Bernd Jentzsch (Hrsg.): Das Wort Mensch

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Bernd Jentzsch (Hrsg.): Das Wort Mensch

Jentzsch (Hrsg.)-Das Wort Mensch

DEINE LAST

Und hast du dein Päckchen zu tragen
In den Keller und astest und schichtest das hin
Und da paßt einer auf ob die Kohlen auch stimmen

Als wäre jetzt schon Ultimo
Dann ist dein Leben schwarz
wie das Gesicht eines Kohlenträgers
und naß von Schweiß

Und du rennst und pustest kraus, wo andere stehen:
Ja die haben es leichter
In den Händen ein Schlüsselbund bloß

Doch schiebst du den Wagen auf den Kohlenplatz des Kellers
Und hängst das Schloß vor
Und wäschst dich und spülst dir den Dreck ab
Von dem du die Schnauze voll hast
Strahlst du wieder um die Augen
Heller und aufgeweckter

Und manchmal nimmst du dein Kind auf den Arm
Als wolltest du es verkohlen
Wie es deine Arbeit mit dir ja auch macht
Ach ja dann kannst du lachen
Weil das auch so ein Päckchen ist

Uwe Greßmann

 

 

 

Anmerkungen zu einer Umfrage

I
Im Zeitraum Mai 1967/September 1969 wurden annähernd fünfhundert deutschsprachige Autoren der Jahrgänge 1680 bis 1946 nach ihren Ansichten über Größe und Elend des Menschen befragt. Auf ihre Antworten stützt sich dieser Bericht.

II
Den Beteiligten lagen zwölf Fragen vor: 1) Wie sicher fühlen Sie sich in der umschatteten Laubhütte angesichts der gegen Demonstranten schwirrenden Bleikugeln? 2) Welchem Klügling gäben Sie im Zorn zuerst Fersengeld? 3) Wonach fragen Sie am häufigsten in den zu führenden Kadergesprächen? 4) Weshalb hegen Sie besonderes Interesse für den Menschen am Arbeitsplatz? 5) Wie erklären Sie sich, daß seit Anbeginn der Annachronik die mit Bitterkeiten umfangenen Frauen im innern Kern so süß sind? 6) Warum ruft Ihnen die Erinnerung noch immer die Gewaltsamkeiten des Kriegsberichts ins Gedächtnis? 7) Zu welchen Phantasien befähigt Sie einige Kenntnis der lebenserhaltenden Organbank? 8) Wo liegen die Orte Ihrer nachhaltigsten Reiseerfahrungen? 9) Wieso können Sie aus der schwankenden Geisterbahn nicht nach den Schwertern des Himmels greifen? 10) Welche unter allerhand Todesursachen halten Sie für die verbreitetste? 11) Getragen von welcher Flut gelangten Sie zum Zeitpunkt der Weltneuwahl aus dem Blutsumpf des verfaulenden alten Staats? 12) Wovon wird nach Ihrer Meinung die Wirksamkeit des gesellschaftlichen Stoffwechsels bestimmt?

III
Anhand von privaten und offiziellen, geradlinigen und listigen, lustigen und traurigen, langen und kurzen Antworten wird die Gattung nahezu hinreichend charakterisiert. Die Methode, nach der die Zuschriften angeordnet worden sind, ist die der Zu- und Widerspruch fördernden Diskussion.

IV
Aus den Antworten läßt sich der Prozeß menschlicher Selbstverwirklichung seit den Tagen der frühen, die Vernunft von unbewiesenen theologischen und philosophischen Lehrsätzen befreienden Aufklärung bis zur Gegenwart, für die eine zunehmende Geschichtsmächtigkeit der Massen kennzeichnend ist, ungefähr ablesen. Aufstieg und historisches Versagen der Bourgeoisie auf der einen, Kampf und Sieg des Proletariats auf der anderen Seite: das sind wichtige Auskünfte der Umfrage. Außerdem werden beschämend gut beobachtete Nebenauskünfte über gewisse geringfügige, jedoch folgenschwere Bräuche der Gattung vermittelt.

V
Unselig Mittelding von Engeln und von Vieh, der schöne strahlende Mensch, dein Name ist nötig auf den Dekreten, deine Stimme erst leiht den Gesetzen Kraft: Drei mit unterschiedlichen Einsichten in gesellschaftliche Zusammenhänge ausgestattete Dichter deuten die Generallinie allmählicher Menschwerdung an, die niemanden zu Selbstgefälligkeit verleiten möge, solange die Teller hart hingestellt werden, daß die Suppe überschwappt.

VI
Oft ist von Leuten, wenn sie wahrscheinliche Nachrichten abschließender Betrachtung unterziehen, der Satz Vielleicht können Sie sich jetzt ein Bild von diesem Menschen machen zu hören. Dieser Mensch: Nicht mit zwölf, nicht mit allen denkbaren Fragen ins sogenannte Menschen-Bild zu setzen, versagt sich jeder, auch der beflissensten Katalogisierung, und das stimmt hoffnungsvoll.

VII
Dank der gesellschaftlichen Tendenz kann das Ergebnis der Umfrage teilweise, am besten durch die Aneignung neuer Gewohnheiten, widerlegt werden.

Bernd Jentzsch, September 1969, Vorwort

 

Die Sammlung vermittelt

in 12 Zyklen ein umfassendes Bild vom Menschen in deutschsprachigen Gedichten aus drei Jahrhunderten. Sie versucht, den gesamten Gefühlsreichtum des Menschen zu erfassen. Es werden Gedichte aus Erfolgen und Niederlagen in Betracht gezogen. Neben Gedichten der Trauer, der Verzweiflung, der Entsagung, des Todes stehen Verse des Kampfes, des Sieges, des Heldentums ebenso selbstverständlich wie solche der überwundenen Entfremdung, der Freude und der Zuversicht. Die Auswahl und Anordnung für die einzelnen Zyklen erfolgte nach thematisch-motivischen Aspekten, unter Verzicht also auf chronologische Folge. Der Vorteil der angewandten Verfahrensweise liegt ohne Zweifel in der unmittelbaren Vergleichsmöglichkeit: im Aufspüren paralleler Akzente von Vergangenheit und Gegenwart bzw. bei der Konfrontierung des Alten mit dem Neuen im Sichtbarwerden grundlegender Unterschiede.
Der Herausgeber hat es verstanden, das Verhältnis des Menschen zur natürlichen wie zur gesellschaftlichen Umwelt in poetisch anspruchsvollen Leistungen widerzuspiegeln. Dieser Band fügt sich organisch in die Reihe unserer Anthologien, die mit Sieben Rosen hat der Strauch begonnen wurde.

Mitteldeutscher Verlag, Klappentext, 1972

 

 

„Die Jahrzehnte. Das deutsche Gedicht in der 2. Hälfte des XX. Jahrhunderts“. Ein Gespräch zwischen Bernd Jentzsch, Wulf Kirsten und Karl Mickel 1993 in der Literaturwerkstatt Berlin.

 

Zum 60. Geburtstag des Herausgebers:

Bernd Heimberger: Initiator, Inspirator, Integrator
Berliner LeseZeichen, 3/2000

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