– Zu Theodor Kramers Gedicht „Wann immer ein Mann trifft auf einen…“ aus Theodor Kramer: Gesammelte Gedichte in 3 Bänden. Band I. –
THEODOR KRAMER
Wann immer ein Mann trifft auf einen…
Wann immer ein Mann trifft auf einen,
der im Winkel sitzt, stumm und allein,
so schuldet, so sollte ich meinen,
er ihm ein Glas Bier oder Wein.
Bis die Augen nicht unstet mehr wandern
und sich aufhellt das bittre Gesicht;
dies schuldet ein Mann einem andern,
aber zuhören muß er ihm nicht.
Als ich dies Gedicht des österreichischen Lyrikers Theodor Kramer zum ersten Mal las, musste ich lachen über die unvermutete Wendung, mit der es endet. Die letzte Zeile wirkt auf mich immer noch als durchaus komische Pointe. Dass eine ganz andere Lesart möglich ist, erfuhr ich erst aus einer kurzen Korrespondenz mit dem Nachlassverwalter des 1958 Verstorbenen, der mir eine Aufnahme des Gedichts in eine Anthologie mit komischer Literatur wortreich verweigerte.
Hofrat Erwin Chvojka, Magister der Philosophie, antwortete befremdet auf mein Ansinnen: Ihm erscheine das Gedicht eher bitter als komisch. Und als die Abbildung einer weitverbreiteten Erscheinung: wie der Mangel an tiefergehenden menschlichen Beziehungen verdeckt wird durch oberflächliche Versuche, das eigene schlechte Gewissen zu beruhigen. Hofrat Chvojka schloss mit der Grundsatzfrage: Was sei daran – oder etwa am Ausdruck oder der Form – komisch?
Keine ganz einfache Frage, die ich nun ungefähr so beantwortete: Ich sähe in diesem Gedicht ebenfalls die Abbildung einer weitverbreiteten Erscheinung, doch schiene mir die Furcht vor tiefergehenden menschlichen Beziehungen insofern gerechtfertigt, als zumindest in Wirtshäusern Gespräche durchaus an der Oberfläche zu bleiben hätten. Wie die Erfahrung lehrt, sei aber eben das gerade mit Männern, die dort im Winkel säßen, stumm und allein, nicht immer möglich. Denn schon ein Glas Bier oder Wein, welches ein Mann einem andern ausgebe, könne den Gönner in den mäandernden Redeflüssen des Begünstigten ertrinken lassen. Jedenfalls könnten sie in Dumpf- und Sumpfgebiete führen, die weit jenseits jeder Bier- oder Wein-Bringschuld lägen, die Kramer ja wiederholt anerkenne. Dieser nüchterne Blick für die Folgen einer Wohltat scheine mir komikträchtig, da er geradezu zwingend zu dem Schluss führe:
aber zuhören muß er ihm nicht.
Das sei für mich entlastend – und was habe Komik Besseres zu bieten als eben dies: Das Aufblitzen einer jäh erhellenden Erkenntnis und das Rumpeln des Steins, der uns daraufhin vom überladenen Herzen oder aus dem verstopften Gehirn fiele?
Darüber hinaus bilde auch der Aufbau des Gedichts eine geradezu perfekte Rampe. Das erste Quartett schildert verdächtig brav und bedächtig bieder die alltägliche Ausgangssituation. Ihm folgten zwei Zeilen von nahezu Rilke’schem Panther-Pathos, mit unsteten Augen und bittrem Gesicht, samt einer litaneihaften Wiederholung der grundsätzlichen Schuldanerkenntnis. Damit ist die optimale Fallhöhe geschaffen für das, was ich als abgrundtief komische Pointe empfinde:
aber zuhören muß er ihm nicht!
Höflich hat mir damals der Herr Hofrat zugehört. Leider, teilte er mir abschließend mit, könne er meiner Argumentation beim besten Willen nicht folgen. Selbstverständlich liege die Pointe in der letzten Zeile. Aber nur, wenn man diese Zeile gleichsam „gegen den Strich“ lese und mit falscher, vom Dichter nicht beabsichtigter Intonierung, könnte man vielleicht auf die Idee kommen, der Dichter hätte unter Umständen so etwas wie einen tragikomischen Schluss beabsichtigen wollen. Dass er dies nicht getan habe, gehe schon aus der Erstveröffentlichung in einem Band mit dem Titel Lob der Verzweiflung hervor. Eine Abdruckgenehmigung bekam ich jedenfalls nicht.
Da der Hofrat, im Gegensatz zu mir, bestens vertraut schien mit den zugrunde liegenden Absichten der ungefähr 12.000 Gedichte, die Kramer zwischen 1925 und 1958 geschrieben haben soll, und da er die den Zeitumständen geschuldete Misserfolgsgeschichte des jüdischen Lyrikers als persönlicher Bekannter aus erster Hand kennen musste, verzichtete ich auf Widerspruch. Und dies, obschon sich aus der zumindest zweideutigen Formulierung „Lob der Verzweiflung“ neue Argumente hätten ziehen lassen, etwa für das beliebte Vorurteil, dem zufolge die meisten Humoristen im Grunde Melancholiker seien und Zyniker bloß verkappte Moralisten.
So ist und bleibt Kramers Gedicht immerhin ein schönes Beispiel für eine Kunst, die tragisch oder komisch oder gar tragikomisch zu verstehen oder misszuverstehen ist. Je nachdem, welchen Standpunkt wir einnehmen: den des einsamen Einzuladenden, jenen des zur Einladung Verpflichteten oder den neutralen eines lebenserfahrenen Beobachters. In dieser Unbestimmbarkeit, die im Effekt einer Kippfigur gleicht, liegt für mich eine der erstaunlichen Qualitäten dieses Gedichts.
Bernd Eilert, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierunddreißigster Band, Insel Verlag, 2011
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