält ein in Auswahl 82 vertretenes Gedicht bereits das Thema der Päderastie, das in Böhmes späterer Lyrik immer größeres Gewicht bekommt. In „Berliner Brief“239 noch mehr angedeutet als ausgesprochen:

[…]

Bis meine neugier & jene andere gier mich verführten und hinführten zu den tückischen plätzen & tunneln voll blicke & zeichen wo jeder lügner ein heiliger & jeder sünder ein rollender stein ist wo verlockende fahnen für einen besuch auf dem rummelplatz werben wo das fremde wie eine exotische feder auffliegt zum himmel.

So ziellos zu trödeln durch schimmlige straßen macht hungrig nach worten und fragt man die lungernden typen vor hallen & gängen nach zehnmal gegangenen wegen geben die gassenjungs freimütig auskunft prickelnd wie schaumwein schmeckt hier noch die banalste botschaft

[…],

wird der Umgang mit diesem Thema nach und nach offener, bis nicht wenige Texte des Bandes Stoff der Piloten unverblümt von der ästhetischen und sinnlichen Faszination des jungen männlichen Körpers zeugen.240 Nicht nur die piloten-Gedichte, sondern auch Texte wie „der ausflug“241 können als Beispiel gelten:

stillstand gewässer
ein knabenteich

[…]

verbotenes baden&angeln
o locken von

unterwasser gerufener
junge mit rute. ein picknick

im grünen/ph-wert für farne
das leise gesumm abgesunkner

motoren/idylle &
schaukelndes skrotum

[…].

So muß man schlußfolgern, daß Böhmes Texte in Auswahl durchaus repräsentativ zu nennen sind für die Entwicklungsphase, in der der Lyriker sich zu der Zeit befand. Zum Schluß soll hier ein Blick auf seine Generationsgenossen geworfen werden, die ein problematischeres Verhältnis zu Publikationsmedien in der DDR hatten.
Trotz der Aufnahme nicht weniger sogenannter ,Prenzlauer-Berg-Autoren‘ in Auswahl sind einige Einschränkungen angebracht. Erstens ist die für den sozial-literarischen Zusammenhang242 vielleicht wichtigste Autor-Persönlichkeit, Sascha Anderson, nicht aufgenommen;243 zweitens hat man bei Häfner, Faktor und Schedlinski erst spät die dichterische Veranlagung gesehen bzw. sehen wollen. Auch in bezug auf diese Autoren wäre es interessant, nachzugehen, inwiefern die ausgewählten Texte als repräsentativ für ihre Produktion zu betrachten sind. Dabei ist ein komplizierender Umstand, daß bei manchem die Zeit, die zwischen der Auswahl-Veröffentlichung und dem eigenen Gedichtband vergangen ist, eine erheblich lange ist, so daß kaum auszumachen sein wird, ob gewisse Veränderungen einer bestimmten Entwicklung zu verdanken sind oder ob die Auswahl der Texte für die Anfängeranthologie eine nichtrepräsentative war. Jan Faktor hat die Gedichte des Bandes Georgs Versuche an einem Gedicht und andere positive Texte aus dem Dichtergarten des Grauens244 im Inhaltsverzeichnis alle mit einem Entstehungsdatum versehen, und so sieht man, daß es um Texte aus den Jahren 1980 bis 1983 geht. Das in Auswahl 84 aufgenommene Gedicht „? bist Jandl“ entstand 1982:245

? bist Jandl
ja bin Jandl
? und du auch Jandl
nein nicht Jandl Jandl nicht
? und möchtest du Jandl sein
nein
Jandl sein will ich nicht sein
will ich nicht
will ich nicht
du Jandl sein willst du nicht
du aber doch
doch Jandl
du doch Jandl Jandl
du zwar nicht Jandl gewesen
wirst jetzt aber Jandl sein für immer[.]

Nicht nur die Struktur des Textes erinnert parodierend an Gedichte Jandls, weitere Berührungspunkte liegen im humorvollen Ton und im Gewicht, das beide Autoren der Rezitation ihrer Texte beimessen. Die in der letzten Zeile angesprochene Problematik einer Traditionsaufnahme in der gegenwärtigen Zeit, die allzu leicht zur bloßen Wiederholung gerät bzw. als eine solche betrachtet wird, hebt den Text über das bloß Spielerische hinaus.
Es ist kaum anzunehmen, daß ein derartiger Text für Auswahl 84 ausgesucht gewesen wäre, wenn die Lektoren wirklich nur auf „das quantitativ Drängende dieser Woge [,literarischer Ereignisse‘, A. V.]“ reagiert hätten, wie Adolf Endler 1985 behauptet.246 Er meint ferner, daß „die wenigen Zeitschriften in der DDR (NDL, Temperamente) wie auch die wenigen quasi offiziellen Anthologien (Vogelbühne, Auswahl 84 etc.) […] sich in der Regel […] auf die vorsichtige Mitteilung eher fünftrangiger und dementsprechend lahmer Beispiele zu beschränken versuchen“, kommt in einer Zusammenrechnung zu sechs oder sieben „nennenswerte[n] Begabungen“, von denen er fünf mit Namen erwähnt: Eberhard Häfner, Jan Faktor, Kurt Drawert, Wilhelm Bartsch und Elisabeth Wesuls.247 Sicher stehen in diesem Auswahl-Band – wie in anderen auch – qualitativ ordentliche neben schwachen Texten. Endler zitiert als ein Beispiel für die zweite Kategorie aus dem Gedicht „Das A & das O“ „eines gewissen K.“ (Dieter Kerschek), das er als „schlaffen Luftballon“ charakterisiert.248 Ihm gegenüber setzt Endler vor allem die Namen Papenfuß und Döring sowie („nicht eines Zwanzigjährigen, sondern des fünfzigjährigen“) Wulf Kirsten.249 Endler weckt damit den Eindruck, daß die Reihe Auswahl erst und nur 1984 gezwungenermaßen einige wenige Texte talentierter innovativer Lyriker abgedruckt und den Rest eines unabsehbar großen Arsenals unberücksichtigt gelassen hätte. Von Wulf Kirsten hatte sie jedoch bereits 1966 und 1968 Texte aufgenommen und ihn damit als ,neuen Namen‘ vorgestellt – eine zweite Aufnahme nach vielen Jahren, im Falle, daß ein Autor seine Schreibweise gravierend verändert hatte, hat es nie gegeben. Von Papenfuß wurden Texte in Auswahl 78 aufgenommen, von Stefan Döring in Auswahl 76 und 78.
Gedichte des bereits erwähnten Rainer Schedlinski wurden im Jahr 1988 sowohl in Auswahl als auch im Lyrikband die rationen des ja und des nein veröffentlicht.250 Sie sind in ihrer Form, in der Konzentration auf das Medium Sprache, Sprache als Zeichen, deren Subjekt entweder nicht-existent oder aufgeteilt erscheint, durchaus als typisch für das lyrische Sprechen Schedlinskis zu bezeichnen. Eine Randbemerkung muß dazu allerdings gemacht werden: Die für Auswahl ausgesuchten Texte sind in ihrer relativen semantischen Sinnfälligkeit zu den gemäßigten des rationen-Bandes zu rechnen.

5. Fazit
Die Ergebnisse vorliegender Untersuchung lassen eine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem ,Sprungbrett‘-Charakter der Lyrikreihe Auswahl kaum zu. Der Vergleich mit den drei anderen Anthologien sowie die punktuelle Textuntersuchung zeigt eine relative Repräsentativität der in Auswahl vertretenen Autoren für das Spektrum der lyrischen Entwicklung in der DDR, die mit einer Publikationsübersicht vervollständigt werden könnte, wenn die nicht genau die gleichen Schwächen aufweisen würde, wie der hier präsentierte Vergleich: In einer Literaturlandschaft, in der Kulturfunktionäre mitbestimmten, für welche Texte eine Druckgenehmigung vergeben wurde,251 beweisen vorhandene Lyrikbände keineswegs, daß Autoren, die es dazu nie gebracht haben, nicht talentiert sind. Aber auch das Umgekehrte besitzt einen gewissen Geltungsgrad.
Die Zielsetzungen sowie die Auswahlkriterien der Selektierenden sind während der 25-jährigen Existenz der Reihe keineswegs stabil. Die Konzeption der Reihe schwankte zwischen einer ideologischen Didaktisierung, der Vermittlung literarischer Qualität und der Präsentation eines Generationsbilds schlechthin. Veränderungen werden in den Vorworten nicht erläutert, personelle Ablösungen nicht begründet. Wohl ist aber bei den Herausgebern im Verlauf der Zeit eine Tendenz erkennbar, die jeweiligen Bände als einen Überblick vorhandener lyrischer Potentiale darzubieten. Diese Entwicklung macht sich vor allem in der zweimaligen Erweiterung der teilnehmenden Verlagsgruppe bemerkbar. Es ist auffällig, daß sowohl in Bänden, deren Vorworte besonders allgemein gehalten sind, als auch in denen, deren einführende Worte auf spezifische Merkmale aufgenommener Lyrik eingehen, die Gedichte selber nach Inhalt und Form unterschiedlich ausgeprägt sind und auch an der Qualität gemessen keine Einheit aufweisen. Diese manchmal vereinheitlichende Tendenz der Vorworte begegnet ähnlich in der DDR-Rezeption der Reihe wieder, die den ideologisch-gesellschaftlichen Aspekt der Auswahl-Lyrik bis zuletzt herausstellt. Erst in den achtziger Jahren thematisieren Rezensenten die eigene Subjektivität im Umgang mit Literatur und gehen sie auf formale Gesichtspunkte differenzierter ein. Ein didaktisierender Zug hält sich aber bis zuletzt. Das führte zu einer weitgehenden Vernachlässigung der literarischen Gesichtspunkte. Auffallend ist weiterhin, daß wiederholt versucht wurde, generationstypische Entwicklungstendenzen nachzuweisen, die auf einen Fortschritt in der DDR-Lyrik schließen lassen würden.252
Die vereinzelte westliche literaturwissenschaftliche Berücksichtigung der Reihe führt nicht zu weitergehenden Einsichten in ihren Charakter.
Die Reihe paßte in ein umfängliches Netz von Förderungsmaßnahmen für junge Talente in der DDR, zu dem z.B. die Singebewegung (zur Begünstigung des – politischen – Liedes), die Poetenbewegung, das Literaturinstitut Johannes R. Becher und das Poesiealbum gerechnet werden können. So gesehen, sind Anthologie-Reihen wie Offene Fenster und Auswahl von bescheidenem Gewicht. Allerdings konnten nach meinen Angaben 30 der 251 Autoren, die in Auswahl vertreten waren, nachher – oder nicht selten auch im gleichen Jahr – ein Poesiealbum herausbringen. Die Auswahl-Publikation bedeutete dann auf jeden Fall einen ersten selbständigen Schritt auf den Buchmarkt.253
Die Lyrikreihe Auswahl stellt somit ein Sprungbrett für junge Talente in der DDR dar, eines unter anderen. Von diesen ist aber keines so kontinuierlich in der lyrischen Landschaft der DDR anwesend, daß von ihm auch nur annähernd so viele Talente vorgestellt werden wie von Auswahl.

Anthonya Visser, in Gerd Labroisse und Anthonya Visser: Im Blick behalten: Lyrik der DDR. Neue Beiträge des Forschungsprojekts DDR-Literatur an der Vrije Universiteit Amsterdam, Editions Rodopi, 1994

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