VIER AUGEN
Ich sah es untergehn in weißen Feuern.
Ein anderer in mir,
Der schärfer sieht als ich, sahs auch
Und sagt: Ich hab es kommen sehn.
Dieses Buch, das unterschiedliche Textsorten vereint, unternimmt den Versuch, Lebenssituationen dort zu rekonstruieren, wo sie im besonderen durchlässig für geschichtliche, literarische und kulturpolitische Konstellationen gewesen sind. Angesichts der historischen Veränderungen, die sich in Mittel- und Osteuropa vollzogen haben, können die Texte auch als eine Bilanzierung vorausgegangenen Literaturlebens in einem Staat gelesen werden, der untergegangen ist.
Um die eigene Biografie transparent zu machen, werden zugleich – etwa in den Serien Märchen, Sagen und Legenden aus der Deutschen Demokratischen Republik, Fundbüro und Kleine Feder – Kontexte dadurch hergestellt, daß normiertes Bewußtsein zitiert wird.
Die Repressalien, welche ungewollt zum Aufenthalt in der Fremde geführt haben, lassen aus dem Textkörper die Schwierigkeiten erstehen, die einem Menschen erwachsen, der zwei Welten erfahren hat. Das Textflöz ist somit beides: Erfahrungsspeicher einer Existenz im realen Sozialismus und Dokument notwendig veranlaßter Erinnerungsarbeit. Hier soll freilich nicht abgerechnet, sondern vielmehr kenntlich gemacht werden, was den Autor in den Jahren zwischen 1954 und 1992 betroffen hat.
Zu einer solchen Einfahrt in die ,nutzbaren Schichten‘ wird der Leser eingeladen.
Bernd Jentzsch, April 1993, Vorwort
da es im Zeichen von Wenden dringlich ist, deutsche Geschichte aufzuarbeiten, meldet sich Bernd Jentzsch mit Texten zu Wort, die ,gerechte Bilder‘ hervorrufen wollen.
Der Autor rekonstruiert sein Leben zwischen 1954 und 1992, indem er erfahrene Lebenssituationen, erhalten in Tagebuchnotizen, verarbeitete Lebenskonstellationen, gespeichert in belletristischen Versuchen, essayistische Bemühungen um Literatur als gesteigertes Leben, dokumentiert in Aufsätzen, Rezensionen und Herausgaben, ins Verhältnis setzt zu landläufigen Ideologemen und zu heute gewonnenen Einsichten.
Gesuchte Nähe zum Prozeß, durch aufgenommene Originaldokumente, und erwünschte Distanz zu diesem, durch aufwendige Kommentare und Anmerkungen, erlauben dem Leser, sich selbst ins Bild zu setzen. Wer künftig über DDR-Literatur und Kulturpolitik, über Schwierigkeiten der Ausgrenzung politisch mißliebiger Autoren, über Heimat und Heimatverlust deutscher Schriftsteller urteilen will, kann mit diesem Buch argumentieren, das geradezu Weiterungen in folgenden Arbeiten verlangt, die sich in Vorbereitung befinden.
Connewitzer Verlagsbuchhandlung Peter Hinke, Klappentext, 1993
An seinem siebzehnten Geburtstag notiert der angehende Dichter, daß ihm, außer den Wollsocken und dem ersehnten Cordsamtjackett, „das Klopstock-Buch doch den größten Eindruck gemacht“ habe:
Ich möchte so schreiben können wie Klopstock und seine Art zu denken lernen. Er redet nicht nur stark – er redet stark dagegen.
Fast zwanzig Jahre danach, am Silvesterabend 1976 und nun nicht mehr in Plauen/Sachsen, sondern im Kanton Graubünden in der Schweiz, zieht Bernd Jentzsch Zwischenbilanz:
Das Vaterland hat mir den Kopf verdreht, weit nach hinten. Es möge nützen!
Dazu, wie es vom Dagegensein zum Kopf verdrehen durch das sozialistisch-deutsche Vaterland kam, und auch, wozu all dies womöglich nütze war, hat Jentzsch ein Materialkonvolut vorgelegt. Er selbst steht eben im Begriff, in Leipzig mit dem ehemaligen Literaturinstitut Johannes R. Becher auch eine Literaturprofessur zu übernehmen – Flöze ist gewissermaßen das Buch zur Heimkehr.
Nach der Ausbürgerung Biermanns hatte der Honecker-Staat auch den Lyriker, Nachdichter und Herausgeber der zu Recht hochgerühmten Reihe Poesiealbum, die in der DDR bis 1976 einer der wenigen Publikationsorte für internationale und nationale moderne Poesie war, aus seinen Grenzen ausgesperrt. Jentzsch hatte sich die Freiheit genommen, dem Staatsratsvorsitzenden in einem Brief entschieden, seine Meinung zum „Fall Biermann“ zu sagen. Auch dieses Zeugnis des Aufbegehrens gegen diktatorisches Staatsgebaren spezifisch deutscher Tradition findet sich unter den „Schriften und Archiven“. In akribischer Zusammenstellung wechselnder Schreibformen macht diese Sammlung deutlich, wie Jentzsch bereits seit Studententagen „dagegen“ dachte und schrieb, wie er sich in seinen Eigenschaften als Lektor und Herausgeber mit Verlagsoberen herumschlug, sich mit Kollegen der „Sächsischen Dichterschule“ verbündete, andere wiederum argwöhnisch oder kritisch-ironisch beobachtete, das Tagesgeschehen satirisch wahrnahm oder mit bitterer Resignation kommentierte wie etwa den 21. August 1968. Material genug also für ein spannendes Zeugnis der Literatur- und Zeitgeschichte und darin einer Schriftstellerbiographie.
Wenn es dennoch ziemlich steril zugeht, so liegt dies vor allem an der buchhalterischen Penibilität, mit der Jentzsch seine Rolle in den wechselnden Zeiten dokumentiert: Da kommt kaum ein Gedicht ohne Kommentar aus, kein Kommentar ohne einen umfangreichen Anmerkungsapparat. Natürlich ist es ganz drollig zu wissen, wer die „Lerche von Eibenstock“, eine Art mundartlich-realsozialistischer Friederike Kempner, im wirklichen Leben war („O Arzgebirg, wie bist du schie! / Wenn de Atombomb fällt, bist du hie!“). Auch ist es im Lichte der Stasi-Diskussion nicht ohne Bedeutung, eine kleine Einführung in Werk und Wirken von „Interpaule“ (Paul Wiens) zu erhalten. Doch ist es symptomatisch, wenn Jentzsch sein Gruppenportrait „Berliner Dichtergarten“ mit Erläuterungen zu einer Warzenoperation von Ehefrau Birgit versehen muß oder dem Leser bedeutet, die Formulierung „so selten wie verzinkte Dachnägel“ enthalte eine „Anspielung auf Versorgungsengpässe in der DDR“. Statt einer Bildersammlung aus zerrissenen Zeiten präsentiert er so die wissenschaftlich letztgültige, gleichsam wasser- und strahlendichte Fassung seines sehr gemischten Œuvres – eine akademische Installation. Die Texte reichen bis ins Jahr 1992, doch „weit nach hinten verdreht“ scheint der Kopf, dem sie entstammen und der nun meint, sie alle bedürften der umfassenden Sicherung. Selbst der Buchtitel wird, in den Worten der Sprachforscher Grimm, erläutert. Da ist von „hangenden und liegenden, sich stürzenden und wieder aufrichtenden, unartigen und schädlichen flötzen“ die Rede – von Bewegung also. An der aber gebricht es dieser Sammlung am meisten.
– Über Bernd Jentzsch. –
Bernd Jentzsch (geboren 1940 in Plauen/Vogtland) hat sein Archiv geöffnet. Schriften aus beinahe 40 Jahren dokumentieren ein Leben für und mit der Literatur und illustrieren, wie Kultur für Politik sorgte oder wie Politik Kultur entsorgte. Es ist der Versuch, mittels verschiedenen Textmaterials eine Bilanz aufzustellen, ohne Abrechnung im Sinn zu haben. Jentzsch gewährt „Einfahrt in nutzbare Schichten“ des Erinnerns und lädt die Leser ein, daran teilzuhaben.
Fast am Ende der Textsammlung findet sich ein „Verspäteter Brief an Oskar Davico“, ein Brief an den 1989 gestorbenen serbischen Dichter geschrieben im April 1992 angesichts des jugoslawischen Krieges. Und ich, der Leser, erinnere mich: Am 14. April 1975, einem Montag, sah und hörte ich Davico und Jentzsch im Studiotheater des Dresdner Kulturpalastes. Sie lasen dort aus Anlaß des 30. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus „gegen Faschismus und Imperialismus in der Welt“, wie es damals in einer Meldung des Zentralorgans hieß. Noch nie hatte ich so namhafte Dichter zusammen auf einer Bühne gesehen: Michail Dudin, Eugène Guillevic, Pentti Saaritsa, Beat Brechbühl, Volker Braun, Franz Fühmann und andere. Eine geballte Ladung poetischer Kraft hing im Saal, subversiv und doch oder gerade deshalb ermutigend, explosiv und doch gewaltlos. (Seither trägt die Seite 47 in meinem Museum der modernen Poesie eingerichtet von H.M. Enzensberger, Sonderreihe dtv, 3. Auflage 1969, den handschriftlichen Namenszug Davicos.) Ein Jahr nach den Internationalen Dichterlesungen in Berlin, Leipzig und Dresden, erschienen 1976 in der legendären Reihe Poesiealbum, die Bernd Jentzsch begründet und herausgegeben hatte, als 111. Heft Gedichte von Oskar Davico. Schon im nächsten Heft des Poesiealbums war der Herausgebername getilgt. Bernd Jentzsch hatte inzwischen von der Schweiz aus gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR protestiert und wurde dadurch selbst zu einem Ausgebürgerten.
Darauf ist dieses Buch aus: Immer wieder werden beim Lesen der Flöze neue Schichten eigener Erinnerungen freigesetzt, finden sich Berührungspunkte, an denen sich zu reiben lohnt.
Bernd Jentzsch hat sehr verschiedene Formen literarischer Äußerungen so miteinander komponiert, daß sie untereinander zu korrespondieren beginnen und sich Zusammenhänge erschließen; wo nicht, hilft er mit zum Teil umfangreichen Kommentaren und Anmerkungen nach. Zu nennen sind Gedichte, eigene sowie Nachdichtungen, Kommentare zur Entstehung wie auch Verhinderung literarischer Arbeiten, Briefe u.a. an Mickel, Enzensberger, Kirsten, Brasch, wie auch der berühmt gewordene Offene Brief an Honecker vom 21.11.1976, hinzu kommen Tagebucheintragungen, auf den Punkt gebrachte Notizen, Anekdoten, Träume, Porträts sowie drei kleine Textreihen mit den wiederkehrenden Titeln „Märchen, Sagen und Legenden aus der Deutschen Demokratischen Republik“ (2 mal), „Fundbüro“ (3 mal) und „Kleine Feder“ (5 mal). (Um den zuletzt genannten Rubriken den Sinn einer wirklichen Reihung zu geben, hätten mehr von ihnen aufgenommen werden können.)
Teil IV des Buches umfaßt jene Jahre (1976–1986), die sich Bernd Jentzsch in der Schweiz aufhielt. Hier wird in großer Eindringlichkeit Ausmaß und Auswirkung plötzlich eintretender Verluste deutlich und zugleich die Erschütterung eines Menschen, der von einer Seite der Welt auf die andere geschleudert wird. Tagebuchblätter skizzieren die Tage vor und nach dem Honecker-Brief. Der Eintrag vom 22. November 1976 beschreibt die Szene, wie Jentzsch den Brief im Berner Hauptpostamt aufgibt:
Zehnmal ist der Stempel auf die Marken niedergesaust. Dieses Geräusch wird mir unauslöschlich in Erinnerung bleiben.
Es folgen Gedichte aus dem Band Quartiermachen, die trotz ihres beinahe leisen Tonfalls mit zu den bittersten Anklagen gehören, die gegen unmenschliche Kälte und menschenverachtende Ignoranz eines politischen Systems geschrieben worden sind. Ohne Beispiel bleiben das Gedicht „Briefe schreiben, Briefe lesen“ und der neugeschriebene Kommentar, der im bekannt gewordenen Aktendeutsch von den Todesumständen der Mutter berichtet. Wem bei der Lektüre dieses zweiseitigen Textes nicht der Atem stockt, hat entweder keine Mutter gehabt oder Schuld auf sich gezogen. (Hier vermißt der aufmerksame Leser des beigefügten „Personaldokumentes“ den dort erwähnten zweiten Offenen Brief an Honecker.) Erst mit dem „Zürcher Journal“ (1983) und dem vierzeiligen Gedicht „Poetik“ (1984) deutet sich an, daß Jentzsch mit der gewonnenen Distanz zur DDR und zu den späteren 70er Jahren sich sprachlich wiederfindet.
Gelobt sei der Schock vom Herbst 1976! Er hat mich aufgerissen. Jetzt betrachte ich die Welt durch meine Bruchstellen. Die Wunden verheilen langsam, aber die Narben müssen sichtbar bleiben. Ich sehe mit anderen Augen, höre mit anderen Ohren. Auch meine Sprache beginnt sich zu verändern. Ich bin nicht mehr derselbe, ich bin mir deutlicher geworden. (Seite 227)
Im fünften und letzten Teil wechselt der Text schließlich aus den 80ern hinüber in die 90er Jahre. Mit dem Untergang der DDR stehen nur drei Tagebucheinträge in einem unmittelbaren Zusammenhang: Die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze, Honeckers Rücktritt und der Vorabend der „staatlichen Wiedervereinigung“. Diese Sparsamkeit kann bedauert werden. Wenn aber einem wie Jentzsch jener Staat bereits 14 Jahre vorher abhanden gekommen ist, was soll er dann noch lange darüber räsonieren?
Was unbedingt der abschließenden Erwähnung bedarf, ist der von Bernd Jentzsch akribisch aufbereitete Anhang des Buches: „Noten und Nachweise“. Auf den knapp 80 Seiten zeigt sich, daß der gründlichste Herausgeber dieses Autors der Autor selbst ist, der sich im Anmerkungsteil in der Dritten Person auftreten läßt; z.B.: „Jentzsch besuchte Victor wiederholt“ oder „Mickel hat Jentzschs Wunsch nicht entsprochen“. Dem fünfzehnzeiligen Gedicht „Rose Ventilator“ folgt ein zweiseitiger Kommentar, den im Anhang sechs Seiten Anmerkungen kommentieren; ein Logismus von ganz eigener Art.
Informationen aus gut unterrichteten Kreisen bestätigen inzwischen die Vermutung, daß das in Flöze vorliegende Material erst der Beginn eines mehrbändigen Werkes ist. Bleibt der Wunsch, dem Gründungsdirektor des Deutschen Literaturinstituts der Universität Leipzig und Professor für Poetik Bernd Jentzsch mögen die abbauwürdigen Erinnerungsschichten nicht unerträglich lange auf Halde liegen, damit seine Studenten und Leser bald daran teilhaben können.
Michael Wüstefeld, Ostragehege, Heft 1, 1994
GELBER SPRUCH
für Bernd Jentzsch
Wie leicht sie dahingehn,
während ich aufschrei und schwitze,
den Müggelsee dunsten lasse,
aufwalle gegen Gewißheit.
Wie sie aber gehn, und sagen schön
den Satz, den ich eben
zur Welle gegossen vermutet
und aufgeschäumt habe, verwirrt.
Johannes, großer Harmoniumtreter
und seine Freunde,
das erste Passierscheinabkommen
und Abendsonne, unfehlbar Gedichte.
Uwe Kolbe
„Die Jahrzehnte. Das deutsche Gedicht in der 2. Hälfte des XX. Jahrhunderts“. Ein Gespräch zwischen Bernd Jentzsch, Wulf Kirsten und Karl Mickel 1993 in der Literaturwerkstatt Berlin.
Die Neugründung des Literaturinstituts war eine Steißgeburt. Bernd Jentzsch im Gespräch mit André Hille und „eine Reise durch ein bewegtes Leben“.
Bernd Heimberger: Initiator, Inspirator, Integrator
Berliner LeseZeichen, 3/2000
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