– Zu Lars Gustafssons Gedicht „Entlegener Ort“ aus dem Band Lars Gustafsson: Die Maschinen. –
LARS GUSTAFSSON
Entlegener Ort
Gott oder nicht Gott,
ein Sinn oder keiner,
aus der Entfernung schrumpfen die Fragen zu Punkten,
aus der Entfernung gilt weder Klugheit noch Angst:
frei oder nicht frei, es handelt in mir,
etwas handelt und sucht etwas heim in mir.
Wenn du still bist, hörst du das Wasser rauschen.
Von einer Dunkelheit handelt es, darum handelt es sich,
nah bei der richtigen Dunkelheit zu leben,
es ist wie das Meer unter den Eiskalotten, unsichtbar,
nichts als Wassergeräusch, langsame Bewegung,
entferntes Rauschen, Dünung jahrhundertlang,
und all dein langes Denken und Entscheiden
läßt Spuren, Fährten, die das Schneegestöber löscht.
(Übersetzung Hans Magnus Enzensberger)
– Der Stockholmer Kritiker Bernt Rosengren interpretierte in der literarischen Zeitschrift Lyrikvännen das Gedicht „Entlegener Ort“ aus der 1962 erschienenen Gedichtsammlung Die Ballonfahrer von Lars Gustafsson. Der Herausgeber der Zeitschrift bat den Autor, damals Redakteur von Bonniers Litterära Magasin, die Analyse zu kommentieren. –
Drei Sätze, eingeleitet mit Großbuchstaben, abgeschlossen mit einem Punkt, exakt mit Kommata versehen.
Drei Sätze: einer lang, einer kurz, einer lang. Der kurze Satz hängt in der Mitte wie in einer kardanischen Aufhängung. Und so muß er konstruiert sein, denn der nächste Satz hat den Rhythmus der Dünung.
Von einem entlegenen Ort kommt Lars Gustafsson mit einem Bericht, der zunächst sehr pessimistisch wirken mag: nichts bleibt von all unserem Denken und Entscheiden, dennoch hat er eine wunderlich tröstende Wirkung. Beim Lesen dieses Gedichts handelt etwas in mir, und etwas sucht etwas in mir heim.
An diesem abgelegenen Ort vollziehen sich Vorgänge im Innern, unbekannte Bewegungen, unbekannte Begegnungen. Tief im Inneren des Menschen, und irgendwie tritt dies als eine Ahnung von etwas Ewigem und gesichert Unveränderlichem hervor. Eine Ahnung eines Zusammenhangs, obwohl keine Fragen gestellt werden. Ja, so ist das Empfinden an jenem Ort, wo du, wenn du still bist, das Wasser rauschen hören kannst.
Wasserrauschen, Wasser in Bewegung: Wasser und Wellen in ewigen Winden.
Wo liegt dieser abgelegene Ort? Leider kann ich keine Lagebeschreibung geben; doch wird der Ort nach einer Reise ins Innere erreicht, soviel wage ich zu sagen, und dieses Gedicht darf in glücklichen Augenblicken als Fahrkarte dienen, leider hin und zurück, aber dafür kann es mehrmals benutzt werden.
Ein Ort, an dem Abstand und Nähe herrschen. Abstand von den tausend ängstlichen Fragen nach Gott, nach dem Sinn, nach der Freiheit usw.: dem fieberhaften Kampf um Klugheit. Nähe: zu der richtigen Dunkelheit.
Dunkelheit, die uns erwartet, unser Tod, wenn wir in die Ewigkeit eingehen, wie man zu sagen pflegt. Aber die Ewigkeit ist jede Zeit, jede Zeit vor uns und jede Zeit hinter uns, oder sie ist keine: wir haben eine Zeit in der Zeit gelebt und kehren in keine Zeit zurück.
Unser rätselhafter Tod. Er kann uns manchmal mitten in der Nacht wecken und uns beinahe den Verstand rauben, wenn wir glauben, daß er plötzlich naht, daß die Zeit zu Ende ist.
Eines glauben wohl viele von uns: wir wissen ganz sicher, daß nichts von uns bleiben wird. Wir sind zu klein, besonders in der Zeit: unser Leben ist nicht einmal von eines Sandkorns Größe inmitten aller Jahrmillionen um Jahrmillionen, die alle Zeit und Teil von keinem Teil sind.
Unsere Situation mag verzweifelt scheinen. Aber es gibt Trost: in der Nähe der richtigen Dunkelheit.
Durch den Bericht von dem entlegenen Ort und durch den Besuch dort haben wir die Möglichkeit, eine Einsicht zu gewinnen (wenigstens für eine Zeit); ein wirkliches Gefühl, nicht nur Wissen von unserer Kleinheit in Zeit und Universum. Und in diesem Gefühl der Kleinheit und Bedeutungslosigkeit liegen Stärke und Mut.
In der Nähe der richtigen Dunkelheit wird das Leben ein Geschenk, „und es gibt nichts zu fürchten, überhaupt nichts, jetzt und allezeit und nie“. (Das Zitat stammt aus einem anderen Gedicht desselben Dichters.)
Bei großer Dichtung wie bei großer Musik: sie wirkt in uns, schenkt uns Erlebnisse und läßt uns fühlen, reicher an Erfahrung zu sein. Aber wir können einander nicht genau Art und Stärke dieser Erlebnisse und neuen Erfahrungen vermitteln. Trotzdem können und müssen wir es versuchen, daher auch Gedichtanalysen.
Wir nähern uns einem Gedicht von so vielen verschiedenen Ausgangspunkten, und wir sprechen und denken in so vielen verschiedenen Sprachen; ich glaube aber, daß dieses Gedicht Möglichkeiten besitzt, in viele von uns tief einzudringen, zu handeln und etwas in uns zu erreichen. Und wenn wir still sind, können wir das Rauschen des Wassers hören.
Sicherlich ist mein Deutungsversuch ziemlich oberflächlich, sicher können andere Leser besser ausgerüstet viel tiefer in das Gedicht eindringen, und das Gedicht in sie. Das erschreckt mich nicht. Ein Gedicht, das ein Dichter aus der Hand gegeben hat, gehört nicht irgendwelchen besonders Privilegierten, es gehört dem, der es liest. Bald werden alle unsere Gedanken und Entscheidungen wie Spuren im Schneegestöber verschwinden, und die Landschaft wird sich deswegen kaum verändern.
Aber wir haben den Versuch unternommen, einander zu erreichen, auf verschiedene Weise, mehrere Male; und etwas hat in uns gehandelt und manchmal etwas in uns erreicht. Wir sind gewandert und haben weite Reisen ins Innere unternommen, jeder von uns.
Jetzt kommt die jahrhundertealte Dünung. Fernes Wasserrauschen, doch niemand lauscht.
Doch, jemand lauscht: an einem entlegenen Ort.
Bernt Rosengren, Lyrikvännen, Heft 9, 1962
Nach meiner Vorstellung ist Dichtung die Kunst, sich verständlich zu machen. Verständlich in dem innersten eigenen Bereich, der so persönlich ist, daß er in einer paradoxen Weise anonym und für andere anwendbar wird. Daher scheint die Dichtung mehr als andere Formen literarischen Schaffens abschreckend schwer. Das muß man verdeutlichen.
Es gibt Orte im Inneren, an denen sich das Wachsen vollzieht oder zu vollziehen scheint und die Bilder zerrinnen und sich verändern. Dies alles ist sehr unzugänglich, sowohl für die Logik wie für unseren eigenen Willen, es sind Verwandlungen, Stadien und Ergebnisse, wo das scheinbar Unbedeutende wichtig wird und das, was wir für wichtig hielten, in Wirklichkeit nichts bedeutet. Für mich ist Dichtung in hohem Grad ein Instrument, die Formen dieses Wachsens herauszuholen, so daß es mir möglich ist, mich selbst zu erkennen, und anderen, sich selbst in mir zu erkennen.
Dies glückt mir in dem Maß, wie ich mich verständlich machen kann, und für das Gefühl, daß es geglückt ist, bin ich bereit, viel zu opfern. Bernt Rosengrens Kommentar gibt mir etwas von diesem Gefühl.
Das Gedicht handelt von einem Trost, und da fast jeder Trost vergeblich und flüchtig ist, werden die letzten Tröstungen schwer. Man könnte sagen, daß es sich um ein Minimum handelt, um einen Zustand, in den alle aufgeregten Beschäftigungen der Seele beiseite gelassen sind und nur der dumpfe Grundton bleibt. Nicht wie wir existieren, sondern die Existenz selbst, die in diesem Schweigen hörbar wird – wie Meeresrauschen, wie das Geräusch, das ein Radioempfänger von sich gibt, wenn er nicht auf einen bestimmten Sender eingestellt ist, sondern nur in die Leere horcht. Genauso ist es mit der Welt – hier ist sie wie eine Bühne, die von ihren Schauspielern verlassen ist: ihre Existenz und unsere auf ihr als nackte und deshalb gesicherte Fakten. Nichts ist zu verlieren, nichts zu gewinnen, es geschieht etwas und unendlich langsam verändert sich die Bühne, wir sind von ihr sicher umschlossen, wir leben mit ihr.
Dieser reduzierte Zustand, das Vakuum der Seele, wo die Perspektive schrumpft und ganz neue, freiere Lebensweisen sichtbar werden, hat natürlich viel mit einer Form der Kontemplation zu tun, die in bestimmten Religionen selbstverständlich ist und für viele Menschen als Gefahr, als Verlockung zu demoralisierender Passivität besteht. Darüber kann man streiten. Es gibt den Zustand, in den man willentlich oder ohne Vorwarnung geraten kann. Als Erfahrung ist er etwas Wesentliches.
Wie gut Rosengren begriffen hat, worum es geht, merkt man an seiner Weise, über die Zeit zu sprechen, wie das Minimum des Gedichts auch eine Reduktion der Zeit bedeutet; im Grunde sind alle Augenblicke gleichwertig. Etwas Subjektives und Willkürliches läßt uns einen einzigen Augenblick auswählen und ihn „jetzt“ nennen. Von einem sehr abstrakten, sehr menschenfernen Standpunkt aus ist jede Zeit überblickbar, jedes Ereignis geschieht zu seiner Zeit und „bleibt in ihm“. Dieser Gedanke ist an vielen Stellen in den Ballonfahrern vorhanden – er gehört zu den Gedankenexperimenten des Buchs, es ist aber eine Leistung von Rosengren, ihn auch hier zu finden.
Ein entlegener Ort – in welchem Maß sind solche Erfahrungen Versuchungen? Ich weiß es nicht. Rosengren erlebt dies nicht so, sondern als Trost, ich verwende auch selbst diesen Gedanken als Trost. Aber muß es Trost nur in den entlegensten Blickrichtungen geben, wo die Dunkelheit beginnt? Ich weiß es nicht. Rosengren sagt etwas, das mir intuitiv richtig und gut vorkommt: das Gedicht gehört seinem Leser, und es ist seine Sache, es zu verwenden, ganz nach seinen Bedürfnissen.
Für mich ist das Gedicht fertig, nun soll es fortsetzen, wer will.
Lars Gustafsson, Lyrikvännen, Heft 4, 1962
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