– Zu Max Herrmann-Neißes Gedicht „Himmel erhört mich nicht“ aus Max Herrmann-Neiße: Ich gehe, wie ich kann. –
MAX HERRMANN-NEISSE
Himmel erhört mich nicht
Himmel erhört mich nicht. Hölle erhört mich nicht.
Unschuld starb des Guten wie des Bösen.
Liebe beglückt mich nicht. Feindschaft zerstört mich nicht.
Treue kann mich nicht binden, Verrat nicht lösen.
Ungetan blieb, was ich tat oder ließ.
Morgen wie Abend ist unfruchtbar Wüste.
Nichts erfüllt sich, was mir die Jugend verhieß.
Nichts begegnete mir, was mich von ferne schon grüßte.
Sonnenschein hat mein Geschick nicht heller gemacht.
Wachen ist wie Schlaf. Schlaf ist wie Wachen.
Keine noch so trunkene Nacht
zaubert ins Lied mir ein seliges Lachen.
Mein Leben umflattert mich wie ein Wind,
Menschenschatten jagten in ihm, nicht zu fassen.
Die Augen der Heimathäuser blicken blind.
Welt ist wie ich selbst von Seele verlassen.
Und die letzte Knospe Gefühl ist verscharrt.
Der Straße Fassaden stehn wie Fallen,
hinter denen des Todes Nichts meiner harrt,
mich wieder gleich zu machen keinem und allen.
Unser Gedicht stand zuerst 1924 in dem Gedichtband von Max Herrmann-Neiße Im Stern des Schmerzes. Der verkrüppelt im Jahr 1886 geborene Dichter, der sich den Beinamen Neiße aus Liebe zu seinem schlesischen Heimatort gegeben hat, gehört zur Generation der Expressionisten. Aber in der berühmt gewordenen Anthologie Menschheitsdämmerung (1920) sucht man seinen Namen vergeblich. Am Tage nach dem Reichstagsbrand, am 28. Februar 1933, verließ er, der kein Jude war, Deutschland für immer. Die kommende Katastrophe hat er hellsichtig vorausgeahnt. Es folgten bittere, einsame Jahre der Emigration in England – 1938 wurde er in Deutschland ausgebürgert –, am 8. April 1941 starb er in London an einem Herzversagen. Die Gedichte der Spätzeit sind Zeugen des Heimatlosen und des Ausgestoßenen. Sie haben einen hohen Grad von sprachlicher Intensität und schlichter, dokumentarischer Wahrhaftigkeit.
Aber die Qual seiner Existenz war ihm von Geburt an mitgegeben. Die von ihm geliebte und ihn behütende Mutter nahm sich im März 1917 am Grab des kurz vorher gestorbenen Vaters das Leben. Herrmanns utopische Hoffnungen auf eine proletarische Revolution und eine klassenlose friedliche Gesellschaft erfüllten sich nicht. Ihm blieb nur sein Gedicht. Wir verdanken ihm Verse, die zu den traurigsten, aber manchmal auch zu den bedeutendsten gehören, die wir besitzen. Und doch kennen ihn bisher nur wenige.
Unser Gedicht nimmt seine spätere Tragik, wenn auch auf artistische Weise, schon vorweg. Die langen, einfach gereimten Zeilen mit ihren meist knappen Sätzen haben etwas Einhämmerndes und Abschließendes. Die Summe einer Existenz ist in ihnen zusammengefaßt. Das Resultat ist vernichtend. Das Ich, das sich im Gedicht reflektiert, steht am Rande der Welt, aber auch ohne jeden transzendenten Bezug. Nicht nur der Himmel, auch die Hölle versagt sich ihm. Mit der gestorbenen „Unschuld“ sind Gut und Böse relativ geworden. Sowohl die positiven sozialen Mächte (Liebe, Freundschaft, Treue) wie die negativen (Feindschaft, Verrat) kommen an seine Einsamkeit nicht mehr heran. Die Geschichte seines gelebten Lebens ist nur eine Geschichte von Verlusten, von nicht eingelösten Verheißungen. Welt und Ich entgleiten im schattenhaft Unwirklichen, sehen sich um ihre Substanz, die „Seele“, betrogen. Selbst die Fassaden der Straßen sind in „Fallen“ verwandelt, die alle in den anonymen Tod des Jedermann münden. Das ist weit mehr als eine Metapher. Aber wieviel Qual, wieviel Stärke der Empfindung mußte in einem Dichter leben, der von sich glaubte, daß auch die „letzte Knospe Gefühl“ bereits verscharrt sei. Er mauert sich im Gedicht gleichsam ein. Nur hierher konnte er noch sein verlorenes Ich, seine verlorenen Paradiese, seine Träume von einst herüberretten. Hier spricht er seinen „ Monolog auf fremder Bühne“, hier besitzt er, was ihm als einziges geblieben ist, sein „Lied“. Er glorifiziert sein Dichtertum in keiner Weise. Denn der Dichter – so lesen wir in anderen Strophen – „gestaltet die Welt nach seinem Wahne“.
Diese aus Schmerz geborene Lyrik, in der sich das extrem Subjektive allgemeingültig objektiviert, sollten wir wieder aufmerksam anhören. Sie ist in ihrer Thematik sehr zeitnah und doch auch wieder unzeitgemäß inmitten einer lyrischen Produktion, die sich in die mittelmäßige Alltäglichkeit und in ihre technisch perfekte Reproduktion versponnen hat, aber dabei des Schmerzes über die verlorene Welt und des in ihr verlorenen Ichs meist nicht mehr fähig ist.
Benno von Wiese, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfter Band, Insel Verlag, 1980
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