hat 1958 einen Gedichtband veröffentlicht, der die Wiener Mundartdichtung schlagartig verändert hat und der überhaupt der Mundart-Dichtung im deutschen Sprachraum völlig neue Dimensionen eröffnet hat.
Med ana schwoazzn dintn sind Gedichte im Breitenseer Dialekt (XIV. Bezirk Wiens), die mit ihren neuen Bildern und ihrer psychologischer Tiefe (um nur zwei Aspekte anzusprechen) die bis dahin die Dialektdichtung beherrschende „Wiener Gemütlichkeit“ mit einer poetischen Kraft vom Tisch fegte, die heute noch ihresgleichen sucht.
Konrad Beikircher hat seit 1978 vieler dieser Gedichte vertont und eingespielt.
Akkordeon, Geige, Mandoline oder Bratsche, Gitarre, Kontrabass und Cymbalom ergeben, auf den im Juli 1999 eingespielten Aufnahmen (CD 1), ein Klangbild das an musikalischer Dichte der sprachlichen Kraft der Gedichte in nichts nachsteht.
Wundervolle Wiener Stimmungsbilder (Herbst im Liebhartstal, Winter in Breitensee) wechseln ab mit zauberhaften Liebesliedern und ,natürlich‘ Akzenten aus dem Bereich des schwarzen Humors. Immer aber haben die Lieder einen Tiefgang und eine Expressivität, die keinen unberührt lassen.
Bereits auf den 1980 eingespielten Aufnahmen (CD 2) zeigt Konrad Beikircher, wie hervorragend er den Dialekt Artmanns beherrscht. Hier er trägt seine Lieder nur zur Gitarre oder zum Klavier vor, pardon, die Artmann’schen Lieder natürlich. Auch hier schon die schwarze Tinte voller Hinterhältigkeit und schwarzer Löchern, in die man unvermittelt stolpert.
Die gesangliche Intensität Beikirchers und sein Respekt vor H.C. Artmann münden in eine CD-Produktion die zweifellos zu den großen Chanson-Ereignissen gerechnet werden kann.
weiß noch nicht einmal jeder Wiener auf Anhieb, was das Wort „libhazzdoe“ bedeutet. Darum ist dieses Album auch eher ein Gedicht-Buch, bestehend aus zwei CDs. Und einem knappen, aber notwendigen Glossar, damit man nicht an der konsequent phonetischen Schreibweise des ohnehin vertrackten Wiener Dialekts verzweifelt. Doch mit ein bisschen Übung geht es schon. Auch wer die klassischen Interpretationen der schwarz-humorigen Dialekt-Lyrik des immer laudablen Poeten Hans Carl Artmann durch Helmut Qualtinger kennt, sollte sich von dem durchaus eigenständigen Zugriff Konrad Beikirchers packen lassen.
Beikircher, im unbürgerlichen Beruf einst Psychologe in einer Männerstrafanstalt (bitte übersetzen Sie dieses Wort anhand der Vorlage ins Artmannische! Sofort, sogleich: „menaschdrofanschdoed“. Na also, es geht doch!), hat sich die heimtückischen Gedichte kannibalisch einverleibt und lässt sie nur zum Zwecke des Gesangs, quasi verdaut, wieder heraus. Das ist nichts für schwache Nerven und Damen und Herren mit Kreislaufstörungen. Eintritt also nur für Kenner und Liebhaber, denn „es is imma wos unguaz“ zwischen den Lautsprechern. Und hat sich da nicht das Messer ganz von allein gerührt? Nein, es war doch nur der CD-Wechsler, der die zweite Scheibe mit den Liveaufnahmen aus dem liberalen Zentrum Köln einwarf. Liebhartstal. Wie bitte? „Libhazzdoe“ bedeutet Liebhartstal. Liegt irgendwo zwischen Transsylvanien, Ottakring und Wien, dort wo der wilde Artmann west.
H.C. Artmann wechselt seine Stile wie andere ihre Kleider. Er ist überall und nirgends zu Haus, denn irgendwo heimisch zu werden widerspräche seinen Ansichten vom absoluten Künstlertum. Seine literarische Verwandlungsfähigkeit hat entsprechende Parallelen in seinem Leben gefunden. Auf Wechsel ist auch hier alles abgestimmt: das Aussehen, die Meinungen und die Wohnsitze. Als „letzter fahrender Sänger“ gefeiert, durchzieht er unruhevoll die Länder und Städte des alten Kontinents, bedeutsam umweht vom Hauch der Ferne und des Abenteuers und einem leisen Höllengelächter, in dessen schillernden Facetten sich die ganzen Artmann’schen Welten spiegeln: spöttische Lügenmärchen, in denen Wehmut und Romantik durch Ironie, Witz und einen schwarzen Humor überspielt, wenn auch nicht überdeckt erscheinen.
Leben und Dichten sind für Artmann nicht zweierlei. Er hat sich zum Barockdichter des 17. Jahrhunderts ebenso zu stilisieren gewußt wie zum irischen Barden, Wiener Vorstadtpoeten, polternden Husaren, empfindsamen Sternengucker und schaurig-düsteren Dunkelmann. Und so ist es auch kein reiner Zufall, daß es bereits jetzt so etwas wie eine Artmann-Legende gibt: Die Lust an der Verkleidung, das Possenreißen, Theaterspielen mit dem Leser und mit sich selbst und eine gewisse Jahrmarktsdämonie sind Teil seiner Lebensform. Darum gehören auch der mysteriöse Geburtsort St. Achatz am Walde in Niederösterreich ebenso wie das Geburtsdatum 1621 und so verschlungene Vornamen wie Hyronimus Caspar Laëtes und Hans Carl Laërtes heute schon zum Artmann-Mythos. In den sich dann die Lehrzeit des Wiener Schustersohns bei einem Juden der Vorstadt, die geringe Schulbildung (Artmann ist Hauptschulabsolvent), ein jahrzehntelanges, besessenes Sprachstudium und schließlich der Aufstieg zum Mentor von Wiener Künstlergruppen ohne Schwierigkeiten einfügen lassen.
Die frühen Gedichte H.C. Artmanns sind zum großen Teil verlorengegangen. Seine erste Veröffentlichung, ein Gedicht, das 1949 geschrieben wurde, stammt aus dem Jahre 1950. Etwa um dieselbe Zeit tritt er dem Autorenkreis der Neuen Wege bei, der damals einzigen Literaturzeitschrift in Wien, herausgegeben vom Theater der Jugend. Bereits 1951 kommt es zum Bruch zwischen den progressiven jungen Autoren und den reaktionären Geldgebern. Und Artmann veröffentlicht in den „Publikationen einer Wiener Gruppe junger Autoren“, deren Herausgeber Andreas Okopenko ist. In den folgenden Jahren formiert sich die legendäre Wiener Gruppe mit H.C. Artmann, Gerhard Rühm, Oswald Wiener, Conrad Bayer und Friedrich Achleitner. Man trifft sich im Strohkoffer, einem Clublokal des Art Club, der nach Kriegsende von Albert Paris Gütersloh und einigen seiner Schüler gegründet worden war, im Café Glory gegenüber der Wiener Universität und in der Adebar. Es wird diskutiert, experimentiert und avantgardistisches Theater gemacht. Artmann übersetzt unter anderem aus dem Französischen, Spanischen, Schwedischen, Irischen, Englischen und Jiddischen. Im April 1953 verkündet Artmann seine „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes“ und veranstaltet „poetische Acte“ („macabre“ Feste, schwarze Messen, imaginäre Hinrichtungen) in dem von ihm gegründeten „franciscan catacombes club“. Es sind zugleich die ersten Happenings, die auf Wiener Boden stattfinden. Die Forderung, „Dichtung um der reinen Dichtung willen“ zu betreiben, „frei von allen Ambitionen der Anerkennung“, wurde jedoch nicht nur von innerer Überzeugung diktiert. Sie ist ebenso aus der damaligen Situation in Wien zu verstehen, das nahezu völlig isoliert war und seinen jungen Künstlern wenig oder gar keine Möglichkeiten bot, mit ihren Werken vor die Öffentlichkeit zu treten.
1954 ist Artmann äußerst produktiv. Er schreibt experimentelle Lyrik, daneben Gedichtzyklen wie „Böse Formeln“, „Treuherzige Kirchhoflieder“, „Lieder zu einem gutgestimmten Hackbrett“ und einen Zyklus Liebesgedichte. 1956 kommt es zu den ersten Montagen: Vorgefundene Textteile, die häufig aus alten Lehrbüchern, Konversationslexika und Zeitungen stammen, werden neu geordnet und zusammengefügt. Aber erst 1958/59 kann er nach dem sensationellen Erfolg von Med ana schwoazzn dintn und „Hosn rosn baa (letzteres verfaßte er zusammen mit Gerhard Rühm und Friedrich Achleitner) auf seine Arbeitslosenunterstützung verzichten. Mit diesen bösen Dialektgedichten im Wiener Vorstadtjargon, die, von Fatty George und Ernst Kölz vertont und von Helmut Qualtinger gesungen, ungemein populär geworden sind, avancierte Artmann über Nacht zum „Wiener Volksdichter“. Worüber allerdings die Vielschichtigkeit seiner übrigen Dichtung beinahe in Vergessenheit geriet. Und so wurde die breite Öffentlichkeit eigentlich erst gegen Ende der 60er Jahre mit seinen schönsten lyrischen Gedichten, der „erweiterten Poesie“, den Barockgedichten, den persischen Qvatrainen, Theaterstücken, Hanswurstiaden und bizarren Horrormythen bekannt.
Hilde Schmölzer, 1971, aus Hilde Schmölzer: Das böse Wien, Nymphenburger Verlagshandlung, 1973
Hilde Schmölzer: Sie waren der erste, der mit dieser Dialektdichtung angefangen hat, die jetzt so populär geworden ist?
H.C. Artmann: Ja, leider Gottes. In Wien bin ich nämlich bis heute in erster Linie ein Dialektdichter geblieben. Dort liest man einfach nichts anderes. Dabei habe ich schon zwölf Jahre geschrieben, bevor die schwoazze dintn erschienen ist. Da war ich schon bei der abstrakten Dichtung, und nur um das zu überspielen, habe ich dann Dialekt geschrieben.
Schmölzer: Schreiben Sie jetzt noch im Dialekt?
Artmann: Ein Stück würde ich schreiben, ohne weiteres. Ich halte vom Dialektstück sehr viel. Aber doch kein Gedicht – lächerlich! Ich muß immer was anderes schreiben, immer was Neues schreiben. Und ich glaube, ich habe mich noch nie wiederholt. Das Schlimmste, was man einem Dichter sagen kann, ist, daß er seinen Stil gefunden hat. Ich wollte damals nur beweisen, daß eine ungeschriebene Sprache literaturfähig gemacht werden kann. Und das ist mir gelungen.
Schmölzer: Sie haben auch Theaterstücke geschrieben. Es gab darüber etliche Kritiken, die Sie wohl als Poet und Dichter gelten ließen, aber nicht als Dramatiker. Finden Sie das gerechtfertigt?
Artmann: Ja, ich weiß nicht, was die Leute unter Dramatik verstehen. Die Wiener sind eben noch zu sehr vom Burgtheater beeinflußt. Meine Stücke wurden falsch verstanden. Sicher gehören sie nicht zu den herkömmlichen Theaterstücken. Aber es gibt ja auch noch andere Spielarten des Theaters.
Schmölzer: Schreiben Sie langsam oder schnell?
Artmann: Das geht sehr schnell – ein Buch in ein paar Tagen. Und dann mache ich monatelang nichts. Schnee auf einem heißen Brotwecken habe ich, glaube ich, in zwei, drei Wochen geschrieben.
Schmölzer: Warum ist die Wiener Gruppe eigentlich damals auseinandergegangen?
Artmann: Es hat nie eine Wiener Gruppe gegeben. Das ist eine journalistische Erfindung. Wir haben uns nie als Gruppe gefühlt. Ich glaube ja, daß die Gruppe, die sich 1949, 1950 um die Neuen Wege gebildet hat, für die österreichische Nachkriegsliteratur viel wichtiger gewesen ist.
Schmölzer: Würden Sie Ihre frühe Zeit in Wien als Ihre wichtigste Zeit bezeichnen?
Artmann: Meine wichtigste Zeit ist jeden Tag. Man hat uns damals nicht gedruckt. Es ist nämlich nicht wahr, daß ich laufend produziere und produziere, wie immer angenommen wird. Das ist bloß die Summe von 25 Jahren, die jetzt schlagartig erscheint. Ich bin augenblicklich gerade en vogue. Ich bin in der Mode. Das ist sehr gefährlich.
Schmölzer: Wie fühlt man sich dabei?
Artmann: Es ist ein Seiltanzen.
Schmölzer: Ist das nicht aufregend?
Artmann: Man gewöhnt sich daran.
Schmölzer: Was muß man gegen diese Gewöhnung tun – stürzen?
Artmann: Abhauen. Immer wieder weggehen. Sonst ist man tot. Ich lasse mich nicht in dieses Establishment einbauen. Es geht mir fürchterlich auf die Nerven. Das können sie mit jedem machen, aber nicht mit mir.
Schmölzer: Fühlen Sie sich von Reisen besonders inspiriert?
Artmann: Hinterher. Während ich reise, schreibe ich überhaupt nichts. Da nehme ich nur auf wie ein ausgetrockneter Schwamm.
Schmölzer: Wieviele Sprachen sprechen Sie?
Artmann: Das klingt jetzt sehr nach Protzen: skandinavische Sprachen, Holländisch, Englisch, die romanischen Sprachen, dann Irisch, Walisisch. Für einen Literaten ist es ja wichtig, daß man die Sprachen im Original lesen kann, damit man nicht auf Übersetzer angewiesen ist.
Schmölzer: Wie ist Ihre gefühlsmäßige Grundstimmung?
Artmann: Ich bin Zwilling – ich habe übermorgen Geburtstag.
Schmölzer: Sie glauben an das Horoskop?
Artmann: Nein, das war Spaß. Ich möchte damit nur sagen, daß ich einmal so bin und einmal so. Daß ich von einem Extrem ins andere falle. Entweder bin ich sehr melancholisch, oder euphorisch – bis zum Exzeß.
Schmölzer: Wie stehen Sie zu Geld?
Artmann: Es kann frei machen, aber es kann auch versklaven. Ich habe nie Geld, weil ich es sofort wieder ausgebe, ich finde es ordinär, Geld zu besitzen. Es auszugeben, finde ich fesch. Mir geht es um das Abenteuer.
Schmölzer: Wo suchen Sie Ihre Abenteuer? Im Schreiben oder im Leben?
Artmann: In beidem. Das kann man nicht trennen.
Schmölzer: Sie leben genauso, wie Sie leben wollen?
Artmann: Ja, absolut. Ich habe noch nie etwas anderes gemacht – wenn man mich nicht brutal dazu gezwungen hat. Ich muß völlig frei sein.
Schmölzer: Wie stehen Sie zu Politik?
Artmann: Überhaupt nicht!
Schmölzer: Sie interessieren sich nicht dafür?
Artmann: Insoweit sie meine persönliche Freiheit betrifft, schon.
Schmölzer: Aber wenn Sie wählen…
Artmann: Ich wähle nicht! Wozu denn! Dafür habe ich die anderen – die Wähler! Wählen! Wenn ich dann in drei Jahren wieder enttäuscht bin.
Schmölzer: Also stellen Sie sich nicht dem Problem!
Artmann: Doch – wenn es einen Zweck hat. Ich habe das letzte Mal in Londonderry etwas über die Nase gekriegt – da, man sieht es noch. Einen Molotow-Cocktail! Aber auf katholischer Seite natürlich. Da bin ich engagiert. In Indien wäre ich engagiert. Aber hier – den Leuten geht es eh so gut.
Schmölzer: Wovon haben Sie gelebt, bevor Sie gedruckt wurden?
Artmann: Ich habe statiert – beim Theater und beim Film. Ich war sogar einmal Komparseriechef in der Scala. Jetzt lebe ich nur von meinen Gedichten. Und daß ich damit so viel verdiene, daß ich unabhängig leben kann – wenn auch nicht luxuriös –, das macht mir mehr Spaß, als nebenbei irgendeinen bürgerlichen Beruf auszuüben.
Schmölzer: Wer, glauben Sie, gehört zu Ihren Lesern?
Artmann: Die jungen Studierenden! Die Romantiker! Oder es sind Leute aus meiner Generation, die mich schon vorher gekannt haben.
Schmölzer: Was machen Sie sonst noch gerne – außer schreiben und reisen?
Artmann: Ich sammle Folklore-Schallplatten. Davon habe ich solche Stöße. Ich habe Platten aus Irland mitgebracht, die sind in Wirtshäusern aufgenommen oder auf der Straße. Da singen Straßenmusikanten, Trinker, Zigeuner, Scherenschleifer, Hausfrauen, Schüler, Wanderhändler und Fischer. Das ist echte Musik. Von daher kommen auch die jungen Engländer. Und die Irländer und die Schotten. Dann schau ich mir gerne Stummfilme an. Und natürlich lese ich: über alte Philosophien, Druidentum, Zauberei, Mythologien, prähistorische Texte, mittelhochdeutsche Lyrik, Ritterromane und nochmals Ritterromane. Ich habe eine Riesensammlung von Comics. Echte, alte. Die beste Literatur ist ja Donald Duck. Mickey Mouse mag ich nicht, dafür aber Asterix. Und Comics aus den 20er Jahren, die sind schön. Aber die Horrorcomics und diese Sexcomics, die sind alle blöd. Ich fliege auch gerne mit Propellermaschinen. Das sind Maschinen, bei denen man noch notlanden kann. Und dann möchte ich einen Kutter haben, mit alten Karbidlampen drinnen, die so schaukeln. Damit möchte ich Inseln bereisen im Indischen und Atlantischen Ozean. Überall anlegen, ein Bier trinken oder einen Schnaps und wieder weiterfahren.
Schmölzer: Alleine?
Artmann: Eine Frau hätte ich gerne mit!
Schmölzer: Aber ob die da auch mitmacht?
Artmann: Mit anderen gebe ich mich sowieso nicht ab. Die sind außerdem wetterfester als ich. Die können schwimmen und ich nicht. Im Krieg haben sie mir einmal nachgeschossen – da bin ich durch den Fluß geschwommen. Das war gezwungenermaßen.
Schmölzer: Haben Sie schlimme Erfahrungen im Krieg gemacht?
Artmann: Das klingt komisch – aber ich möchte es nicht missen (das sagt man so schön: Ich möchte es nicht missen). In den Husarengeschichten habe ich meine Kriegserfahrungen drinnen und meine ganze Wehmut mit der Welt.
Schmölzer: Wie oft waren Sie verheiratet?
Artmann: Ich weiß es nicht mehr. Ich glaube, dreimal. Ich weiß es wirklich nicht mehr.
Schmölzer: Wieviele Kinder haben Sie?
Artmann: Fünf! Sie leben in verschiedenen Ländern. Ich habe kaum Verbindung mit ihnen.
Schmölzer: Aber übernimmt man in dem Augenblick, in dem man Kinder in die Welt setzt, nicht eine gewisse Verantwortung?
Artmann: Das war nicht meine Schuld! Man hat mir immer falsche Sachen erzählt. Daß eh nichts passiert und so. Ja – diese Scherze kennen wir. Mein Sohn, der Patrick, der ist mir passiert. Und zu dem steh ich ja auch – der ist wie mein Bruder. Aber alle anderen wurden mir so – irgendwie – untergejubelt. Um mich einzufangen. Schau’n Sie – hätte ich mit 28 Jahren geheiratet, hätte ich jetzt eine 50jährige Frau, wäre ein Postoberoffizierrat oder so etwas und hätte nie mehr ein Gedicht geschrieben.
Schmölzer: Fühlen Sie sich der österreichischen Kulturtradition verpflichtet?
Artmann: Nein, der europäischen. Meine Anfänge kommen aus dem deutschen Expressionismus, von den Franzosen des 19. Jahrhunderts und von der mittelalterlichen Dichtung. Natürlich bin ich dem österreichischen Barock verpflichtet. Aber ich versuche das jetzt abzubauen. Weil es zu stark wuchert. Seit ich aus Österreich weg bin, habe ich ganz klare Sachen geschrieben. In Österreich wird man zu verwuchert, zu versponnen. Das ist natürlich schön, aber man kommt dann nicht mehr heraus.
Schmölzer: Haben Sie How much, Schatzi in Österreich geschrieben?
Artmann: In Frankreich. Ich nehme bei diesem Buch den ganzen Steinbruch von Worten und Ausdrücken, die ich bis jetzt noch nicht verwendet habe. Alles, was gut, böse, obszön, vulgär und schnoddrig ist, kommt da hinein. Es ist eine Ad-absurdum-Führung dieser ganzen Sexmasche.
Schmölzer: Ihre Geschichten wirken oft so, als würde aus diesem geballten Konglomerat von Ausdrücken eine neue Sprache entstehen.
Artmann: Ja, das versuche ich. Und dann möchte ich abgebrauchte Ausdrücke wieder auffrischen. Kitsch bringe ich rein, reinen Trivialkitsch. Das wird dann wieder Alchimie. Um das geht es mir. Nicht um den Inhalt – der Sinngehalt entsteht von selbst. Aber um dieses syntaktische Erlebnis, das philologische Abenteuer. Literarischer Sadismus ist das. Ich schände auf das Ordinärste. Und dann putze ich wieder auf das Herrlichste auf. Aber das versteht der Durchschnittsleser nicht. Der liest und… aha, a lustige G’schicht, Ich versuche mich jetzt in Gehässigkeiten. How much, Schatzi ist ein gehässiges Buch. Aber wenn ich Dichter bin, dann muß ich eben alles können.
Schmölzer: Aber Sie haben doch auch schon früher oft sehr böse geschrieben, denken Sie nur an diese Dialektgedichte.
Artmann: Das geht gegen Wien. Aber das Schlimme ist, daß der Wiener das noch lieb findet.
Schmölzer: Sie sind kaum noch in Wien, warum?
Artmann: Ich kann nicht in Wien leben, weil ich da krank werde. Ab St. Pölten kriege ich einen Juckreiz – gastritisch. Der Wiener Kulturbetrieb ist ja so grauenhaft. Und die Wiener, die sind so offensichtlich lieb und falsch und grauslich. Die Sprache ist ja so ordinär, so bösartig und gemein. Ja – schön, als Theaterstück, phantastisch. Als Horváth! Aber dort leben! Möchten Sie in einem Horváth leben? Ich habe in Wien bis zu meinem 30. Lebensjahr keinen richtigen Freund gehabt. Allerdings – wenn ein Wiener in Ordnung ist, dann übertrifft er alle. Aber die übrigen 99 Prozent sind grauenhaft.
Schmölzer: Sie haben fünf Jahre in Schweden gelebt und waren dort verheiratet. Warum sind Sie nicht dort geblieben?
Artmann: Weil es für mich als Dichter dort keine Existenzmöglichkeit gibt. Soll ich vielleicht in eine Fabrik gehen? Mein Schwiegervater ist Bischof. Dann bin ich ja nicht mehr standesgemäß. Ich habe einen Sohn oben, der ist jetzt acht Jahre alt.
Schmölzer: Wie hat es Ihnen in Schweden gefallen?
Artmann: Das ist ein schönes Land mit einer wunderschönen Sprache, die ich sehr liebhabe. Aber mir ist dieser übertriebene puritanische Marxismus saumäßig fad. Ein Marxist ist ja meist humorlos. Und das dann zusammengelegt mit einem protestantischen Puritaner, das gibt so einen batzweichen Humanisten. Aus diesem Grund gibt es ja jetzt dort auch diese brutalen Rockers. Die Schweden sind eben alte Wölfe mit einer harten Natur. Aber wenn die jetzt sechs Stunden in der Fabrik sitzen und dann heimkommen und – was weiß ich – den Rasen mähen und sich dann ein schlechtes Programm im TV anschauen… wenn ein Bauernvolk vom 16. Jahrhundert praktisch ins 21. springt – das gibt Gehirnschäden. Das ist keine Übertreibung von mir – es ist erschütternd. Trinken tun sie so viel wie ihre Altväter vor 150 Jahren. Ja – aber damals hat man auch gegessen dazu, ein Schweinernes, in Sirup gekocht, mit so großen Saubohnen dazwischen und Pfeffer darüber. Und ein steinernes Brot dazu, das man nur einmal im Jahr gebacken hat. Aber jetzt gibt es da so lauter Sandwicherl, und dazu wird getrunken wie in alter Zeit. Und das geht einfach nicht. Die sind ja alle völlig frustriert. Besonders die Weiber. Die wissen ja gar nicht, was sie anfangen sollen mit der Freizeit. Das ganz gewöhnliche Volk, das ist noch in Ordnung. Aber die Intellektuellen, die sind so fad, so grauenhaft.
Schmölzer: Wo würden Sie am liebsten leben?
Artmann: Irgendwo in Nord-West-Europa. Also in der Bretagne, in England, Schottland, Irland, Wales.
Schmölzer: Was schätzen Sie so an diesen nord-west-europäischen Menschen?
Artmann: Sie sind intakter. Die Volksmusik ist völlig intakt. Mich interessieren Volksliedtexte. Mich interessiert keine hohe Literatur, wenn sie nicht wirklich groß ist. Aber Volksliteratur, die kann nicht schlecht sein. Volksmusik ist immer gut. Volkstracht ist immer gut. Die Bauweise eines Volkes ist immer großartig.
1969, aus Hilde Schmölzer: Das böse Wien, Nymphenburger Verlagshandlung, 1973
Der Mond isst Äpfel… sagt H.C. Artmann. Die H.C. Artmann-Sammlung Knupfer
Clemens Dirmhirn: H.C. Artmann und die Romantik. Diplomarbeit 2013
Adi Hirschal, Klaus Reichert, Raoul Schrott und Rosa Pock-Artmann würdigen H.C. Artmann und sein Werk am 6.7.2001 im Lyrik Kabinett München
„Spielt Artmann! Spielt Lyrik!“ (Teil 1)
„Spielt Artmann! Spielt Lyrik!“ (Teil 2)
Michael Horowitz: H.C. Artmann: Bürgerschreck aus Breitensee
Kurier, 31.5.2021
Christian Thanhäuser: Mein Freund H.C. Artmann
OÖNachrichten, 2.6.2021
Christian Schacherreiter: Der Grenzüberschreiter
OÖNachrichten, 12.6.2021
Wolfgang Paterno: Lyriker H. C. Artmann: Nua ka Schmoez
Profil, 5.6.2021
Hedwig Kainberger / Sepp Dreissinger: „H.C. Artmann ist unterschätzt“
Salzburger Nachrichten, 6.6.2021
Peter Pisa: H.C. Artmann, 100: „kauf dir ein tintenfass“
Kurier, 6.6.2021
Edwin Baumgartner: Die Reisen des H.C. Artmann
Wiener Zeitung, 9.6.2021
Edwin Baumgartner: H.C. Artmann: Tänzer auf allen Maskenfesten
Wiener Zeitung, 12.6.2021
Cathrin Kahlweit: Ein Hauch von Party
Süddeutsche Zeitung, 10.6.2021
Elmar Locher: H.C. Artmann. Dichter (1921–2000)
Tageszeitung, 12.6.2021
Bernd Melichar: H.C. Artmann: Ein Herr mit Grandezza, ein Sprachspieler, ein Abenteurer
Kleine Zeitung, 12.6.2021
Peter Rosei: H.C. Artmann: Ich pfeife auf eure Regeln
Die Presse, 12.6.2021
Fabio Staubli: H.C. Artmann wäre heute 100 Jahre alt geworden
Nau, 12.6.2021
Ulf Heise: Hans Carl Artmann: Proteus der Weltliteratur
Freie Presse, 12.6.2021
Thomas Schmid: Zuhause keine drei Bücher, trotzdem Dichter geworden
Die Welt, 12.6.2021
Joachim Leitner: Zum 100. Geburtstag von H. C. Artmann: „nua ka schmoezz ned“
Tiroler Tageszeitung, 11.6.2021
Linda Stift: Pst, der H.C. war da!
Die Presse, 11.6.2021
Florian Baranyi: H.C. Artmanns Lyrik für die Stiefel
ORF, 12.6.2021
Ronald Pohl: Dichter H. C. Artmann: Sprachgenie, Druide und Ethiker
Der Standart, 12.6.2021
Maximilian Mengeringhaus: „a gesagt, b gemacht, c gedacht, d geworden“
Der Tagesspiegel, 14.6.2021
„Recht herzliche Grüße vom Ende der Welt“
wienbibliothek im rathaus, 10.6.2021–10.12.2021
Ausstellungseröffnung „Recht herzliche Grüße vom Ende der Welt!“ in der Wienbibliothek am Rathaus
Lovecraft, save the world! 100 Jahre H.C. Artmann. Ann Cotten, Erwin Einzinger, Monika Rinck, Ferdinand Schmatz und Gerhild Steinbuch Lesungen und Gespräch in der alten schmiede wien am 28.10.2021
Sprachspiele nach H.C. Artmann. Live aus der Alten Schmiede am 29.10.2022. Oskar Aichinger Klavier, Stimme Susanna Heilmayr Barockoboe, Viola, Stimme Burkhard Stangl E-Gitarre, Stimme
Ausschnitte aus dem Dokumentarfilm Die Jagd nach H.C. Artmann von Bernhard Koch, gedreht 1995.
H.C. Artmann 1980 in dem berühmten HUMANIC Werbespot „Papierene Stiefel“.
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