SEPTEMBERMUSIK
Ist dies mein Ziel? Ist dies der Ort?
Die Ahnung lockt, nun treibt sie fort.
So sehr hier auch das Nahe zieht,
Es ist grad dies, vor dem man flieht.
Der Blick geht leicht zum Horizont,
Das Denken öffnet sich dem weit.
Das Dasein ruht wie mild besonnt,
So schrill die Wirklichkeit auch schreit.
Wer kennt es noch, das stille Glück,
Gibt Obacht beim Beschreiben?
Nur blind nach vorn, kein Blick zurück…
Und doch, man will noch bleiben.
Frank-Wolf Matthies
Vor 80 Jahren wurde Rolf Dieter Brinkmann geboren, vor 100 Paul Celan, vor 250 Friedrich Hölderlin, drei Dichter, die mit ihrer Lyrik Maßstäbe für alle nachfolgenden Autorinnen und Autoren der deutschsprachigen Literatur gesetzt haben. Wenn man heute eine Anthologie wie Versnetze herausgibt, hofft man insgeheim darauf, dass das eine oder andere der darin veröffentlichten Gedichte Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte überdauern wird. Aber das lässt sich nicht voraussagen. Manchmal stammen Werke mit langer Haltbarkeit von Dichtern wie Friedrich Hölderlin, die zu Lebzeiten wenig Beachtung gefunden haben.
Über Mangel an Beachtung kann ich mich als Herausgeber der Versnetze nicht beklagen. Sicher, es dürfte immer etwas mehr sein. Aber Gedichtbände und vor allem Lyrik-Anthologien gehören nicht gerade zu den bevorzugten Büchern in den Medien. Dennoch sind die Vernetzungen deutschsprachiger Poetinnen und Poeten dort auf rege und vorwiegend positive Resonanz gestoßen, ebenso in der Leserschaft, wie Zuschriften beweisen, die mich auch in dieser Coronazeit erreichten. Da ist von einer „phantastischen Tradition in unserer Lyrikwelt“ die Rede oder von einer Anthologie, „die für mich seit Jahren die spannendste, überraschendste und lesenswerteste im Lande ist“. Eine Autorin schrieb mir:
Du öffnest uns den Raum für Innovatives, für Themen, für Stile. Versnetze ist ein Platz, lyrisch frei zu sein.
Und für einen ihrer Kollegen ist es bereits eine „legendäre“ Reihe.
Wo bleibt das Negative, Herr K.?
Kommt gleich. Zuerst möchte ich noch betonen, dass es ja die vielen deutschsprachigen Lyrikerinnen und Lyriker sind, die es mir ermöglichen, spannende, überraschende und lesenswerte Sammelbände zusammenzustellen. Ihnen gilt ebenso mein Dank wie dem Verlag Ralf Liebe, der diese arbeitsaufwendigen Projekte letzten Endes realisiert. Und das Negative? Gibt’s auch. Wo Licht ist, lauert Schatten.
Können Sie das näher erläutern?
Ich versuch’s mal. Vor allem von Autorinnen und Autoren eher konventioneller Schreibweisen wird mir gelegentlich vorgeworfen, dass ich auch vor sehr unorthodoxen Gedichten nicht zurückschrecken würde. Mag sein. Aber in den Versnetzen lege ich Wert darauf, ein weites Feld unterschiedlicher Schreibweisen unserer heutigen Lyrik, die oft individuell geprägt ist, auszubreiten. Das gilt für „abgefahrene“ experimentelle ebenso wie für konventionell ausgerichtete Texte, was mir dann mitunter von Verfassern progressiver Poesie vorgehalten wird. Die Vielfalt ist ein Merkmal dieser Anthologien, so auch die gelegentliche Vernetzung prosanaher und sperriger Arbeiten. Ich glaube, dass die Spannung gerade aus der Polyphonie der Schreibweisen erwächst. Einen ausgreifenden prägenden Stil wie noch in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in den Zeiten der Neuen Innerlichkeit gibt es in unserer heutigen Lyrik ohnehin nicht mehr.
Sind die Versnetze nicht zu umfangreich?
Auch das ist ein gerne geäußerter Kritikpunkt. In der aktuellen Ausgabe sind 250 Autorinnen und Autoren mit Gedichten vertreten, manche mit sehr kurzen, andere mit langen Poemen, Insider gehen davon aus, dass es gegenwärtig im deutschen Sprachraum über tausend Verfasser nennenswerter Lyrik gibt. In den Versnetzen findet sich also nur ein Teil von ihnen. Deshalb meine ich nicht, dass sie zu umfangreich sind. Wer dazu noch die Jahreszeitschrift Das Gedicht und das Jahrbuch der Lyrik liest, erhält zumindest einen weitreichenden Überblick über unsere heutige Poesie.
Wie schauen Sie auf diese Konkurrenz?
Von Konkurrenz möchte ich nicht sprechen. Ich freue mich, dass es sie gibt, zumal ich als Autor selbst oftmals in Das Gedicht und im Jahrbuch vertreten war. Wer leidenschaftlich für und mit Lyrik lebt, sollte sich außer den Versnetzen auch diese beiden Bände möglichst regelmäßig besorgen. Sie ergänzen einander.
Sie leben offenbar zurückgezogen. Warum?
Ich habe viele Kontakte, halte mich aber aus dem „Literaturbetrieb“ fast vollständig heraus. Ich bevorzuge mein schöpferisches Dasein am Schreibtisch. Bei grundsätzlicher Wertschätzung beispielsweise von VS und PEN, zu denen ich als Autor von zwölf Lyrikbänden, mit Veröffentlichungen in zahlreichen Anthologien renommierter Verlage, als Herausgeber und durch Bekanntschaft mit führenden PEN-Mitgliedern schon lange gehören könnte, ziehe ich dennoch meine Zurückgezogenheit vor. Diese Organisationen sind wichtig, aber man braucht sich nicht zu rechtfertigen, wenn man nicht dazugehören möchte, denke ich. Auf Streitigkeiten, die dort immer wieder mal aufflammen, kann ich ohnehin gerne verzichten.
Ihr Dasein am Schreibtisch konzentrierte sich nun einige Zeit auf die Herausgabe von Versnetze_13. Wie viele Gedichte wurden Ihnen zugeschickt?
Rund 2.000. Fast jedes habe ich mehrmals gelesen, bevor ich mich für oder gegen eine Aufnahme entschieden habe. Das ist eine wundervolle Tätigkeit, die Lektüre neuer Poesie, das Abwägen, die Auswahl, die Hoffnung, dass der eine oder andere Text vielleicht unsere Zeit überdauern könnte. Aber das weiß man ja nie. Das konnte auch Hölderlin nicht wissen, dessen 250. Geburtstag nicht spurlos an den neuen Versnetzen vorbeigegangen ist, wie gleich mehrere Gedichte belegen.
Die Vernetzung der Generationen und Regionen ist wieder, jeweils mit dem jüngsten Autor beginnend, großräumig nach Postleitzahlbereichen vorgenommen worden – vom Osten (0/1) über den Norden (2/3), Westen (4/5), Südwesten (6/7) bis in den Süden (8/9). Das Versnetz „Kleiner Grenzverkehr“ enthält neue Gedichte von deutschsprachigen Lyrikerinnen und Lyrikern aus Österreich, der Schweiz, Frankreich, den Niederlanden, Finnland und den USA.
Axel Kutsch, April 2020 (Die Fragen stellte Anton Mai), Vorwort
Jule Weinrot: Versnetze_13: Axel Kutsch hat wieder ausgiebig gefischt
lyrikgesellschaft.de, 2.5.2020
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