Bertolt Brecht: Über die irdische Liebe und andere gewisse Welträtsel

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Bertolt Brecht: Über die irdische Liebe und andere gewisse Welträtsel

Brecht/Ensikat-Über die irdische Liebe und andere gewisse Welträtsel

DAS LIED VON DER UNZULÄNGLICHKEIT
MENSCHLICHEN STREBENS

1
Der Mensch lebt durch den Kopf
Der Kopf reicht ihm nicht aus
Versuch es nur, von deinem Kopf
Lebt höchstens eine Laus.
aaaaDenn für dieses Leben
aaaaIst der Mensch nicht schlau genug
aaaaNiemals merkt er eben
aaaaAllen Lug und Trug.

2
Ja, mach nur einen Plan
Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch ’nen zweiten Plan
Gehn tun sie beide nicht.
aaaaDenn für dieses Leben
aaaaIst der Mensch nicht schlecht genug.
aaaaDoch sein höh’res Streben
aaaaIst ein schöner Zug.

3
Ja, renn nur nach dem Glück
Doch renne nicht zu sehr!
Denn alle rennen nach dem Glück
Das Glück rennt hinterher.
aaaaDenn für dieses Leben
aaaaIst der Mensch nicht anspruchslos genug
aaaaDrum ist all sein Streben
aaaaNur ein Selbstbetrug.

4
Der Mensch ist gar nicht gut
Drum hau ihn auf den Hut
Hast du ihn auf den Hut gehaut
Dann wird er vielleicht gut.
aaaaDenn für dieses Leben
aaaaIst der Mensch nicht gut genug
aaaaDarum haut ihn eben
aaaaRuhig auf den Hut.

 

 

 

Einige Worte zu Brechts Liedern

1
Als Brecht die Balladen, Legenden und Lieder der Hauspostille schrieb, galten Balladen, Legenden und Lieder als abgestorbene literarische Gattungen: sie waren tot, oder zumindest schienen sie tot. Doch im Gegensatz zu geistes- und naturwissenschaftlichen Disziplinen, welche überholte Methoden und Mittel als dem Zweck nicht mehr gemäß für immer abstoßen, sinken Literaturgattungen wie im Märchen in einen Tiefschlaf über Epochen hinweg, bis sie eines Tages wieder erwachen oder erweckt werden, um ein neues Leben zu beginnen, wenn auch gewandelt.
Die Ballade, das erzählende Lied, war an Pathos krepiert; Zusammenbruch eines schon betagten Gaules unter der allzu schweren Last von edlen gewappneten Rittern, braven preußischen Kavalleristen, hehren Helden aus Germaniens Walhalla, deutschen Fürsten, Königen, Kaisern und was an romantisch-regressivem Pomp dazu gehörte.
Der hohe Anspruch, historisch überlebte Gesellschafts- und Verhaltensformen zu idealisieren, ergo Leitbilder zu setzen, führte letztlich ins Unzeitgemäße, in Trivialität und unfreiwillige Komik, für welche die Werke Börries von Münchhausens das abschreckende Beispiel darstellen.

2
Gewiß faszinierte Brecht an der Gattung genau das, was uns heute die frühen Filme so amüsant macht: ihr überdimensionaler Gestus, ihre augenrollende Dramatik, stets zwei Nummern zu groß; markerschütternde Pathetik, lächerliche Sentimentalität und weltfremdes Ethos, denn „bei hohem politischem Bewußtsein können sogar asoziale Kunstwerke genossen werden“, sagte Brecht selber und war in puncto Literatur intellektueller Hedoniker, der seine eigene Art der Rezeption propagierte: den antikulinarischen Kunstgenuß, der noch aus dem Abgeschmackten Würze sog und zog. Bezeichnend, daß eines seiner Lieblingslieder „Seemannslos“ gewesen ist, eine schaurig-schöne Ballade, in der sich aufs Heiterste das ganze falsche Bewußtsein des 19. Jahrhunderts ausprägte. Brecht übernahm, lax in Fragen geistigen Eigentums, wie wir wissen, aus dem Dichtungsfundus zum Teil die Personage, doch stellte er sie bereits in seinem prämarxistischen Stadium vom Kopf auf die Füße: aus dem ideologischen Dekor des bürgerlichen Menschen wurde auf einmal das Symptom seiner Krankheit. Jakob Apfelböck hat seinen Ursprung in der „Rasenbank am Elterngrab“, Hanna Cash den ihren in Typen wie Chamissos „Alter Waschfrau“; aus der bürgerlichen Moral wird nicht Unmoral, sondern Amoral: anarchischer Vitalismus und Widerstand gegen die konformistische Bürgerwelt; Evlyn Roe eine antichristliche Maria Magdalena, an der nicht Sünde, Reue und Vergebung nach überliefertem Schema exemplifiziert werden, sondern das Versagen christlicher Weltsicht.
Balladen-Interieur müsse mehr oder weniger exotisch sein, wobei hier das Fern-Historische der Exotik zugerechnet werden soll, um die „Message“ durch Verfremdung allgemeiner und parabolischer zu machen – diese Vorstellung wurde von Brecht im großen und ganzen übernommen, wie etwa lange Erprobtes, das selbst dann funktioniert, wenn man es umfunktioniert: nur diente ihm diese Art von Verfremdung nicht zur Steigerung menschlicher Idealität, zu welchem Zweck Schiller Geschichte als Folie benutzte, sondern zum deutlicheren Erkennen der gesellschaftlichen Determination seiner Figuren, wie am Beispiel Jakob Geherdas, Macheath’, Hanna Cashs, Herrn Dschins, sichtbar.

3
Von den illegetimen Musenbankerten wie Bänkelsang und Moritat, die auf den Jahrmärkten Bayerns, der rückständigsten deutschen Region, von der Industrialisierung unbehelligt und somit am Leben geblieben, kam Brecht niemals los. Indem er diese von jeher plebejische, drastische und belehrende (heute: didaktische) Dichtung, populärer Ersatz den „ungebildeten Ständen“ für Zeitung, Theater und Predigt, ironisiert aufnahm, hob er sie im Hegelschen Sinne auf: er bewahrte sie, da er sie zu Lyrik verwandelte. Später, nach dem ersten Weltkrieg und der Kenntnisnahme englischer Literatur, zum Beispiel Kiplings Soldatenliedern, und nach dem Einbruch der modernen amerikanischen Folklore ins bis dato blindbornierte Europa, legte Brecht sich den „Song-Stil“ zu, die Grenze zum Schlager lag ganz in der Nähe, und nur durch ironische Brechung, Persiflierung, Travestie des literarisch und musikalisch Herkömmlichen und überlieferten wurde die Grenze nicht überschritten. Aber – und das ist der Fluch der künstlerischen Tat – die Grenzen verschieben sich mit den Zeitläuften ganz von selber: so ist „Mack the Knife“ ein Weltschlager geworden, denn das Mißverstandene, Angefeindete und frappierend Neuartige von gestern ist verdammt, einmal zu Opas Wiegenlied zu werden. Diesem Schicksal, dem Schicksal der Klassiker, entgeht auch Brecht nicht.

4
Aber unsere Auswahl von Balladen und Liedern soll nicht zu dem Zweck schnellerer Abnutzung beitragen, sie will vielmehr der zunehmenden und begrüßenswerten allgemeinen Gesangsfreudigkeit dienen. Daß nach – fast ließe sich sagen: einem halben Jahrhundert – passiver Kunstrezeption gerade die Jugend in vielen Ländern aktiv die Möglichkeit von Literatur und Musik zu nutzen beginnt, ihr Lebensgefühl zu manifestieren, bedeutet eine Sublimation von Triebenergien, die oft genug sich in Destruktion entluden oder speziell zur Destruktion mißbraucht wurden. Diese Auswahl tut genau das, was das Wort meint: sie wählt aus. Subjektiv. Bewußt nur einen Aspekt Brechtscher Haltung bevorzugend: den satirischen. Adäquat dem Verlag, der sie publiziert. Vielleicht vermissen manche Leser manche Lieder, aber Brechts Arbeiten sind bereits so weit und breit gestreut, daß die von irgend jemand vermißten sehr leicht in vielen anderen Ausgaben zu finden sind. Eine Brecht-Auswahl unter dem Aspekt der Liebeslyrik wiche wiederum von dieser hier ab und brächte dem Herausgeber gewiß von anderer Seite den Vorwurf der Unterschlagung ein: den zu ertragen ist das Schicksal von Herausgebern.
Diese Auswahl möchte nur, daß der Leser, der möglicherweise musikalisch unternehmungslustige, der sangesfreudige, lesend oder singend, sich selber ein Vergnügen macht. Vielleicht sogar Selbsterkenntnis herstellt, indem er, die Masken und Häute Brechtscher Gestalten und Stimmungen ausprobierend, seine eigene Subjektivität überschreitend und aus sich gelangend, sich selber kritischer sieht. Vielleicht sein Gegenwartsverständnis vertieft, weil die Gegenwart sich selbstverständlich nicht von selber versteht. Vielleicht wird die Einsichtsfähigkeit gestärkt, weil die Lieder kaum wie „Es gibt kein Bier auf Hawaii…“ gesungen werden können; Brechts Texte gehen nämlich nicht durchs Ohr ’rein und durchs andre ’raus, ohne das Gehirn zu berühren: sie kitzeln es munter. Sicher sind Sinn und Zweck solcher Sammlung weit und vielfältig, oder um mit einem Zitat des Liederschreibers, der ja ein großer Streiter für Weite und Vielfalt gewesen ist, die Absicht des Herausgebers deutlich auszusprechen:

Nehm jeder sich heraus, was er grad braucht! Ich selber hab mir was herausgenommen…

Günter Kunert, Vorwort

 

 

Erfahrungen mit Brecht. Therese Hörnigk im Gespräch mit Friedrich Dieckmann

 

Brecht – Die Kunst zu leben. Ein Fernsehporträt von Joachim Lang aus dem Jahre 2006

 

Hans Mayer: Gelegenheitsdichtung des jungen Brecht

Ernst Fischer: „Das Einfache, das schwer zu machen ist“

Günter Berg / Wolfgang Jeske: Bertolt Brecht. Der Lyriker

Albrecht Fabri: Notiz über Bertolt Brecht, Merkur, Heft 33, November 1950

Walter Jens: Protokoll über Brecht. Ein Nekrolog, Merkur, Heft 104, Oktober 1956

Günther Anders: Brecht-Porträt. Tagebuch-Aufzeichnungen Santa Monica 1942/43, Merkur Heft 115, September 1957

Martin Esslin: Bert Brecht Vernunft gegen Instinkt, Merkur, Heft 163, September 1961

Robert Minder: Die wiedergefundene Großmutter. Bert Brechts schwäbische Herkunft, Merkur, Heft 217, April 1966

Hannah Arendt: Quod Licet Jovi… Reflexionen über den Dichter Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur Politik (I), Merkur, Heft 254, Juni 1969

Hannah Arendt: Quod Licet Jovi… Reflexionen über den Dichter Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur Politik (II), Merkur, Heft 255, Juli 1969

Sidney Hook, Hannah Arendt: Was dachte Brecht von Stalin. Nochmals zu Hannah Arendts Brecht-Aufsatz, Merkur, Heft 259, November 1969

Wilhelm Girnus: Nationalbewusstsein in Brechts Lyrik, Sinn und Form, Heft 5, 1964

Iring Fetscher: Brecht und der Kommunismus, Merkur, Heft 304, September 1973

Günter Berg und Wolfgang Jeske: Der Lyriker

Bernd-Peter Lange: Walter Benjamin und Bertolt Brecht am Schachbrett, Merkur, Heft 791, April 2015

Forschungsliteratur zur Lyrik Bertolt Brechts. Stand 1.7.2015

Bertolt Brecht und weitere Sprecher: Lesungen und O-Töne 1928–1956 in Washington und Berlin. Sammlung Suhrkamp Verlag: Tonkassette 116

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Bertolt Brecht

 

 

TOD DES BRECHT

Der,
welcher gewünscht hat,
daß die Kinder
der Reiskahnschlepper und Teppichweber
besser dran sind
als die Reiskahnschlepper und Teppichweber,
daß ihre Enkel
es besser haben
als ihre Kinder

Tod des Hitler,
Tod des Gandhi,
Tod des Brecht,
Tod des Infanteristen Franz Sch.,
Tod des Bauern John H.,
Tod des Bauern Nikita D.

Der,
welcher gewünscht hat,
daß wir
die Erde nicht nur gut,
sondern auch eine gute Erde verlassen

Tod, Minute, Sekunde,
Tod, die winzigste Frist,
Wort, in jedermanns Munde,
Wort, das Missetat frißt

Der,
welcher den Himmel der Christen passierte,
Franz von Assisi sah,
sich vor ihm verbeugte,
und dieser stutzte,
dachte nach,
lächelte,
verneigte sich vor jenem

Tod derer,
welche zu leben wähnen,
weil sie herrschen,
aber ihre Macht
wird schwächer sein
als das Wässerchen eines Säuglings

Selig
sind die,
welche auf sich selbst verzichten.

Wolfgang Weyrauch

 

 

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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der G.kunert“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Kunertbiß“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Kunert, die“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Günter Kunert

 

Günter Kunert bei www.erlesen.tv.

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Wolfgang Greisenegger: Von Wahrheit und Widerspruch
Die Furche, 12.2.1998

Zum 125. Geburtstag des Autors:

Nils Schniederjann: Das umkämpfte Erbe des kommunistischen Dramatikers
Deutschlandfunk Kultur, 10.2.2023

Karin Beck-Loibl: Genie und Polyamorie
zdf.de, 10.2.2023

Hubert Spiegel: Briefmarke zum 125. Geburtstag
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.2.2023

Christopher Beschnitt im Gespräch mit Jürgen Hillesheim: „Über die Political Correctness würde Brecht die Nase rümpfen“
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Ronald Pohl: Mit Bertolt Brecht die Kunst des Zweifelns erlernen
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Bertolt Brecht: Lob des Lernens gesungen von Nina Hagen 2016 in Potsdam.

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