Beate Pinkerneil: Zu Erich Frieds Gedicht „Mit den Jahren“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Erich Frieds Gedicht „Mit den Jahren“ aus Erich Fried: Um Klarheit. Gedichte gegen das Vergessen. –

 

 

 

 

ERICH FRIED

Mit den Jahren

Mit meiner Erfahrung
wächst
meine Fähigkeit
zu beschreiben
was ich
nicht mehr
beschreiben werde

 

Ein Widerspruch voll Harmonie

In den Gedichten Erich Frieds führen die Melancholie mit wacher Aggressivität und die Lebenslust in manchmal heller Verzweiflung einen ständigen Kampf, dessen Schauplätze rasch und häufig wechseln. Die Jahrzehnte hindurch ist dabei so etwas wie eine politische Wetterkarte mit zahlreichen poetischen Hochs und nicht gerade wenigen Tiefs zusammengekommen. Der Gewalt der Weltgewitter wird auch der Dichter nicht Herr werden, doch seine widerspenstigen Empfindungen kann Fried zähmen durch den künstlerischen Seitenhieb der Lakonie.
Zwar verfügt Erich Fried nicht nur, wie frühe Gedichte zeigen, über den Kanon der traditionellen Formenvielfalt, sondern mit ihr auch über die ganze Skala der Wortgebärden zwischen Wut und Lust, aber er kommt jetzt meist mit wenigen Tönen aus. Diese Lakonie in Frieds späten Gedichten wirkt stets auf unbestimmte Weise beunruhigend; ihre Wurzel hat sie in der erzwungenen Ruhelosigkeit des politisch Verfolgten, der seit 1938 in London lebt und sich „ohne Vaterland“ fühlt als Österreicher in Deutschland, als Deutscher im Exil und als Jude, der die israelische Politik in der Palästinenserfrage scharf kritisiert (Höre, Israel!, 1974).
Hier genügt, ein Lebensalter umgreifend, ein einziger und durchaus nicht langer Satz, um aus einer dialektischen Einsicht voller verzweifelter Gelassenheit ein Gedicht entstehen zu lassen. Aber was ist eigentlich der Grundton – Verzweiflung oder Gelassenheit? Was wird hier vorgetragen – selbstironische Zuversicht, Melancholie, gar Resignation oder doch Lebens- und Arbeitslust? Es beginnt vollmundig und steigert sich selbstbewußt von der ersten zur dritten Zeile: „Mit meiner Erfahrung / wächst / meine Fähigkeit“, aber dann, mit der Zäsur der vierten Zeile: „zu beschreiben“, ist der Gipfel der Selbstherrlichkeit schon überschritten; die restlichen drei Zeilen stürzen hinab in eine trostlose Gewißheit:

was ich
nicht mehr
beschreiben werde

Eine ganz einfache Form also: zweimal drei Zeilen antithetisch gegenübergestellt und in der Mitte verbunden. Aber zugleich eine höchst komplizierte Angelegenheit, denn beide Gedichthälften halten sich mit der Schwere ihrer Gegensätze in einem subtilen Gleichgewicht: ein Widerspruch voll Harmonie.
Vom Himmel fällt solche Harmonie allerdings nicht; sie ist erlitten. Läse man das Gedicht nur als private Aussage, schiene sein Fazit eher lapidar. Viele Künstler haben im Alter bedauert, ihr Leben lang nur gelernt und geübt zu haben für das endgültige Meisterwerk, das ihnen durch den Tod verwehrt ist. Aber in einem Seufzer „ars longa, vita brevis“ ist Frieds Gedicht nicht erschöpft.
Es gehört in den Zusammenhang seiner Warnungen vor dem Atomkrieg. Vierzig Jahre nach der Zündung der ersten Bombe schrieb Fried:

Vierzig Jahre Wanderung durch die Wüste
und die Pilzwolke bei Tag
und die Feuersäule bei Nacht
Wandern
durch die wüster werdende Welt
um uns reif zu machen
zu welchem Los?

Die Auschwitz entgangen sind, die Hiroshima überlebt haben und die aus Vietnam zurückkamen, sie werden im computergesteuerten Atomkrieg keine Chance haben. Auch der Dichter nicht. Aus der Geschichte wächst ihm eine Erfahrung künftiger Leiden zu, die er mangels künftiger Geschichte nicht mehr beschreiben wird.
Ist es also ein Gedicht ohne Hoffnung? Keineswegs, denn für Fried existiert Hoffnung gerade in der Fähigkeit zu verzweifeln, und sein Mut zur Angst äußert sich in Lakonie.

Werner Fuldaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zehnter Band, Insel Verlag, 1986

1 Antwort : Beate Pinkerneil: Zu Erich Frieds Gedicht „Mit den Jahren“”

  1. Michael Treutwein sagt:

    Du lieber (Dichter-)Gott:

    viel zu viele Worte, aufgeblähtes Geschwalle, um das zu zerreden, was in dem Gedicht vielviel besser, bündiger bereits ausgesagt ist

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