Bertolt Brecht: Gedichte Band VII 1948–1956

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Bertolt Brecht: Gedichte Band VII 1948–1956

Brecht-Gedichte Band VII 1948–1956

DAUERTEN WIR UNENDLICH

Dauerten wir unendlich
So wandelte sich alles
Da wir aber endlich sind
Bleibt vieles beim alten.

 

 

 

Zum siebenten Band

Seit dem Erscheinen von Band VI der „Gedichte“ im Jahre 1964 – in der folgenden Zeit kamen sieben Bände der „Schriften zum Theater“, je zwei Bände der „Schriften zur Literatur und Kunst“ und „Schriften zur Politik der Gesellschaft“ sowie die Bände XIII und XIV der Stücke heraus – wurden die Texte und Datierungen der für die Bände VII bis IX vorgesehenen Gedichte und Gedichtfragmente und eine Reihe zurückgestellter, weil noch ungesicherter Texte weiter überprüft. Die Resultate, die in die drei jetzt vorgelegten Bände unserer Ausgabe eingegangen sind, repräsentieren somit den Stand der Überprüfung 1967/68. Im Vergleich zu den im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, bereits erschienenen Bänden VII bis IX ergaben sich daraus für die entsprechenden Bände unserer Ausgabe Veränderungen in der Aufteilung der Texte auf die Bände sowie in der Anordnung innerhalb der einzelnen Bände.
Für den vorliegenden siebenten Band bedeutet dies: Ein Gedicht wurde gänzlich ausgeschieden, und zwar „Über die Berge I“ (Suhrkamp-Ausgabe, Band VII, S. 54), da es eine Vorstufe des hier abgedruckten Gedichts „Über die Berge“ darstellt. Die Gedichte „Richtigstellung“ II („Daß man mich jemals sagen hörte“), „Über den Ernst in der Kunst“ und „Höre beim Reden!“ (früher unter dem Titel „Lehrer, lerne!“) sind jetzt Band IX zugeordnet. Das erste gehört zu dem Fragment eines Stückes über Albert Einstein, das zweite zu „Gedichte aus dem Messingkauf“, das letzte ist ein Fragment. – Dagegen sind sechzehn Gedichte aus Band VIII und ein Gedicht aus Band IX der Suhrkamp-Ausgabe in den vorliegenden siebenten Band unserer Ausgabe vorgezogen worden.
Der siebente Band enthält Gedichte aus den Jahren 1947 bis 1956. Brecht kehrte im Herbst 1947 nach Europa zurück. Nach einjährigem Aufenthalt in der Schweiz reiste er nach Berlin weiter, das bis zu seinem Tode im August 1956 wieder sein fester Wohnsitz und Arbeitsplatz war. Viele der Gedichte aus diesen neun Jahren erschienen in Zeitungen und Zeitschriften, in Heften der Versuche, in Auswahlbänden und Anthologien des In- und Auslands. Die zwei bekanntesten Auswahlbände, Hundert Gedichte (Aufbau-Verlag, Berlin 1951, herausgegeben von Wieland Herzfelde) und Gedichte und Lieder (Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1956, herausgegeben von Peter Suhrkamp), konnten nur einen geringen Teil der Gedichte aus dieser Zeit aufnehmen.

Die 1953 geschriebenen „Buckower Elegien“ sind Brechts letzter Gedichtzyklus. Sie sind nach dem Ort Buckow bei Berlin genannt, wo Brecht ein Haus mit Garten an einem See gepachtet hatte. Eine Auswahl der hier abgedruckten Gedichte erschien in Heft 13 der Versuche und in der Zeitschrift Sinn und Form (1953). Vier Elegien („Der Himmel dieses Sommers“, „Die Kelle“, „Die Musen“ und „Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters“) sind gegenüber der Suhrkamp-Ausgabe, wo sie in Band VIII stehen, hier aufgenommen worden. – Die in „Die Wahrheit einigt“ zitierten vier Zeilen stammen aus A. Twardowskis „Wassili Tjorkin“, Brecht fand sie, ebenfalls zitiert, in dem sowjetischen dokumentarischen Roman Ein Strom wird zum Meer von W. Galaktionow und A. Agranowski über das Bauprojekt der Wolga-Wasserkraftzentrale. – „Bei der Lektüre eines sowjetischen Buches“: Hier handelt es sich um den soeben erwähnten Roman Ein Strom wird zum Meer und nicht, wie zuerst angenommen, um Marietta Schaginjans Das Wasserkraftwerk, das Brecht um die gleiche Zeit las.
„Die Freunde“: Es geht um den Bühnenbauer und Maler Caspar Neher, den in früheren Bänden bereits erwähnten Freund und Mitarbeiter. Als Brecht nach Europa zurückkehrte, nahmen Neher und Brecht die Zusammenarbeit wieder auf. Sie begannen sofort mit einer Bearbeitung der Antigone des Sophokles, die im Februar 1948 in Chur (Schweiz) zur Aufführung kam. – „An meinen Freund, den Maler“: Die Reproduktion einer Version des Neherschen „Wasser-Feuer-Menschen“ („Hydatopyranthropos“) war der Hauspostille (1927) beigegeben.
In „Wahrnehmung“ steht für das Wort „Mühen“ auf anderen Blättern auch „Anstrengungen“ oder „Schwierigkeiten“.
„Ein neues Haus“: Dies war das von ihm gemietete Haus in Berlin-Weißensee, in das er im Frühjahr 1949 mit seiner Familie einzog. Da es von seiner Arbeitsstätte, dem Berliner Ensemble, zu weit entfernt war, nahm er im Zentrum Berlins eine kleinere Wohnung, in der er von 1952 bis zu seinem Tode wohnte.
Das Gedicht „An meine Landsleute“ widmete Brecht im Herbst 1949 Wilhelm Pieck, als dieser Präsident der Deutschen Demokratischen Republik geworden war.
Die Zusammenfassung der beiden Vierzeiler unter „Sprüche“ erfolgte für diese Gedichtausgabe.
Das Gedicht „An den Schauspieler P. L. im Exil“ ist an Peter Lorre gerichtet, mit dem Brecht vor 1933 in mehreren Inszenierungen zusammengearbeitet hatte und mit dem er auch im amerikanischen Exil weiter befreundet war.
Die „Neuen Kinderlieder“ (auch „Kinderlieder 1950“) wurden für diese Ausgabe zusammengestellt.
Der Herausgeber der Hundert Gedichte, Wieland Herzfelde, wählte als Abbildung für die vordere Umschlagseite eine merkwürdig geformte Wurzel, den sogenannten „Theewurzellöwen“, der Brecht zu dem Gedicht „Auf einen chinesischen Theewurzellöwen“ veranlaßte, das auch auf der Umschlagrückseite abgedruckt wurde.
Das „Lied vom Glück“ schrieb Brecht für den Film Frauenschicksale, den Slatan Dudow drehte.
Die „Inschrift für das Hochhaus an der Weberwiese“ wurde nicht an diesem, sondern an einem anderen Hochhaus in Berlin angebracht; am Hochhaus an der Weberwiese steht die zweite Strophe vom „Friedenslied“.
„Deutschland 1952“ war bestimmt für Emil Burris Szenarium eines Films nach Mutter Courage und ihre Kinder, der nicht gedreht wurde. Das Gedicht wurde zuerst auf der hinteren Umschlagseite des Versuche-Sonderheftes Die Gewehre der Frau Carrar (1953) veröffentlicht.
„Nicht feststellbare Fehler der Kunstkommission“ und „Das Amt für Literatur“ erschienen in der Berliner Zeitung am 11. und 15. Juli 1953, „Jakobs Söhne ziehen aus, in Ägypten Lebensmittel zu holen“ im Vorwärts, Berlin, am 10. August 1953.
„Zum Einzug des ,Berliner Ensemble‘ in das Theater am Schiffbauerdamm“: Das Berliner Ensemble, dem nach seiner Gründung 1949 Gastrecht im Deutschen Theater gewährt wurde, übersiedelte im März 1954 in ein eigenes Haus, das „Theater am Schiffbauerdamm“ – heute am Bertolt-Brecht-Platz –, in dem 1928 die Uraufführung der Dreigroschenoper stattgefunden hatte.
Die drei Vierzeiler „An die Studenten der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät“ gehören zur „Friedensfibel“, die Brecht als Fortsetzung der Kriegsfibel geplant hatte. Der dritte Vierzeiler ist mit dem dazu gehörenden Foto, das Studenten im Hörsaal zeigt, auf der hinteren Umschlagseite der Kriegsfibel abgedruckt.
„Panzereinheit, ich freue mich“: Diesen Vierzeiler schrieb Brecht, wahrscheinlich für die geplante „Friedensfibel“, zu einem Foto, das er in der Zeitschrift Neues China fand mit der Unterschrift: „Die Besatzungen einer Panzereinheit der chinesischen Volksbefreiungsarmee unterschreiben den Appell des Weltfriedensrates zur Ächtung des Atomkrieges.“
„Ich benötige keinen Grabstein“ erinnert an „Exegi monumentum aere perennius“ („Ich habe mir ein Denkmal gesetzt von größerer Dauer als Erz“), jene berühmte Ode des Horaz, den Brecht sehr mochte und immer wieder las.
Unter dem Titel „Wechsel der Ringe“ wurden die zwei Vierzeiler für diese Ausgabe zusammengestellt.
Das „Gegenlied“ schrieb Brecht, als er bei der Vorbereitung der Ausgabe der „Gedichte“ das Hauspostillengedicht „Von der Freundlichkeit der Welt“ wieder zu Gesicht bekam.
Brechts Bearbeitung der Lenzschen Tragikomödie Der Hofmeister, für die er das kleine Lied „O stille Winterzeit“ schrieb, wurde 1950 vom Berliner Ensemble aufgeführt.
Das Lied „Vom Glück des Gebens“ schrieb Brecht 1950 für die Oper Persische Episode von Rudolf Wagner-Regeny und Caspar Neher.
Der „Herrnburger Bericht“ ist eine Chorkantate für Schulen, die Paul Dessau komponierte. Sie wurde 1951 anläßlich der Weltfestspiele für die Jugend geschrieben und aufgeführt.
Das „Lied der Ströme“ war für den gleichnamigen Film bestimmt, für den Dmitri Schostakowitsch die Musik schrieb. Uraufführung: Wien 1955.
Die Bearbeitung von Ben Jonsons Volpone, bei der Brecht half und für die er die Lieder schrieb, wurde 1952 in Wien angefertigt und aufgeführt.
Für die Bearbeitung von George Farquhars The Recruiting Officer, die unter dem Titel Pauken und Trompeten vom Berliner Ensemble aufgeführt wurde, schrieb Brecht (1955) neue Lieder.
Mit diesem Band wird der Großteil der Gedichte aus den Jahren 1913–1956 beschlossen, für die seinerzeit eine chronologische Anordnung angestrebt wurde. Die folgenden Bände VIII und IX enthalten nachgetragene Gedichte, Gedichtfragmente sowie eine kleine Abteilung „Übersetzungen, Bearbeitungen, Nachdichtungen“. Der vorgesehene zehnte Band bringt Berichtigungen, Textfassungen und Datierungen betreffend, sowie Berichtigungen und Ergänzungen zu den Anmerkungen der einzelnen Bände, dazu ein alphabetisches Register der Titel und Gedichtanfänge.

Elisabeth Hauptmann, Nachwort

 

Bertolt Brecht / Gedichte

Im Juli lieferte der Suhrkamp-Verlag drei weitere Bände mit Gedichten Bertolt Brechts aus, die Bände 5 bis 7. Es ist bekannt, dass es sich bei der Gedicht-Edition wie bei der gesamten Brecht-Ausgabe nicht um eine historisch-kritische Ausgabe handelt. Wir wollen uns hier nicht an dem Streit darüber beteiligen, inwieweit die jetzt vorgelegte Ausgabe in dem, was sie bietet, zuverlässig ist, ob politische Rücksichten genommen wurden, ob Einiges – aus welchen Gründen auch immer – von der Veröffentlichung ausgeschlossen wurde. Denn endgültig wird man ohnehin zu dieser Frage erst Stellung nehmen können, wenn der angekündigte achte Gedichtband vorliegen wird, der später aufgefundene Gedichte, Fragmente, Variationen und Nachdichtungen enthalten soll. Dass jetzt, nur acht Jahre nach dem Tode Brechts, noch keine historisch-kritische Ausgabe ediert werden kann, ist sicher bedauerlich, aber doch im Blick auf die immense und zeitraubende Vorbereitungsarbeit, die eine solche Ausgabe mit sich bringt, erklärlich. Halten wir uns darum an das Vorhandene.
Die Gedichte der drei vorliegenden Bände stammen vor allem aus der Kriegs- und Nachkriegszeit. Viele von ihnen haben eindeutig Kampf- und Agitationscharakter; in ihnen warnt Brecht nicht mehr vor der braunen Diktatur – das hatte er lange vorher vergeblich getan –, hier kämpft er gegen Nazi-Terror und Krieg: es sind ausgesprochene „Gebrauchs-Gedichte“, die ihre Funktion in der Anti-Hitler-Propaganda erfüllten. Wie sehr auch die Form dieser Gedichte von ihrer agitatorischen Funktion her bedingt ist, belegt Brechts bekannter Aufsatz „Ueber reimlose Lyrik mit unregelmässigen Rhythmen“. Er ist, zusammen mit zahlreichen, bislang meist unveröffentlichten Aeusserungen Brechts in dem kleinen Band Ueber Lyrik (edition suhrkamp) erschienen, der einige Hilfen zum Verständnis und zur Interpretation der Brechtschen Poesie gibt. Auch in ihm finden sich wieder einige Aeusserungen, die sich – wie so oft bei Brecht – unversehens gegen ihren Verfasser wenden. Manche der kommunistischen Tendenzgedichte der Nachkriegszeit, verweisen geradezu auf eine Notiz aus den 30er Jahren, in der es heisst:

Flach, leer, platt werden Gedichte, wenn sie ihrem Stoff seine Widersprüche nehmen…

Zwischen den im weitesten Sinne politischen Gedichten Brechts finden sich auch immer wieder Liebesgedichte, Naturgedichte, lakonisch und zart zugleich. Eigentlich dürfte es sie, hätte der Theoretiker Brecht über den Lyriker Brecht gesiegt, gar nicht geben. Denn:

… In mir streiten sich
Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum
Und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers.
Aber nur das zweite
Drängt mich zum Schreibtisch.

Und zur Frage der Natur-Dichtung und der „reinen Kunst“ hatte er in den 40er Jahren geschrieben, das Geräusch fallender Regentropfen dürfe in einem Gedicht sehr wohl dargestellt und zu einem genussreichen Erlebnis des Lesers gemacht werden – allerdings erst dann, wenn alle Menschen ein Obdach besässen und niemandem die Regentropfen mehr zwischen Hals und Kragen fallen könnten. Hätte sich Brecht an diesen Vorsatz gehalten: einige der schönsten Stücke aus den Buckower Elegien wären ungeschrieben geblieben. Die Buckower Elegien eröffnen den siebenten Band der Gedichte: melancholische Spätgedichte, aber unsentimental und von einer Schärfe der Kontur, wie wir sie aus der japanischen Lyrik kennen. Was in ihnen an Politischem auftaucht, ist nicht mehr lauthals verkündete Propaganda – das Bewusstsein, an politischem Unheil mitschuldig zu sein, schwingt mit. „Freunde, ich wünschte, ihr wüsstet die Wahrheit und sagtet sie!“, schreibt hier einer, der die Wahrheit wusste und sie nicht immer gesagt hat. Nur zwei Seiten hinter den berühmt gewordenen Versen über den 17. Juni („Die Lösung“) findet sich das Gedicht „Böser Morgen“:

Die Silberpappel, eine ortsbekannte Schönheit
Heut eine alte Vettel. Der See
Eine Lache Abwaschwasser, nicht rühren!
Die Fuchsien unter dem Löwenmaul billig und eitel.
Warum?
Heut nacht im Traum sah ich Finger, auf mich deutend
Wie auf einen Aussätzigen. Sie waren zerarbeitet und
Sie waren gebrochen.
Unwissende! schrie ich
Schuldbewusst.

Jürgen P. Wallmann, Die Tat, 2.10.1964

Brecht

(…)

Dabei ist die politische, ideologische Einordnung Brechts und seiner Schule etwas, das den Blick verstellt. Zur Aura des Dichters, zu Wirkung und Nachwirkung können doch nicht ideologische und wissenschaftlich daherkommende utopische, welterlösende Ansichten den wesentlichen Beitrag leisten. Oder? Sonst wäre dieser Luther-Brecht tatsächlich ein Mann der neuen Kirche, etwas wie ein Zement- Lieferant des neuen Glaubens gewesen. Das wäre zu wenig. Das wäre fast nichts. Die Herrschaft der Ismen gehört dem vergangenen Jahrhundert an, die Sprache eines Dichters nicht, schon gar nicht die eines Reformators. Findungen, hingebungsvolle Übernahme und Entwicklung der Methoden innerhalb einer ganz eigenen sind Beiträge zu lebendiger Sprache. So etwas übersteigt das Jahrhundert. Wesentlich ist für einen wie Brecht eben nicht das Bemühen um revolutionäre Erneuerung der Welt, sondern Revolution der Sprache innerhalb des vorgegebenen Materials. Seine Neuerung war zentral Rückgriff, Zusammenfassung und Anwendung sonst dem Mythos vorbehaltener Formen, von sprachlichen Figuren, die schon traditionell waren, als sie von den Verfassern der Thora und den Erzählern des Neuen Testaments benutzt wurden. Brecht ist gegen seine eigene ausdrückliche Programmatik ein Verwalter des uralten Schatzes gewesen. Er tat alles, sich den Anschein zu geben, das wäre ihm vollkommen gleichgültig. Eins seiner vielen Bonmots dazu notiert Walter Benjamin 1938:

Nicht an das gute Alte anknüpfen, sondern an das schlechte Neue.

Doch seine Gedichte verraten ihn. Eins seiner größten bezieht sich, nebenbei bemerkt, auf das fünfte Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Es ist „Die Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“ aus den Svendborger Gedichten. Das Gedicht ist die Ausschreibung einer aus dem alten China überlieferten Anekdote, die etwas wie den umgekehrten Fall der historisch späteren Berufung des Matthäus zum Inhalt hat. Es ist ein Gedicht über die Entstehung des Werks beim Überschreiten einer Grenze. Brecht kannte die Anekdote längst. Jetzt nimmt er sie auf, jenseits der deutschen Grenzen, in der Emigration. Das Gedicht spricht von der Not des Dichters und von der Notwendigkeit des Gedichts. Die dreizehn mal fünf trochäischen Verse mit jeweils dreifachem einsilbigen Reim, deren letzten eine verkürzte Zeile abschließt (was beim Lesen Spaß macht), bilden die heiterste, leichteste, schönste aller Balladen Brechts. So etwas mache dem Manne einer nach.

*

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

Verzeihen Sie! Selbstverständlich ist das die meistzitierte unter den sprichwörtlich gewordenen Findungen Brechts. Dabei bilden die drei Gedichte, in deren erstem die drei Zeilen stehen, unter dem Gesamttitel „An die Nachgeborenen“ das Credo, vor allem als ein Mea Culpa, das volkstümliche Vermächtnis einer erfundenen Figur unter dem Namen des Autors Brecht. Abgeleitet ist das Ganze aus großzügig überschauten, zusammengefassten Konstellationen der Zeit und dazu passenden Lebensumständen. Die Zuspitzungen und Überhöhungen sind deutlich. Trotz der Schein-Prosa der Zeilen, trotz der Einfachheit der Sätze, der gesprächsweisen Beiläufigkeit handelt es sich um feinstes Destillat. Die Manipulationen, Verallgemeinerungen, Verwischungen des biographischen Grundstocks zu passenden, einleuchtenden Klischees sind notwendig, um den Effekt zu erzielen. Und der ist groß. Er besteht im Wesentlichen darin, dass das Ganze glaubhaft ist, berührt und erschüttert. Hier spricht ein Mensch zu den Mitmenschen und, ja, ausdrücklich zu den Nachkommen. Das „Gedenkt unsrer / Mit Nachsicht“ am Schluss des letzten Gedichts erreicht die Höhe von „Hier stehe ich und kann nicht anders“. Nur ist die Bitte um Nachsicht zugleich ganz Brechtigkeit, freundliche Bitte, deren Pathos fast nicht auffällt. Es steht da nicht „Denkt an uns“, es heißt:

Gedenkt unsrer.

Erstaunlich pathetisch, Herr Brecht.
Dazu ist hier nichts weiter zu sagen. „An die Nachgeborenen“ steht im Schulbuch, entsprechend hochfrequent wird es interpretiert. Es sei nur noch kurz auf ein Detail verwiesen. Die Zeiten, denen der Stoßseufzer gilt, machen, dass „ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist“. Das kurze, leicht zu übersehende Wort nimmt dem Satz die Schärfe. Was hätte es denn bedeutet, die Zeiten zu solchen zu erklären, in denen ein Gespräch über Bäume ein Verbrechen war? Das Gespräch über Bäume wird, so in den Fokus genommen, zum Sinnbild des Menschlichen überhaupt. Menschen können unter keinen Umständen davon absehen, Gespräche über Bäume zu führen. Wenn sie es fast tun, das festzustellen genügt. Es bedeutet: Die Gattung steht kurz vor dem Ende. Dass jenes Gespräch über Bäume zugleich Sinnbild der Kunstausübung ist, dass die Feststellung über die Zeiten insbesondere und unmittelbar auf Brechts Dichtung durchschlägt, lässt sich ohne Mühe in seinen Gedichten zeigen.
Das achte Gedicht der ersten Abteilung der Hauspostille heißt „Morgendliche Rede an den Baum Green“. Unter Versen, die ringsum auf Goethes „Wanderers Nachtlied“, auf die archetypische Figur des „Bösen“ und auf den nicht minder „bösen“ Villon Bezug nehmen, mitten in dem poetischen Aufmarsch intimer Helden Brechts der Auftritt des Baums. Ein anderer Tonfall als sonst in den Bittgängen ist das reimlose, prosahafte Parlando. Der Held trägt einen Namen wie jemand aus den Lektüren des jungen Brecht, könnte damit auch in der Dreigroschenoper auftreten oder in Mahagonny wurzeln, etwa als Mister Green. Er zählt ganz gewiss zu den Helden. Als solcher besteht er das Abenteuer von Nacht und Sturm. Er ist verwandt mit dem schaukelnden Helden eines anderen Gedichts, „Das Schiff“, wenige Seiten zuvor. Vom Baum Green wird bemerkt, er stehe schwankend wie „ein besoffener Affe“. Am Horizont zieht, nicht von ungefähr in diesem Teil der Hauspostille, das „Bateau ivre“ Rimbauds dahin. Der hier nun spricht, der Lyriker als erstaunlich freundliches Abbild seiner selbst im Fensterausguck, gewinnt nach Art der Romantiker Einsicht durch Aussicht und bekennt, dass er sich „geirrt habe“. Schon läuft es darauf hinaus, dass Arm in Arm so dagestanden wird und größtes Männer-Einverständnis herrscht:

Sie leben ziemlich allein, Green?
Ja, wir sind nicht für die Masse

Den Topos – Dichter und Baum im vertrauten Gespräch unter Männern –, den nehme ich gern mit.
Ins Gepäck gehört auch, dass es schon in den Psalmen, den früheren Gedichten Brechts, von der Mutter heißt: „Sie ist im Wald aufgewachsen“, und später einmal vom reisenden Lyriker selbst:

Von den Wäldern nehme ich das Schweigen mit.

Oder es wird nach dem Wind gefragt:

Aber für was ist der Wind da, herrlich in den Baumwipfeln?

Als lebte er da, der junge Dichter Brecht, nicht als ein Bewohner der Stadt, der Städte, als der er sich umgehend stilisieren wird, sondern hoch droben in den Bäumen, ein Stück über der Welt, wie sie sonst gesehen wird, ein wenig als Baron, nein als Prophet in den Wipfeln. Her damit, mit seinen eigenen Bildern, für das, was kommt! Denn was sich auf jeden Fall durch diese über zweitausend Gedichte und Lieder aus fünfundvierzig Jahren zieht, auch wenn alles anders wird: Der Baum bleibt. Für Abstammung, für das sich verzweigende Leben und phallische Lust steht er in Kunst, Mythos, Literatur und den anthropologischen Wissenschaften. Der vielleicht berühmteste trägt Früchte. Davon zu essen öffnet die Augen mit aller Unbill, die daraus folgt, und weiten Raum für künstlerische, literarische und philosophische Spiegelung. Für all das steht der Baum bei diesem Dichter auch. Sein Lied von ihm beginnt mit der Erfindung der Herkunft:

Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern.
Meine Mutter trug mich in die Städte hinein,
Als ich in ihrem Leibe lag. Und die Kälte der Wälder
Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.

Hier sieht man Brecht working ahead, Lebenswerk im Aufbau. Man beobachtet ihn beim Aufsetzen der Arbeitsmaske. Noch ist es nicht jene des Sprechers zu den Massen oder des Lehrers der Massen. Hier handelt es sich zuerst um die Auratisierung des Individuums, einen wesentlichen poetischen Vorgang. Es ist nicht dichterische Selbstschöpfung nebenher, im Fortgang der Jahre des Schreibens, sondern kalkuliertes Erfinden, Herleiten und Etablieren eines neuen Ich.
Aus dem oberen Schwarzwald oder aus dem Allgäu, wo Brechts wirkliche Mutter herstammt, werden schwarze Wälder. Vivat! Die alte Stadt Augsburg, in der Brecht geboren wird, verwandelt sich in „die Städte“, ein modernes Konzept, schon Anklang oder besser Herklang von London, Chicago und New York, den Städten, in die hinein Brecht das Personal erfolgreicher Bühnenstücke und der dafür geschriebenen Lieder pflanzt. Lieder übrigens, die populär werden durch sein und Kurt Weills Genie, aber unbedingt auch, weil der Dschungel der Großstadt eine damals virulente, eine Zeitgeist-Metapher (hierorts insbesondere für Berlin) ist, weil „die Städte“ genau diese Aura bekommen. Die Hauspostille erschien erstmals 1926, als Buchauflage 1927. Das sind auch die Jahre der Uraufführung der ersten und zweiten Fassung von Fritz Langs Metropolis, der in Babelsberg produziert worden war. Ebenso 1927 kam der Dokumentarfilm Berlin – Sinfonie einer Großstadt in die Kinos. Und Alfred Döblin arbeitete zur selben Zeit an seinem Roman Berlin Alexanderplatz.
Das zitierte Gedicht „Vom armen B. B.“ schreibt dem Alter Ego des Dichters die „Kälte der Wälder“ zu. Sichtbar und hörbar schließt er an deutsche Märchenwälder an, die für Hänsel und Gretel, für das Rotkäppchen und andere, die da hineingerieten, verhängnisvoll „kalt“ waren. Insbesondere erinnert Brechts „Kälte der Wälder“ an Das kalte Herz, das gewissermaßen antikapitalistische Schwarzwaldmärchen, einhundert Jahre vor Erscheinen der Hauspostille verfasst von Wilhelm Hauff. Dass Brecht die Kälte auch als Haltung des Künstlers versteht und verstanden wissen will, dass es zum Erfolg führt, wenn einer sich den Stoff kalt vom Leibe hält, dieses Konzept teilt er neben einigem anderem sehr deutlich mit seinem Zeitgenossen und Antipoden Gottfried Benn.
Der Vers, mit dem die vierte Strophe der „Morgendlichen Rede“ beginnt, ist eigentlich unauffällig:

Ich konnte gut schlafen, nachdem ich Sie gesehen habe.

Nur ist die Zeitform des Nebensatzes falsch. Die absichtliche Verletzung der Hochsprache zieht sich durch die Postille. Brecht stellt seinen beiläufigen, umgangssprachlichen Sound in diesem Beispiel wie anderswo auf nämliche Weise mit dem Anklang an alte Moritaten her. Man lese „Vom Mitmensch“ aus der Abteilung 2, „Exerzitien“ in der Fassung der Taschenpostille von 1926. Das Gedicht, mit schiefer Überschrift beginnend (in der „Mitmensch“ kabarettistisch zu einem Eigennamen erhoben wird; man lese wie: Vom Karl oder: Vom Herbert), hebt an im Präteritum, um gleich ins Präsens zu verfallen, und so typischerweise hin und her: „Sie warteten. Mit Schwamm und Leinen! / Sie grüßen mit Trompetenschall“ oder „Sie brachten ihm die roten Bälge […] Erlebt in Furcht vor ihrem Grauen“. Es ist das Prinzip der Synopse der Kirchenaltäre und Fresken, der Moritatentafeln mit den vielen Bildern, die mit Fingerzeig oder Zeigestock erläutert werden. Die Zeitform pendelt bei dieser Vortragsform aus manchem Grund. Hauptsache ist: Der Vortragende muss Spannung erzeugen, das Publikum bei Laune halten. Dichter Brecht zeigt in diesen früheren Versionen der Gedichte eine schöne, absolut gestische Ruppigkeit.
Übrigens ist der Wechsel der Zeitform auch typisch etwa für den Zeugen eines Unfalls, der wiedergibt, was er eben gesehen hat. Sein Bericht wird und will zwar dem Ablauf folgen, aber er wechselt zwischen dem, was geschah, einerseits und dem, was gezeigt, also vorgespielt wird und damit jetzt geschieht, andererseits. Um Spannung zu erzeugen – denn er merkt ja rasch oder weiß es aus Lebenserfahrung, dass er in einem performativen Modus des Erzählens ist –, braucht er gern den Akut, erzählt im Präsens, als würde gerade geschehen, was vorher geschah, und er gäbe eine Livereportage. Unwillkürlich will er Spannung erzeugen, durch Geschwindigkeit, durch Wechsel der Ebenen die Dramatik der Situation wiedergeben oder übertreiben. Die Anwesenheit eines Publikums stachelt ihn an. Ein solches, die Wirklichkeit möglichst genau nachempfindendes Spiel, das vom Zeugen Darstellung und Gestaltung wechselnder Perspektiven verlangt, ist Brechts Urmodell für episches Schauspiel. Er führt es mehrfach an, beispielsweise in „Über alltägliches Theater“ von 1930 oder in dem berühmteren „Kleinen Organon für das Theater“ von 1948. Nach diesen Vorbildern von der Straße jedenfalls wechseln seine eigenen, schon zeitig „epischen“ Gedichte, seine Moritaten, Balladen, Lieder gern die Zeitform. Sie nehmen den Hörer auf diese Art herein ins Geschehen. Die Methode war auch auf Märkten und Jahrmärkten überliefert. Brecht, heißt es, habe Derartiges noch mit angesehen und gehört. Vor allem hat er es aufgehoben und als Schreib-Techniker beherrscht im direkten Sinn des Worts.

Ich konnte gut schlafen, nachdem ich Sie gesehen habe.
Aber Sie sind wohl müd heute?

So sehe ich den Baum Green und den, der ihn gesehen hat, nachdem er ihn sah. Ich weiß, wie gut der schlief. Und ich wohne dem Gespräch unmittelbar bei, als Zeuge. So sind wir im Gedicht zu dritt. Eine für diesen Fall ausgezeichnete Erfahrung.
Baum und Wind sind ein natürliches Paar, das auch bei Brecht zusammengehört. Wenige Seiten weitergeblättert in dem rundum feinen ersten Gedichtband, diesem Handschmeichler, einem Katechismus für den bürgerlichen oder Pfarrhaushalt nachgebildet, vom schwarzen Ledereinband, Goldschnitt, Goldprägung des Titels bis zu den eng zweispaltig gesetzten Gedichten, lädt uns dieses hier ein zum „Klettern in Bäumen“:

Dann steigt auch noch auf eure großen Bäume
Bei leichtem Wind.
[…]
Sucht große Bäume, die am Abend schwarz
Und langsam ihre Wipfel wiegen, aus!

Was für eine Aneignung, dieses: eure Bäume. Was für ein Geschenk, was für eine Gabe! Nackt mit weicher Haut hinaufzuklettern in die Wipfel, nur zu fühlen, sich hinzugeben der Bewegung – das Gedicht erzeugt Abendlicht und Atmosphäre, dunkle sinnliche Sensationen. Kurz vor Schluss die Einschränkung: „Es ist ganz schön, sich wiegen auf dem Baum!“ – als wäre es nicht wohltuend und nur schön, das Gefühl, sich zu wiegen und gewiegt zu werden. Doch will Brecht auf etwas Besonderes hinaus, und dazu fordert er auf:

Ihr sollt dem Baum so wie sein Wipfel sein:
Seit hundert Jahren abends: Er wiegt ihn.

Der abschließende, letzte Blankvers, mit dem die Bestätigung der Aufforderung erfolgt, duldet keinen Widerspruch. „Seit hundert Jahren abends“ – das ist ein mythischer Zeitraum. Die Zahl steht für die Ewigkeit. Das schwächere Gedicht eines schwächeren Dichters hätte versucht, mit „immer“ oder „ewig“ zu argumentieren. Der Abschluss dann:

Er wiegt ihn.

Das ist eine Frechheit. Wo hätte man das je gehört oder gelesen? Der Wipfel wiegt den Baum? Ja, der Wind bewegt die Zweige und Äste, den Wipfel, und das ist es auch schon. Der Wipfel ist doch Teil des Baums, nicht wahr? Wer wiegt hier wen? Die vom leichten Wind bewegten Äste den Stamm? Durch die Schlussformulierung ist das Bild eindeutig homoerotisch. Mangels rationaler Schlüssigkeit, gerade weil das kurze, klare Bild nicht ganz aufgeht, hält es den Leser fest. Das unmittelbar folgende Gedicht, mit dem nach dem Klettern in Bäumen das „Schwimmen in Seen und Flüssen“ behandelt wird, beginnt etwas lauter, aber mit derselben Partnerschaft von Wind und Baum im selben Licht: „Im bleichen Sommer, wenn die Winde oben / Nur in dem Laub der großen Bäume sausen“ … Der Wind in den Bäumen ist Brecht so wichtig, dass er ihn gleich wieder hereinnimmt in seine Sammlung. Die ist in zehn Jahren gewachsen, enthält Gedichte des 18- bis 28-jährigen Mannes. Nichts ist Zufall, schon deshalb nicht, weil von Gründung des Unternehmens Brecht an selbstverständlich Mitarbeiterinnen, vor allem weibliche, an Bearbeitung, Fertigstellung, Zusammenstellung und Herausgabe der Texte von „Bertolt Brecht“ arbeiteten. Heißt für diesen Fall in der Formulierung der Anmerkungen zur Hauspostille von Jan Knopf:

An der endgültigen Textgestaltung hat Elisabeth Hauptmann wesentlichen Anteil.

Fünfzehn der einundfünfzig Gedichte des Bandes kommen nicht ohne Baum, Bäume, Wald aus. Neben Green und vorstehend behandelten Wipfeln haben ihren Auftritt Apfelbäume, morschender und schwarzer Tann, ewige Wälder, Kiefern, ein junger Pflaumenbaum und der Baum, der das Aas fraß. „Vom Tod im Wald“ ist bei Brecht sowieso und notorisch die Rede. Auch der Baal des gleichnamigen Stücks (1918/19 entstanden) wird ihn sterben. Hier findet sich eine Variante der für Brecht offenbar sehr wichtigen Ursituation:

Und ein Mann starb im Hathourywald
Wo der Mississippi brauste.
Starb wie ein Tier in Wurzeln eingekrallt
Schaute hoch in die Wipfel, wo über den Wald
Sturm seit Tagen ohne Aufhörn sauste.

Dieses Einkrallen, diese Verschlingung im Organischen ist nicht weit entfernt von Bildern, mit denen Brecht vielleicht selten in Verbindung gebracht wird. Einmal kommt sie von Märchen her, in denen Bäume Gesichter haben, die Zweige oder Wurzeln wallen wie wildes Haar von Geistern und Riesen oder greifen wie Gliedmaßen. Der weltweit in der Kunst um 1900 wirkende Jugendstil, mit diesem deutschen Begriff für Art nouveau oder die Münchner Sezession benannt nach der ebenfalls Münchner Zeitschrift Jugend, mochte derlei über alles. Wer hat sie gezählt, die Bilder der Ophelia und anderer Wasserleichen, etwa des Haupts des erschlagenen Orpheus im sich räkelnden, ringelnden Geflecht von Pflanzen und Pflanzlichem? Und sicher dichtete nicht nur der Münchner Arzt unter dem Pseudonym A. de Nora Derartiges, aber er tat es eben auch, als Brecht begann, Gedichte zu schreiben:

Die Jungfrau ging in den Elfenhain,
Am Eibenbaume schlief sie ein

… „Den Nachtmahr“, der diesem Werk den Titel gibt, umfängt die Jungfrau in dem Eibenbaum. So gibt sie sich verloren, und es bleibt ihr nur, dass sie „springt in das tiefe, dunkle Moor. / Hell hinter ihr her aus Busch und Rohr / Hallt höhnisches Lachen der Elfen.“ Welche Bilder von Pflanzen und welches bleiche oder fahle Licht auf den Gesichtern hatte Brecht im Kopf, als er zwischen Symbolismus und romantischer Ironie vom Klettern in Bäumen dichtete:

Und wartet auf die Nacht in ihrem Laub
Und um die Stirne Mahr und Fledermaus
?

Und wie geschieht es also dem Baal, dem bösen Mann und brutalen Gebraucher der Wörter „10° ö.L. von Greenwich“, wo sich in etwa auch der Geburtsort von Brechts Mutter „in den Wäldern“ befindet? Baal spricht mit sich, mit der Natur:

Der bleiche Wind in den schwarzen Bäumen! […]
Das ist ein kleiner Wald. Ich trolle mich in die großen hinunter.
[…]
Ich muß mich nach Norden halten. Nach den Rippseiten der Blätter.

Ein Holzfäller sagt nach seinem Tod von ihm:

Er hatte eine Art, sich hinzulegen in den Dreck […] Er legte sich wie in ein gemachtes Bett.

In dem „Chroniken“ überschriebenen Teil der Hauspostille findet sich neben „Vom Tod im Wald“ ein Gedicht mit verwandtem Sujet unter anderem Titel. Es behauptet zwar, eine „Ballade von des Cortez Leuten“ zu sein, einundfünfzig handfeste Blankverse lang. Ihre Protagonisten aber sind kaum die „Leute“, auch nicht die erst noch brüllenden, dann schweigenden Ochsen. Akteur ist (mit der zeitgenössischen Übersetzung von Kiplings in Indien angesiedelter, berühmter Fiktion) „die“ Dschungel. Die Männer rasten auf irgendwelchen Wiesen. Sie hauen sich Feuerholz („Armdicke Äste, knorrig, gut zu brennen“). Sie trinken Branntwein, braten Ochsenfleisch. Zur Mitternacht schlafen sie schon „vollgesogen“. Zwölf Stunden später, „gen Mittag“, erwachen sie statt auf Wiesen mitten im Wald. „Armdicke Äste, knorrig“ umfangen sie nun als dichtes Dickicht mit „kleinen Blüten süßlichen Geruchs“. Auch nach obenhin alles dicht. Weder Sonne noch Himmel. Nach ausdauernden Versuchen, an ihre abgelegten Äxte zu gelangen, „pressen sie“ nur noch „die Stirnen / Schweißglänzend finster an die fremden Äste.“ Die aber „wuchsen und vermehrten langsam / Das schreckliche Gewirr.“ Dunkel wird’s, ganz zugewachsen, obwohl, heißt es, irgendwo noch der Mond scheint. Und nachdem noch mal Gesang der Leute zu vernehmen war, tags darauf, wird es zur zweiten Nacht ganz still. Was bleibt, was siegt, sind Brecht’sche Bäume, Brecht’scher Wind:

Langsam fraß der Wald
In leichtem Wind, bei guter Sonne, still
Die Wiesen in den nächsten Wochen auf.

Will ja wohl sagen: Die Dschungel holte sich das Aas der Leute. Der Dichter und sein Gedicht schwelgen im Sieg der Bäume über die Konquistadoren.
Etwa zehn Jahre nach der Hauspostille hat sich alles für Brecht geändert. Der Erfolgsautor der „Städte“ lebt als Emigrant in ländlicher Gegend in Dänemark. Die Svendborger Gedichte erscheinen in umfassender Form erstmals in Kopenhagen 1939, zusammengestellt und finanziert von Brechts zum Kollektiv hinzugestoßener dänischer Mitarbeiterin, der Schauspielerin und Regisseurin Ruth Berlau.
In den „Gedanken über die Dauer des Exils“ spricht der Dichter zu sich selbst. Zuerst wähnt er die Frist des Exils kurz und meint:

Laß den kleinen Baum ohne Wasser!
Wozu einen Baum pflanzen?
Bevor er so hoch wie eine Stufe ist
Gehst du froh weg von hier!

In Teil 2 des Gedichts weiß er mehr, das Exil dauert an. Und so heißt es zum Ende:

Tag um Tag
Arbeitest du an der Befreiung
Sitzend in der Kammer schreibst du
Willst du wissen, was du von deiner Arbeit hältst?
Sieh den kleinen Kastanienbaum im Eck des Hofes
Zu dem du die Kanne voll Wasser schlepptest!

Gedichte wie dieses bringen den Dichter Brecht nahe an den Leser heran. Er kommt zwar auf dem hohen Ross daher, arbeitet seinem Selbstverständnis nach mit jedem Wort an der Befreiung Deutschlands. Doch das Schleppen der Kanne Wasser, das zunächst noch für müßig gehalten wurde, wird so wie der Baum und sein Wachstum zum Gleichnis für das Schreiben im Exil, für das langsame Wachstum des Werks.
Die Tugend noch größerer Einfachheit im Gedicht gewinnt Brecht aus der asiatischen traditionellen Dichtung und Weisheitslehre. Die Begegnung damit verdankt er wesentlich der Initiative Elisabeth Hauptmanns, die ihn mit den englischen Übersetzungen des Sinologen Arthur Waley bekanntmacht und ihm deutsche Rohversionen anfertigt, nach denen er mit ihr gemeinsam arbeitet. Es gab zur fraglichen Zeit folgende Ausgaben: One Hundred and Seventy Chinese Poems von 1918, More Translations from the Chinese, 1919, sowie Japanese Poetry, ebenfalls 1919. Dazu kam 1921 The Nō Plays of Japan. Aus Letzterem hatte Elisabeth Hauptmann zum Beispiel das Stück übersetzt und 1929 in Berlin publiziert, aus dem Brechts/Weills Der Jasager wurde. Mit Arthur Waley treffen wir kurz auf eine Parallele zwischen dem einflussreichsten deutschsprachigen Dichter und dem einflussreichsten amerikanischen Dichter des 20. Jahrhunderts, Ezra Pound. Über ihn sagte T.S. Eliot einmal, er wäre „zum Erfinder der chinesischen Dichtung für unsere Zeit“ geworden. Chinesische Dichter bestätigen heutzutage sogar die Rückwirkung Pounds auf die chinesische Dichtung der Gegenwart seit den 1980er Jahren. Pound jedenfalls, seit 1913 mit dem Nachlass des Orientalisten Ernest Fenollosa ausgestattet, hatte 1917 die ersten chinesischen Gedichte in den Fassungen Arthur Waleys in der Zeitschrift The Little Review lanciert (wie er am selben Ort kurze Zeit später auch für das Erscheinen von James Joyce’ Ulysses in Fortsetzungen sorgte). Was die chinesische Dichtung für Pounds eigenes Werk bedeutete, zeigt neben den Cantos sein Gedichtband Cathay von 1915, der siebzehn Übersetzungen traditioneller chinesischer Gedichte umfasst. 1917 veröffentlichte Pound ebenfalls aus den Manuskripten Fenollosas in eigener Auswahl und Bearbeitung Certain Noble Plays of Japan. William Butler Yeats hatte dazu eine Einführung verfasst. Pound war von 1913 an saisonweise Yeats’ Sekretär. Seinen Anregungen verdankt sich dessen Einakter im Nō-Stil At the Hawk’s Well, der 1916 uraufgeführt wird. Die zweite auffallende Parallele zwischen Brecht und Pound ist sicher das Arbeiten und Publizieren im Verband einer Gruppe. Pound hatte zu jener Zeit Künstlergruppen initiiert und mitgegründet wie die „Imagisten“ und die „Vortizisten“ mit jeweils eigenen Manifesten, Ausstellungen, Zeitschriften. Die dritte Parallele darf aufhorchen lassen: Im Jahr 1919 macht Pound die Bekanntschaft mit dem Ökonomen C.H. Douglas. Dessen auf staatliche Intervention ausgerichtete monetäre Theorie fasziniert ihn, er wird deren Anhänger. Die Beschäftigung mit ökonomischen Fragen, insbesondere mit der Rolle des Zinswuchers, wird Ezra Pound, den Dichter von Weltrang, schließlich in das Italien Mussolinis führen. Er wird Rundfunkreden mit faschistischem Furor halten, er wird noch der Regierung Italiens von Hitlers Gnaden in Salò 1943–45 seine Dienste als Berater antragen, es wird ihm in den USA der Hochverratsprozess gemacht, er wird für geisteskrank erklärt werden und nur deshalb einem härteren Urteil entgehen.
Brechts Begegnung mit der politischen Ökonomie führt auf die andere Seite der Welt, zur Identifikation mit der anderen totalitären Ideologie. Beide Dichter gehören zu den Großen der Weltliteratur. In ihrem Werk trifft künstlerische Avantgarde auf politische Doktrin und vereinigt sich mit ihr in beiden Fällen rückhaltlos und fruchtbar. Es gilt nicht nur für Pound und Brecht und sowieso nur pars pro toto für die Dichtung: Ihr ethisches Fiasko war beispielhaft für die Moderne auf dem langen Marsch durch das 20. Jahrhundert. Bis heute wird das ideologische Erbe der einen Seite selbstverständlich verdammt, während das der anderen hochgehalten, fortgeschrieben und kopiert wird. Für Letzteres steht der Name Brecht. Dabei sind sowohl Pounds als auch Brechts Ästhetik in ihrer jeweiligen Eigenart Maß und Stachel für Nachfolgende.
Zur ostasiatischen Tradition gehört auch, dass Tiere, Pflanzen, Bäume konkret und korrekt benannt werden und dass die Metapher dadurch zeitlose Stimmigkeit erhält: „Sieh den kleinen Kastanienbaum im Eck des Hofes“ … Hier wusste Brecht selbstverständlich um das kulturübergreifende Symbol der wehrhaften Tugend, das in der stachligen Kastanie liegt. Im Gegensatz zu sonstiger Selbststilisierung ist das glaubhaft bescheiden.
In der Gedichtsammlung, deren Schlussstein die Gedichte „An die Nachgeborenen“ bilden, wird deutlich wieder und wieder auf dichterische Tradition und auf den (deutschen) Wald Bezug genommen. Massiv setzt Brecht die Metapher ein, gerade am Anfang, in der Deutschen Kriegsfibel: „Lorbeerhaine stehen / Abgeholzt“ – so steht es um die abendländische Kultur, wenn das „Brot der Hungernden“ aufgegessen ist. (Das vielzitierte Vorwort Heines zur Lutetia vom 30. März 1855 lässt grüßen, wo es allerdings notabene über die zukünftige Herrschaft der Kommunisten heißt: „sie hacken mir meine Lorbeerwälder um, und pflanzen darauf Kartoffeln“; im Originalton Heines in seinem vorletzten Lebensjahr: „ils détruiront mes bois de lauriers et y planteront des pommes de terre“). „Die Wälder wachsen noch“, doch nicht mehr lange, wo der „Anstreicher“ von kommenden „großen Zeiten“ spricht. „Die Baumfäller stehen horchend in den stillen Wäldern“, wenn derselbe Herr verlogen Frieden fordert. Kein Zufall, wenn einem hier mit Claudius’ „Abendlied“ eines der populärsten deutschen Gedichte überhaupt einfällt. So genau, so bewusst, so eingedenk seiner deutschen Leser und Hörer arbeitet Brecht. Mit Bildern von Baum und Wald, die ihm nicht nur zur Verfügung stehen als Kenner der Tradition, sondern die offensichtlich stark verwurzelt sind in seinem eigenen Bilderkanon, im dichterischen Werk von Anfang an. Folgerichtig heißt es zwei Seiten später schon vom General und seinem starken Panzer: „Er bricht einen Wald nieder“ und, zwar in derselben Zeile, doch erst im Anschluss: „zermalmt hundert Menschen“. Erstaunlich offen steht es da: Baum und Mensch sind für Brecht Verwandte. Wer dem Wald etwas antut, trachtet auch den Menschen nach dem Leben. Mit der Zahl „hundert“ sind es alle.
Es wäre vielleicht nicht der Rede wert. Es wäre vielleicht etwas wie ein Pleonasmus, durchaus ein weißer Schimmel: der Dichter und die Bäume. Klingt wie: der Dichter und die Worte oder, besser: der Dichter und sein Stift. Das zweite Sujet aller überlieferten Lyrik ist die Natur, in welcher Ausprägung auch immer. Der Mythos von Orpheus, der alles dazu weiß und hergibt, er drehte es auch schon um: Die Natur lauschte dem Dichter. Ein größeres Kompliment für den singenden Nachfahren Adams ist nicht zu machen. Ein ganz anderer Fall des Umgangs, insbesondere mit der sprossenden Welt der Flora, liegt offensichtlich bei Brecht vor. Doch gegen alle Politisierung des Mannes von sich aus, vonseiten der Mitwelt und Nachwelt, gegen den Vorrang des politischen Gedichts und Theaters, der ideologischen, belehrenden und besserwisserischen Absichten in so gut wie jeder Äußerung, könnte gesagt werden: Auch du, Brecht, warst ein Nachfahr des Orpheus. Der grobe Kerl hätte da seinen weichen Kern, der Sänger brutaler Männlichkeit einen sanften Faunsfuß. Brecht hat von allem Denken und Wissen und Weltverbessern Aufhebens gemacht. Ein Verhältnis zur Natur passt wohl nicht dazu, er nennt es nur „merkwürdig in meinen Arbeiten“. Hans Sahl ist präziser in seinen „Schwierigkeiten im Verkehr mit dem Dichter Brecht“:

In Brechts frühen, sehr schönen Gedichten wird ein vegetatives Naturgefühl offenbar – Nietzsches „Raubtierschönheit“, Werden und Vergehen, der Baum, der Aas frißt usw. In seinen späteren Stücken ist dies eine seltsame, oft faszinierende Mischehe mit dem Marxismus-Leninismus eingegangen, wobei beidem „Gewalt“ angetan wurde.

Was bei Brecht keine Rolle spielt, keine Rolle spielen kann, ist das von Gottfried Benn her so populäre lyrische Ich. Die Heutigen machen davon ziemlich viel Aufhebens. Anfangs unschuldig, mag sein. Sie werden gefragt, sie antworten. Schon früh, wenn einer die ersten Fühler ausstreckt mit Gedichten in einer Zeitschrift, mit einem ersten Bändchen, sofort kommt der akademische Frager und fragt nach dem, was da und wer da drinsteckt. Und sogleich kommt der Nachfrager, der das grüne Pflänzlein ins Herbarium presst, meist schon einen Abdruck im Sediment der Literaturgeschichte in ihm sieht. Da antwortet man, zu früh, zu ungenau, so, wie die eben noch private Innenansicht es hergibt. Was weiß einer von sich? Brecht verweigerte das. Seine lyrische, intime Poetologie steckt in seinem gegen die eigene Meinung gar nicht merkwürdigen Umgang mit der Natur, heißt im Gedicht. Sie findet sich in Kameradschaft mit dem Baum, im Bewohnen des Baums, im Gleichnis vom Baum, in der Gießkanne fürs Bäumchen, in dem letzten der Kinderlieder noch, gleich nach der „Kinderhymne“, veröffentlicht 1950, „Die Pappel vom Karlsplatz“; mit ihrem „freundlich Grün“ „in der Trümmerstadt Berlin“.
Zweimal wird das Bild vom Baum markant zur politischen Metapher verschoben. Das geschieht, wo die größte Hochachtung herrscht. Die „Ballade vom Baum und den Ästen“ von 1933 konterkariert mit ihrem Refrain jeweils das „tolle“ Treiben der Braunhemden, die sich als rücksichtslose Herren aufführen. Der Refrain erwidert auf die Anmaßung der Nazis:

Gut, das sagen die Äste
Aber der Baumstamm schweigt.

Einmal tut er es mit einer anderen umgangssprachlichen Variante:

Schön, so sagen die Äste
Aber der Baumstamm schweigt.

Es ist eindeutig das Volk, das hier Stamm ist, und die Äste sind die aufgepfropften Nazi-Äste, die so tun, als wären sie mächtig. Der Dichter vertraut so sehr auf das deutsche Volk, dass er seine wichtigste Natur-Metapher dafür zur Verfügung stellt. Er geht in seinem poetischeren Bild davon aus, dass der Schwanz der NSDAP nicht lange mit dem Hund der Arbeiter, der Massen wedeln wird. 1933 vielleicht ein noch verständlicher Gedanke, ein Gedanke aus Hoffnung. Bald, vom Blitzkrieg bis zum irrsinnigen Vertrauen auf den Endsieg, die Wunderwaffen usw., wird sich anderes erweisen. Das schert Brecht grundsätzlich und eben deshalb bis zum Schluss nicht. Wie stark – so gesehen – sein Glaube an „das Volk“, an „die Arbeiter“, an „das Proletariat“ ist, erweist sich hier an der Metapher. Im Weiteren verschiebt es sich mehr und mehr auf den Glauben an das sowjetische Volk, das große Land und seine Führer. Brecht sieht dort die historische Avantgarde am Werk. In dem größten Kompliment, das er dann doch und nach alldem – in der lyrisch fruchtbarsten Phase des skandinavischen Exils – zu vergeben hat, spricht er den Parteigründer und -führer an. Die Anekdote war schon zitiert. Hier folgt ihre lyrische Apotheose. Nach dem bisher über Brechts Metaphorik Gesagten bekommt sie das ihr zustehende Gewicht:

Als Lenin ging, war es
Als ob der Baum zu den Blättern sagte:
Ich gehe.

Brecht nimmt seine Grund-Metapher, sein vertrautes, fruchtbares, vielfach variiertes, sein poetisches Urbild und tritt mit dem Mythos, als welcher der Baum in allen Spielarten sein eigenes Werk trägt, an das Grab des Führers der Bolschewiki und Gründer des Sowjetstaats. Zum Baumstamm, in der „Ballade vom Baum und den Ästen“ noch eindeutig Allegorie für das Wesen, für die (vergeblich erhoffte) Widerstandskraft des deutschen Volks, wird eine einzige, zu der Zeit schon historische Person. Sie muss wohl die größte, die kräftigste, die wirklich tragende sein. Ja, gewiss, da steht „Als ob“. Da steht nicht: Der Baum Lenin sagte zu den Blättern des russischen Volks, der Parteimitglieder und Kommunisten in aller Welt, der „Proletarier aller Länder“: Ich gehe. Die Einschränkung ist da. Die Verse weisen darauf hin, dass dies nicht wahr ist, nicht ganz wahr, nicht wirklich so sein kann. Sie sprechen uneigentlich. Das Bild dekuvriert sich als Bild ganz im Sinne der Brecht’schen Verfremdung, schränkt sich offensichtlich selbst ein durch dieses „Als ob“. Und doch ist es Brechts Baum, ist es damit sein eigenes Werk, das er hier darbringt. Ein dialektischer Denker zeigt, wo seine Dialektik endet: in der uneingeschränkten Verehrung für diesen Mann. Im Glauben an dessen Sache. In der Hingabe des eigenen Werks für die Sache Lenins, das heißt für den Aufbau der besseren Welt, die namhaft gemacht wird in der realen Sowjetunion, unter den Bannern zum 1. Mai bei der Parade auf dem Roten Platz in Moskau, der Brecht 1935 an der Seite von Margarete Steffin tief beeindruckt beiwohnt. Was waren das für Zeiten, wo Brechts Gespräch über Bäume, das heißt sein Weiterschreiben fast verbrecherisch wurde, weil er schwieg, nach seinem Verständnis als antifaschistischer Schriftsteller schweigen musste, über so viele Untaten!
Paul Celan widmet ihm Jahrzehnte später das Gedicht „Ein Blatt, baumlos“, eine kurze Paraphrase:

Was sind das für Zeiten,
wo ein Gespräch
beinah ein Verbrechen ist,
weil es soviel Gesagtes
mit einschließt?

Brechts Frage nach den Zeiten treibt Celan selbstverständlich um. Er steigert sie ins Paradox, spricht implizit vom Fluch der Gespräche, die das schon Gesagte, schon Ausgesprochene, das Unabänderliche dessen, was alles gewusst und reflektiert wurde, mit sich schleppten, so dass sie nur aufhören könnten. Celan hatte seine Konsequenz, den Selbstmord, schon vor dem Erscheinen des Bandes Schneepart mit dem Gedicht darin vollzogen. Seine Antwort auf die Frage nach den Zeiten war sein Verstummen.

(…)

Uwe Kolbe, aus Uwe Kolbe: Brecht, S. Fischer Verlag, 2016

„… er hörte von dort Streit und Gelächter“: 

– Der Lyriker Bertolt Brecht im ,Club der toten Dichter‘. –1
Für Hans Vilmar Geppert

Geben wir es zu, meine Damen und Herren: Zu Lebzeiten lag der Sohn seiner Vaterstadt nicht immer am Herzen. Aber zu seiner postumen Vereinnahmung haben wir uns mit einer von Jahr zu Jahr wachsenden Begeisterung entschlossen, und gestern, an Bertolt Brechts 100. Geburtstag, waren pomp and circumstance in der „Brechtstadt“ Augsburg gewaltig: Der Goldene Saal im Rathaus beim Jubiläums-Festakt mit Prominenz in Zivil, Talar und Uniform prall gefüllt, 25 (!) Eintrittskarten aber auch – wohl als unvermeidliche Geste gegenüber dem Jubilar – für die Frau und den Mann von der Straße reserviert, der Herr Staatsintendant hielt die Festrede: „Bertolt Brecht – ein Verfremdungseffekt“, der Herr Oberbürgermeister und der Herr Ministerpräsident gaben sich die Ehre,2 „Brechts bayerische Wurzeln“3 rühmend und für eine „bayerisch-schwäbische Annäherung“4 an den frühen, den „bayerischen Brecht“5 plädierend6 (damit in impliziter List die ungeliebten Weiterungen des späteren Œuvres dem – unter der Ägide des Herrn Bundespräsidenten in Berlin feiernden – außerbayerischen Rest der Welt dedizierend), und nur noch der Herr Bundeskanzler fehlte, der aber hundertjährigen Poeten vorzugsweise dann seine Aufwartung zu machen pflegt, wenn sie noch immer unter den Lebenden weilen, sich offiziershaft strammhalten… und auch politisch die rechten Ansichten vertreten.7 Es versteht sich, daß wir mit soviel Glanz nicht konkurrieren können, aber heute, am ersten Tag des zweiten Jahrhunderts nach B. B., wollen auch wir dem Ereignis unsere bescheidene Reverenz erweisen und tun dies, wie es zu runden Geburtstagen der Brauch ist, zuvörderst mit einem kleinen Gedicht, das gleich drei Vorzüge in sich vereinigt: Es trägt den überaus passenden Titel „Bei der Geburt eines Sohnes“, es findet sich in den Werken des Jubilars selbst,8 ehrt ihn also besonders, und es wird uns auf kürzestem Weg in eine Thematik hineinführen, deren große Linien ich sogleich näher entwickeln werde. Zunächst aber unser Geburtstagscarmen; es lautet in seiner endgültigen, 1938 im dänischen Exil entstandenen Fassung: 

BEI DER GEBURT EINES SOHNES

Familien, wenn ihnen ein Kind geboren ist
Wünschen es sich intelligent.
Ich, der ich durch Intelligenz
Mein ganzes Leben ruiniert habe
Kann nur hoffen, mein Sohn
Möge sich erweisen als
Unwissend und denkfaul.
Dann wird er ein ruhiges Leben haben
Als Minister im Kabinett.

Man erkennt Tonfall und Denkweise sofort: Die listige, pointierte und subversive Dialektik eines Denkens aus den Widersprüchen und Gefährdungen finsterer Zeiten, in denen sich vermeintlich stabile Tugenden und ewige Werte wie hier die Intelligenz oder in anderen Fällen das Mitleid oder die Güte oder die Freundlichkeit als unzweckmäßig erweisen und sich geradezu in existentielle Bedrohungen verkehren, diese demonstrative Logik eines „Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“ ist, von der Dreigroschenoper über die Flüchtlingsgespräche bis zum Guten Menschen von Sezuan, genuiner Brecht-Gestus. Und doch: Ich habe eine wichtige Information unterschlagen, denn das Gedicht „Bei der Geburt eines Sohnes“ trägt noch einen Untertitel, und dieser lautet: „Nach dem Chinesischen des Su Tung-p’o, 1036–1101“. Mit anderen Worten: Brecht hat sich, auf dem Umweg über eine englische Übersetzung von Arthur Waley (denn Chinesisch konnte er nicht), das Gedicht eines zeitlich und kulturell weit von ihm entfernten fernöstlichen Dichterkollegen angeeignet und es, ohne größere Abweichungen oder eigene Zutaten, in seine Sprache übertragen, dies offenbar, weil er mit der dialektischen Aufmüpfigkeit des alten Werkes sympathisierte und es in seiner sarkastisch-satirischen Antithetik von Geist und Macht als immer noch gültig empfand. Tatsächlich trägt Brechts Typoskript des Textes den handschriftlichen Vermerk: „Dieses Gedicht ist so aktuell wie an seinem ersten Tag“.9 (Und wenn viele von Ihnen, meine Damen und Herren, beim Hören des Textes je nach Temperament wiedererkennend geschmunzelt oder leise geseufzt haben, könnte das womöglich darauf hindeuten, daß sich dieser anamnetische Effekt auch in den 60 Jahren seit Brechts Niederschrift nicht wesentlich abgenutzt hat.)
Ars longa, vita brevis: Su Tung-p’o seit fast tausend Jahren tot, Bert Brecht vor hundert Jahren geboren, aber auch schon vor über vier Jahrzehnten mit nur 58 Jahren gestorben, dagegen ein durch den einen Dichter verfaßtes und durch den anderen aufgelesenes und weitergereichtes Gedicht ansprechend und taufrisch über Epochen hinweg… – es sind solche Konstellationen und Rhythmusverschiebungen zwischen der courte durée einer menschlichen Lebensspanne und der (zumindest potentiellen) longue durée literarischer Werke, ihrer Fortdauer, des erneuernden Rückgriffs auf sie, die uns im folgenden interessieren sollen. Ich möchte Sie einladen, im Blick auf den Lyriker Bertolt Brecht und auf seinen Umgang mit Repräsentanten und Paradigmen der weltliterarischen Überlieferung mit mir nachzudenken über den Tradierungsmodus großer Literatur, über Figuren der poetisch produktiven Erinnerung im Spannungsfeld von Wiederholung und Widerspruch, über Literatur als ein in der Kontinuität der Generationen fortwirkendes und in seiner Fortschreibung sich permanent verjüngendes, dabei offenes und vielstimmiges Verständigungssystem der Kultur. Wohl niemand wird heute mit Bestimmtheit zu prognostizieren wagen, ob diese besondere Spielart der durch eine Schrift- und Buchtradition geprägten, mit einsamer Lektüre und also mit individueller Konzentration und Versenkung assoziierten kulturellen Memoria angesichts der explodierenden Medienvielfalt und der schwindelerregenden Beschleunigungsverhältnisse in der Informationsgesellschaft noch ebensoviel Zukunft vor sich hat, wie sie Vergangenheit besitzt. Aber ich möchte keinen Zweifel daran lassen, daß ich meine Überlegungen auch als ein Plädoyer für die kunstvolle und anspruchsvolle kulturelle Mnemotechnik der Literatur verstehe, als deren Hoheslied, nicht als ihren Abgesang, und daß ich mir eine Welt, deren Gedächtnis sich in erster Linie über die Speicherkapazität ihrer Datenverarbeitungssysteme definierte und der über dem Rausch immer rascherer und umfassenderer Informationsvernetzungen die Geduld und die Hellhörigkeit für das einzelne Wort abhanden käme, nicht als le meilleur des mondes possibles zu denken vermöchte.
Daß Kunst und Dichtung einen auszeichnenden Bezug auf Erinnerung und kollektives Gedächtnis hätten, ist ein alter und ehrwürdiger Topos und ein großes Thema. Der antike Mythos nennt Mnemosyne, das Erinnerungsvermögen, als die Mutter aller neun Musen, und einige der berühmtesten Zeilen der abendländischen Lyrikgeschichte geben einprägsame poetische Abbreviaturen dieses Anspruchs auf Dauer, Haltbarkeit, langen Gebrauch: Horazens „exegi monumentum aere perennius“10 – auf das übrigens der Horaz-Liebhaber Brecht mit seinem eigenen, kokett zwischen Demut und, sagen wir einmal: nicht geringem Selbstbewußtsein schwankenden, Epitaph-Gedicht deutlich genug repliziert;11 Sie erinnern sich: 

Ich benötige keinen Grabstein, aber
Wenn ihr einen für mich benötigt
Wünschte ich, es stünde darauf:
Er hat Vorschläge gemacht. Wir
Haben sie angenommen.
Durch eine solche Inschrift wären
Wir alle geehrt
.12

– Horazens „exegi monumentum aere perennius“ also postuliert selbstbewußt die überlegene Dauerhaftigkeit, gleichsam die höhere Halbwertzeit des poetischen Werkes in seiner sprachlichen Immaterialität selbst gegenüber härtesten Realien (und jeder, der den Vers seitdem zitiert, wirkt unwillkürlich an seiner Bewahrheitung mit, so jetzt auch ich). Shakespeares 18. Sonett setzt der vergänglichen Schönheit der Geliebten stolz die Aufbewahrungsleistung des sie verherrlichenden Gedichts und seiner „eternal lines“ entgegen:

So long as men can breathe, or eyes can see,
So long lives this, and this gives life to thee.
13

Friedrich Hölderlin, dem wir mit der Forderung der „Patmos“-Hymne, „daß gepfleget werde / Der veste Buchstab, und bestehendes gut / Gedeutet“,14 geradezu eine Magna Charta der Philologie verdanken, Hölderlin bestimmt Dichtung in der Elegie „Brod und Wein“ als ein „Heilig Gedächtniß“15 und überschreibt zwei seiner schönsten späten Hymnen mit den Titeln „Andenken“ und „Mnemosyne“; das erstgenannte Gedicht schließt mit der berühmten Gnome „Was bleibet aber, stiften die Dichter“.16 Und auch Charles Baudelaires Tableau parisien Le Cygne, das Poem vom Dichter-Schwan, das den antiken Mythos in die Großstadtlandschaft der Moderne hineinspiegelt, gibt bereits mit seiner Eingangszeile ein Gleichnis für die Evokationsleistung der Poesie und ihrer „mémoire fertile“:

Andromaque, je pense à vous!17

Aus dem Geflecht dieser Stimmen, zu denen sich endlos viele Varianten zitieren ließen, entsteht das Bild der literarischen Tradition als eines kollektiven, intensiv dialogischen Gedächtnis- und Erinnerungsraums oder, mit der Metapher von Roland Barthes, als einer von intertextuellen Resonanzen widerhallenden Echokammer, einer chambre d’echos.18texte, Paris 1973, und ders.: Image, Music, Text, New York 1977 Genauer findet darin eine doppelte, komplementäre Zeitbewegung statt: Autoren der Überlieferung sprechen bzw. schreiben aus ihren vergangenen Gegenwarten in den Zukunftshorizont einer Nachwelt hinein, von der sie für ihre Werke Dauer, Erinnerung, bleibende Geltung einfordern: „exegi monumentum“, „so long as men can breathe […], so long lives this“, „was bleibet aber, stiften die Dichter“ oder auch: „Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut / In der wir untergegangen sind / Gedenkt / Wenn ihr von unsern Schwächen sprecht / Auch der finsteren Zeit / Der ihr entronnen seid“,19 so und ähnlich lauten die Heischeformeln der memoria. Umgekehrt finden Autoren späterer Generationen, ,Nachgeborene‘ im Brechtschen Sinn, immer schon ein Inventar von Werken und Gattungen, Formen und Stilen vor, ein traditionelles Repertorium, zu dem sie sich verhalten und gegen das sie sich behaupten müssen, das sie aber unmöglich ignorieren können. In Botho Straußens Stück Kalldewey. Farce, das selbst unter anderem eine freie postmoderne Variation von Euripides’ später Tragödie Die Bakchantinnen darstellt, in Straußens Kalldewey. Farce ist dieses Vergangenheit-Haben jeder gegenwärtigen Literatur in dichter Formulierung so ausgedrückt: 

Ha! alles gibt es noch, so ist das nicht.
Diese Zeit, die sammelt viele Zeiten ein;
Da gibt’s ein Riesensammelsurium,
unendlich groß ist das Archiv: Alles da,
und ist zuhanden. Viele brauchbare Stoffe
noch in den Beständen, im Fundus der Epochen
.20

Und, ein paar Zeilen weiter: 

Worüber verfügt der Mensch?
Über viel, sehr viel Vergangenheit.
Die allein ist reich, und die bleibt immer
unerschöpflich.
21

Kein Autor also beginnt die Literatur von vorn, immer schon ist da der ,Club der toten Dichter‘, wie ich in metaphorischer Anleihe bei dem schönen Film von Peter Weir sage (Dead Poets’ Society hieß er im Original und auf französisch: Le cercle des poètes disparus). Stets erwarten den Späteren weltliterarische Vorläufer und Rivalen, fremde Texte als Quellen von Inspirationen oder Aversionen, so daß eines der jüngsten Mitglieder im ,Club der toten Dichter‘, nämlich Brechts bedeutendster, weil eigenständigster literarischer Nachfolger, daß also Heiner Müller sicherlich zu Recht sagen konnte, Literatur sei wesentlich ein „Dialog mit Toten“22 und zugleich eine „Arbeit an der Differenz“,23 d.h. der schwierige Versuch, es anders zu machen als die Vorgänger und sich kreativ von ihnen zu unterscheiden.
Man kann sich dieses eigentümliche Traditionsverhältnis des Gedächtnissystems Literatur, in dem frühere Generationen eine machtvolle, wenn nicht zu Zeiten sogar übermächtige Präsenz ausüben, auch dadurch prägnant klarmachen, daß man es mit dem wesentlich verschiedenen Verhältnis etwa der Wissenschaften (und vor allem der Naturwissenschaften) zu ihrer Geschichte vergleicht. Deren Konzeption eines linearen Erkenntnisfortschritts, nach der die Leistungen der Nachfolger auf denen der Vorgänger zwar notwendig aufbauen, sie zugleich aber überwinden und erledigen, diesen Weg der wissenschaftlichen Erkenntnis als einer Geschichte permanenter Überholungen und Ablösungen und also einer fortgesetzten Vergangenheitsentwertung durch die jeweils jüngste Gegenwart hat kein Geringerer als Isaac Newton im Bild von den Zwergen auf den Schultern der Riesen24 gefaßt: „If I have seen further, it is by standing on the shoulders of giants“, heißt es im Brief vom 5. Februar 1675 an Robert Hooke, was aber doch eben besagen will: Unsere Vorgänger mögen zu ihrer Zeit Giganten gewesen sein, aber wir Späteren sind auf der von ihnen geschaffenen Grundlage über sie hinausgelangt, wir sehen weiter und klarer als sie, und insofern sind die alten Riesen passé, ist ihr Wissen Schnee von gestern. (Wobei man sich geflissentlich verschweigt, was bei solcher Veraltensgeschwindigkeit freilich ganz unvermeidlich ist: Daß nämlich auch unser stolzes heutiges Wissen der gestrige Schnee von morgen ist).
Für das Überlieferungssystem der Weltliteratur hingegen und für die in ihm obwaltenden Zeit- und Kommunikationsverhältnisse hat T.S. Eliot in einem für die Poetik der klassischen Moderne überaus einflußreichen Essay von 1919, „Tradition and the Individual Talent“,251975, S. 37–44 geltend gemacht, der Reiz dieses kulturellen Archivs liege in der Simultanpräsenz des historisch Ungleichzeitigen, und seine spezifische condition temporelle impliziere die Anerkennung der fortdauernden Gegenwartsmächtigkeit des Vergangenen, „a perception not only of the pastness of the past, but of its presence“.26 Alle literarischen Kunstwerke der Vergangenheit und Gegenwart seit Homers Zeiten besäßen in dieser kollektiven Memoria ein gleichzeitiges Dasein („a simultaneous existence“)27 und bildeten untereinander eine ideale Ordnung („an ideal order“),28 die durch den Hinzutritt jedes emphatisch neuen Werkes zwar modifiziert, aber als solche niemals in Frage gestellt werde. Für jeden zeitgenössischen Autor sei daher die angemessene Beachtung seiner „relation to the dead poets and artists“ eine conditio sine qua non seines aktuellen Schreibens, und oftmals gelte geradezu, „that not only the best, but the most individual parts of his work may be those in which the dead poets, his ancestors, assert their immortality most vigorously.“29 Was dann, zumindest für den poeta doctus T.S. Eliot, auch heißen soll, die Hoffnung eines Autors auf eine eigene im Langzeitgedächtnis der Literaturgeschichte bewahrenswerte Leistung, ,his own immortality‘, werde sich im Zweifelsfall nicht aus der tabula rasa-Gebärde einer radikalen Auslöschung der Vorgänger und schon gar nicht aus der ignoranzverdächtigen Pose, des Nochniedagewesenen, einer Originalität sans précédent ergeben, sondern viel eher aus einem informierten und dialogischen Verhältnis zu den „dead poets and ancestors“, aus einer Position im erfolgreich ausgehaltenen und produktiv gemachten Spannungsfeld von imitatio, aemulatio und innovatio.
Ich breche meine durchaus provisorischen Überlegungen zum Gedächtnissystem Literatur an dieser Stelle ab, die doch nur skizzieren sollten, in welchen weiteren Horizont ein Nachdenken auch über den Traditionsbezug von Brechts Lyrik mir zu gehören scheint. Falls sich uns freilich, liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, einmal die Gelegenheit böte, den heutigen Gedankengang ausführlicher, etwa im Zusammenhang eines Seminars, wieder aufzugreifen, dann fänden wir, bei ein wenig literaturtheoretischer Neugier, auf diesem weiten, Feld zahlreiche Anknüpfungs- und Fortsetzungsmöglichkeiten: Wir könnten uns beispielsweise mit Harold Blooms Thesen zur „anxiety of influence“30 auseinandersetzen, mit seiner psychoanalytischen Konstruktion der Literaturgeschichte als eines Agons zwischen „strong poets“ und als einer bis zum literarischen Vatermord reichenden Kette ödipaler Kämpfe zwischen Vorgängern und Nachfolgern (germanistisches Stichwort: „Kleists Kampf mit Goethe“). Oder wir könnten am Beispiel von Gérard Genettes magistraler Studie Palimpsestes. La littérature au second degré31 über den spielerischen Aspekt der Intertextualität, des kreativen ,Dialogs der Texte‘, der Entstehung von Literatur aus Literatur diskutieren.32 Oder wir könnten den Anschluß suchen an jenes stärker kulturwissenschaftlich orientierte Projekt, das – unter Rückgriff auf Maurice Halbwachs’ Konzept einer mémoire collective und auf verwandte Mnemosyne-Vorstellungen in der Kunst- und Kulturtheorie Aby Warburgs – aus wechselnden disziplinären Horizonten versucht, Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung zu bestimmen und dabei auch nach der Rolle der Literatur im Rahmen umfassender Tradierungs-, Kanonisierungs- und Sinnbildungsprozesse zu fragen.33 Immer und auf jeden Fall würden wir aber – wenn ich bei solchen gemeinsamen Sondierungen etwas zu sagen hätte – darauf achten, unsere spekulativen Neigungen mit der Arbeit an literarischen Texten zu verbinden, uns die Werke durch interessante Theorien in neuem Licht zeigen zu lassen, ebenso aber auch die Theorien an den poetischen Texten auf ihre Überzeugungs- und Erschließungskraft (und auch auf ihre Grenzen und Blindheiten!) hin zu prüfen; wir würden uns davor hüten, Literatur zum Demonstrations- oder Exekutionsmaterial vorgewußter und fertig mitgebrachter theoretischer Gewißheiten zu degradieren. Ganz bestimmt würden wir uns etwas zutrauen, uns von unserer Neugier leiten lassen und unser intellektuelles Vergnügen dabei haben. Aber wir würden immer auch ein wenig skeptisch bleiben und uns nicht zu rasch von den Sirenengesängen der jeweils neuesten Supertheorie bezaubern lassen. Die Literatur in ihrer eigenen Intelligenz, ihrer Offenheit und Vielstimmigkeit würde uns dabei helfen.
Von Bert Brecht waren wir mit den bisherigen Überlegungen nie weit entfernt – jetzt wenden wir uns ihm direkt und ausdrücklich zu, und zwar dem großen Lyriker Brecht und diesem nicht als singulärer Figur, sondern als einem sehr aktiven und debattierfreudigen Mitglied im ,Club der toten Dichter‘. Den Zugang zum Erinnerungsraum der Literatur in Brechts Œuvre kann uns ein Gedicht des damals, 1913, gerade 15jährigen Augsburger Gymnasiasten bahnen: „Prolog. Knüppelverse auf unsere Zeit“.34 Dort heißt es:

Früher ließ man mit ems’gem Bemühn
Die Biographien
Großer Männer an sich vorüberziehn
Jetzt studiert man den Lebenslauf der Rothschilds
Der Rockefellers und Vanderbilts.
Frägt man einen, ob er Schiller las:
Sich durch ihn Bildung – und so – erworben;
Sagt er verächtlich: Ach was!
Schiller ’n Schwachkopf das!
Oder ist er etwa reich gestorben?

Gewiß, das sind Gehversuche, bildungsbeflissene und etwas altkluge Reimereien – und Schiller, das einstweilen noch bewunderte Vorbild,35 wird bei Brecht wenige Jahre später nicht mehr so gut abschneiden (auch wenn er nie als „Schwachkopf“ gelten wird!),36 da werden die Vorbilder Frank Wedekind oder Karl Valentin heißen, François Villon und Arthur Rimbaud, Walt Whitman oder Rudyard Kipling.37 Und doch sind schon in diesem holperigen Pennälerversuch Motive präludiert, die für das weitere Werk bestimmend bleiben, wo es von kulturellem Gedächtnis und literarischer Tradition handelt.
Zum einen: Wenn in Brechts gesamter Lyrik Figuren der Erinnerungsstiftung, der Mnemosyne, des Dialogs mit den Dichtern der Vergangenheit eine bedeutende Rolle spielen, so ist doch andererseits dasselbe Werk in weiten Partien geradezu von einem Pathos der Endlichkeit und Vergänglichkeit bestimmt; und erst beide Impulse zusammengenommen – Bewahrung und Auslöschung – ergeben die spezifische Binnenspannung seiner besten Gedichte. Schon in den „Knüppelversen“ erhebt ja die „Furie des Verschwindens“ ihr Haupt: Die Erinnerung an Schiller, dessen Name hier metonymisch einsteht für literarische Tradition und mémoire collective überhaupt („Bildung – und so“, äfft der Text die Stimme des profanum vulgus nach), diese Memoria ist gerade nicht gesichert, sondern gefährdet: „Ach was! Schiller ’n Schwachkopf das!“, spricht der Bürger und wendet sich Lohnenderem zu: der Sphäre der Rothschilds, Rockefellers, Vanderbilts. Diese Dimension möglicher Ausradierungen, sei es in Gestalt individuellen Vergehens und Vergessenwerdens, sei es in kollektiven Formen der Amnesie, bleibt in Brechts Lyrik in vielfältigen Brechungen präsent: Die schönsten Liebesgedichte, „Erinnerung an die Marie A.“
38 oder die „Terzinen von den Kranichen“,39 handeln gerade nicht von der Dauer der Liebe, sondern von ihrer Flüchtigkeit, ihrem Vergehen: „Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer“, lauten markante Verse, oder:

Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen?
Seit kurzem. Und wann werden sie sich trennen? Bald.
So
scheint die Liebe Liebenden ein Halt

Die Hauspostille zelebriert einen obsessiven Kult der Auflösung und Auslöschung, der individuellen Physis in ihrer Rückverwandlung in Aas und reine Materie ebenso wie der kulturellen Leistungen und Werke – denken Sie nur an Prägungen wie „Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind!“40 oder: „Wir wissen, daß wir Vorläufige sind / Und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes“,41 oder erinnern Sie sich an die vanitas-Motivik des Gedichts „Die Städte“:42

Unter ihnen sind Gossen.
In ihnen ist nichts. Und über ihnen ist Rauch.
Wir waren drinnen. Wir haben sie genossen.
Wir vergingen rasch. Und langsam vergehen sie auch.

Die Paradoxie und das Pathos solcher Bilder – zu ihnen gehört natürlich auch die berühmteste Wolke der deutschen Literatur, „sehr weiß und ungeheuer oben […] / Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.“43 –, das paradoxe Pathos dieser Chiffren dürfte nicht zuletzt darin liegen, daß Brecht hier unvergeßliche Formulierungen des Vergessens geglückt sind, bleibende Wendungen für eine postmetaphysische Erfahrung des Transitorischen – was im übrigen eine genaue Entsprechung in der schönen Definition seiner Poetik besitzt, derzufolge Gedichte „das zum Verweilen gebrachte Flüchtige“ seien.44 Und auch noch beim späteren, marxistischen Brecht finden sich, aller teleologischen Geschichtsgläubigkeit zum Trotz, Denkfiguren der Vergänglichkeit und Auslöschung in vielen Abschattungen, sei es, daß das Gedicht „An die Nachgeborenen“45 elegisch die Endlichkeit des eigenen Lebenszyklus beschwört – „So verging meine Zeit, die auf Erden mir gegeben war“ – und um die Aufbewahrung im freundlichen Gedenken der Nachwelt bittet, sei es, daß das Exilgedicht „Rat an die bildenden Künstler, das Schicksal ihrer Kunstwerke in den kommenden Kriegen betreffend“46 angesichts der heraufziehenden säkularen Verwüstungen den gänzlichen Abbruch der kulturellen Überlieferung und einen Rückfall in die Steinzeit imaginiert: 

die Kunstschätze des Britischen Museums
Unter Menschen- und Geldopfern zusammengeraubt
Aus allen Himmelsgegenden
[…]
Durch wenige Brisanzbomben in Staub verwandelt
[…]
An einem Vormittag zwischen neun Uhr und neun Uhr zehn.

Woraus Brechts Gedicht, 1937, den Rat an die Künstlerkollegen ableitet, ihre Werke in den bombenfesten Flugzeughangars, „sieben Stockwerke tief unter dem Boden“, zu vergraben und oben kleine Hinweistäfelchen anzubringen, 

Damit die kommenden Geschlechter, eure ungeborenen Tröster
Erst erfahren, daß es zu unserer Zeit Kunst gegeben hat
Und Nachforschungen anstellen, Schutt weggrabend, mit Schaufeln.
Während der Wächter im Bärenfell
[…] über den Knien die Büchse
(Oder den Bogen), Ausschau hält nach dem Feind oder der Weihe
Die er ersehnt, seinen hungrigen Magen zu füllen.

Als Brecht diese Zeilen schrieb, habe er, so notiert Walter Benjamin, mit der Heraufkunft einer „geschichtslosen Epoche“ weit eher gerechnet als mit einem Sieg über den Faschismus;47 von blinder marxistischer Zukunftsfrömmigkeit, dem Glauben an die eschatologische Zwangsläufigkeit der Geschichte kann hier jedenfalls keine Rede sein. Spuren dieses Gegenpathos der Vergänglichkeit und Hinfälligkeit, Bilder der gefährdeten Memoria und der verschüttbaren Kultur wird man als Widerstand und denkbare Negation an vielen Stellen wiederfinden, an denen Brechts Gedichte von Erinnerung sprechen und ein Gedächtnis zu stiften suchen, um ineins damit ihre eigene Dauer in der mémoire collective der Literatur zu befestigen.
Und das, in der Tat, tun sie ständig, denn die Dimension, die in den „Knüppelversen auf unsere Zeit“ in zeichenhafter Abbreviatur einfach „Schiller“ hieß, also die Präsenz vergangener Autoren oder das Echo der fremden literarischen Rede im eigenen Text, diese hohe intertextuelle Verweisungsdichte bleibt für das lyrische Œuvre im ganzen kennzeichnend. Wie in seiner Dramatik, so auch in seiner Lyrik ist Brecht einer der großen Bezugnehmer, Anknüpfer, Dialogiker in der Literatur der Moderne, ein Kenner und Verarbeiter vieler Traditionen, wenn auch darum kein Traditionalist. Nicht nur wechseln mit jedem Jahrzehnt und mit jedem bedeutenden Zyklus dieses facettenreichen Gedichtwerkes die Tonarten grundlegend – von der expressiven und anarchischen Balladenseligkeit der Hauspostille zur kalten Sachlichkeit und Hermetik des Lesebuchs für Städtebewohner, von der großen rhetorischen Reflexionsgebärde der Svendborger Gedichte zur esoterischen Miniaturpoesie der Buckower Elegien –, sondern mit diesem „Wechsel der Töne“ (um den Terminus Hölderlins zu borgen) geht ein großer Obertonreichtum aus weltliterarischen Reminiszenzen einher: Von der Bibel, altägyptischen Bauernliedern, den Klassikern der antiken und der fernöstlichen Lyrik bis zu Zeitgenossen wie Eliot, Pound und Auden, Tretjakow und Majakowski, André Gide, Gottfried Benn und noch Ingeborg Bachmann reicht das polyphone Gewebe fremder Stimmen, die in Brechts Gedichten aufgenommen sind; zwischen diesen Polen ein breiter Ausschnitt dessen, was im hohen europäischen Lyrikkanon wie in seinen diversen gegenkanonischen Strömungen Rang und Namen hat. Und dieser dialogischen Fülle wiederum entspricht die literarisch-technische Spannweite von Brechts poésie au second degré; sie umfaßt Übertragungen und Bearbeitungen ebenso wie Stilimitationen und Parodien: Denken Sie, aus der Hauspostille, nur an die freche Collage der „Liturgie vom Hauch“48 mit dem obstinaten Schweigen der goetheschen „Vögelein im Walde“ zu allem Unrecht dieser Welt,49 eine wirkungsvolle Metapher für die von Brecht unterstellte soziale Indifferenz, sogar den Alibicharakter großer klassischer Kunst – bis dann, in der revolutionären Allegorie des Schlusses, „von überm Meer“ der „große rote Bär“ einherkommt und mit dem Militär und seinem Maschinengewehr kurzen Prozeß macht; erst da kommt es zum großen Erwachen: 

Da schwiegen die Vögelein nicht mehr
Über allen Wipfeln ist Unruh
In allen Gipfeln spürest du
Jetzt einen Hauch
.50

Oder erinnern Sie sich an die nihilistischen Kontrafakturen protestantischer Kirchenlieder, in denen etwa Joachim Neanders „Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren“ umgearbeitet und verballhornt51 wird zu einem „Großen Dankchoral“ mit Strophen wie

Lobet die Kälte, die Finsternis und das Verderben!
Schauet hinan:
Es kommet nicht auf euch an
Und ihr könnt unbesorgt sterben
.52

Zur intertextuellen Polyphonie des lyrischen Œuvres gehören, neben solchen Parodien des kulturellen Kanons, schließlich zahlreiche Hommage- und Epitaph-Gedichte auf lebende und tote Schriftstellerkollegen von Li Po,53 François Villon54 und Thomas Otway55 über Rimbaud56 und Wedekind57 bis zu Carl von Ossietzky,58 Wladimir Majakowski59 und Sergej Tretjakow60 (Karl Liebknecht61 und Rosa Luxemburg62 nicht zu vergessen), aber auch Schmähgedichte gegen literarische Opponenten wie „den Schwätzer George, den Schönredner“63 oder gegen den „todessüchtigen Benn“.64 Und vergessen wir über alledem nicht jene enthusiastisch-unbekümmerten Formen der Vereinnahmung, die Brecht schon früh, etwa im Hinblick auf seine Plünderung Villons oder Kiplings für die Dreigroschenoper, den Vorwurf des Plagiats eingetragen haben, eine Anklage, auf die er mit dem berüchtigten Diktum von seiner „grundsätzlichen Laxheit in Fragen des geistigen Eigentums“65 geantwortet hat. „Nehm jeder sich heraus, was er grad braucht!“, bekräftigt das „Sonett zur Neuausgabe des François Villon“,66 „Ich selber hab mir was herausgenommen […]“. Und noch in den späten Gedichten findet sich die Zeile: „Lächelnd gestand er: ich stehle nach allen Seiten.“67 (Mindestens der literarische Kommunismus des armen B. B. ist also wirklich über jeden Zweifel erhaben, und es ist ja, im Blick auf seine zahlreichen Mitarbeiterinnen, neuerdings wieder groß die Rede davon, daß er diesen literarischen Kommunismus gern auch als Liebeskommunismus praktizierte)68
Dieser weite weltliterarische Horizont von Brechts Werk, seine Zitierfreudigkeit und Vielstimmigkeit, ist in den großen Linien natürlich bekannt; man kann sich darüber in essayistischen Skizzen von Reinhold Grimm69 und Hans Mayer70 oder auch in einem Buch von Werner Mittenzwei, Brechts Verhältnis zur Tradition,71 informieren, das allerdings seine Herkunft aus den Erbe-Diskussionen der DDR-Germanistik nicht verleugnen kann und einer reichlich braven und klassikfrommen Parteilinie huldigt. Hier täte am Beginn des zweiten nachbrechtischen Jahrhunderts frischer Wind dringend not, denn auch das gehört ja zu dem lebendigen Gedächtnis, von dem wir sprachen: daß man es von Zeit zu Zeit erneuert und auffrischt. Und vereinzelt ist dieser Wind auch schon zu spüren; er weht vor allem aus Norden, nämlich in der sehr lesenswerten Dissertation einer finnischen Germanistin, Marja-Leena Hakkarainen, die unter dem Titel Das Turnier der Texte in durchaus innovativer Weise nach intertextuellen Anschlüssen und Strukturen in Brechts Œuvre fragt.72 Dennoch bin ich überzeugt, daß gerade im Blick auf den Lyriker Brecht und seine weltliterarischen Anknüpfungen das Beste noch zu leisten ist; eine komparatistisch aufgeschlossene Literaturwissenschaft fände hier jede Menge zu tun.
Diese große Aufgabe können wir heute natürlich nur einfach notieren, nicht auch in Angriff nehmen. Aber am Beispiel von fünf Gedichten aus Brechts mittlerer Periode, der Exilzeit in der zweiten Hälfte der 30er Jahre, läßt sich vielleicht in aller Kürze illustrieren, wie reizvoll und vielschichtig das Vorhaben wäre. Sehen wir uns die Texte einmal an, nicht um sie erschöpfend zu interpretieren (dafür bräuchten wir viel mehr Zeit), aber um aus einigen Beobachtungen zumindest eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie sich der Lyriker Brecht im ,Club der toten Dichter‘ bewegt, wie er eigene Werke aus der Auseinandersetzung mit fremden Texten entwickelt und sich im imaginären Dialog mit bedeutenden Vorgängern oder mit der Weltliteratur als kollektiver Instanz über seine eigene Identität als Autor verständigt. – Zwei kurze Gedichte lauten so: 

DIE FREUNDE

Wenn du in einer Kutsche gefahren kämst
Und ich trüge eines Bauern Rock
Und wir träfen uns eines Tags so auf der Straße
Würdest du aussteigen und dich verbeugen.
Und wenn du Wasser verkauftest
Und ich käme spazieren geritten auf einem Pferd
Und wir träfen uns eines Tags so auf der Straße
Würde ich absteigen vor dir.

 

DIE DECKE

Der Gouverneur, von mir befragt
Was, den Frierenden unserer Stadt zu helfen, nötig sei
Antwortete: Eine zehntausend Fuß lange Decke
Welche die ganzen Vorstädte einfach zudeckt.

Beide Texte stammen, wie schon „Bei der Geburt eines Sohnes“, aus der Gruppe der „Chinesischen Gedichte“,73 und sie bestätigen unseren früheren Eindruck: den einer großen ästhetischen wie gedanklichen Affinität. Brecht knüpft hier an eine Tradition an, deren „Volksläufigkeit“ er rühmt74 und an der er die Kombination von politischer Brisanz mit Artistik und Amüsement hervorhebt, ihre rationale Transparenz und elliptische Präzision ohne jede Dunkelheit oder Sentimentalität.75 An seinem Lieblingsdichter Po Chü-yi (772–846), dem Verfasser des „Decke“-Gedichts, lobt er das Populäre, das Nicht-Exklusive und souverän Didaktische: Pos Lieder seien „im Mund von Bauern und Pferdeknechten“ gewesen, sie hätten „auf den Wänden von Dorfschulen, Tempeln und Schiffskabinen“ gestanden, und er selbst habe von sich gesagt: „Wenn die Tyrannen und Günstlinge meine Lieder hörten, sahen sie einander an und verzogen die Gesichter“.76 Auch habe Po der Sage nach viele Gedichte zuerst „einem Bauernweib vorgelesen, um festzustellen, wie verständlich sie waren“.77 (Da denkt man an Benjamins Mitteilung, daß auf dem Fensterbord in Brechts Svendborger Arbeitszimmer ein kleines Holzeselchen stand, das mit dem Kopf nicken konnte und dem Brecht ein Schildchen mit der Inschrift umgehängt hatte: „Auch ich muß es verstehen!“)78
Unsere beiden Beispiele lassen diese Qualitäten gut erkennen: Das auf einen um 100 v.Chr. lebenden unbekannten Dichter zurückgehende Gedicht „Die Freunde“ lebt ganz aus der Übersetzung einer allgemeinen Haltung in Bild und Gestus, es macht das theoretische Konzept ,Freundschaft/Freundlichkeit‘ (bekanntlich eine Zentralvokabel Brechts) in beinahe zeremoniellen Gebärden vorstellbar, sinnlich evident. Zwei Freunde umschreiben das Maß ihrer Zuneigung, indem sie einander geloben, bei einem künftigen Wiedersehen werde sich jeweils der dann Höhergestellte (der mit der Kutsche oder dem Pferd) vor dem anderen, dem Bauern oder Wasserverkäufer, verneigen, ihm Ehre erweisen. Das Gedicht negiert also soziale Rang- oder Klassenunterschiede keineswegs, es betont sie sogar, und die beiden Freunde rechnen mit ihnen als einer bestimmenden Wirklichkeit. Aber: sie suspendieren die Geltung der Hierarchie individuell und nur für diesen besonderen Fall und geben damit eine Vorstellung ebenso von der Größe dessen, was Freundschaft heißt, wie zugleich von seiner Unwahrscheinlichkeit, Seltenheit. Freundschaft ist die utopische Ausnahme, die die Regel von Herrschaft und Ungleichheit bestätigt. Man könnte auch sagen: Das Gedicht spricht nicht von einer klassenlosen Gesellschaft. Aber es deutet an, daß es Höheres geben könnte als soziale Rangordnungen.
Ein sozialer Gestus wird auch in „Die Decke“ illustriert, wo Brecht in Po Chü-yis Gedicht jedoch zugleich stark eingreift. In der Vorlage dominierte ein sozialkritisches Mitleids-Motiv: Es sei doch kläglich unzureichend, nur einen Frierenden zu wärmen, sagt dort der lyrische Sprecher, vielmehr bedürfte es angesichts der großen Zahl von Armen einer zehntausend Fuß langen Decke für die ganze Stadt. Brecht funktioniert das um, erzeugt einen Dialog und entlarvt eine zynische Attitüde: Aus dem Mund des über das Elend zur Rede gestellten Gouverneurs wird der Wunsch nach der großen Decke zumindest zweideutig; der Verdacht entsteht (und soll entstehen!), da gehe es wohl weniger um Hilfe für die Armen, als vielmehr um Bemäntelung, um die Kaschierung unhaltbarer und unschön anzusehender sozialer Zustände, denen im übrigen, das ist die Brechtsche Nebenimplikation, mit bloßem Mitleid auch dann nicht beizukommen wäre, wenn der Gouverneur Mitleid hätte und helfen wollte (wofür aber nichts spricht). In dieser Umakzentuierung werden die sehr fließenden Übergänge von Nachdichtung, Verschärfung und Gegenentwurf in Brechts Schreiben nach Modellen sichtbar. Aber an seiner prinzipiellen Hochschätzung der chinesischen Lyrik und der Verwandtschaft eines literarisch-gedanklichen Gestus bleibt kein Zweifel. Brecht knüpft an eine sehr alte außereuropäische Dichtungstradition an, durch deren klare poetische Zeichensprache er sich in eigenen Intentionen bestätigt sieht.
Das verhält sich erheblich anders bei dem (um 1938 zusammengestellten) Zyklus der sogenannten „Studien“ oder „Literarischen Sonette“,
79 einer von der Forschung erstaunlich stiefmütterlich behandelten Sammlung von Gedichten über Gedichte,80 die die klassische Bekanntheit ihrer Vorlagen zugleich voraussetzen und sie einer satirisch-parodistischen Revision unterziehen: Hier wird Streit gesucht, ,Streit und Gelächter‘ – wir werden der Formel noch wiederbegegnen. Brecht bezeichnet die Serie als „ein Beispiel […], wie die Dichter verschiedener Epochen einander beerben“; er wolle damit „den Genuß an den klassischen Werken nicht vereiteln, sondern reiner machen“, und gerade dem „guten Leser“ werde „das frühere Gedicht durch das spätere nicht verleidet“.81 Hier die Replik auf eine berühmte Ballade der Weimarer Klassik: 

ÜBER SCHILLERS GEDICHT „DIE BÜRGSCHAFT“

O edle Zeit, o menschliches Gebaren!
Der eine ist dem andern etwas schuld.
Der ist tyrannisch, doch er zeigt Geduld
Und läßt den Schuldner auf die Hochzeit fahren.

Der Bürge bleibt. Der Schuldner ist heraus.
Es weist sich, daß natürlich die Natur
Ihm manche Ausflucht bietet, jedoch stur
Kehrt er zurück und löst den Bürgen aus.

Solch ein Gebaren macht Verträge heilig.
In solchen Zeiten kann man auch noch bürgen.
Und, hat’s der Schuldner mit dem Zahlen eilig

Braucht man ihn ja nicht allzustark zu würgen.
Und schließlich zeigte es sich ja auch dann:
Am End war der Tyrann gar kein Tyrann!
82

Natürlich springt sofort die Sonettform ins Auge und eine aus ihrem Gebrauch resultierende Spannung: Einerseits wird hier den Klassikern in klassischer Form begegnet, die Sonette reden mit den vergangenen Dichtern in deren eigener Sprache, gewissermaßen „con mortuis in lingua mortuorum“, wie es in einer Episode aus Modest Mussorgskis Bildern einer Ausstellung heißt. Und sie scheuen vor Pathos und erhabener Diktion nicht zurück: „O edle Zeit, o menschliches Gebaren!“, beginnt die Schiller-,Studie‘. Aber diese große Pose erweist sich sogleich als verdächtig hohl, als mokantes Echo aus Traditionen, deren Geltung nicht bestätigt, sondern in Frage gestellt wird: Das in spöttischem Stakkato gehaltene Referat der Bürgschafts-Ballade, das auf diesen pathetischen Introitus folgt, sucht die Vorlage gezielt zu demontieren, und wenn Brechts volltönende Eingangsinvokation sich rasch als eine Zitatformel erweist, der nicht zu trauen ist, so soll das signalisieren: dem Edelmut und der aus allen Lesebüchern bekannten Humanität des klassischen Modells selbst ist nicht zu trauen.83
Tatsächlich holt Brechts schnoddrige Paraphrase an Schillers Ballade gerade das allzu glatte Zusammenspiel jener beiden Elemente heraus, die mit Sicherheit für die überragende Popularität dieses Gedichts noch in unserer Großelterngeneration (und zu ihr gehörte auch Brecht!) verantwortlich waren, also jene charakteristische Melange von hohem idealistischem Ethos einerseits und trivialpädagogischer Spannung andererseits: Das planmäßige Auftürmen und Wiederbeiseiteräumen der Hindernisse vor Damon, der zur Auslösung des Bürgen und zu seiner eigenen Hinrichtung nach Syrakus zurückeilt, dieser ganze heroische Hindernislauf gegen die Uhr der untergehenden Sonne, ein Lauf scheinbar in den heldenhaften Tod, aber dann doch ins triumphale Finish der Verbrüderung und des ansteckenden Beispiels: „Ich sei, gewährt mir die Bitte / In eurem Bunde der Dritte“, spricht am Ende der gerührte und durchs edle Exempel bekehrte Tyrann, ein naher Verwandter des Taurerkönigs Thoas – dieses teleologische Arrangement mußte Brecht zum Widerspruch reizen: Sein Sonett trifft mit ein paar maliziösen Kürzeln denn auch zuerst den allzu ungehemmten Fügungs- und Kolportageaspekt der Schillerschen Ballade. Zeile 4f., erste ironische Volte: Was für ein geduldiger Tyrann, der den Schuldner erst noch auf die Hochzeit fahren läßt! Zeile 7f.: „Es weist sich, daß natürlich die Natur / Ihm manche Ausflucht bietet“ – Spott über Schillers Arbeit mit Versatzstücken, über seinen Spannungsaufbau und seine durchsichtige Verzögerungstaktik; und obendrein eine böse Unterstellung: Schillers kantianischer Damon sucht ja gerade keine Ausflucht, vielmehr will er, gegen alle Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellen, partout anstelle des Freundes an den Galgen, was Brechts Gedicht nun wiederum nicht ehrenhaft nennt, sondern „stur“! Zeile 12f.: „Und, hat’s der Schuldner mit dem Zahlen eilig // Braucht man ihn ja nicht allzustark zu würgen“ – eine Persiflage auf das haarscharfe timing des Geschehens, das eben nur beinahe schlecht ausgeht und doch a priori nur gut ausgehen konnte, weil eine auktoriale Theodizee (gewissermaßen als ,Bürgschaft hinter der Bürgschaft‘) die Möglichkeit eines anderen, schlimmeren Endes schlicht und einfach nicht wahrhaben wollte. Fazit nach alledem, Zeile 14f.:

Und schließlich zeigte es sich ja auch dann:
Am End war der Tyrann gar kein Tyrann!

Hier schlägt der Vorwurf des poetisch bequem Zurechtgelegten vollends um in die Kritik einer schönfärberischen Ideologie: Der Marxist Brecht beschuldigt Schillers proklamatorischen Idealismus einer realitätsfremden Verharmlosung. Und der Exilant Brecht, den die Häscher eines anderen Tyrannen, nicht Dionys, sondern Hitler, selbst gern in Bande geschlagen hätten, stimmt aus Erfahrung zu.
Ein noch stärkeres Gefälle zwischen Hommage und Sakrileg bestimmt das vielleicht bekannteste Gedicht der „Studien“, Brechts Dante-Sonett:84

ÜBER DIE GEDICHTE DES DANTE AUF DIE BEATRICE

Noch immer über der verstaubten Gruft
In der sie liegt, die er nicht haben durfte
Sooft er auch um ihre Wege schlurfte
Erschüttert doch ihr Name uns die Luft.

Denn er befahl uns, ihrer zu gedenken
Indem er solche Verse auf sie schrieb
Daß uns fürwahr nichts andres übrigblieb
Als seinem schönen Lob Gehör zu schenken.

Ach, welche Unsitt bracht er da in Schwang
Als er mit so gewaltigem Lobe lobte
Was er nur angesehen, nicht erprobte.

Seit dieser schon beim bloßen Anblick sang
Gilt, was hübsch aussieht, wenn’s die Straße quert
Und was nie naß wird, als begehrenswert.

Hier wird, unter Bezug auf die (vor allem in der Vita Nuova überlieferte und metaphysisch überhöhte) Liebe des Dichters zu der donna angelo Beatrice, der ebenso unerreichbaren wie gerade darum ins Spirituell-Überirdische verklärten Frau,85 an einen der großen, folgenreichen Gründungsmomente der abendländischen Liebeslyrik erinnert und mitgemeint ist dabei vieles andere: der dolce stil nuovo, Petrarca und Laura, der Canzoniere und die ganze eminente Traditionslinie des europäischen Petrarkismus bis hin zu Heine und Baudelaire.86 Ein riesiger Traditionshorizont, auf den ich jetzt nur hinweisen kann (und der auch über viele Jahrhunderte schon seinen eigenen antipetrarkistischen Gegenkanon hervorgerufen hat und mit sich zieht).87 Zuallererst ist Brechts Sonett Tribut gegenüber einer außerordentlichen poetischen Leistung: In sehr starken und anerkennenden Epitheta ist von der Zwangsgewalt der Danteschen Sprache die Rede, von der imperatorischen Erinnerungsgebärde des Dichters („er befahl uns, ihrer zu gedenken“), von seinem „gewaltigen Lobe“ der Frau in ihrer längst „verstaubten Gruft“ und von der jeden Widerstand unterlaufenden Schönheit eines Gesangs, der man sich auch nach Jahrhunderten so wenig zu entziehen vermöge, daß selbst noch modernen Lesern „fürwahr nichts andres übrigblieb / Als seinem schönen Lob Gehör zu schenken.“ Das ist nun gewiß Respekt vor der Mnemosyne, kollegiale Anerkennung literarisch gestifteter Dauer in dem vorhin erörterten Sinn. Aber zu dieser Hommage gibt es erneut widerwillige und gezielt despektierliche Gegentöne: Mit dem Preis von Dantes dichterischer Größe kontrastiert die verkleinernde Karikatur des Liebhabers Dante, der (Z. 2f.) seine Angebetete „nicht haben durfte / Sooft er auch um ihre Wege schlurfte“. Das ,Nicht-haben-Dürfen‘ der Geliebten ist in einer Vorstufe des Textes88 noch sehr viel drastischer, sogar ausgesprochen vulgär ausgedrückt – die Formulierung entstammt im weitesten Sinne der Sphäre der Ornithologie –, und auch das ,Schlurfen‘ ist ja nicht gerade eine sehr imposante, schon eher eine gebrochene und mitleiderregende Fortbewegungsart. An Dante ergeht der Vorwurf, er habe eine bezwingend schöne und anhaltend einflußreiche, nur leider fragwürdige Konzeption der Liebespoesie begründet, er habe (Z. 10ff.) eine „Unsitt in Schwang“ gebracht, „Als er mit so gewaltigem Lobe lobte / Was er nur angesehen, nicht erprobte.“ Und auf dieses ins Lächerliche gezogene Dantesche (und petrarkistische) Liebesmodell mit seinen Implikationen von Spiritualität und sinnlichem Verzicht, von Leib-Seele-Dualismus und Zwei-Welten-Lehre89 antwortet Brechts Gedicht mit einer entschieden diesseitigen und prononciert erotischen Gegenvorstellung von Liebe, in der das Haben-Dürfen der Geliebten, ihr körperliches ,Erproben‘ (Z. 12), aber auch ihr eigenes begehrliches ,Naßwerden‘ (Z. 15) notwendig dazugehören. Die Dosis Obszönität, die sich Brecht hier gestattet – er gestattet sich oft auch sehr viel höhere Dosen, man denke nur an den zu Recht berüchtigten Zyklus der „Augsburger Sonette“90 –, diese Prise von Obszönität in Brechts Dante-Sonett fungiert als eine Art Gegengift gegen einen einseitig durch Vergeistigung und Verzicht geprägten Liebescode, und im übrigen wird der Verdacht insinuiert, daß Dantes Verse in all ihrer sublimen Schönheit das Produkt einer bedenklichen Überkompensation seien: Für die reale Versagung der Liebe tritt deren poetische Verklärung ein; Kunst wird zur Ersatzbefriedigung. Dantes Kult um Beatrice stammt nach Brecht aus ungesunden Wurzeln: daher die schlimme Diskrepanz von ,erschütternden‘ Versen und ,schlurfendem‘ Dichter.
Insgesamt sind das Dante- wie das Schiller-Sonett und auch alle weiteren Studien Ausdruck eines kritischen Kontinuitätsbewußtseins; sie zielen auf die Korrektur abgelehnter Haltungen, leugnen aber die Macht und die fortdauernde Wirksamkeit der Tradition nicht. Und schon zu ihrem eigenen Verständnis bleiben Brechts Gegenentwürfe auf die anhaltende Bekanntheit ihrer klassischen Bezugstexte ja angewiesen. Sehr schön hat Walter Benjamin aus nächstem Umgang mit dem Svendborger Exilanten gesagt:

Der Vorbehalt erscheint in diesen Studien nicht ohne die Reverenz. Die vorbehaltlose Huldigung, die einem barbarischen Begriff von Kultur entspricht, ist einer Huldigung voller Vorbehalte gewichen.91

(Welch schöne, aufklärerische Formel: „eine Huldigung voller Vorbehalte“!)
Eine Huldigung ohne Vorbehalt finden wir aber in unserem letzten Gedicht, „Besuch bei den verbannten Dichtern“.92 Es gilt nicht der Auseinandersetzung mit einem bestimmten Vorgängertext, sondern entwirft eine Vision der Weltliteratur als eines kollegialen Forums; im Detail wäre viel darüber zu sagen. Ich will jetzt jedoch nur wenige Punkte hervorheben und das Werk für ein vorläufiges Resümee nutzen, indem ich es gleichsam als eine Parabel über die mémoire collective der Literatur lese: 

BESUCH BEI DEN VERBANNTEN DICHTERN

Als er im Traum die Hütte betrat der verbannten
Dichter, die neben der Hütte gelegen ist
Wo die verbannten Lehrer wohnen (er hörte von dort
Streit und Gelächter), kam ihm zum Eingang
Ovid entgegen und sagte ihm halblaut:
„Besser, du setzt dich noch nicht. Du bist noch nicht gestorben. Wer weiß da
Ob du nicht doch noch zurückkehrst? Und ohne daß andres sich ändert
Als du selber.“ Doch, Trost in den Augen
Näherte Po Chü-i sich und sagte lächelnd: „Die Strenge
Hat sich jeder verdient, der nur einmal das Unrecht benannte.“
Und sein Freund Tu-fu sagte still: „Du verstehst, die Verbannung
Ist nicht der Ort, wo der Hochmut verlernt wird.“ Aber irdischer
Stellte sich der zerlumpte Villon zu ihnen und fragte: „Wie viele
Türen hat das Haus, wo du wohnst?“ Und es nahm ihn der Dante beiseite
Und ihn am Ärmel fassend, murmelte er: „Deine Verse
Wimmeln von Fehlern, Freund, bedenk doch
Wer alles gegen dich ist!“ Und Voltaire rief hinüber:
„Gib auf den Sou acht, sie hungern dich aus sonst!“
„Und misch Späße hinein!“ schrie Heine. „Das hilft nicht“
Schimpfte der Shakespeare, „als Jakob kam
Durfte auch ich nicht mehr schreiben.“ „Wenn’s zum Prozeß kommt
Nimm einen Schurken zum Anwalt!“ riet der Euripides
„Denn der kennt die Löcher im Netz des Gesetzes.“ Das Gelächter
Dauerte noch, da, aus der dunkelsten Ecke
Kam ein Ruf: „Du, wissen sie auch
Deine Verse auswendig? Und die sie wissen
Werden sie der Verfolgung entrinnen?“ „Das
Sind die Vergessenen“, sagte der Dante leise
„Ihnen wurden nicht nur die Körper, auch die Werke vernichtet.“
Das Gelächter brach ab. Keiner wagte hinüberzublicken. Der Ankömmling
War erblaßt.

Das Gedicht, formal ein Musterbeispiel für den von Brecht mit großer Sorgfalt entwickelten Typus einer „reimlosen Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“,93 stammt aus der Abteilung „Chroniken“ der Svendborger Gedichte. Es ist ein Exilwerk und ein Werk über das Exil, d.h. es denkt über die Situation von Autoren nach, denen ihr Publikum genommen wurde und über die es in einem benachbarten Gedicht94 heißt: 

Mit ihren Verfahren
Haben sie mehr Verbindung als mit ihren Zeitgenossen
Und am gierigsten blicken sie
Die ohne Gegenwart scheinen
Auf ihre Nachkommen.

Im vorliegenden Fall vollzieht sich diese Selbstvergewisserung per Berufung auf die großen Vorgänger in Form einer deutlich durch Dantes Divina Commedia inspirierten Vision: Ein gegenwärtiger Exilautor besucht im Traum die Hütte der verbannten Dichter früherer Zeiten, die (Z. 3f.) „neben der Hütte gelegen ist, wo die verbannten Lehrer wohnen“, eine für Brechts Konzeption von Poesie natürlich alles andere als zufällige Nachbarschaft. Der Besucher wird (Z. 31) nur „der Ankömmling“ genannt, aber ein autobiographischer Bezug ist mit Händen zu greifen; ein Parallelgedicht95 sagt ausdrücklich:

Der Augsburger geht mit Dante durch die Hölle der Abgeschiedenen.

Dante fungiert auch in unserem Text als eine Art Führer, er ist gleichsam Brechts Vergil.
Zunächst ist offensichtlich: ,Der Augsburger‘ erschreibt sich hier (wie er das vielfach tut) eine imaginäre weltliterarische Ahnengalerie, und die Liste allererster Namen zeigt, daß da kein bescheidener Anspruch formuliert ist: Nicht umsonst läßt das Gedicht (Z. 10) den Dichter Tu-fu sagen:

Du verstehst, die Verbannung
Ist nicht der Ort, wo der Hochmut verlernt wird

Das literarische Pantheon, in dem der Ankömmling sich plaziert, erinnert in seiner „simultaneous existence“ von Dichtern verschiedenster Sprachen, Kulturen und Epochen an Eliots Rede vom „ideal order“ der literarischen Tradition und der kulturellen Memoria. Und die Belegschaft der Hütte kann sich sehen lassen: aus der Antike sind Euripides und Ovid vertreten, aus China Po Chü-yi und Tu-fu, dann durch die europäischen Jahrhunderte Dante, Villon und Shakespeare, Voltaire und Heine. Der kleinste gemeinsame Nenner dieses ,Clubs der toten Dichter‘, in dem es aber überaus lebendig zugeht, besteht darin, daß es sich bei allen Autoren um Exilanten handelt: Ausnahmslos sind sie mit der Macht ihrer jeweiligen Zeit in Konflikt geraten, haben sie ihr Schreiben als ein ebenso bedeutendes wie riskantes Amt praktiziert und sich, wie Po Chü-yi (Z. 10f.) stellvertretend sagt, „die Strenge verdient“, weil sie das Unrecht benannten. Diese Idee der littérature engagée als eines zu allen Zeiten gefährlichen und seine Repräsentanten gefährdenden Gegendiskurses der Macht wird in einem großen kollegialen Stimmengewirr und in vielen Ratschlägen an den Neuankömmling durchgespielt, jeder vergangene Autor steuert seine Erfahrungen bei und gibt dem Lebenden konspirative Tips: der zerlumpte Villon rät, sich immer Fluchtwege offenzulassen, Heine mahnt zu subversivem Humor, der wohlhabende Voltaire empfiehlt die materielle Absicherung: „Gib auf den Sou acht, sie hungern dich aus sonst!“ (Z. 19) usw. Bei aller Individualität der Schicksale aber gilt: All diesen Dichtern wurde durch die Macht ihrer Zeit schlimm mitgespielt, jedoch blieb ihr Werk in der mémoire collective der Literatur erhalten, und das zählt mehr. Mitgedacht ist dabei auch: Diese Dichter sind gerade deshalb erinnernswert, weil sie sich nicht gebeugt, sich und ihr Werk nicht korrumpiert haben. Ovid bringt diese conditio sine qua non der literarischen Memoria ins Spiel, als er, eine Art Türsteher im ,Club der toten Dichter‘, den neuen Kollegen mit den Worten empfängt (Z. 7ff.):

Besser, du setzt dich noch nicht. Du bist noch nicht gestorben. Wer weiß da
Ob du nicht doch noch zurückkehrst? Und ohne daß andres sich ändert
Als du selber.

Aber, auch ganz abgesehen von der Frage der subjektiven Unbeugsamkeit und Unbestechlichkeit: eine Garantie auf die longue durée gibt es nicht, und das Andenken bleibt prinzipiell bedroht. Der fröhliche kommunikative Geist unseres Gedichts mündet, ab Zeile 25, in eine bedrückende Schlußpartie, die das Gelächter verstummen und den Ankömmling erblassen läßt: Aus der dunkelsten Ecke melden sich warnend die „Vergessenen“, jene Dichter, deren Verse keiner auswendig wußte und von denen Dante erklärt (Z. 30): „Ihnen wurden nicht nur die Körper, auch die Werke vernichtet.“ (Man beachte, bei einem Materialisten wie Brecht, die ausgeprägt idealistische Rangfolge von physischer Existenz und künstlerischem Œuvre.) Dieses gespenstische Menetekel hat natürlich, unter Bedingungen des Exils, einen sehr konkreten zeitgeschichtlichen Bezug: In Epochen der diktatorisch unterbundenen Kommunikation, der verbannten Dichter und der verbrannten Bücher, wird das Ende des Schreibens vorstellbar. Aber die Stelle läßt sich, denke ich, auch als eine negative Utopie der Literatur überhaupt lesen, als Vision vom Abbruch der Tradition und vom Anbruch eines Schweigens, in dem die Werke nicht mehr auswendig gewußt, nicht mehr weitergegeben und nicht mehr im aktiven Erinnern erneuert werden. Das wäre der hermeneutische Kältetod der Literatur.
Erst vor diesem düsteren Hintergrund leuchtet die helle Formel richtig auf, die ich zum Titel meines Vortrages gewählt habe, weil sie im Blick auf Brecht (aber auch weit über Brecht hinaus) eine Utopie der lebendigen und produktiven Verständigung über Literatur bezeichnet: „er hörte von dort / Streit und Gelächter“, heißt es Zeile 4f. über die Hütte der verbannten Lehrer, und dasselbe ließe sich, wie das Gedicht turbulent vor Augen führt, auch von der Hütte der Dichter sagen: Sie selbst streiten und lachen heftig mit- und übereinander, und sie werden nicht vergessen sein, solange über sie gestritten und gelacht wird. Streit und Gelächter sind Modi der Lebendigkeit und der Nicht-Gleichgültigkeit, der intensiven Anteilnahme und des Nicht-Vergessens, und als Leitvorstellung für die Verständigungsverhältnisse im und mit dem ,Club der toten Dichter‘ erscheinen sie mir allemal fruchtbarer als der Gedanke an eine Walhalla voller Feierlichkeit und Totenstille, in der jede Dichterbüste verschlossen geradeausstarrt in ihren eigenen marmornen Ruhm. Brecht nannte so etwas unwillig:

Einschüchterung durch die Klassizität.96

Und er setzte dieser sterilen und zur ehrfürchtigen Erstarrung neigenden Konzeption von Kunst die Vorstellung der Literatur als eines Nicht-Fertigen, Fortzuführenden, Weiterzuschreibenden, als eines zukunftsoffenen Gedächtnissystems entgegen. In einem sehr schönen Lehrgedicht von 1929, „Über die Bauart langdauernder Werke“,97 ist diese Idee mit wunderbarer Prägnanz so gefaßt: 

Wie lange
Dauern die Werke? So lange
Als bis sie fertig sind.
Solange sie nämlich Mühe machen
Verfallen sie nicht.

Einladend zur Mühe
Belohnend die Beteiligung
Ist ihr Wesen von Dauer, solange
Sie einladen und belohnen.

Ich habe an wenigen Beispielen zu zeigen versucht, daß „Streit und Gelächter“ grundlegende kommunikative Affekte sind, wo der Lyriker Bertolt Brecht an weltliterarische Traditionen anknüpft, auch um sie weiterzuschreiben und zu verändern, um ihnen zu widersprechen oder sie parodistisch zu demolieren. Und gerade weil Literatur diesen dialogischen und polyphonen Zug besitzt und für mehr als eine Meinung Raum läßt, wäre es, liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, zweifellos ein Indiz dafür, daß wir uns auf der Höhe unseres Gegenstandes bewegen, wenn „Streit und Gelächter“ auch die Geräusche wären, die aus unseren eigenen Hörsälen und Seminarräumen zu hören wären: Mit ex cathedra verkündeten Gewißheiten und mit Monologen egal aus welcher Richtung werden wir der Vielstimmigkeit der Poesie sowenig entsprechen wie mit feierlich-stummer Ergriffenheit.
Gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, eine allerletzte Implikation meines Vortrages ausdrücklich zu machen: Wir haben in mannigfachen Abwandlungen die Devise ars longa, vita brevis umkreist, d.h. wir haben der courte durée des individuellen Lebenszyklus die potentielle longue durée der kulturellen Werke und der Institutionen der mémoire collective gegenübergestellt. Zu diesen Einrichtungen der Wissenstradierung und des kulturellen Langzeitgedächtnisses gehört auch die Universität, und zwar um so unbestrittener dann, wenn sie sich zugleich als universitas semper reformanda, als lernfähige und zur Selbstkorrektur bereite Institution begreift. Aus alledem folgt: Bert Brechts 200. Geburtstag wird keiner von uns mehr erleben. Aber dieses Jubiläum wird, falls sich die Menschheit nicht machtvoll und geschäftig in die kulturelle Illiterarität vorarbeitet oder in eine neue Steinzeit der Memoria – Sie erinnern sich: „Der Wächter im Bärenfell / […] über den Knien die Büchse / (Oder den Bogen)“ –, Bertolt Brechts 200. Geburtstag wird, nach uns, am 10. Februar des Jahres 2098, gefeiert werden, zweifellos auch an der florierenden Universität Augsburg. Sie wird dann (das traue ich unseren Nachgeborenen zu, wenn wir selbst uns schon nicht trauen, was freilich entschieden besser wäre), sie wird dann „Bertolt-Brecht-Universität Augsburg“ heißen. Denn da es im ,Club der toten Dichter‘ nun einmal sehr lebendig zugeht, muß es nicht unbedingt ein Grabstein sein (er sagte, er benötige keinen), und es muß nicht unbedingt, wie er sich das dachte, falls wir einen für ihn benötigen sollten, darauf stehen: ‑ „Er hat Vorschläge gemacht, wir haben sie angenommen“. (Sosehr andererseits nun endlich einmal Schluß sein könnte mit der ewig selbstgerechten Litanei: „Er hat Fehler gemacht, wir haben sie übelgenommen“.) Viel wichtiger, ja schlechterdings entscheidend ist doch das Eine: Bertolt Brecht aus Augsburg hat, neben diversen Vorschlägen, die wir ihm nicht allesamt und ohne weiteres abgenommen haben, auch sehr große und dauerhafte Gedichte gemacht, einige der schönsten und bedeutendsten des 20. Jahrhunderts, diese Gedichte und natürlich auch seine großen Dramen haben wir angenommen, und das sollten wir ihm nicht vergessen und ihm seine reiche Gabe auch nicht mit schwäbischer Sparsamkeit (also etwa mit der Benennung eines fensterlosen kleinen Hörsaals der Philosophischen Fakultät!) vergelten. Und wir müssen keine Sorge haben: Gerade dieser kritische, aufklärerische und dialektische Geist hätte zweifellos Sinn dafür gehabt, wenn wir die Inschrift „Bertolt-Brecht-Universität Augsburg“ nicht als Ausdruck pauschaler Verehrung und blinder Gefolgschaft, sondern – im Sinne Benjamins und im Sinne auch von Brechts eigener streitbar-kollegialer Mitgliedschaft im ,Club der toten Dichter‘ – als eine differenzierte Huldigung verstünden, die den einen oder anderen Vorbehalt nicht auszuschließen bräuchte. Ich glaube, es wäre klug von uns, Herr Rektor, meine Damen und Herren, wenn wir, da die Zeit doch sowieso für die großen Dichter und ihre Werke arbeitet, noch einmal ernsthaft darüber nachdächten, ob wir unseren Nachgeborenen in diesem Punkt nicht besser zuvorkommen sollten. Wie sagt doch das Gedicht vom nicht-benötigten Grabstein:

Durch eine solche Inschrift wären wir alle geehrt. 

Werner Frick, aus Helmut Koopmann (Hrsg.): Brechts Lyrik – neue Deutungen, Königshausen & Neumann, 1999

Welt und Wirklichkeit 

– Zur späten Lyrik Bertolt Brechts. –

Es ist noch immer schwierig, Geschlossenes zu sagen zu einer bestimmten Gruppe von Gedichten innerhalb des lyrischen Gesamtwerks Bertolt Brechts. Die Forschungslage ist dürftig, und wenn Walter Jens vor einigen Jahren bereits darauf hinwies, daß „eine sachlich umfassende Deutung des Lyrikers B. B.“ noch immer ausstehe,98 so gilt diese Feststellung im ganzen nach wie vor. Die selektive Einzeluntersuchung wird sich demnach nicht nur durch ihre Ergebnisse zu legitimieren haben, sondern auch im Hinblick auf das, was sie als Beitrag zu einer künftigen Gesamtschau der lyrischen Produktion Brechts leistet. Ein Verfahren, das beiden Anforderungen methodisch am ehesten gerecht werden kann, muß der Tatsache Rechnung tragen, daß die späte Lyrik kein in sich geschlossener Komplex ist, daß sie nicht nur Gewordenes, sondern auch Werdendes noch ist bis zur letzten Zeile, die Brecht schrieb. Geht man davon aus – und vieles spricht dafür –, daß Brecht seinen lyrischen Standort im Jahr 1938 – ein Jahr vor dem Erscheinen der „Svendborger Gedichte“ also – einer Überprüfung unterzog,99 und sieht man die folgenden Arbeiten der Jahre 1939 bis 1956 insgesamt als Resultat dieser Überprüfung an, so erweist sich bei genauer Betrachtung, daß ein abermaliger Einschnitt in der lyrischen Produktion Brechts um das Jahr 1948 – das Jahr seiner Rückkehr nach Berlin – anzusetzen ist. Spricht man somit von der ,späten‘ Lyrik Brechts, so wird in diese Kategorie lediglich alles nach 1947 Entstandene zu rechnen sein und nicht, wie in der Forschung bislang vorwiegend angenommen wurde,100 auch ein großer Teil der im Exil verfaßten Gedichte. Diese Texte von 1938 bis 1947, die ,mittleren‘ also, liefern jedoch zu einem wesentlichen Teil die gedankliche Grundlage für die späte Lyrik. In ihnen spiegelt sich bereits, formal und gedanklich, Brechts „Eindringen in die Dialektik“101 in ihnen ist das Bewußtsein der späten Texte weithin vorgeprägt – auch wenn neue Chiffren und neue Inhalte hinzutreten. Sie werden in die folgenden Untersuchungen signifikanter Gedichte einzubeziehen sein. 

 

I. Deixis

Brechts Gedichte sind pragmatische (geschehnishafte) Gedichte.102

Die in vielen Texten prägende Gebärde des Zeigens, das ,Gestische‘,103 zielt immer hin auf ,Wirklichkeit‘, auf ein „Stück Welt“ (Brecht),104 das gewonnen wird als lyrisches Sujet, sogleich aber wieder vergeben an denjenigen, der es rezipiert, versteht und wieder in Wirklichkeit umsetzt: den Leser. Die Relation Autor – Wirklichkeit im lyrischen Sujet – Rezipient ist eng. Sie verlangt ein konkretes Sich-Einlassen auf die Kasuistik des Gedichts: ein williges Auge für den Zeigefinger des Autors. Sie verlangt aber auch die Fähigkeit des „kritischen Genießens: Mitarbeit, Weitergehen, Leben“ (Bertolt Brecht: Über Lyrik, 60). Sie impliziert, bei aller Bereitwilligkeit zum Mitgehen, die Distanz des Vergleichenden gegenüber dem lyrischen Gegenstand und dem repräsentierten „Stück Welt“. Deiktische Dichtung ist, ihrer Intention gemäß, weder subjektiv noch meditativ. Sie kann nicht gemessen werden am privaten Empfindungsbestand des Autors bzw. dem des Rezipienten. Sie entzieht sich idealistischer Kategorik:

Es gibt keinen Abstand von Dichter und Leser; man setzt sich mit Lyrischem nicht auseinander, man beurteilt es nicht. Wir empfinden es, oder es läßt uns kalt.105

Ihren Maßstab bildet die Realität von Welt und deren Äquivalent für Autor und Leser gleichermaßen im lyrischen Sujet.
Betrachtet man die Mittel der Deixis, die Transposition also von Wirklichkeit zum lyrischen Sujet und ihrer spezifischen Pointierung, in der mittleren Schaffenszeit Brechts im Vergleich mit den frühen Gedichten, so fällt ein deutlicher Wandel vom Subjektiven zum Intersubjektiven auf: 

Ich gestehe es: ich
Habe keine Hoffnung.
Die Blinden reden von einem Ausweg. Ich
Sehe.

Wenn die Irrtümer verbraucht sind
Sitzt als letzter Gesellschafter
Uns das Nichts gegenüber.
(„Der Nachgeborene“ [um 1920] [S. 99])
106

Das Gedicht lebt durch die unkaschierte Präsenz des lyrischen Ich in der ersten Strophe. Anaphorisch hervorgehoben steht es im Gegensatz zu den „Blinden“, diese wiederum werden in der zweiten Strophe miteinbezogen in das kollektive „uns“: der objektive Befund der Hoffnungslosigkeit betrifft alle. Die deklamatorische Spannung zwischen dem Subjektivismus der ersten und der Intersubjektivität der zweiten Strophe wird schließlich aufgehoben durch die deiktische Verbindlichkeit des Gesamtgedichts. Ganz anders der folgende Text: 

Die Oberen sagen: Friede und Krieg
Sind aus verschiedenem Stoff.
Aber ihr Friede und ihr Krieg
Sind wie Wind und Sturm.

Der Krieg wächst aus ihrem Frieden
Wie der Sohn aus der Mutter
Er trägt
Ihre schrecklichen Züge.

Ihr Krieg tötet
Was ihr Friede
Übriggelassen hat.

(Svendborger Gedichte 1; „Deutsche Kriegsfibel“ [S. 635])

Das lyrische Subjekt tritt nicht mehr in Erscheinung; hier heißt es: „Die Oberen…, ihr Friede…, ihr Krieg…, Ihre schrecklichen Züge“ und schließlich: „Der Krieg…“ Die Autonomie der Aussage ist gesichert. Sie verlangt nicht mehr nach dem Ich der persönlichen Stellungnahme. Ihr „Stück Welt“, auf das sie abzielt, liegt dem Leser greifbar vor Augen. Das Lyrische – verstanden als Transposition des Wirklichen – gleicht sich der Parabolik an. Die Metapher tendiert zum Vergleich107 („wie Wind und Sturm“, „Wie der Sohn aus der Mutter“), das Bild zur Sachbeschreibung („Ihr Krieg tötet / Was ihr Friede / Übriggelassen hat“). Ganz ähnlich vermengen sich formale Elemente verschiedenen Genres in den Gedichten mit fabulösem, deskriptivem oder chronikalischem Eingang („Im vierten Jahr aber entstieg der blutigen Flut / Ein kleines Tier, eine Schildkröte […]“ [S. 855]: „In Los Angeles vor den Richter, der die Leute examiniert […] Kam auch ein italienischer Gastwirt […]“ [S.860]; „Als wir kamen vor Milano / Haben wir nach Haus geschrieben […]“ [S. 879]). Auf die traditorische Gebärde des Vermittelns einer quasi-verbürgten Wahrheit, das Eindringen eines epischen Zugs in die Lyrik also, hat Volker Klotz.108 bereits hingewiesen. Die Heterogenität dieser Elemente und ihr Überwiegen in einzelnen Texten sollte allerdings nicht dazu führen, formale Klassen (Kompositionstypen) innerhalb der mittleren und späten Lyrik voneinander zu scheiden. Formale und strukturelle Phänomene lassen sich hier (und nicht nur bei Brecht) nicht von inhaltlichen und funktionalen Gegebenheiten isolieren. Und ebensowenig läßt sich die konstante Grundhaltung der Deixis ablösen von ihrer Folie, der ad-hoc-Wirklichkeit der Umwelt, die als lyrische Wahrheit begriffen und funktional zugespitzt wird. Brechts deiktische Gedichte haben zuvorderst einen sozialen Anspruch: die Vergabe von Welt. Der Variabilität ihrer konstitutiven Elemente entspricht die Veränderlichkeit von Welt. Daß es in der späten Dichtung gewisse inhaltliche Gruppierungen gibt – die ihre formalen, ästhetischen wie funktionalen Parallelen besitzen –, wird im folgenden zu zeigen sein. Die Deutung wird aber, gleich der Dichtung selbst, immer auszugehen haben vom Movens der Wirklichkeit.

 

II. Einst und Jetzt
Noch 1945, im kalifornischen Exil, denkt Brecht an sein „Einst“ zurück: 

Einst schien dies in Kälte leben wunderbar mir
Und belebend rührte mich die Frische
Und das Bittre schmeckte, und es war mir
Als verbliebe ich der Wählerische
Lud die Finsternis mich selbst zu Tische.

Frohsinn schöpfte ich aus kalter Quelle
Und das Nichts gab diesen weiten Raum.
Köstlich sonderte sich seltne Helle
Aus natürlich Dunklem. Lange? Kaum.
Aber ich, Gevatter, war der Schnelle.

(„Einst“ [S. 933f.]) 

Der Gestus des Gedichts ist klar und distanziert: ein Resümee. Kein resignativer Monolog, sondern eine Besinnung auf eine überwundene Position in glatten Trochäen. Eine Position, an deren Stelle eine andere getreten sein muß oder treten wird: ganz eindeutig hier die Vorzeitigkeit der präteritalen Verbformen („schien dies […] leben wunderbar mir; rührte mich die Frische; ich […] war der Schnelle“). Etwas Neues, das noch nicht genannt wird, kündigt sich an in diesen Versen, und seine Wirklichkeit mag sehr real gewesen sein in diesen Tagen für den Emigranten, dem die Rückkehr greifbar nahe rückte, für jeden, der noch teilhaben konnte am bevorstehenden Neubeginn. Noch ist da die Ungewißheit über diesen Neubeginn, die Bilanz des Übriggebliebenen erschreckend:

Im Haus ist der Pesttod
Im Frein ist der Kältetod.
Wohin gehn wir dann?
Die Sau macht ins Futter
Die Sau ist meine Mutter
O Mutter mein, o Mutter mein
Was tuest du mir an?

(„Deutschland 1945“ [S. 935]) 

Neben dem Ausweichen ins Fabulöse, Parabolische (das narrative Präsens), dem deiktisch-verallgemeinerten „Ich“ („Die Sau ist meine Mutter“) steht das ganz subjektive Betroffensein des ,Erlebnisgedichts‘:

Als ich kam in die Heimat
Und sah den Rest so stehn
Da bekam ich einen Schrecken
Und wollte schneller gehn
[…]
(„Als ich kam in die Heimat“ [S. 959f.]) 

Schwerlich wird man das äquivoke „als ich“ des Eingangs ins Allgemeine, „Traditorische“ vollends hinweginterpretieren können: die Verbindung „als ich kam“ ist zu stark situationsgebunden, um im gleichen Atemzug genannt zu werden mit Verbindungen wie „hör ich, lese ich“ etc. Das Präteritum belegt hier die subjektive Stringenz des lyrischen Vorgangs. Ähnlich präsent ist das lyrische Ich in den Gedichten der Dialektik des Einst und Jetzt:

Als ich wiederkehrte
War mein Haar noch nicht grau
Da war ich froh.

Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns
Vor uns liegen die Mühen der Ebenen.

(„Wahrnehmung“ [S. 960])

Ein neues Element kommt hinzu. Der Präsenz des auctorialen „Ich“ der ersten Strophe steht das kollektive „Wir“ der zweiten gegenüber. Das Engagement für das Künftige bezieht die (chiastisch umgriffene) Gemeinsamkeit all derer ein, die positiv dieses Künftige gestalten helfen:

[…] Genossen, laßt uns nicht ICH sagen
Auch wenn wir so oft ICH zu hören bekommen!
[…]
(„Ich habe dies, Du hast das“ [S. 964]) 

An die Stelle der Negation der frühen Gedichte, der gezielten Kritik der mittleren Gedichte tritt nun vielfach die Bejahung des Gegebenen. Einher geht mit dieser Entwicklung der Wandel des lyrischen Ich von krasser Isolation über die distanzierte Gegenposition zur kritisch-kooperativen Integrierung in eine Gemeinschaft von vielen. Wie die Antithetik ich – „ihr“ viele frühen, so prägt die Dialektik „ich“ – „wir“ ein gut Teil der späten Texte. Parteinahme für den Aufbau, das Zusammenwirken aller findet seinen Ausdruck in der Kohärenz des lyrischen Sujets. Äußere Ordnung entsteht, und mit ihr die Hoffnung auf eine kommende geistige Ordnung, eine Kontinuität des Neuen, Positiven. Was im Gedicht „An die Nachgeborenen“ (1940) als ferne Vision anklang, findet jetzt, in der Emphase der ersten Stunde, konkreten Ausdruck:

Als unsere Städte in Schutt lagen
Verwüstet durch den Krieg des Schlächters
Haben wir begonnen, sie wieder aufzubauen
In der Kälte, im Hunger, in der Schwäche.
[…] 

Dann machten wir für diese unsere Kinder
In den Schulen Platz und säuberten die Schulen
Und reinigten das Wissen der Jahrhunderte
Vom alten Schmutz, daß es gut für sie sei.

(„Als unsere Städte in Schutt lagen“ [S. 960])

Der Aufbau aus dem Verwüsteten, Diffusen („Außer diesem Stern, dachte ich, ist nichts, und er / Ist so verwüstet.“ [S. 959]) beginnt beim Einfachen und Konkreten, den Materialien: Schutt, Ziegel, Eisenkärren, Schulen. Und wie sich das, als Einzelelement einer neuen Ordnung lyrische Sujet zum Ganzen fügt, so fügt sich hier auch die Sprache des Autors zu einfacher Kontinuität. Abbreviaturen, Ellipsen, Zeugmen und die Technik des ,missing link‘ (W. Benjamin hat sie in seinen „Versuchen über Brecht“ illustriert), die die frühe und mittlere Lyrik zeichnen, finden sich in den späten Gedichten relativ selten. Teilnahme tritt an die Stelle des Kalküls, lineare Elemente der Darstellung entsprechen der Kontinuität neuer Ordnung.

III. Utopie der Kindheit
Bezeichnend für diese neue Position der Spätgedichte ist ihr erster Zyklus, die „Neuen Kinderlieder“ aus dem Jahre 1950. Wenn Brecht hier Altes und Neues in der Schau des Kindes zeigt und es zugleich Kindern zeigt – ein didaktischer Anspruch liegt in den „Neuen Kinderliedern“ ebenso vor wie in den Kinderliedern der dreißiger Jahre und den „Drei Soldaten“ –, so wird man hierin mehr zu sehen haben als nur den Rückgriff auf einfache Formen oder gar eine Reverenz vor dem Bemühen des neuen Staates DDR um seine Jugend. Gewiß sind diese Lieder auch politisch, ihrer Intention nach jedoch mehr als ein Politikum. In ihnen verbindet sich die Unmittelbarkeit der Erfahrung mit der Mittelbarkeit der deiktischen Geste. Märchenhaftes („Es war einmal eine Mutter / War Mutter Courage genannt“) steht hier neben expliziter Dialektik des Alten und Neuen:

Es stand ein Werk am Havelstrand
Da war der Herr der Fabrikant.
[…]
Das Werk ist volkeseigen.
Der Fabrikant muß schweigen.

Es lag ein Gut in Pommerland
Da war der Herr ein Herr von Stand
[…]
Die Erde wurd verteilet.
Der Junker ist enteilet.

(„Neue Zeiten“ (S. 977]) 

Etwas anderes hat man in diesen Gedichten noch zu sehen. Sie wurden nicht nur geschrieben, um zu belehren und „damit man Vergnügen daran haben kann“ (Bertolt Brecht: Über Lyrik, S. 124). Sie sind Ausdruck der Wiederkehr eines Glaubens und einer Zuversicht, an die Brecht schon um das Jahr 1939 dachte:

[…] Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.

Ihr aber, wenn es so weit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.

(„An die Nachgeborenen“ [S. 722–725])

Zwar ist es noch nicht „so weit, daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist“, aber die Möglichkeit liegt greifbar nahe. Der Aufbau eines neuen Staates aus den Trümmern des alten zu einer sozialistischen Ordnung der Gemeinsamkeit: „Hunderttausend Hände / Strecken sich zueinander aus./ Menschenskind! / Wenn sie erst beisammen sind!“ [S. 973], die Hoffnung auf „ein gutes Deutschland […] Wie ein andres gutes Land“ [S. 977] – all das mag Brecht mit dem Bild des Kindes dieser Generation verbunden haben. Ihm stand eine Jugend vor Augen, die nun tatsächlich zu realisieren vermochte, wofür Generationen vor ihr kämpften. Die Antizipation des Sozialismus, verstanden als aetas aurea des Miteinander und Füreinander, macht seine „Utopie der Kindheit“ aus. Der Ton der Gedichte ist einfach und klar. Metrische und stilistische Kontinuität herrschen vor. Und bei allem Mangel an Raffinesse sind die Gedichte dieser Tage vielleicht die einzigen Texte Brechts, die in der synoptischen Verklammerung von Vorhandenem und Möglichem die Synthese seiner Dialektik vorwegnehmen. Man machte es sich zu einfach, wenn man Brechts Engagement hier diskreditieren wollte als „Propagandamittel“,109 wenn man den Ausdruck dieses Engagements als „vergiftet von der Unwahrheit“110 der Politik des Regimes begriffe. Sie sind Bestandteile seines Glaubens an eine bessere Zukunft; eines Glaubens, den er zum ersten Mal zu konkretisieren wagt in diesen Gedichten an die Jugend der frühen fünfziger Jahre. Man macht es sich, wie gesagt, zu einfach, diesen Glauben abzutun, weil er die utopischen Züge des großen Entwurfs trägt und weil die Realität ihn in der Retrospektive schließlich als Illusion erscheinen läßt. Daß Brecht später auch die Unvollkommenheiten sozialistischer Wirklichkeit deutlich genug gesehen hat, steht außer Zweifel; auf die Ansätze seiner Kritik wird unten noch einzugehen sein. Eine Diskrepanz zwischen seinem Glauben der frühen fünfziger Jahre und der Wirklichkeit der Folgezeit kann nicht existieren: jede vernünftige Abwägung der Chronologie verbietet es, sie zu konstruieren. Brechts sozialistische „Utopie der Kindheit“, die, zusammen mit der Wirklichkeit der Jahre um 1950, Gestalt geworden ist in den „Neuen Kinderliedern“, erinnert an Friedrich Schiller, der sich freilich der Unerfüllbarkeit seines Ideals der Kindheit voll bewußt war:

In dem Kinde ist die Anlage und Bestimmung, in uns die Erfüllung dargestellt, welche immer unendlich weit hinter jener zurückbleibt. Das Kind ist uns daher eine Vergegenwärtigung des Ideals, nicht zwar des erfüllten, aber des aufgegebenen.111

 

IV. Anblick und Bedarf
Brechts Bemühungen, so Walter Benjamin, „[…] die Kunst dem Verstande gegenüber zu legitimieren, haben ihn immer wieder auf die Parabel verwiesen, in der sich die artistische Meisterschaft dadurch bewährt, daß die Elemente der Kunst am Ende sich in ihr wegheben. Und eben diese Bemühungen um die Parabel setzen sich in radikalerer Gestalt zur Zeit in den Überlegungen durch, die aufs Lehrgedicht gehen.“112 Hierzu eines dieser Lehrgedichte:

Frühmorgens lese ich in der Zeitung von epochalen Plänen
Des Papstes und der Könige, der Bankiers und der Ölbarone.
Mit dem anderen Auge bewach ich
Den Topf mit dem Theewasser
Wie es sich trübt und zu brodeln beginnt und sich wieder klärt
Und den Topf überflutend das Feuer erstickt.

(„Zeitunglesen beim Theekochen“ [um 1942] [S. 846])

Man stellt hier fest, daß das Parabolische durch einen konkreten, ,wirklichen‘ Vorgang eingeführt wird: ein Mann liest in der Zeitung und verfolgt („mit dem anderen Auge“) das sich erwärmende Wasser auf dem Herd. Das gleichzeitige Anschauen beider Objekte (der „Pläne“ und des Wassers, das überflutet und schließlich „das Feuer erstickt“) impliziert die Analogie: so wie jene Pläne schließlich von denjenigen vereitelt werden, die heute noch von ihnen gelenkt werden, so erstickt das überkochende Wasser das Feuer. Die Parabel ist evident. Die „Elemente der Kunst“, von denen Benjamin spricht, heben sich nicht am Ende hinweg, sie fügen sich vielmehr zu einem Ganzen: Wirklichkeit. Ein „Stück Welt“ wird durch das andere verdeutlicht. Hier geht es nicht um Fiktion, die ihren inneren Kern realer Wahrheit preisgibt; hier geht es um eine konkrete Wirklichkeit, die parabolisch für die andere steht. Kunst lebt durch die Wechselbeziehung von Realität zu Realität.
Im späten Gedicht sind die Bezüge diskreter. Das „Lehrgedicht“ der früheren Jahre wird zum „Denkgedicht“;113 auch die „Spruchgedichte“ der späten Jahre zählen hierzu. Der Wandel wurde illustriert durch die Gegenüberstellung der verschiedenen Stufen der Deixis. Die Grundrelation, getragen von Wirklichkeit, bleibt die gleiche. Neue Elemente treten auch hier hinzu. Wenn Brecht in den „Neuen Kinderliedern“, in „Die Erziehung der Hirse“ und den „Liebesliedern“ zu einer relativen Geschlossenheit der Form findet und die Rückkehr zum Endreim nicht scheut (Ende der dreißiger Jahre: „In meinem Lied ein Reim käme mir fast vor wie Übermut“),114 so ist das die formale Konsequenz einer Neuorientierung, die Bestandteile einer neuen Ästhetik zeigt.115 Betrachtet man das mittlere Gedicht „Angesichts einer abgeschlagenen Baumwurzel, einem gestürzten Mann gleichend“ (1941):

Ich bin gefallen, wie mich nun erheben?
Ein wenig Ruhe möchte Wunder tun.
Ich würde gern erst morgen wieder leben
Wüßt ich nur, daß auch meine Feinde ruhn!

[S. 810]. 

So sieht man, daß dieses Gedicht, indiziert schon durch den deskriptiven, die Analogie klar vorwegnehmenden Titel, nahezu ausschließlich lehrhaft-deiktische Züge trägt. Wie man sogleich erkannt hat, wird hier im Gestus der „abgeschlagenen Baumwurzel“ der ermattete Kämpfer gezeigt. Lediglich von der Baumwurzel ist die Rede, dem, wenn man so will: ,unpoetischsten‘, funktionalen Teil des Baumes, der jenem die Fähigkeit gibt, zu stehen und zu bestehen – gleich den Beinen des Kämpfenden. Mit der Wurzel hat das Bild sein Bewenden – dem Baum wird keine Erwähnung getan. Versucht man, diese lyrische Aussage (denn, daß es sich um eine solche handelt, daran kann das oben Gesagte keinen Zweifel lassen) in Beziehung zu setzen mit dem romantischen Topos des Baumes, dessen ,Wurzeln‘ sich bis in die klassische Antike nachspüren läßt, so begreift man vollends, wie wenig es Brecht in dieser Zeit um das ,Schöne‘ an sich ging und, wenn man sein Engagement bedenkt, gehen konnte. Die Natur, wie jedes für sich kontemplative Element, besaß seinen Stellenwert allein in einer objektivierbaren Funktion im Rahmen der Dialektik. Autonomie kam allein der Belehrung zu, dem „Sinn“.116 Nun zeigt sich, daß in der späten Lyrik das ,Schöne‘ einen anderen Platz einnimmt. Hierzu zwei Beispiele:

An einem dürren Ast
Ist eine Blüt’ erblüht
Hat sich heut nacht bemüht
Und nicht den Mai verpaßt.

Ich hatt’ so kein Vertraun
Daß ich ihn schon verwarf
Für Anblick und Bedarf.
Hätt ihn fast abgehaun.

(„Frühling“ [S. 969])

So auch in den „Kinderliedern“. Neben ,nützlichen‘ Vögeln: dem Sperling, dem Buntspecht, erscheint auch die Amsel:

[…]
Ich bin die Amsel.
Kinder, ich bin am Ende.
Und ich war es, die den ganzen Sommer lang
Früh im Dämmergrau in Nachbars Garten sang.
Bitte um eine kleine Spende.

aaaAmsel, komm nach vorn.
aaaAmsel, hier ist dein Korn.
aaaUnd besten Dank für die Arbeit!

[S. 971f.) 

Die Beispiele ließen sich mehren. Ein neuer Ton auch hier, der dem Schönen, dem an sich Funktionslosen, der Natur, für „Anblick und Bedarf“ seinen Wert zuerkennt. Und darüber hinaus eine fast anthropomorphe Autonomie, die ihm – in Gestalt der Blüte hier – Verba agendi wie „sich bemühen, verpassen“ zubilligt. Die Eingliederung der Natur und ihrer Repräsentanten als lyrisches Sujet in die Sphäre des Menschlichen – „sich bemühen“ (die Blüte), „Vertrauen genießen“ (der dürre Ast), „am Ende sein, nach vorn [zur Essensverteilung] kommen; Dank erhalten, die Arbeit“ (die Amsel) – trägt Züge der Sachlichkeit gleichermaßen wie der Intimität. Sie trägt auch das Zeichen des ,Vertrauens‘ in eine Zeit, in der man sich wieder freuen darf, wo neben den „Bedarf“ der „Anblick“ tritt und schließlich, gleichberechtigt, zum „Bedarf“ wird.
Man hat dieses neue Vertrauen, das sich ausdrückt in neuer ästhetischer Intention, im Gesamtzusammenhang zu sehen mit Brechts Utopie der Kindheit, ebenso mit den „Liebesliedern“:

Die Liebste gab mir einen Zweig
Mit gelbem Laub daran.
Das Jahr, es geht zu Ende
Die Liebe fängt erst an.

[S. 994]

Alle diese Lieder sind der beginnenden, neuen Liebe gewidmet. Und fast alle Gedichte dieser Jahre sind getragen von einer Euphorie des Neuen, Beginnenden. Sie sind Ausdruck der heiteren Stunde zwischen den „Mühen der Gebirge“ und denen der Ebene. Zugleich ein Politikum: Zeichen der Gewißheit einer Zukunft, die Raum gibt für eine neue Ästhetik. Dieser Optimismus steht in sichtbarer Diskrepanz zum ,Realisten‘ Brecht, der zur gleichen Zeit die Zeilen schrieb:

Ich hoffe
Es
[mein Haus] macht mich nicht geduldig mit den Löchern
In denen so viele Tausende sitzen. Immer noch
Liegt auf dem Schrank mit den Manuskripten
Mein Koffer

[S. 962].

Versuchen wir nicht, diese Antinomie aufzulösen mit dem Hinweis auf das Paradox117 des politischen Engagements dieses Dichters. Sehen wir sie im Gegenteil an als spezifisches Charakteristikum des Dichters Brecht und zugleich als die einzig denkbare Stellungnahme des ,Sozialisten‘ Brecht.

V. Ironie und Resignation
Hinsichtlich der Gedichte der letzten Lebensjahre ergibt sich abermals ein neues Bild. Die Brecht-Forschung der DDR hat sich zum Teil118 um eine – so paradox es erscheinen mag – ,unpolitische‘ Deutung dieses Texts bemüht. Eine solche Deutung muß notwendig fehlgehen. Auch wenn der Ton der letzten Gedichte vielfach privater anmutet, auch wenn gelegentliche kaum verhohlene Kritik („Deutschland 1952“ (S. 1005]; „Das Brot des Volkes“ [S. 1005f.]; „Das Amt für Literatur“ [S. 1007]; „Die Lösung“ [S. 1009f.] etc.) nicht zur Kenntnis genommen wird: Brechts Dichtung, auch die späteste, ist und bleibt Poesie engagée. Vieles spricht dafür, daß er in diesen letzten Jahren seinen Glauben (und vielleicht auch seine eigene Begeisterung wenig früherer Jahre) an der Wirklichkeit seiner Umwelt gemessen hat. Auch hier ist seine Dichtung Vergabe und Vermittlung von Welt:

DER RADWECHSEL

Ich sitze am Straßenrand
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?

(Aus den Buckower Elegien [S. 1009])119

Die Situation ist real. Der subjektive Befund des lyrischen Ich ist Resignation; die Sprache des Gedichts ist einfach, der Verzicht auf Endreim und regelmäßige Rhythmen – er zeichnet die spätesten Gedichte – offenkundig. Der resignative Grundton des Gedichts wird gemildert, nicht zurückgenommen, durch die Selbstironie der beiden Schlußzeilen. Eine gewisse Leichtigkeit des Abstandnehmens von der subjektiven Situation einerseits und von der in ihr repräsentierten Wirklichkeit andererseits findet sich hier. Freilich haben diese Gedichte das „Nachdenken über das eigene Ich“ verarbeitet; und nicht nur auf den ersten Blick120 ist man versucht, das Schillersche Spannungsverhältnis von Ideal und Wirklichkeit zu involvieren. Die Analyse erweist wieder ein Paradoxon. Einerseits wird die Einsicht in das Bedingte der lyrisch erfaßten Wirklichkeit deutlich, andererseits kann sie nicht der Hoffnung den Blick verstelLen. Das Element, das beide Positionen verbindet und zugleich relativiert, ist die ganz spezifische Ironie dieser letzten Gedichte. Vergleichen wir noch einmal zwei ähnliche Texte:

Dauerten wir unendlich
So wandelte sich alles
Da wir aber endlich sind
Bleibt vieles beim alten.

(„Dauerten wir unendlich“ [S. 1031])

Sehr viel konkreter das Gedicht „Heißer Tag“: 

Heißer Tag. Auf den Knien die Schreibmappe
Sitze ich im Pavillon. Ein grüner Kahn
Kommt durch die Weide in Sicht. Im Heck
Eine dicke Nonne, dick gekleidet. Vor ihr
Ein ältlicher Mensch im Schwimmanzug, wahrscheinlich ein Priester.
An der Ruderbank, aus vollen Kräften rudernd
Ein Kind. Wie in alten Zeiten! denke ich
Wie in alten Zeiten!

(Aus den Buckower Elegien [S. 1011])121

Im ersten Gedicht geht es keineswegs primär um die (gewiß mitschwingende) Altersproblematik, noch weniger um „Todesfurcht“.122 Was hier geschieht, läßt sich auch weniger philosophisch erklären als subjektiv und zugleich auf konkrete Wirklichkeit bezogen. Der ironisch-hyperbolischen Prämisse – „dauerten wir unendlich“ – (man beachte die grundsätzlich verschiedene Diktion in Metrum und Syntax) steht die Faktizität der dritten Zeile gegenüber. Zwei Konzessivsätze in dialektischem Gegensatz; die Lösung: Resignation. Noch greifbarer ist die Ironie des zweiten Gedichts. Man sieht sogleich: die Dialektik des ,Einst und Jetzt‘ der früheren Jahre und der Zauber des Beginnens sind der ironischen Einsicht gewichen in die Fatalität des dejà-vu. Vieles, was Brecht in seinen letzten Lebensjahren schrieb, mag als unsentimentaler Gang zu den Quellen der Vergangenheit (Robert Minder) gelten. Persönliches fügt sich hier nahtlos zum Allgemeinen; Selbstironie („Mehrere Minuten erwäge ich / Ganz ernsthaft, ob ich zum Tisch gehen soll / Meine Brille holen […]“ [S. 1029]) zum ironischen Abrücken von einer Entwicklung des praktizierten Sozialismus, die weit hinter dem zurückblieb, was sie in ihrer ersten Stunde zu realisieren versprach:

[…]
Das gehört in die Statistik, dachte ich
Nicht in die Geschichte.

[…]
(„Große Zeit, vertane“ [S. 1010])

Im Begreifen dieser Distanz, diesem Beiseite-Treten des späten Brecht („Sitze ich im Pavillon“) – Vorbei gleiten [„Rudern, Gespräche“, S. 1013] – höre ich [„Laute“ S. 1014] – „Ich bin nicht hingefahren“ [„Große Zeiten, vertan“ S. 1010] etc.) gelangt man zu seinem Elegie-Begriff der letzten Jahre. Vergeblichkeit ist hier zu spüren, freundliche Trauer im Angesicht der Unvollkommenheit und offenen Widersprüchlichkeit des Bestehenden – der Wirklichkeit. Aber nicht Brechts Freundlichkeit ist es, in der sich „das Elegische des Gedichtes von selbst auf[hebt]“123 – sie macht im Gegenteil den elegischen Charakter weithin aus –, es ist seine späte Rückkehr zum direkten Appell, zur Agitation jenseits der Resignation, jenseits auch der Ironie und der Hoffnungslosigkeit. „Eine Brechtsche Maxime: Nicht an das Gute Alte anknüpfen, sondern an das schlechte Neue“:124

[…]
Besser scheint’s uns doch, aufzubegehren
Und auf keine kleinste Freude zu verzichten
Und die Leidenstifter kräftig abzuwehren
Und die Welt uns endlich häuslich einzurichten!

(„Gegenlied zu ,Von der Freundlichkeit der Welt‘“ [S. 1032])

Fassen wir zusammen, was die Dichtung der letzten Jahre ausmacht: das Lehren und das Lernen, Freundlichkeit und Ironie in kritischer Distanz und schließlich das Hoffen über die Wirklichkeit und ihre Mängel hinaus, auch dort, wo es im Widerspruch zum bestehenden politischen System steht. So erweist sich am Ende auch da die Bedeutung des Dichters und des Marxisten Brecht – und jeder Versuch, den einen vom anderen zu trennen, geht an der Sache vorbei –, wo der Sozialismus als Institution und deren Wirklichkeit sich seinem Anspruch versagte.125Korrekturnote: Die vorliegende Arbeit wurde im Sommer 1970 abgeschlossen; die inzwischen erschienene Literatur zu Brechts Lyrik (u.a. auch die entsprechenden Abschnitte in Otto Knörrichs Epochendarstellung: Die deutsche Lyrik der Gegenwart. 1945–1970, Stuttgart 1971) konnte nicht mehr berücksichtigt werden. Es soll aber im folgenden noch kurz eingegangen werden auf die seinerzeit nicht greifbare Arbeit von Hans Richter: „Die Lyrik Bertolt Brechts“. In: Német Filológai Tanulmányok (Arbeiten zur deutschen Philologie) IV (1969), S. 57–78 (vgl. auch: Hans Richter: Verse, Dichter, Wirklichkeiten. Aufsätze zur Lyrik, Berlin 1970). Richters Darstellung repräsentiert – wie auch sein Buch – in vieler Hinsicht die recht einseitige Forschungsausrichtung der DDR-Literaturwissenschaft zu Brecht. Literatur überhaupt und ihr Wert werden letzten Endes gemessen am rigiden Maßstab einer bestimmten politisch-gesellschaftlichen Orientierung. So geht Richter hart ins Gericht mit den „heutigen bürgerlichen Theoretiker[n] der modernen Lyrik mit ihren engen Dogmen und eigensinnigen Thesen“ (S. 57). Und durchaus nicht ganz an der Sache vorbei geht sein Angriff auf die noch immer teilweise esoterische Position der Literaturwissenschaft in der Bundesrepublik – auch wenn sein Vorwurf den Romanisten Hugo Friedrich gerade weniger berechtigt trifft – und ihren Nachbarländern. Der Verfasser übersieht jedoch, und man möchte ihm daraus in Anbetracht des in der DDR nach wie vor eingeschränkten Informationsflusses aus der ,westlichen Welt‘ nur bedingt einen Vorwurf machen, daß der heutige Methodenpluralismus der Literaturwissenschaft in der Bundesrepublik einen solchen Stand erreicht hat, daß dort Positionen vertreten werden (können), die in ihrer Radikalität den offiziellen Standort der DDR-Literaturtheorie weit hinter sich lassen. Das jedoch nur am Rande – in unserem Zusammenhang ist es von Interesse, einige Punkte in Richters Argumentation in bezug auf Brechts Lyrik genauer zu betrachten.
R
ichter erwähnt u.a. das oben zitierte „Gegenlied zu ,Von der Freundlichkeit der Welt‘“. Er muß dabei – und der Umstand hat einiges Gewicht – auf die in der Bundesrepublik erschienene Frankfurter Brecht-Ausgabe zurückgreifen, da dieses Gedicht zum Zeitpunkt der Entstehung seines Aufsatzes noch in keine DDR-Anthologie aufgenommen worden war. Eine Interpretation des Gedichts gibt Richter allerdings nicht, sieht man einmal ab von seiner Feststellung, daß Brecht darin „/ … / weise aktivierend für ein gutes und schönes Leben der Menschen plädiert“ (ibid.). Das liegt auf der Hand – Brecht hat ein ähnliches Plädoyer bereits im „Lied von der Freundlichkeit der Welt“ gegeben, allerdings mit andern Vorzeichen. Wie stets bei Brecht kann auch hier eine rein inhaltsbezogene Deutung nicht viel erbringen: das Spannungsfeld zwischen äußerer Wirklichkeit und deren Reflex im Gestus des Gedichts entscheidet. Und wenn Richter, wie er vorher schon emphatisch betont („Wie falsch und töricht ist das doch!“ (S. 58]), auch hier das Argument einer Systemkritik Brechts an der DDR implizit vom Tisch fegt, so geht er damit einfach am Text vorbei. Denn: wie möchte er den Eingang des Gedichts erklären: „Soll  d a s  heißen, daß wir uns bescheiden?“ (Sperrung v. Verf.) Wie erklärt er durch seinen allgemeinen inhaltlichen Hinweis das sechsfach wiederholte „wir“ bzw. „uns“? Und wie schließlich die präsentische Zeitform, das hinweisende „da“ der zweiten Strophe und das fordernde „endlich“ der letzten des Gedichts? Gewiß: über Interpretationsvarianten läßt sich hin und wieder streiten, aber dieses Gedicht kann nicht als Lobgesang auf die Deutsche Demokratische Republik ausgelegt werden. Und welche Wirklichkeit – denn nur darum geht es Brecht – sollte dieser vor Augen gehabt haben als die, die ihn täglich umgab?
Einige andere Argumente erscheinen zumindest in ihrer Eindeutigkeit zweifelhaft: „Tod und Verwesung […] spielen in der gesamten frühen Lyrik Brechts eine große Rolle. Eben darin offenbart sich die tiefe Krisenhaftigkeit [sic], von der Brechts Weltanschauung in der ersten Hälfte seines dritten Jahrzehnts geprägt ist“ (S. 65). Auch wenn dieser Aspekt sicherlich kennzeichnend ist für die frühe Lyrik und in gewisser Weise charakteristisch für den persönlichen, inneren Umbruch Brechts – ein eindeutiger Markstein auf dessen Weg zum Sozialismus ist er gewiß nicht. „Tod und Verwesung“ sind zuvorderst eben doch Motive der expressionistischen Epoche und Substrat letztlich der fin-de-siècle-Symbolik, die jene teilweise aufgesogen hatte. Hierher gehört auch die Nachbarschaft Gottfried Benns (ibid.), die Richter selbst beruft. Gerade die – freilich mit ihren eigenen Prämissen – historisierende DDR-Literaturwissenschaft sollte sich nicht aufs ,Biographisieren‘ einlassen: Literaturgeschichte als ,Problemgeschichte‘ gehört inzwischen der Vergangenheit an.
Weiter: Neben einigen sehr guten Einzeldeutungen mit Blickrichtung auf Gestik und Deixis – der Begriff „gestische Rollenlyrik“ (S. 73) wird allerdings nicht ganz klar – und die Brechtsche Parodistik findet sich ein kurzer Exkurs zur Sprache der Gedichte. Daß er weniger hält als er verspricht, geht zu Lasten des Forschungsnotstandes, auf dem diese wie auch die vorliegende Untersuchung nicht hat aufbauen können. In seinem Ausblick jedoch auf das „Studium und die Rezeption der Brechtschen Lyrik im Schaffen der Folger“ (S. 76) begibt sich Richter auf methodisch bedenkliche Pfade. Seine Bewertung der ,Brecht-Schüler‘ Volker Braun und Hans Magnus Enzensberger tut beiden Autoren – und damit nicht zuletzt Brecht – Unrecht. Seine uneingestandene Forderung nach Brecht-Exegese und einer dem ,armen B. B.‘ so schlecht zu Gesicht stehenden Ikonographie durch das Schaffen der Gegenwartsliteratur zeigt, worauf es ihm letzten Endes ankommt: nicht so sehr auf die nicht wiederholbare Leistung Brechts wie auf dessen ideologisches Kapital und die Zinsen, die es tragen soll.

Gerhard P. Knapp, aus TEXT+KRITIK – Bertolt Brecht II, Richard Boorberg Verlag, 1973

 

 

Erfahrungen mit Brecht. Therese Hörnigk im Gespräch mit Friedrich Dieckmann

 

Brecht – Die Kunst zu leben. Ein Fernsehporträt von Joachim Lang aus dem Jahre 2006

 

Hans Mayer: Gelegenheitsdichtung des jungen Brecht

Ernst Fischer: „Das Einfache, das schwer zu machen ist“

Günter Berg / Wolfgang Jeske: Bertolt Brecht. Der Lyriker

Albrecht Fabri: Notiz über Bertolt Brecht, Merkur, Heft 33, November 1950

Walter Jens: Protokoll über Brecht. Ein Nekrolog, Merkur, Heft 104, Oktober 1956

Günther Anders: Brecht-Porträt. Tagebuch-Aufzeichnungen Santa Monica 1942/43, Merkur Heft 115, September 1957

Martin Esslin: Bert Brecht Vernunft gegen Instinkt, Merkur, Heft 163, September 1961

Robert Minder: Die wiedergefundene Großmutter. Bert Brechts schwäbische Herkunft, Merkur, Heft 217, April 1966

Hannah Arendt: Quod Licet Jovi… Reflexionen über den Dichter Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur Politik (I), Merkur, Heft 254, Juni 1969

Hannah Arendt: Quod Licet Jovi… Reflexionen über den Dichter Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur Politik (II), Merkur, Heft 255, Juli 1969

Sidney Hook, Hannah Arendt: Was dachte Brecht von Stalin. Nochmals zu Hannah Arendts Brecht-Aufsatz, Merkur, Heft 259, November 1969

Wilhelm Girnus: Nationalbewusstsein in Brechts Lyrik, Sinn und Form, Heft 5, 1964

Iring Fetscher: Brecht und der Kommunismus, Merkur, Heft 304, September 1973

Bernd-Peter Lange: Walter Benjamin und Bertolt Brecht am Schachbrett, Merkur, Heft 791, April 2015

Bertolt Brecht und weitere Sprecher: Lesungen und O-Töne 1928–1956 in Washington und Berlin. Sammlung Suhrkamp Verlag: Tonkassette 116

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Bertolt Brecht

 

LIED DER WERKTÄTIGEN FRAUEN
nach Bertolt Brecht

Du Bauernbursche, maßlos und verwegen,
wenn du an meiner Brust wie einem Euter hängst,
so werd ich sagen: Mach schon, meinetwegen,
Geliebter du, mein wollüstiger Hengst.

aaaaaDoch vergiß nicht über deinem Gestampf,
aaaaawas Lenin und Liebknecht uns lehrten.
aaaaaWir stehen noch immer im Klassenkampf.
aaaaaVorwärts, Genossen, Gefährten!

Du Werkzeugmacher mit den hohlen Wangen,
wenn du die Hand mir unters Linnen schiebst,
daß mich zerreißt dein wachsendes Verlangen,
so sage: komm. Sag nie, daß du mich liebst.

aaaaaUnd vergiß nicht über deinem Gestampf,
aaaaawas Lenin und Liebknecht uns lehrten.
aaaaaWir stehen noch immer im Klassenkampf.
aaaaaVorwärts, Genossen, Gefährten!

Erforscher du des Materialismus,
falls dich der Rücken schmerzt, wenn du mich küßt,
ich heile dich von deinem Rheumatismus,
und du wirst trommeln wie ein Rotgardist.

aaaaaDoch vergiß nicht über deinem Gestampf,
aaaaawas Lenin und Liebknecht uns lehrten.
aaaaaWir stehen noch immer im Klassenkampf.
aaaaaVorwärts, Genossen, Gefährten!

Manfred Bieler

 

 

Fakten und Vermutungen zur Herausgeberin

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Wolfgang Greisenegger: Von Wahrheit und Widerspruch
Die Furche, 12.2.1998

Zum 125. Geburtstag des Autors:

Nils Schniederjann: Das umkämpfte Erbe des kommunistischen Dramatikers
Deutschlandfunk Kultur, 10.2.2023

Karin Beck-Loibl: Genie und Polyamorie
zdf.de, 10.2.2023

Hubert Spiegel: Briefmarke zum 125. Geburtstag
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.2.2023

Christopher Beschnitt im Gespräch mit Jürgen Hillesheim: „Über die Political Correctness würde Brecht die Nase rümpfen“
Cicero, 10.2.2023

Ronald Pohl: Mit Bertolt Brecht die Kunst des Zweifelns erlernen
Der Standart, 10.2.2023

Theater und mehr: Zum 125. Geburtstag von Bertolt Brecht
ardmediathek.de

Jan Kuhlbrodt: Eine Intervention
signaturen-magazin.de

Otto A. Böhmer: Die gewissen Möglichkeiten
faustkultur.de, 10.2.2023

Brechtfestival Augsburg vom 10.–19.2.2023

Brecht125

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram 1 & 2 +
NotizbücherKLGUeLEXKalliope + ÖM + Archiv 1, 2, 3, 4 & 5 +
Internet Archive
Porträtgalerie: Keystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口
Nachrufe auf Bertolt Brecht: Tumba ✝︎ Sinn und Form 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7,
8, 9, 10, 11, 1213

 

Bertolt Brecht: Lob des Lernens gesungen von Nina Hagen 2016 in Potsdam.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00