Beat Brechbühl: Traumhämmer

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Beat Brechbühl: Traumhämmer

Brechbühl/Brechbühl-Traumhämmer

STRADA METAFISICA
Giorgio de Chirico

Wenn die Erde verbaut sein wird mit über-
natürlichen Gebäuden aus Stein, Kunstfaser
oder Tod, wenn dann immer noch Projekte von
Glück und Irgendwo-zu-Hause-Sein die
Ausweglosigkeit der Architekten bestimmen,
denke ich mir: müssen die leeren traumhaften
Gassen, die hohlen tagkurzen Lebensvorstellungen
die Arbeit übernehmen, nach Sonne zu beten und
Licht, und Blut in
den Mauern aufspüren und Tränen und Lust.

Unser Himmel wird sich vorsehen müssen
über die Meere zu reiten, um den Schein von
Unendlichkeit vorzuspiegeln,
und ungeachtet aller
Verbrechen uns mitzuschleifen über die verbleibenden
Hügel, die altertümlichen Vaterländer,

und wir – von unseren eigenen Gebäuden
entmannt – werden mitgefahren mitgesungen,
als ob wir im Leben unsere tägliche Mahlzeit mit
bestem Gewissen eingepackt.

Aber ich frage die Schöpfer dieser tönernten
Zukunft: Wo sollen die Menschen hin mit ihrem
Alltag, wo bleiben die Tiere, die freundlichsten
Gegner von euch, wo wohnen die Visionen von
Leben und Geist, von Blut und Sünden, von
Rausch und Denken, wo?

Aber Resignation ist eine Frau mit Charakter;
auf den neuen toten Gebäuden stehen
Projektstangen, der Himmel gibt sich weit und
atmet nicht.

„Kein Mensch wohnt mehr hier,
kein Dichter kein Beuteltier.“ –

Der Gedanke hat gesiegt.

 

 

 

Spiegelsplitter

Ich bin mein eigener Fremdling. Wenn in meinen Büchern die Unter- oder Unhelden mit Vorliebe in der ersten Person berichten, ist es nicht logisch, aber weniger falsch, als wenn ich über B. mittels einer Art selbstironischer Zwischenwand etwas aufschreibe.
Item, dieser B. lässt sich zeitweise von sichselbst überraschen, oder exakter: er wird von sichselbst beschädigt. In ihm stehen sich mehrere Möglichkeiten gegenüber, die sich bekriegen, und „Sieger“ gibt es kaum deutliche:
Der selten befriedigte Abenteurer; der leicht schüchterne, eigensinnige Bauer; der ironische Gärtner; der morallose Träumer; der sarkastische Handwerker; der ziegenzähe Dauerläufer; das Geschichtenerzähl-Endlosband; der neugierige Seh-Fanatiker; der altruistische Egozentriker (oder umgekehrt); der ungezähmte Arbeiter – aber B. arbeitet nur, wenn er dazu gezwungen wird oder wenn es im Spass macht. Er wird oft gezwungen, und einiges macht Spass. Item, B.s gegenwärtiges Ver-Hängnis (das Schreiben) begann mit 14, als er in völliger Unkenntnis der Sachlage sich heimlich in den Kopf setzte, irgend einmal den stolzen, freien, einzigmöglichen, unabhängigen usw. Status des Freien Schriftstellers zu applizieren. Genannter „Status“ ist seit mehreren Jahren Tatsache, aber ohne erwähnte Adjektive. Er heisst: Schreiber & Bildermacher.
Fahndungsbeschrieb : Schmale Statur, je nach Wetterlage zwischen 170 und 178 cm hoch, undisziplinierter Gang, Haare braun mit natürlicher Tonsur, Augenfarbe je nach Launenlage zwischen Grau und Blau, Bart wird täglich wegbehandelt, Fettansätze keine, allgemeine Erscheinung wenig anormal. Besondere Kennzeichen: Cholerischer Sanguiniker mit seltenen Freundlichkeitsanfällen. Völliges Misstalent in Geldsachen. Militäruntauglid1e Gesamthaltung. Terminvergesslich. Meistens totalschwarz gekleidet. Musik fast null. Zeichnen null. Liebt die Bücher von Halldór Laxness, Arno Schmidt, H.C. Artmann, Blaise Cendrars, Robert Walser, Ernesto Sabato und sehr vielen andern. Politisch: wäre möglicherweise Mitglied der KPI, hat aber rotweissen Pass mit Heimatort Bonfol JU. Wünschte, dass es Salvador Allende und seine Unidad Popular noch gäbe.
B. wuchs indem kleinen Berner Bauernhof Oppligen auf. Das Elternhaus schien aus einem· Märchenbuch zu stammen: vollständig von wilden Reben überwachsen, mit vielen verwinkelten Wohnungen, Kellern, Estrichen, Trep-penhäusern und Gängen; Wohn-, Bauernhaus und Gärtnerei zugleich. Sein Vater war damals Arbeiter, und seine Mutter arbeitete in der Gärtnerei. In dieser Umgebung wurde B. mit allem, was auf dem Land so passiert, vertraut; dort lernte er, dass „Arbeiten das selbstverständlichste Spiel sein könnte“, dort ging er in die Dorfschule und war mit elf Jahren ein gefürchteter Jeepfahrer.
Der kleine B. fand Zwänge so viele wie möglich, konnte arbeiten soviel wie möglich und nahm sich Freiheiten so viele wie möglich. Er beklagt keine schlechte Jugend, kann keine glänzende besingen, nimmt sich aber heraus, eine erlebte zu schreiben. Die Bauern im Dorf waren reich, die Eltern weniger, und der Grossvater aus Schwaben hatte für Zucht-und-Ordnung vorgesorgt. Letzterer Begriff reizte zu Gegenteiligem. Resultat: Das tun, was andere von einem nicht erwarten. Die Schulen wurden mit normaler Abneigung absolviert, das Plansoll abgesessen. Tecumseh, Familienheftchen, John Kling, Kirchenliedernoten und deutsche Pfahlbauer und Höhlenbewohner waren an der literarischen Erstausbildung ebenso beteiligt wie das dreimalige Durchleiden der Luther-Bibel von Genesis bis Offenbarung.
Nach dem Umzug der Familie nach Niederwichtrach, einem grösseren Bauerndorf, geschah die Lehre als Schriftsetzer rein zufällig; sie war aber möglicherweise nützlich. Jedenfalls bekam jener B. eine Ahnung von Sehen, Verhältnissen, Zusammenhängen. Sokrates, Heidegger, Sartre bewirkten undeutliche Visionen und eine Zeitlang den Habitus des hässlichen Philosophen. Rabelais, Fussball, Gottfried Keller, Leichtathletik und Jeremias Gotthelf gaben da schon klarere Vorstellungen, und intimst entstanden Stapel von wundersam gereimten Gedichten und Naturschilderungen.
Item, B. ging mit dem erlernten Beruf nach Genf und Berlin, lernte Geschichte, Soziologie und Fotografieren, schrieb grosse Stapel Gedichte, die er später, zusammen mit zwei ziemlich fortgeschrittenen Romanen, an einem kalten Winternachmittag verheizte.
Dann redigierte er in Egnach am Bodensee, zusammen mit dem Herausgeber Noldi Schwitter, drei Jahre lang die damals schrecklich umstrittene Zeitschrift für junge Leute, den Clou. In dieser Zeit heimlichte B. weiter an Gedichten und empfand es als Mut, die ersten zu veröffentlichen. Er schrieb die Gedichte nicht nur, sondern setzte sie auch von Hand, druckte und band sie ein – daher die verhältnismässig vielen Druckfehler in jenem Buch, aber auch die Erkenntnis beim Buchstaben-für-Buchstaben-Setzen: Buchstabe, Wort, Satz, mehrere/viele Sätze, oder, steiler ausgedrückt: ein Stück Bewusstwerdung von Sprachee. Trotzdem: Schriftsteller wäre eine feine Sache, wenn Bücher nicht geschrieben werden müssten. So ist Schreiben eine Krankheit, von der man nicht gesunden will.
Kneuss (Roman, 1970) ermöglichte es B. 1971, in der Altstadt von Rapperswil ein winziges Atelier zu mieten und – mit Frau, Tochter und Hund – das Leben eines freien Schriftstellers zu proben. Und zu experimentieren.
Gedichte und Sprüche, gelesen oder nicht gelesen und im Büchergestell gelagert, wurden B. langsam unheimlich, und er fand eine Methode, um Wort- und Bildbedeutung verbindlicher und unausweichlicher zu machen. Er nannte die Tableaux Play Poems. Das ist ein neuer Name für eine neue Sache: eine Verbindung von Gedichten/(Sprache) mit Umgebung und Material (Fotos, Alltagsgegenständen, Holz, Beton, Farbe, Metall usw.).
Seit einiger Zeit entstehen die Bücher, Play Poems, Collagen, Serigrafien in einem alten Bauernhaus im Zürcher Oberland. Und B. hofft, dass der Aussenseiter in ihm nicht allzu öffentlich wird, damit er B. und Aussenseiter bleiben kann. PS: Und das tun, was niemand von ihm erwartet – hin und wieder.

Aus: Beat Brechbühl: Ein Werkbuch, 1975

 

Mit Beat Brechbühl

begegnet uns ein Dichter, der, aller modisch-müden Resignation abhold, sein poetisches Reich, seine schönen, blinkend-aggressiven Verse unerschrocken Mystizismus und Inhumanität entgegenstellt. Die lackierten Frustrationen der „wohlanständigen“ bürgerlichen Gesellschaft, die vergiftete Natur, die gequälte Menschennatur werden auf unkonventionelle Weise ins Bild gesetzt. Besonders in der fruchtbaren Auseinandersetzung mit großen Malern aus Vergangenheit und Gegenwart, mit Rembrandt, Holbein d. J., El Greco, Frans Hals, Ghirlandajo, Chirico, Max Ernst und Picasso, wird die Beziehung des Dichters zu Tradition und Moderne überzeugend sichtbar.
Brechbühls Gedichte, die niemals das Kind mit dem poetischen bade ausschütten, seine weltliche Predigt, seine lyrische Ansprache an den Leser von heute, werden von Flügeln getragen, die aus dem Stoff gelebter Erfahrung und reicher Phantasie gemacht sind. Sie lassen einen Dichter erkennen, dessen Eigenart und literarische Qualität uns zugleich einen Zugang zur zeitgenössischen Lyrik der deutschsprachigen Schweiz eröffnet.
Beat Brechbühl, 1939 in Opplingen geboren, von Beruf Schriftsetzer, als Redakteur und Druckerei-Mitarbeiter tätig gewesen, lebt seit 1971 als freischaffender Schriftsteller in Wald/Schweiz. Sein erster Gedichtband erschien 1962, bis 1965 folgten neun weitere Bände Gedichte, drei Romane, ein Kinderbuch, Erzählungen, Filmdrehbücher und Hörspiele. Die vorliegende Auswahl aus den genannten Bänden, die in Übereinstimmung mit dem Autor zustande kam, vermittelt eine überraschende Begegnung mit der thematischen Vielfalt eines Dichters, von dem wir bisher nur die agitatorische Seite seiner Lyrik kennengelernt konnten.

Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1978

 

Beiträge zu diesem Buch:

Josef Dirnbeck: Traumhämmer
Die Zeit im Buch,Heft 3, 1977

Bernd Jentzsch: Die Lust an der Wirklichkeit
Neue Zürcher Zeitung, 21./22.5.1977

Dieter Fringeli: Innereien
Die Weltwoche, 8.6.1977

Jürgen P. Wallmann: Oft überwältigt das Thema die Form
Rheinische Post, 16.7.1977

Ke: Gedichte ohne Taktstock
Main-Post, 22.10.1977

Brigitte Weidmann: Gedichte aus zehn Jahren
Neue Deutsche ­Hefte, Heft 4, 1977

 

Beat Brechbühl:

„Ich will keine Altersgedichte schreiben!“

Wegen des folgenden Gedichts reiste ich im Januar 2021, mitten in der Pandemie, zum bald 82-jährigen Autor, Verleger und Drucker Beat Brechbühl in sein Atelier im Eisenwerk in Frauenfeld:

ICH WILL KEINE

Altersgedichte schreiben. Davon
gibt es genug von alternden DichterInnen.

Dass ich alt werde und bin,
merk ich jeden Tag, jede Stunde.
Mein Altwerden soll nicht mein
Thema werden
(ist es aber schon lang).

Ich will nicht aufschreiben, was
ich nicht mehr kann, was ich vergessen habe (habe ich
vergessen), was ich nicht mehr schaffe, was
ich nicht mehr sehe und
höre, was ich nicht kapiere, was ich
nicht mehr kenne, was mich
schreckweise reduziert (auch wenn ich dies
nicht wahrnehmen will).

Mein Altern interessiert ausser mich
in der Öffentlichkeit niemanden (doch, die AHV muss solange
bezahlen, bis. Die Versicherung muss bezahlen bei
Krankheit und Unfall; kriegt aber auch das von mir bezahlt).

Ich will keine
Altersgedichte
schreiben; ich denke sie nur: Ich erlebe sie nur. Sie
winken in mir nur. Sie werden zum Gegenteil
vom Weiten Raum, nur. Sie bauen Mauern um
mich herum,
nur.

Nur, nur, nur…

Das ist mir alles viel zu wenig.

Ich beginne mich wieder.
Jetzt.

Genauer gesagt, wollte ich mit ihm über die beiden letzten Zeilen des 2019, also in seinem 80. Lebensjahr geschriebenen Gedichts reden:

Ich beginne mich wieder.
Jetzt.

Wer ist dieses Ich, das wieder beginnt? Ist das Beat Brechbühl, der seit Jahren um halb sieben den Wecker schellen lässt, dann aufsteht, den Tagi liest und dann, weil er kein Auto mehr hat, in gut 10 Minuten zu Fuss in sein Atelier geht und es wieder verlässt um halb 12 – nachts? Er hat sich vorgenommen, ab jetzt früher nach Hause zu gehen, vor allem, weil im Moment die Beiz im Eisenwerk wegen Corona geschlossen hat, die Beiz, für die er vor ca. 30 Jahren gekämpft hat, denn sie sollte die „Seel“ des Kulturzentrums werden.
An den Solothurner Literaturtagen 2019 hat er sich an zwei Nachmittagen mit dem „Beizenhocker“ Peter Bichsel abseits vom literarischen Gewimmel in einer abgelegenen Beiz über das Beizenleben unterhalten, welches versunkenes Nippen, Alleinsein, Begegnungen und gemeinsames Erkennen, Lachen und Freundschaftspflege ohne Zeitdruck erlaubt.

Kein Wort über Literatur, aber viele Worte über alles – und wir hatten eine gute Zeit miteinander, so dass wir uns am Schluss fast umarmt hätten.

Wer ist Beat Brechbühl?
2019 hat ihn Christian Uetz an den 15. Frauenfelder Lyriktagen in seiner Laudatio zum 80. Geburtstag so charakterisiert: Brechbühl ist ein Querulant aus Prinzip, ein Rebell als Lebenshaltung, ein Aufständischer aus Instinkt, ein Berserker gegen Kleinlichkeit und Grosskotzigkeit, gegen Kleinkariertheit und Grossunternehmen, ein Fürsprecher für alles Schräge, Komische, Unangepasste, zugleich ein deftiger Grübler und Melancholiker. Ist er das noch? Ist er ein anderer? Ich beginne… wieder.

Ich beginne Neues und wiederhole Routinen. An diesem Tisch denke ich, an jenem arbeite ich, dumm gesagt. Ich geh hin und her und vergesse dies – und jenes kommt mir in den Sinn. So ist es den ganzen Tag. Ach, das sollte ich noch machen – und schon bin ich wieder unterwegs zum andern Tisch.

Aber im Gedicht steht nicht: Ich beginne wieder etwas, sondern Ich beginne mich wieder. Wer ist dieses mich?

Das Ich ist der Macher und das mich der Empfänger und Fänger von Gedanken und Worten.

Was jetzt?

Ich beginne mich wieder.
Jetzt.

Gestern war Büchermachen und Schriftsetzen. Jetzt ist da sein und nicht vergessen, dass ich um die Mittagszeit meine physiotherapeutischen Übungen mache, dazu habe ich seit meinem Unfall vor elf Jahren ein Abonnement, so dass ich täglich ins Physiozentrum gehe für meine Übungen. Zum guten Glück. Ohne Abonnement würde ich zu wenig für meine Gesundheit tun. Und im Sommer gebe ich das Atelier auf und hoffe, dass bis dann jemand kommt, der sagt „Ich will Bücher machen!“ und bei dem ich dann noch ein „Büröchen“ haben kann. Ich kann ja nicht den ganzen Tag zuhause bleiben… und in ein Altersheim gehe ich nicht. Bald ist ja vielleicht auch die Beiz im Eisenwerk wieder offen.

Und dann, wenn man hilfsbedürftiger wird?

Unterstützung annehmen, und möglichst frei bleiben!

Beat Steiger, seniorweb.ch, 22.1.2021

 

Adolf Endler: Eine Reihe internationaler Lyrik, Sinn und Form, Heft 4, 1973

 

Der Schriftsetzer Beat Brechbühl und seine Bodoni Blätter bei art-tv.ch.

In dasgedichtblog – Schlagwort-Archive: Beat Brechbühl

Dieter Langhart: Ein Idealist löst seinen Verlag auf: Beat Brechbühls Waldgut Verlag in Frauenfeld ist Geschichte

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Dieter Langhart: Alphabet für einen Wortmenschen
Tagblatt, 28.7.2014

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Dieter Langhart: Beat Brechbühl ist einer der letzten Meister der Schwarzen und der Weissen Kunst
Tagblatt, 25.7.2019

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