B.K. Tragelehn: Zu Adolf Endlers Gedicht „Nachts im Schwefel“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Adolf Endlers Gedicht „Nachts im Schwefel“ aus dem Band Adolf Endler: Die Kinder der Nibelungen. –

 

 

 

 

ADOLF ENDLER

Nachts im Schwefel

Sechs Stunden schon stehn wir in gelben, trocknen Kristallen,
Stumm in der Nachtschicht, mit Masken, die grünen giftig im Licht.
Das Transportband reißt seitwärts den Schwefel ins Dunkel der Lagerhallen
aaaaaaaaaamit imaginären Krallen,
Wo mit Fingern man flüstern lernt und mit Handwinken spricht.

Blick schärft sich und Ohr: Hörs ferne wie Schlittenfahrt klirren,
Wenn das Band die Kristalle in mahlende Dunkelheit spült,
Als schüttle ein Pferd sich fern und die Mähne mit Glöckchengeschirren,
aaaaaaaaaadie wolln uns tödlich verwirren.
Oder Weihnachtsgeläut! – Doch genau wird aufs Laufband gezielt…

O Schwefel, stäube aus dem Waggon! Wir treiben dich weiter.
Schwefel, nachts wie vereister, glitzernd lockender Schnee!
Schwefel, am Morgen vergilbend, am Tag gelb wie glühender Eiter!
aaaaaaaaaaHer die eiserne Leiter!
Fort jetzt, fort! Wir erblinden! Die Wurzeln der Augen tun weh.

Wir springen ins Wachhaus, wir reißen die Masken herunter.
Schweflige Tränen waschen scharf den brennenden Augenball…
Schon stampfen neue Waggons durch das Tor, der Rangierer schrillt munter.
aaaaaaaaaaSein Lämpchen kreist rascher, schwirrt bunter.
Die Wagen – klack! – rempeln sich an mit gleichgültigem Hall.

Schnelle Verwandlung wieder in schnelle Gespenster!
Mit leuchtenden, gelben, trocknen Kristallen der Kampf!
Starr blicken die kleinen, viereckigen, grau beschlagenen Fenster.
aaaaaaaaaaGespensteraugen – Gespenster,
Darunter die Lider sich unsichtbar senken, hochzucken im Krampf.

Doch wir gehen zäh vor im harten Licht an schwingenden Krampen.
Schwefel, Schwefel, Schwefel – überschwemmt er die ganze Welt?
Er quillt unterm Fuß, er steigt an den steileren Rampen
aaaaaaaaaa(sie drehn im Wind mit den Lampen),
Die wie Riffe ins Dunkel starrn, die der Schwefel als Meltau befällt.

Gegen vier wehts vom Hafen, kommts über die Gleise kälter
Von der Elbe, wo Kähne atmend ruhn unterm rauschenden Baum.
Endlich! Seht endlich die randvollen Schwefelbehälter,
aaaaaaaaaaDas Maß unsrer Kräfte. Wir lächeln uns an. Wir erkennen uns älter.
Wir steigen gereift wie aus plötzlich beendetem Traum.

Sie bleibt als Grillengezirp in der Ohrmuschel immer geborgen,
Leise verklingende, böse, liebliche, klirrende Schwefelmusik!
Mit geschwefelten Haaren taumeln wir schwer in den Morgen
aaaaaaaaaazu anderm Glück, andern Sorgen:
Gruß, dem wir halfen, Tag! Grüß laut zurück…

1962

 

Endlers Nacht im Schwefel

Endler, der vor zehn Jahren aus der BRD in die DDR übersiedelte, schreibt hier und jetzt nicht mehr Gedichte wie dort und damals. Was an den Gedichten, deren Erfahrungskern unter den Stößen der alten Welt sich bildete, organisch erscheint, das Romantische, Idealistische, verletzbar Edle und das Bizarre, Groteske, verletzte Edle, kurz: das traditionell Lyrische im Sinn der aufsteigenden und im Sinn der absteigenden Bürgerklasse, das – präformiert und ein poetisches Subjekt, eben diesen Dichter Endler, konstituierend – erscheint an den Gedichten aus der neuen Welt, die er hier traf, als unorganisch: Bruch, Riß, Öffnung.
Der Treffpunkt ist der neuralgische Punkt seiner Poesie. Auf dem Bitterfelder Weg, der Endler in die Wische und nach Wittenberge in ein Chemiewerk geführt hat, wurde der latente Widerspruch offenbar: in der Nacht im Schwefel. [In: Forum 3/1963 und, Neufassung, Forum 4/1963; in: Auftakt 63, Anthologie, Berlin 1963, p. 107; und in: Endler, Die Kinder der Nibelungen, Halle 1964, p. 70.] Der Dichter, liest man aus dem Gedicht, paßt in die neue Welt nicht einfach so – organisch. Mit bewußtloser Ehrlichkeit spiegelt es die Entfremdung des Artisten von der Menge der Leute, da sein Gegenstand schon Geschichte ihrer Aufhebung ist. [Endler fällt nicht unter das Urteil aus der Vorrede der „Phänomenologie des Geistes“, das über jene ergeht, die nur darum über den Sachen sind, weil sie nicht in den Sachen sind. Er bewahrt in seinem Gedicht die Kluft, über die sie wegspringen ins leere Allgemeine. Von der Flut versifizierter Eitelkeit, die sie über uns ausgießen, jeweils der Mode nach sich kritisch gebärden oder sich anpreisend als Ausdruck neuen Lebensgefühls, unterscheidet sich Endlers Gedicht durch seine Ehrlichkeit. Ich meine nicht – das wäre das Cliché journalistischer Kritik – die Ehrlichkeit des Autors. Die ist vorausgesetzt. Endler erforscht seinen Gegenstand und er erforscht sich – auch eine Arbeit, die jene sich sparen. Ich meine die Ehrlichkeit des Gedichts. Allzu viele Gedichte – und eben nicht nur die Akklamationsgedichte, auf die z.B. Gerhard Scholz zielt (in: Lyrik unter der Lupe, Forum 24, 1963), sondern auch die sogenannten kritischen – sind falsches Bewußtsein.] Das Gedicht unterschlägt nicht diese Kluft, es zeigt nicht auf sie, es lebt von ihr. Da der Dichter, in der mitgeteilten Begebenheit, die Kluft übertreten hat, steht er in einem Zauberland:

Fenster blicken starr wie Gespensteraugen, die Schutzmasken grünen giftig im Licht, das Transportband klirrt von weitem wie Schlittenfahrt oder Weihnachtsgeläut, mit imaginären Krallen reißt es den Schwefel fort, die Rampen starren wie Riffe ins Dunkel und der Schwefel selbst scheint wie glitzernd lockender Schnee.

Der Leser findet Anlaß zu lachen. Die Komik ist Ausfluß der Unangemessenheit, einen Bereich, dessen Wesen, einmal begriffen, Sachlichkeit selber ist, [Wahre Sachlichkeit herrscht, wenn Sachen und Menschen nicht mehr feindlich einander gegenüberstehen, die Sachen, bürgerliche Normalität, die Menschen unterwerfen, oder, kurzatmiger Voluntarismus, die Menschen die Sachen zu beherrschen suchen, sondern wenn Sachen und Menschen dialektisch übereinkommen. (In Endlers Bild, sosehr sein Objektives vermittelt ist durch komische Subjektivität, erscheint in der Wahllosigkeit der Mischung von Verheißendem und Schreckendem auch unmittelbar Objektives, Allgemeinerfahrung der gesellschaftlichen Ambivalenz von Technik.)] abenteuerlich zu bereisen als romantisch-exotischen. Jedoch macht diese komische Abenteuerlichkeit, weit entfernt, das Gedicht zu trüben, seinen tieferen Reiz aus. Zwar unbewußt, ist die Komik keineswegs unfreiwillig im Sprachgebrauch des Alltags; zwar Ausfluß der Unangemessenheit, ist sie einzig der Unangemessenheit angemessen. So fixiert sie die Konstellation, in der der Dichter steht: er spricht sich aus, er spricht nicht mehr und noch nicht aus dem Ganzen, aber er trifft sich mit ihm, und er spricht, in diesem Gedicht, sich aus von dort: vom Treffpunkt. Er spricht von dort nicht, wie er aus der alten Welt sprach: als ihre Negation; lächelnd, älter, gereift verläßt er den Treffpunkt; und in der Schlußstrophe zeigt das Gedicht, Selbstporträt wie alle lyrischen Gedichte von Rang, das Bild des Dichters in dem Augenblick, wo die Charaktermaske fällt – die des lyrischen Spezialisten, eines, der, fledermausblind, nur im Dunkel der Nacht sieht – und das sozialistische Individuum vortritt, um mit allen, frei assoziierten, Individuen zu sagen: Gruß, dem wir halfen, Tag! Das Auge blickt über den Tag hinaus, und der Augenblick in die Zukunft ist nötig, damit der Fuß den nächsten Schritt tut in den Tag hinein.

Post scriptum 2000

Der kleine Aufsatz ist fast vierzig Jahre alt, 1964 für die Spalte Lesarten geschrieben und nicht gedruckt. (Und ein paar Jahre später für ein Büchlein im Mitteldeutschen Verlag Halle zwar gesetzt, aber wieder nicht gedruckt.) Beim Lesen nach so langer Zeit ist die erste Frage, warum nicht. Die Entscheidungen der Politurkolik waren im einzelnen immer wieder irrational, im allgemeinen aber höchst rational (in einem bornierten Sinn): Die Partei wollte Partei bleiben. Die der Sieger. Und wenn die Sieger die Sieger bleiben wollen, muß es eben Verlierer geben.
Der Aufsatz bildet das Gedicht zweimal ab: in seinem Kommentar, der eine bewußtlose Spiegelung konstatiert – und in einer bewußtlosen Spiegelung. Er ist ein Doppelgänger seines Gegenstandes. Der Grund, auf dem beide gehn, ist das Dazugehörenwollen. Nach Krise und Krieg und Shoa der alten Losung der kommunistischen Partei nachzugehn: Keiner oder Alle, bewußt – was ist dagegen zu sagen. Aber die Partei blieb Partei, als sie ihre Schuldigkeit getan hatte. Daß die Partei die Menschheit zu sein habe, blieb außerhalb des Blickfelds, bewußtlos. Und damit die Überlebensaufgabe, den Stoffwechsel mit der Natur vernünftig zu regeln, ungelöst. (Im letzten Satz der letzten Anmerkung steckt so etwas wie eine Ahnung davon. Ich glaube mich zu erinnern, daß ich ihn nachträglich dazugeschrieben habe. Deshalb ist er eingeklammert.)
Heute stellt die Menschheit sich ein, noch und wieder bewußtlos, auf die Gegenlosung: Für Alle reicht es nicht. Längst vergessen, daß das die Ansicht Hitlers war! Das Problem ist immer noch dasselbe. Und die Unfähigkeit, es zu lösen eine immer wieder andre, vorgestern, gestern und heute.

neue deutsche literatur, Heft 533, September/Oktober 2000

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