– Zu Theodor Kramers Gedicht „Lied am Bahndamm“ aus Theodor Kramer: Gesammelte Gedichte. Band 1. –
THEODOR KRAMER
Lied am Bahndamm
Süß das schwarze Gleis entlang
duftet die Kamille;
Mückenschwall und Vogelsang
sind verstummt, die Grille
regt allein sich schrill im Sand,
und uns beide, Hand in Hand,
überkommt die Stille.
Rote Tropfen streut der Mohn
über Hand und Stätte,
auf dem Stockgleis der Waggon
ist heut unser Bette,
wo man uns zwei schlafen läßt,
und schon hält dein Haar mich fest,
als ob’s Finger hätte.
In der Tür das Blau wird satt,
Sterne schaukeln trunken;
wenn auf Spelt und Schaufelblatt
sprühen jähe Funken,
und ein Zug vorüberfährt,
bleib ich ganz dir zugekehrt,
ganz in dich versunken.
„Lied am Bahndamm“ spricht von Glückserfahrung, einer im Werk Theodor Kramers eher selten angesprochenen Gemütslage. Wie schon Bruno Kreisky im Vorwort zu seinen Gesammelten Gedichten schrieb, „war Theodor Kramer der Dichter der armen Menschen unserer Zeit“. Und da die Armen bekanntlich wenig Glück erfahren, und schon gar nicht in der Zeit, in der Kramer die meisten seiner Verse schrieb, nämlich zwischen Mitte der zwanziger und Mitte der fünfziger Jahre (davon auch noch siebzehn als Vertriebener in England, bis man ihn schließlich 1957 zum Sterben heimholte), entspricht die Stimmung in seiner Lyrik dem selbst erlebten Elend.
Nicht aber in diesem Gedicht, in dem die Liebenden einander so sehr im Leib und in der Seele liegen, daß sogar die Sterne trunken ins Schaukeln geraten. Nicht ins Schunkeln, das hätte Kramers Zunge nicht hergegeben. Die war zwar zur Hereinnahme englischer Wörter bereit, die in manchen seiner Sätze wie Kiesel von einem fremden Strand herumliegen; im Deutschen aber war und blieb er Österreicher. Während sich in Wien erst nach dem Krieg Verlage für ihn fanden, und auch dann selten genug, erschienen seine früheren, in Deutschland herausgegebenen Bände jeweils mit einem Glossar.
Theodor Kramer, Sohn eines Landarztes in Niederhollabrunn (das heißt aus der Provinz gebürtig), war jüdischer Herkunft und hat am Ersten Weltkrieg als junger Offizier der k.u.k. Armee teilgenommen. Dabei wurde er verwundet, schwer genug, um zeit seines Lebens und unbedankt an den Folgen zu kränkeln. Dennoch hat er sich in einer Treue zum Österreichischen geübt wie ansonsten vor allem Joseph Roth.
Kramer hatte zugelassen, daß seine Sprache sich in einer ganz bestimmten Gegend zwischen Waldviertel und Neusiedlersee, zwischen Weinviertel, Marchfeld und Wien auf all den zu Fuß oder per Rad unternommenen Reisen bildete – und das unwiderruflich. Als eine Sprache der Gegenstände, die von ihm nur benannt, selten beschrieben und so gut wie nie kommentiert wurden. Eine eher sachliche Vorgangsweise und doch von magischer Wirkung. Das treffende Wort, das sich mit seinem Gegenstand trifft, ihn in sich aufnimmt, um mit ihm eins zu werden – auch eine Glückserfahrung, eine, die Welt zeugt.
Schon der Titel „Lied am Bahndamm“ stimmt in die Landschaft des Kargen ein, so als führe bereits von der Kamille eine Duftspur zu den Ausgesteuerten, den Unterstandslosen. Aber es wird auch eine Liebesgeschichte erzählt, eine, von der man nicht mehr erfährt, als daß sie sich erfüllt hat, in einem alten Waggon, der vielleicht Jahre an dieser Stelle stehenbleiben wird. Oder auch nicht. Wer könnte das von einem Waggon so genau sagen? Und von einer Liebesgeschichte? Auch niemand. Schon gar nicht in dieser ärmlichen Gegend, die aus unscheinbarem Bahndammbewuchs, ein paar Vogellauten, dem Zirpen von Grillen und einem Abstellgleis ersteht. Das einzig Prächtige, Zukunftsweisende, Funken der Verheißung Versprühende ist ein vorüberfahrender Zug, dessen Bedeutung man nur ermißt, wenn man weiß, welche Rolle die Eisenbahner als gesellschaftliche Kraft in der ersten Republik spielten und wie viele Eisenbahnergedichte Kramer geschrieben hat.
In diesem Augenblick der Liebe jedoch interessiert nicht einmal die Eisenbahn, es sei denn als auswaggonierte, die den Liebenden ein Nachtlager gewährt, was wohl so ziemlich alles über deren soziale Befindlichkeit sagt. An diesem Punkt des Ineinander-versunken-Seins gibt es auch kein Gesicht mehr, das zu beschreiben wäre, nur noch Haar, das den anderen umfängt. Lust ist ausdruckslos, besser gesagt, sie hält die Augen geschlossen.
Kramer schrieb vierzig Jahre lang beinah jeden Tag ein Gedicht. Zu seinen Lebzeiten sind davon, wie sein Herausgeber und Nachlaßverwalter Erwin Chvojka schreibt, nur etwa 650 in Buchform und weitere 450 in Zeitungen und Anthologien veröffentlicht worden, was einen Nachlaß von an die 12.000 Stück ergibt. In seinen Gedichten finden sich Zeilen, die zum Anrührendsten gehören, was deutschsprachige Lyrik zu erbringen imstande war.
Barbara Frischmuth, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebzehnter Band, Insel Verlag, 1994
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