Beda Allemann: Zu Gottfried Benns Gedicht „Statische Gedichte“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Gottfried Benns Gedicht „Statische Gedichte“ aus Gottfried Benn: Statische Gedichte. –

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Statische Gedichte

Entwicklungsfremdheit
ist die Tiefe des Weisen,
Kinder und Kindeskinder
beunruhigen ihn nicht,
dringen nicht in ihn ein.

Richtungen vertreten,
Handeln,
Zu- und Abreisen
ist das Zeichen einer Welt,
die nicht klar sieht.
Vor meinem Fenster
– sagt der Weise –
liegt ein Tal,
darin sammeln sich die Schatten,
zwei Pappeln säumen einen Weg,
du weißt – wohin.

Perspektivismus
ist ein anderes Wort für seine Statik:
Linien anlegen,
sie weiterführen,
nach Rankengesetz –
Ranken sprühen –,
auch Schwärme, Krähen,
auswerfen in Winterrot von Frühhimmeln,

dann sinken lassen –
du weißt – für wen.

 

Zu einem Gedicht von Gottfried Benn

Mit dem Titel Statische Gedichte bezeichnet Benn nicht eine bestimmte Subspezies von Gedichten, neben der dann noch andere Abarten, un- oder überstatische, vielleicht etwa dynamische Gedichte möglich wären, sondern das Adjektiv statisch weist – bei allem Mißtrauen, das der auf den substantivischen Stil eingeschworene Dichter Benn den Adjektiven grundsätzlich entgegenbringt – auf das Wesen des Gedichts und des Dichterischen selbst hin. Statische Gedichte, der Name der Gedichtsammlung von 1948, kehrt als Überschrift des letzten Stückes ebendieser Sammlung wieder, eines das Ganze besiegelnden und, wie wir annehmen dürfen, die dichterische Statik der voraufgegangenen Stücke zusammenfassenden und rein aussprechenden Gedichtes. Entstanden ist es gegen Ende des zweiten Weltkrieges, in einer Kaserne des Ostens.
Das metrisch nicht festgelegte, reimlose Gedicht gliedert sich in drei Strophen von ungleicher Länge, mit fünf, elf und acht Versen. Der Vers der dritten Strophe: „Ranken sprühen“ –, ist besonders hervorgehoben. Den drei Strophen folgen, von diesen und unter sich nochmals durch Strophenabstand getrennt, die beiden Schlußverse, die nur noch zögernd angefügt scheinen und eher auf die Andeutung beschränkt bleiben, als daß sie nochmals eine Lehre aussprechen würden:

dann sinken lassen –,
du weißt – für wen.

Das Gedicht gleitet damit in jene Tiefe des Weisen zurück, die der erste Vers mit betontem Einsatz als „Entwicklungsfremdheit“ bestimmt hat. Aus der ganzen ersten Strophe spricht östliche Weisheit, man glaubt, ähnliches schon einmal bei Lao Tse vernommen zu haben. Das Spruchhafte der Aussage, ihre zur Nachdenklichkeit herausfordernde Kürze, auch die Parallelführung der beiden letzten Verse 

beunruhigen ihn nicht,
dringen nicht in ihn ein 

weisen in diese Richtung. Mit dem Bekenntnis zur Entwicklungsfremdheit ist ein zunächst tief Uneuropäisches, Gegenwestliches in den Blick gerückt. Das hält sich durch in die zweite Strophe hinein: 

Richtungen vertreten,
Handeln,
Zu- und Abreisen
ist das Zeichen einer Welt,
die nicht klar sieht.

Solcher Unruhe und Unklarheit stehen gegenüber Ruhe und Klarheit des Weisen, dieser an Alter, Gelassenheit und mythischer Dimension den Dichter noch übertreffenden Gestalt. Vor dem Fenster liegt ein Tal, und es hat seine besondere Bewandtnis damit. Ein Tal – selten genug in Dichtungen Benns, der aus dem Lebensgefühl der modernen Großstadt arbeitet, dem das Tal in Assoziationsnähe zu Mondschein und Zaubernacht zu stehen kommt und also einem Naturgefühl zugehört, das für ihn, trotz Goethe und der Romantik, seit den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts nicht mehr im Bereich des Möglichen liegt. Das Tal wird einmal in der Grabrede auf Klabund genannt; im Gedenken an den Freund, dessen Leiche an den Ort seiner Geburt zurückgebracht worden ist, um in heimatlicher Erde zu ruhen, stehen hier die Sätze:

Aus diesem Tal also, das wir heute durchfuhren, stammte Klabund. Diese Hügel, dieser Strom.

Es ist wie das Tal, von dem der Weise der „Statischen Gedichte“ spricht, ein Tal der Herkunft, der Erinnerung an Frühestes und zugleich ein Tal der Toten und des Todes,

darin sammeln sich die Schatten,
zwei Pappeln säumen einen Weg,
du weißt – wohin.

Die Perspektive solchen Tales, „pappelbestanden und schon kühler“, wie es in einem andern Gedichte heißt, wird von den Hügeln geführt, zielt auf den Strom, der zum Meere zurückstrebt, ein Weg begleitet ihn:

du weißt – wohin.

Es gibt ein frühes Gedicht Benns, „Qui sait“ überschrieben, in welchem jegliche Frage noch offengelassen ist; die Worte „wozu, qui sait?“ bilden einen wiederkehrenden Strophenschluß. Nichts als die Wiederholung dieser Frage bleibt übrig angesichts der großen Sinnlosigkeit aller historischen Abläufe und Aufregungen, von der Benn so tief durchdrungen ist. Erst in der Nähe des Todes scheint sie sich dann, ohne an Resignation einzubüßen, merklich zu beruhigen, ja die drängende Frageform überhaupt zu verlieren. Die Worte „du weißt“ werden jetzt zur beinah magischen Formel, in der sich manches verbirgt an Todesahnung und Ahnung über den Tod hinaus. Im Epilog 1949 zu den Ausgewählten Gedichten Trunkene Flut, wieder also am Ende einer Gedichtsammlung, erscheint dieselbe Formel als Grabinschrift:

Es ist ein Spruch, dem oftmals ich gesonnen,
der alles sagt, da er dir nichts verheißt –
ich habe ihn auch in dies Buch versponnen,
er stand auf einem Grab: „tu sais“ – du weißt.

Der Gebrauch der Fremdsprache ist hier, wie öfters bei Benn, Anzeichen besonderer Gefühlsintensität; man erinnert sich aus ähnlicher Stimmungslage der Verwendung des englischen „nevermore“, dem Benn mit seinen beiden ersten kurzen und der auslautenden gedehnten Silbe, die ihm an deutsches Moor und französisches „la mort“ anklingt, eine besondere, in dieser Ausprägung durch kein deutsches Wort zu erreichende Gefühlsdichte zuschreibt.

ich habe ihn auch in dies Buch versponnen –

es finden sich in der nämlichen Sammlung die von Verzicht zutiefst durchdrungenen Verse:

niemals die Lippen kosten
dessen, was sich verheißt,
dunkler als Kreuz ein Pfosten
trägt die Worte: „du weißt“.

Dunkler als Grabkreuze, so stehen diese Worte denn auch in „Statische Gedichte“, obwohl hier, nach dem Zögern eines Gedankenstriches, ins Versöhnlichere aufgehellt durch die Zusätze „wohin, für wen“. Du weißt – wohin; mehr wird freilich auch jetzt nicht gesagt, es darf nicht mehr gesagt werden aus dem Tal des Weisen her; in solcher Beschränkung vollendet sich das Gedicht. Darüber hinausgehen – Benn selber hat es hin und wieder in weniger geglückten Gedichten versucht – hieße, die Möglichkeiten seiner Dichtung sprengen, einer Dichtung, die eingespannt ist in den „leeren Raum um Welt und Ich“. In der Reduktion auf diese Gegenüberstellung von Welt und Ich, diese schizoide Katastrophe, wie Benn sie einmal nennt, und in der Leere, die sie umgibt, prägt sich Größe und Grenze seiner Dichtung aus. Die Größe, die darin liegt, daß hier mit starker und illusionsloser Unerbittlichkeit das Schicksal des modernen Menschen angegangen wird, ein Schicksal im leeren Raum; aber auch die Grenze, wie die beiden Begriffe Größe und Grenze sich ja nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig fordern.
Hinter den Worten „du weißt – wohin“, auf welche künstlerische Ehrlichkeit sich zu beschränken zwingt, steht der große Vater, dem Gedicht selbst nicht mehr zugänglich, der unbekannte Gott, die Stimme hinter dem Vorhang, die mahnt:

„Im Dunkel leben, im Dunkel tun, was wir können.“

Der Ort solchen Dunkels ist das Tal, in dem sich die Schatten sammeln, der melancholische Zufluchtsort des späteren Benn:

zwei Pappeln säumen einen Weg…

Benns Gedicht „Pappel“ setzt mit der Strophe ein:

Verhalten,
ungeöffnet in Ast und Ranke,
um in das Blau des Himmels aufzuschrein –:
nur Stamm, Geschlossenheiten,
hoch und zitternd,
eine Kurve. 

Die Pappel betont die geschwungene Vertikale, sie ist ein einsamer Baum – „wer sah Pappelwälder?“ fragt Benn und sie zielt ins Blaue, die Farbe des Introvertierten, die bevorzugte Farbe, Farbe auch des ligurischen Komplexes, der Sehnsucht nach dem Süden, nach dem Mediterranen und der Latinität. Das steht alles noch in der östlichen Abgeschiedenheit des Tales und der Zurückhaltung des Weisen; und doch ist damit auch schon ein Anderes und Gegensätzliches angedeutet, das die reine Nabelschau und Versenkung übersteigt. Daß Pappeln aufschrein, ist zu expressiv und expressionistisch gesagt, als daß es nicht in Widerspruch geriete zu östlicher Gelassenheit.
Die nächste, dritte Strophe von „Statische Gedichte“ setzt, nachdem die zweite durch ihr „du weißt – wohin“ einen ersten Abschluß geschaffen hat, mit der Verszeile „Perspektivismus“ ein, einem Begriff aus dem Vokabular Nietzsches, einem entschieden westlichen Begriff. Aber dieses Wort entspricht dichterisch aufs genaueste der Verszeile „Entwicklungsfremdheit“ zu Beginn des Gedichtes. Im Rhythmischen geht die Übereinstimmung bis in Nuancen, die sich nur-metrisch gar nicht mehr fassen lassen: beide Wörter entziehen sich einer Festlegung auf ein im Deutschen übliches Versmaß, wer sie etwa betont jambisch skandieren wollte (Entwicklungsfrémdheit, Perspéktivísmus), würde ihren eigensten Rhythmus arg vergewaltigen. Mit ihren ersten vier Silben bleiben sie rhythmisch eigentümlich in der Schwebe, erst mit der Schlußsilbe senken sie sich um ein Geringes: Entwicklungsfremdheit, Perspektivismus. In ihnen schwingt das ganze Gedicht wie in seiner Angel.
Die beiden Namen bedürfen über die Feststellung ihrer Polarität hinaus der Erläuterung. Perspektivismus zunächst – das ist die seit Nietzsche aktuelle Haltung, nicht mehr alles auf einmal zu wollen, vor allem nicht mehr an eine rationale Erklärbarkeit von Welt und Geschichte zu glauben, sondern sich auf die Einsicht in die Relativität der Bezugssysteme zu beschränken. Im Rahmen des Denkens Nietzsches ist solcher Perspektivismus nicht so zentral, wie oft gemeint wird, er ist eher eine Begleiterscheinung, die freilich im Bereich von Nietzsches Kunstauffassung ihre besondere Bedeutung erhält und denn auch gerade auf die Künstler und Schriftsteller der Generationen nach Nietzsche tief gewirkt hat. Perspektivismus meint hier den Willen zur Oberfläche, zum schönen Schein, zum „Olymp des Scheins“ – Benns meistzitiertes Nietzsche-Wort –, es verbirgt sich dahinter ein Gegenschlag zum historischen Karneval, wie die zweite Unzeitgemäße ihn beschrieben hat, eine Überwindung dieses Karnevals, der Übersättigung und des Erkenntnisekels in seinem Gefolge, durch bewußte Übernahme und Kultivierung, ein leichtfüßiges Gleiten auf allen Möglichkeiten des modernen Bewußtseins und damit eine neue künstlerische Freiheit. Hier befindet sich Benn bedingungslos in der Nachfolge Nietzsches – deutlicher, unumwundener und wohl auch tiefer als irgendein anderer deutscher Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Von Benn ist das denkwürdige Wort:

Eigentlich hat alles, was meine Generation diskutierte, innerlich sich auseinanderdachte, man kann sagen: erlitt, man kann auch sagen: breittrat – alles das hatte sich bereits bei Nietzsche ausgesprochen und erschöpft, definitive Formulierung gefunden, alles weitere war Exegese.

Die Modernität Benns, seine Repräsentationskraft für die erste Hälfte dieses Jahrhunderts, sogar der Umstand, daß er als einer der wenigen deutschen Dichter aus der Zeit der beiden Weltkriege den Anschluß gefunden hat an gesamteuropäische Vorgänge, gründen mit in dieser Tatsache, daß er sich zur Bewußtseinslage Nietzsches bekennt, zu einem perspektivisch arbeitenden Bewußtsein, das einsam aber tänzerisch auf den universalhistorisch und bis in die exotischen Bereiche entlegener Kulturen hinaus verfügbaren Inhalten und ihrer Dispersion seine dichterischen Spiele treibt, oder wie Benn 1930 in „Fazit der Perspektiven“ sagt:

in direkter, fast nonchalanter Nähe mit dem bisher räumlich Fernsten, gestikulativ in einer Art totipotenter Form, wie sie in vergangenen Epochen sein inneres Geheimnis war, lebt, viel auf Reisen, das heutige Ich.

Soviel zunächst zum Perspektivismus.
Nun aber „Entwicklungsfremdheit“ – wie vertragen sich die beiden Worte? Benn fußt nicht nur auf Nietzsche, er ist auch durch die Naturwissenschaften hindurchgegangen, wie das ausgehende 19. Jahrhundert sie zur Geltung gebracht hat. Aber Entwicklungsfremdheit, das wendet sich in erster Linie gerade gegen die Fortschrittsgläubigkeit des naturwissenschaftlichen Weltbildes, wendet sich im biologischen Bereich, in welchem das Denken Benns sich vorzugsweise bewegt, gegen den Darwinismus, gegen die aus ihm entspringende Auffassung von der Züchtbarkeit der menschlichen Rasse. In diesem einen Punkte versagt Benn denn auch Nietzsche die Gefolgschaft, hier sieht er, in dem, was er Nietzsches Darwinismus nennt, ein bloß Zeitbedingtes und Ergänzungsbedürftiges. Der Gedanke eines allgemeinen Fortschrittes der Menschheit, ihrer Höherzüchtung zum Übermenschen oder, ins Kleinbürgerliche übersetzt, die Auffassung, unsere Kinder müßten es einst besser haben – darüber sieht der Weise aus der Tiefe seiner Entwicklungsfremdheit hinweg.

Kinder und Kindeskinder
beunruhigen ihn nicht,
dringen nicht in ihn ein.

Am Schluß des kleinen Aufsatzes über Nietzsches Begriff der Züchtung sagt Benn:

Was objektiv bleibt, ist nicht die Prophetie von Zukünften, sondern es sind die abgeschlossenen hinterlassungsfähigen Gebilde. Was bleibt, ist das zu Bildern verarbeitete Sein. Der Erfolg der Dynamik: Klassik!

Diese Sätze sind aus dem Jahre 1940, und sie haben über die Auseinandersetzung mit Nietzsche hinaus ihre unmittelbare Bedeutung im Werdegang Benns selber. Er hatte damals, wenn auch der Öffentlichkeit kaum schon oder infolge der politischen Umstände nicht mehr sichtbar, diesen Ort der „Klassik“ erreicht. Entwicklungsfremdheit ist unter diesem Aspekt die Gegenposition zum Sturm und Aufbruch des Frühexpressionismus, an dem der junge Benn nicht unerheblichen Anteil gehabt hat. Es ist inzwischen sichtbar geworden, in welch einmaliger Weise dem spätem Benn die Verwindung des Frühexpressionismus gelungen ist. Aus dem Aufbruch der Jahre unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg herauszukommen zu einer echten Kolonisation des gewonnenen Neulandes, das war den Überlebenden der frühexpressionistischen Generation aufgegeben, und lange genug schien es, daß sie aus sich selber die Kräfte zu solcher Konsolidierung nicht mehr aufbringen würden. Der Expressionismus selbst schien in der Zwischenkriegszeit in Literaturbetrieb und unerquickliches Mitläufertum abzugleiten. Daß aus einem solchen Niedergang heraus dann doch noch einmal zu einer Phase II des Expressionismus – der Begriff ist von Benn – entschlossen angesetzt wurde, ist das Verdienst eines Einzelgängers.

Wesensmerkmal der Phase II ist für Benn – und hier geht er so weit, sie einer Phase II des nachantiken Menschen überhaupt gleichzusetzen – die Schaffung eines neuen Mittelpunktes im Menschlichen, mit Goethe gegen Newton, unter Berufung auf das alte ptolemäische Weltbild. Und nun zeigt sich: erst der Ptolemäer ist der eigentliche Perspektivist, der auf Zu- und Abreisen verzichtet, weil es Zeichen einer Welt ist, die nicht klar sieht. Reisen, eine Tätigkeit, die den jungen Benn gelockt hat, weil sie die Bezugssysteme verschiebt, wird jetzt aus eben diesem Grunde verschmäht. In den Fragmenten von 1951 findet sich ein Gedicht, das mit den Worten beginnt:

Meinen Sie Zürich zum Beispiel
sei eine tiefere Stadt…?

Es ist mit Reisen überschrieben, und seine Schlußstrophen lauten:

Bahnhofstraßen und rueen,
Boulevards, Lidos, Laan –
selbst auf den fifth avenueen
fällt sie die Leere an –

ach, vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
bleiben und stille bewahren
das sich umgrenzende Ich.

Von derselben Mahnung erfüllt ist noch das Gedicht „Aprèslude“, das Schlußstück der gleichnamigen jüngsten Gedichtsammlung Benns, die als Ganzes den alternden Dichter in der resignierten aber unverzweifelten Stimmung zeigt, die schon lange den Zauber seiner Hervorbringungen bildet und die selbst den Vorgang des Alterns und der weisen Einkehr als seinem dichterischen Lyrismus tief angemessen erscheinen läßt, wenn auch Altern in erster Linie ein Problem ist für Künstler, wie es die berühmte Rede vom vorletzten Jahr ausspricht. Das Wort vom Bleiben erhält hier seinen besonderen Klang.
Bleiben und stille Bewahrung ist in dem Tal, das der Weise der „Statischen Gedichte“ vor seinem Fenster hat. Das Dynamische mündet in die Klassik, der Weg zwischen den Pappeln, das Tal, in dem sich die Schatten sammeln, ist klassische Landschaft. Das bedeutet nicht den Verzicht auf die Perspektiven, im Gegenteil, Perspektivismus ist ein anderes Wort für seine Statik, und es bekommt jetzt sogar eine tiefere Nuance, die es zuvor nicht hatte, denn die Perspektive des Tales ist Selbstbegrenzung, der Wille zur Stilisierung und zum abgeschlossenen Kreis als Merkmal jeder Klassizität.
Und hier nun endlich treffen sich auch Perspektivismus und Entwicklungsfremdheit. Die Tiefe des Weisen vereinigt sich mit diesem neuen, zentrierten Perspektivismus, der seine bestimmten Horizontlinien und Abschlüsse, auch seine künstlerische Härte und Entschlossenheit hat. Schon 1932 hat Benn das gegenständliche Denken Goethes in diesem Sinne als perspektivistisch beschrieben, „ein weittragendes perspektivisches Erfühlen von Zusammenhängen und Ursprüngen, ein Eintauchen des Denkens in den Gegenstand und eine Osmose des Objekts in den anschauenden Geist.“
Das klingt nun alles fast so, als müßte die Phase II des Expressionismus als eine resolute Abwendung von den Bestrebungen des Frühexpressionismus aufgefaßt werden. Nichts wäre ungerechter. Es gilt vielmehr umgekehrt, die klassizistischen und formalistischen Elemente genauer zu sehen, von denen der Frühexpressionismus erfüllt ist bis zu dem Grade, daß Benns Konzeption der Phase II als eine zwangsläufige Folge erscheint. Der Perspektivismus Benns hat von Anfang an seine Statik in sich getragen, auch wo sie von „trunkener Flut“ überspült war. Perspektivismus ist scheinbar eine Technik der Zersplitterung, der Auflösung und Facetten-Spiegelungen, und in einer gewissen Hinsicht trifft das gewiß zu, Benn selber sagt von seinem Stil:

Nichts wird stofflich-psychologisch mehr verflochten, alles angeschlagen, nichts durchgeführt. Alles bleibt offen. Antisynthetik. Verharren vor dem Unvereinbaren.

Doch er fügt auch hinzu:

Bedarf größten Geistes und größten Griffs, sonst Spielerei und kindisch. Bedarf größten tragischen Sinns, sonst nicht überzeugend. Aber wenn der Mann danach ist, dann kann der erste Vers aus dem Kursbuch sein und der zweite eine Gesangbuchstrophe und der dritte ein Mikoschwitz und das Ganze ist doch ein Gedicht.

Hier liegt für den Einsichtigen auch der Hinweis auf eine höhere Intaktheit der Sprache durch alle inhaltlichen Zersplitterungen hindurch. Die scheinbar losgelösten Substantive des Bennschen Stils, das ist in „Statische Gedichte“ in besonderem Maß zu beobachten, fügen sich einem rhythmischen Gesetz, welches das Gebilde als ein dichterisches ausweist und das sich um so sichtbarer durchsetzt, je mehr im Verlauf des Gedichts das Spruchhafte, Sentenziöse zurücktritt und in der dritten Strophe einer Reihung von Satzfragmenten Raum macht, wobei Satzfragmente hier bereits eine unangemessene Bezeichnung ist, denn es behauptet sich in ihnen durchaus eine dichterisch-rhythmische Art von Satzbau. In diesen Versen ist ein grundlegendes Bekenntnis eines Dichters zu seinem Metier ausgesprochen, beinahe ein Programm des dichterischen Expressionismus überhaupt.

Linien anlegen,
sie weiterführen
nach Rankengesetz –,
Ranken sprühen –,
auch Schwärme, Krähen,
auswerfen in Winterrot von Frühhimmeln…

Rankengesetz ist das Prinzip solcher Dichtung, und was Benn damit meint, wird klarer aus einem Prosastück des Jahres 1920, in dem ein Berliner Privatdozent der Philosophie auftritt, ein Perspektivist alten Stils, der vom Reisen träumt.

Meine Herren, würde er sagen, wenn Sie morgen früh erwachen, ist, der vor Ihnen spricht, auf dem Wege nach Batavia. Er verläßt Europa, er umsegelt Ihren Kontinent, er streift entlang noch einmal die Maschen des weit auseinandergeschlagenen Schleiers seiner Sensationen und Produkte, ihn rührt noch einmal der Saum seiner fächerhaft weit entfalteten Zivilisation, deren Spangen zeitlich rückwärts sich schneiden auf einer Insel südlich des Ionischen Meers.

Hier also schon Reisen als Suche nach dem Ursprung, der Reisende hält denn auch ein in seinem Gedankenflug vor dem Minoischen Reich, eben jenem Schnittpunkt nach rückwärts aller Geschichtslinien des abendländischen Geistes, fasziniert von der kretisch-mykenischen Kultur:

ja, er entsann sich einer bemalten Vase oder einer Art Ölbehälter aus jener Zeit, weißgelb auf einem rötlichen Grund eine Gauklerin, die auf den Armen ging, ihre Brüste trug sie in den Händen, mit den Füßen schoß sie vom Bogen einen Pfeil – und nun erschien es ihm merkwürdig, daß dieses sich gerettet hatte, durch so viele Jahrtausende, gewissermaßen das Sinnlose, die Pflanzenranke und die Gauklerin.

Das ist das Bleibende, das artistisch Herausgestellte, das Zwecklose. Rankengesetz ist: der Hervorbringung des Kunstwerkes als dieses Bleibenden sich hingeben, „Ranken sprühen“, aus sich heraustreiben in schöpferischem Akt, dann sinken lassen. Schwärme, Krähen auswerfen, die Vögel des Einsamen, in Winterrot von Frühhimmeln, der Refrain Nietzsches klingt an:

Die Krähen schreien
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt,

und vernehmlicher noch eine Strophe Georg Heyms, des frühexpressionistischen Generationsgenossen Benns:

Raben und Krähen
Habe ich ausgesandt,
Und sie stoben im Grauen
Über das ziehende Land.

Sprühen, auswerfen, dann sinken lassen, das entspricht der Bennschen Erfahrung von der Dichtung als einem aus rauschhaften Zuständen hervorgegangenen Ereignis. Die Entstehung des Gedichtes beruht für ihn, mit den medizinischen Ausdrücken, die er gerne braucht, auf einer Hyperämie, einer Kongestion, einem Blutandrang und einer Schwellung gleichsam, einem Drang nach außen, zum Ausdruck, zum Rankensprühen. Dem folgt in natürlichem Ablauf das Sinken-lassen, ein tröstliches Zurücksinken in die Nacht. Benn hat sich hin und wieder scharf gegen den deutschen Hang zur unklaren Tiefe und gegen die Sehnsucht ins dunkle Reich der Mütter gewandt – hier scheint er auf seine Art selber an ein solches Reich zu denken, und das Sinken-lassen ist dabei eine seiner höchst kennzeichnenden dichterischen Gebärden. Es spricht sich darin ein moderner Drang zurück zur Natur aus, freilich zu keiner Natur der Schäferspiele und fêtes champrêtres, sondern zu einer auf den neuesten Stand der Forschung gebrachten Natur, aus deren Horizont es nicht unmöglich erscheint, daß der quartäre Mensch eine bionegative Mutationsvariante ist und einst unter Rückbildung der überwuchernden Großhirnrinde wieder den Weg zurück ins Meer gehen wird, aus dem das Leben aufgestiegen ist: thalassale Regression. Benn ruft einmal aus: 

O daß wir unsere Ururahnen wären.
Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor.

Hinter der Bennschen Verachtung aller Historie und ihrer kunterbunten Abläufe verbirgt sich eine radikalste Auffassung von Geschichte, der nur noch mit gleichsam erdgeschichtlichen Maßstäben zu genügen ist; aber auch im Rückstieg ins Tertiär bleibt Benns dichterische Aufmerksamkeit dem Menschlichen und seiner immanenten Geschichtlichkeit zugewandt, ja das Menschenwesen erfährt in solch äonenweiter Betrachtungsweise seine eigentliche Rücknahme ins Unzerstörbare des Urgrunds. Menschheitsgeschichte geht hier wieder in Natur über, und die Pflanzenranke selbst ist das Symbol der brüderlichen Vereinigung. Sie gehört beiden Bereichen zu, der Ausdruckswelt im Bennschen Sinn des Wortes, wo sie für das künstlerisch in seine Vollendung Hervorgebrachte steht, und zugleich der stets sich erneuernden Natur, die selbst, dem Dichter darin verwandt, die Ranke in ihren Frühlingen hervorsprüht. Dem Rankengesetz gehorcht jede Hervorbringung, der Ranke entspricht die rhythmische Linie des Gedichts, das aus den Urgründen hervorgeht in sein absolutes Dastehen, hinter welchem der Dichter selbst wieder zurücksinkt.
Das Dynamische dieser Vorgänge, des Aussprühens und des Sinkenlassens, ist noch nicht die Dichtung selber im Sinne Benns, ist nur Vor- und Nachspiel. Das Eigentliche, worum es ihm geht, ist das „Statische Gedicht“ in seiner Vollendung und Abgelöstheit. Schon von seiner frühen Rönne-Figur sagt Benn:

In sich rauschte ein Strom oder, wenn es kein Strom war, ein Wurf von Formen, ein Spiel in Fiebern, sinnlos und das Ende um jeden Saum.

Und der spätere Benn, der diese Stelle nochmals anführt, setzt hinzu:

er erblickt die Kunst.

Das Ende um jeden Saum trägt solche Kunst, weil ihr Merkmal, das sie auszeichnet, die Vollendung ist. Die Möglichkeit eines Vollendeten, das rein dasteht in den Wirbeln des modernen Nihilismus, sie hatte schon Nietzsche fasziniert, und sie beschäftigt nicht minder Benn. Ein Abschnitt im Ptolemäer von 1947 ist „Der Glasbläser“ überschrieben, und aus diesem Abschnitt geht vielleicht am klarsten hervor, was ein „Statisches Gedicht“ ist. Der Glasbläser schlägt im entscheidenden Augenblick auf das Rohr, und das in die Luft geblasene Gebilde steht abgelöst und vollendet vor ihm da. Von gleicher Art ist das Dastehen der Pflanzenranke und der Gauklerin, die verkehrte Welt spielt, und all das ist ein Gleichnis für die Vollendung, die sich im Kunstwerk durchsetzt.

Blase die Welt als Glas, als Hauch aus einem Pfeifenrohr: der Schlag, mit dem du alles löst: die Vasen, die Urnen, die Lekythen, – dieser Schlag ist deiner und er entscheidet.

So lautet eine Maxime des distinguierten Herrn, der im Ptolemäer auftritt. Es ist die Maxime der „Statischen Gedichte“, sie verleugnet nicht das Jokulatorische und Artistische – den Begriff der Artistik behält sich Benn, auch darin Nietzsche folgend und im Gegensatz zu einer geläufigen deutschen Auffassung vom Dichterischen, zur Bezeichnung eines tiefsten Anliegens vor.

Linien anlegen,
sie weiterführen

ist das Geschäft seiner Dichtung. Es sind die harten Linien einer in sich zentrierten Perspektivenwelt, und ihr Fluchtpunkt ist die Statik des vollendeten Gedichts. Statik in dem ursprünglichen Sinn einer Lehre vom Gleichgewicht, das sich nur in einem, dem entscheidenden Augenblick einstellt zwischen Aufsprühen und Sinkenlassen und aus dem ein Dauerndes sich loslöst, gemäß der Verheißung eines der Statischen Gedichte Benns:

Form nur ist Glaube und Tat,
die erst von Händen berührten,
doch dann den Händen entführten
Statuen bergen die Saat.

Das Statische des Gedichtes selber birgt noch ein in Zukunft Fruchtbares und Weiterwirkendes. Hier erhebt sich von selbst die Frage, ob das Bleibende und dergestalt Weiterzeugende des Gedichts noch aus dem Horizont des Statischen – oder allenfalls dem eines Wechselspiels von Dynamik und Statik – hinreichend begriffen zu werden vermag. Es ist der Punkt erreicht, da die Wege des Dichters in seinem Selbstverständnis sich notwendiger- und legitimerweise trennen von denen einer Literaturbetrachtung, die nach dem Wesen des Dichterischen fragt. Darauf sei hier nur hingewiesen, die Weiterführung des Gedankenganges muß einer grundsätzlichen Besinnung auf das geschichtliche Wesen des Bleibenden in der Dichtung vorbehalten sein. 

Beda Allemann, Merkur, Heft 99, Mai 1956

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