Birgit Kreipe: Schönheitsfarm

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Birgit Kreipe: Schönheitsfarm

Kreipe/Ehninger-Schönheitsfarm

STERNTALER

wenn alles verschenkt ist
deine mütze aus neumond, das kleid
dieses dunkelblaue versteck
und das hemd – dürfen wir rauchen –
in der farbe von zähnen

und also nichts mehr ist
zwischen dir und dem großen
goldenen freizeichen
außer teerhimmel

die rote diebin, sie raucht
bei laufendem motor
heizbare scheiben voll herzchen
die sie zerschlägt, sieht dir ähnlich

pass auf – das kind, grünes häkelkleid
lehnt am frühling
die augenfarbe kritik
es hat keine lust

du bist neumondfarben
großzügig

die diebin, die axt, dein
weitausgestrecktes herz:
es möge hemden regnen
auf deinem weg ins licht.

 

 

 

Verstörend und bildstark

verwandeln die Gedichte in Birgit Kreipes schönheitsfarm ihre Stoffe in Sprachgebilde zwischen magischem Realismus und confessional poetry.
Teils sarkastisch, teils sanft werden die Gegenstände der Gedichte präzise ausgeleuchtet auf versteckte Bedeutungen, Erinnerungsspuren und darin verborgene Geister hin, die in einem verrätselt-narrativen Ton in die Sprache zurückgerufen werden. Frei von ironisch unterkühlter Emotionsskepsis erzählt diese Lyrik von einer fühlbaren Welt unterhalb der unmittelbaren Wahrnehmungsschwelle durchwebt von Fossilien und Früchten, Märchengestalten und alptraumhaften Erinnerungen.

Verlagshaus J. Frank, Klappentext, 2012

 

Tief wie Geschichte

Birgit Kreipes Texte sind für mich ein stilles Highlight. So überbordend und spleenig ihre Sprache auf der einen Seite ist, so zurückhaltend und reflektiert ist sie auf der anderen. Es ist manchmal erstaunlich zu sehen, wie Leute, die in etwa so alt sind wie ich, einen zurückgenommenen Ton entwickeln, wo in kleinen Worten sehr viel funkelt; man könnte es vielleicht auch die „Codes“ für Midlife-Crisis nennen, darin sich etwas Unaufgeregtes und zugleich Melancholisches findet – ganz jenseits vom (prätentiösen) Stargehabe und auch jenseits vom Auftrumpfen und Gefallenwollen mit Worten – wie es so manch „junge“ Lyrik auslebt.
So schreibt keine 20-Jährige, auch keine 30-Jährige: Der Text „confessional poetry“ geht unter die Haut. Sprache wird an markanten Stellen aufgebrochen und hinterfragt. Anhand von Lebensaltern werden Schönheiten und Schauder in wilden Farben dargestellt.

mit 35 war ich so krank
als hätte ich sporen verkommener pilze im blut.
(…)
gehörte zu denen
deren herz wie eine nackte brust
vorn aus dem pullover hängt.
(…)
champagner verschwand aus seinem
silbernen kühler wie dollar im crash
(…)

Auf diese Art entsteht eine Flut sehr starker Bilder bestehend aus Spontanaufnahmen der Innenwelten, die sich nicht rückübersetzen lassen; es ist für mich der zentrale Text, der im Kern nach der Identität des lyrischen Ich fragt: was da ist, was da lebt. In Kreipes Texten will ein „versunkenes, vierblättriges Ich“ (zurück?) ans Licht, Knospe noch, die in expressiver, farbenlohender Sprache aufbricht.

landschaft, sprudelnd grün, bäume ins bild gewebt
warten, bis der wein in die kopfschächte reicht
wunschgerinnsel an den schädel klopfen.
den rasen mit feuchtkalten fingern frottiert
hinter lidfalten spiel der synapsen
überfließen der landschaft
innenbrände am himmel
rasenfrösteln, darauf vergrößerte rehe

Die Gedichte überschreiben in oft sehr sinnlicher Sprache Landschaftlich-Natürliches mit Essbarem wie Marzipan, Honig, Lakritzdrops „und der mond / zitronenbonbon / licht aus“ – sehr lakonisch – und vor allem in Farben, die alle ihre jeweils eigene psychologische Nomenklatur haben. Dabei sind sie sehr differenziert, und geradezu weise in ihren Aussagen über das Leben – und bisweilen auch über die Liebe.

ich suche dich
im dickicht des frühlings
in seiner grün gefleckten luft
ich weiß, du bist blute, krone
kein harter zapfen, sommersprossig
in der farbe von petersilie und rübe
im frühen dickicht, hundertmal grün
winzige briefmarke
suche ich dich

Märchen sind ein großes Thema. Birgit Kreipes Texte halten wie im Gedicht „tangerine himmel“ bei einem „quietschigen“ Sprachmaterial, das auf den ersten Blick modisch genannt werden könnte, eine Menge in der Hinterhand.

ziegelränder, mandarinenhimmel, das haus, mein schiefes cinderellaschloss

verschmierter himmel, darüber lichter: die sternkarten.

Die Autorin schreibt sich selbst in die Märchen hinein und wird förmlich Teil dieser Märchen:

wenn alles verschenkt ist
deine mütze aus neumond, das kleid
dieses dunkelblaue versteck
und das hemd – dürfen wir rauchen –
in der farbe von zähnen

und also nichts mehr ist
zwischen dir und dem großen
goldenen freizeichen
außer teerhimmel.

Alte Märchenmotive werden „resampelt“; die Spannbreite reicht von Andersens Schneekönigin über Gebrüder Grimms Sterntaler hin zu hexe k., welche ein Alter Ego der Autorin darstellt. So wirkt in „schneewittchen, revisited“ das vereiste Schneewittchen wie im Benzodiazepinschlaf erstarrt. Zu „Dörnröschen“ gibt es gar noch eine verloren gegangene fassung („grimm diaries“). Märchen werden zur Folie, um ihr holzschnittartiges Gut und Böse aufzubrechen und umzukehren. Birgit Kreipe schafft es bei aller Modernität der Texte und deren Verwerfungen, mir noch einmal das leise Zittern vor die Augen zu bringen, mit dem ich als Kind diese Märchen gehört habe. „die stachlige schwesternschaft der rosen“ ist ein starkes Bild, und Worte wie „herzgeknurr“, „augustdieb“ oder „baumfrau“ unterstreichen die kindliche, verspielte Seite der Texte.

der wind blättert im wald, diesem
bestimmungsbuch, findet aufgestapeltes licht

in dir summt ein starkstromkasten
aber jede prinzessin hat eine andere seite.

Armin Steigenberger, Ostragehege, Heft 67, 2012

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Ron Winkler: Nicht Schönheitsfarn noch Schönheitsgarn
poetenladen.de, 1.4.2012

 

„zweifel und teer“

– Zu den Gedichten Birgit Kreipes. –

Das Verlagshaus Berlin avancierte in den letzten Jahren zu einem der aufregendsten Verlage, die deutschsprachige Autorinnen und Autoren verlegen, auch weil man sich hier mit viel Liebe und Sorgfalt der Veröffentlichung neuer Lyrik widmet. In Nr. 34 der immer originell aufgemachten Quarthefte sind 2012 unter dem leicht provokanten Titel schönheitsfarm Gedichte einer Berliner Lyrikerin versammelt worden, die einen ganz eigentümlichen Reiz ausstrahlen.
Denn die Gedichte von Birgit Kreipe sind geheimnisvoll, märchenwarm und mythenhart. In knappen Fügungen, in raschen Sprüngen belädt sie Natur- mit Befindlichkeitszeichen, wenn etwa die Versrede geht: „innenbrände am himmel / rasenfrösteln, darauf / vergrößerte rehe“ oder „ihre gedanken flohen zum wald, / der weiß wurde, ein koreanischer witwer“.
„innenbrände am himmel“ ist ein starkes Bild, das durch das „rasenfrösteln, darauf“ noch bekräftigt wird. Die Demiurgin erschafft Räume, in der kindheitsferne Splitter ihren Platz bekommen wie Manifestationen von Seelenpein und Traumbildern. Vor allem aber geschieht immerfort Seltsames in ihnen. Etwa phantastische Entgrenzungen wie „da flog das haus fort / ein schwarm brennender vögel“ oder „das imperium flackert noch // klein wie eine website, wird es von drachen bewacht / auch sie elektrisch, die schuppen kacheln, nach oben hin / dunkler, oder blüten.“
Räume zu konturieren, die einsehbar sind, erfordert Raum im Gedicht. Es ist daher keine Beiläufigkeit darauf hinzuweisen, dass Birgit Kreipe sich vorwiegend zyklisch orientiert: Grundmotive werden sorgsam ausgefaltet, und das geht oft nur über mehrere Gedichte, weil sie umgrenzte Topographien dafür braucht. Im Zyklus „tangerine himmel“ sind es beispielsweise die Gegensatzpaare „Himmel“ – „Keller“ und „schwarz“ – „weiß“, die gleichsam als Begrenzungspflöcke fungieren. Allein die Wortverbindungen mit „himmel“ in diesem Zyklus – „himmelhoch“, „mandarinenhimmel“, „verschmierter himmel“, „rosa himmel“, „himmelskörper“, „pfirsichhälfte von himmel“ – schießen Konnotationsfäden durch den Text, die mit anderen zu einem Netz sich verweben. Dieses umschließt elastisch ein fragiles, verletztes, diversifiziertes Ich, denn so hebt der Zyklus im ersten Teilstück „auf der couch“ an:

wir, diese eigentümerversammlung
von weitem
ich

Ein Ich in Not, das ausgeliefert ist „flüsternden schläuche(n)“, „neuroleptische(n) süßigkeiten“, „amphetaminschocks“, „elektroenzephalogramm“, „nummerierten bechern“. Der Ort eine Klinik, „aber // beim aufwachen euphorisch“: der Restwille ist wissen zu wollen, „was stärker ist: / die tritte, das gift oder die zukunft.“ Und ganz unheimlich wird es, wenn die Farbe weiß vom „weiße(n) bademeister“ über den „weiße(n) apotheker“ zum „kopf des weißen mannes“ teleportiert wird. Birgit Kreipe versteht es in diesem Zyklus meisterlich, eine Atmosphäre der Verstörung und Verängstigung heraufzubeschwören, ohne auch nur im Ansatz larmoyant zu werden. Zusammenziehungen wie „mein schiefes cinderellaschloss“ oder „die seelen werden zu teichmuscheln: klein“ bezeugen eine Konzentriertheit der Arbeit am Gedicht, die ich bewundern kann.
In einem anderen Zyklus greift die Lyrikerin dezidiert Märchenmotive aus den Grimmschen Hausmärchen auf. Das ist durchaus nicht unheikel, denn die allgemeine Bekanntheit der Motive und die bipolaren Deutungsmuster bergen, ins Gedicht geholt, erhebliches Kitschpotential. Birgit Kreipe umgeht diese Klippen, indem sie die Märchengestalten einerseits mit Gegenwartsaccessoires umgibt, tradierte Bedeutungen anreichert und mythisch-poetisch einhärtet, wie einige Verse aus „schwesternlicht“ – das auf „Schneeweißchen und Rosenrot“ zurückgeht – anschaulich zeigen:

(…)

schneeweißchen schlief
eingewickelt in winterlicht
wie in weißes geschenkpapier
die finger wund. Eine
putzsüchtige.
rosenrot, diese blume
das leben in märchen gewöhnt
(ein mucks zur falschen zeit
und du landest
in einem fass voller nägel)
blühte auf. es war ihre zeit.

(…)

Besonders im den Bandtitel stiftenden Abschnitt „schönheitsfarm“ überraschen Gedichte, in denen das sprechende Ich sich mit nur wenigen Imaginationsfiguren umgibt und so fast ungeschützt an seiner Zerrissenheit teilhaben lässt:

ich bestand aus zwei schichten: hoffnung
und scheitern, eine torte, bei der das obst fehlt.
ich kaufte creme mit sauerstoff und
bekam keine luft, die teerschichten wogen zu schwer.

Wieder und wieder Ambivalenzen, „war voller teer, schwarz bis ins mark“, und dann „der wille / […] weiße wehen zu bauen / auf den leuchtreklamen der stadt“. Und eines fällt beim Lesen der Gedichte von Birgit Kreipe sofort auf: Zwischen den Polen Schwarz und Weiß kommt kaum ein Gedicht ohne Farbbeschwörungen aus, vorzugsweise in Blau, Grün und immer wieder in Rot, na klar. Und einige Male werden die Grenzen zur Manie auch überschritten. Gerade weil das Talent der Birgit Kreipe Erwartungen in zukünftige Texte schürt, sei deshalb nicht an Gedichtpassagen vorbeigesehen, die mir problematisch erscheinen. Ich übergehe die Hybris, ein Gedicht über Ess-Störungen mit Brechts „an die nachgeborenen“ zu titeln, dabei mit düsterem Schweigen und komme noch einmal auf den Einsatz von Farbwerten im Gedicht zurück. Mir fiel auf, dass in den Gedichten „sterntaler“ und „liegenbleiben“, die in verschiedenen Abteilungen zu stehen kommen und erkennbar nicht direkt aufeinander Bezug nehmen, sowohl eine „rote diebin“ als auch das Adverb „neumondfarben“ auftauchen. Solche Wiederholungen, wo sie nicht wie in Zyklen eine Verbindungs- und Verdichtungsfunktion innehaben, sind ein Ärgernis, denn solche Griffe in den Wortbausteinkasten hat diese Dichterin überhaupt nicht nötig. Kurzum, der Lyrikerin ist manchmal ein strengerer Blick bei der Überarbeitung ihrer Gedichte zu wünschen, und angesichts fulminanter Bildkraft irgendwo zwischen Sarah Kirsch und Lothar Walsdorf (den bitte auch mal wieder lesen!) dürfte dies eine der leichthändigeren Einübungen sein.

Peter Geist, aus Aron Koban und Annett Groh (Hrsg.): denkzettelareale, Verlag Reineke & Voß, 2019

Das bekennende Gespenst

– Erinnern in Gedichten. –

ANFANGEN
Da sitzt es. Schon morgens, am Schreibtisch. Nett anzusehen, löffelt es seinen Obstsalat. Auf eine kindliche Weise provoziert es gerne. Na, gestern im Traum durch die Restaurants gezogen und nirgendwo einen Platz gekriegt? Es schiebt sich einen Löffel in den Mund und nimmt sich noch Kaffee. Dann legt es nach.
Manchmal kommen wir nicht überein. War da nicht eine Episode, deren Erinnerungsspuren in dieses Gedicht gehören?… Auf einmal findet es nur noch den gestreiften Sweater, den ich damals gerne trug. Dafür taucht zu einem anderen, scheinbar nebensächlichen Aspekt ein Strauß Metaphern auf, die eher archaischen Charakter haben und die präzisere Erinnerung überlagern, wie sie zum Beispiel in einem Tagebuch nachzulesen wäre. Mach einen Plan. Starr in die Luft. Neue Aspekte finden sich ein.
Und wenn sich keine neuen Aspekte einfinden, kann man sie dann erfinden? Auch wenn man selber merkt, wie erfunden sie sind? Dass das false memory syndrome, bewusst oder unbewusst eingesetzt, ein literarisches Verfahren sein kann, würde das bekennende Gespenst achselzuckend zur Kenntnis nehmen:

Was ich erfinde, ist wahrer als das, was du erinnerst.

Zu sagen, dass ich ihm, Hüter der poetischen Bilder, deshalb misstraue, wäre übertrieben. Manchmal scheint es zu rufen:

Stör mich nicht, mit Deinen Erinnerungen.

Zu den Motiven der Gedichte gehören ja nicht nur konkrete Lebenserinnerungen, sondern auch Dinge und Ereignisse, die nicht geschehen sind, deren Nicht-in-die-Welt-gekommen-Sein die Gedichte bedauern. Als wären Erinnerungen da, die in Wirklichkeit Erwartungen sind. Die sich auf Ereignisse richten, die auf magische Weise greifbar sind, obwohl sie nie stattgefunden haben. Die eine Art Verlustempfinden wachhalten, das Bilder hervorbringt. Dabei ist dann Trauer. Aber auch Gefühle von Verbundenheit, die beglücken.
Es ist kaum möglich, sich zu erinnern, ohne die Geschehnisse auch zu verzerren. Vergangene Landschaften, Personen, Ereignisse entwickeln eine Gravitation, laden sich auf, es muss so sein. Kann ich das alles dem bekennenden Gespenst anlasten? Es öffnet dem Bild ja den Weg ins Bewusstsein, eigenen Zuständen auf der Spur. Während ich etwas verstehen will, mischt es auf, aggraviert, geht weiter, dreht herum, überspringt. Schafft neue Verbindungen. Es sagt „Ich“ im Gedicht.
Es ist klug. Trotzdem ist es aber nicht unbedingt die Instanz, der ich mein Gedicht ganz überlassen möchte.
Liegt es daran, dass ich Erfahrungen habe auf dem Gebiet der therapeutischen Selbsterzählung – Psychologie studiert, mich mit den Auswirkungen traumatischer Ereignisse auf das Erinnerungsvermögen, das eigene Erleben befasst habe? Außerdem habe ich eine Reihe von Selbstversuchen hinter mir – wenn man das eigene Leben mal so nennen darf.
Gib nicht so an, sage ich zu dem bekennenden Gespenst. Es reagiert unwirsch:

Dann geh doch zu deinen Erinnerungen. Wenn die Deine Welt sind. Und all das andere? Siehst Du überhaupt irgendetwas, von dort, wo du sitzt? Wo bleiben die Sterne?

Ich habe vergessen

WEIL
Wieder geschieht: Nichts. Man möchte brechen, stöhnt Professor Snape aus irgendeinem vergessenen Speicher. Das bekennende Gespenst sitzt ungeduldig auf seinem Platz. Ich schaue auf den Zettel mit den Notizen. Etwas scheint mir aufzuleuchten in dieser Skizze, zu bewegen. Aber anderes fehlt halt noch – außerdem haben wir das, pardon, schon mal gelesen. Und hat Gaby nicht neulich gesagt, meine Texte seien eh viel zu offen? Sollte mich mal besser schützen!

KRISE
Das weiß ich alles längst, ruft das bekennende Gespenst. Wieso siehst du auf einmal so verschoben aus? Wie ein Picasso… Ich bin abgeschweift, gebe ich zu. Ich habe geträumt, mein Leben wäre so gewesen, wie es gewesen wäre, wenn die Gedichte darüber das Leben gewesen wären.

Erkläre ich dem Gespenst.

Aber es geht mehr darum, etwas in der Zeit aufzuspüren, was geborgen werden will, und es in eine sinnliche Erfahrung zu übersetzen. In einer anderen Form lebendig zu machen. Rohlinge von Bildern, Bildkomplexen aus der mitgeschleppten Zeit ausbuddeln, sie zurechtschleifen. Ob die einstigen Erfahrungen, welche hinter diesen Bildern stehen, sich dabei tatsächlich entfalten, ist eigentlich egal. Das Vorgehen ermöglicht mir eine sinnlich-ästhetische Erfahrung, die sich sonst immer wieder entziehen würde.
Jüngere Zeitschichten lagern sich in der Form ab. Die Bilder sollen „aufgehen“, in sich stimmig sein, die einzelnen Elemente den inhaltlichen und formalen Zusammenhang des Gedichts unterstützen. Längst bin ich d’ accord mit dem bekennenden Gespenst: Etwas Drittes entsteht, zwischen den Erinnerungsbildern, den ersten Entwürfen, und der Ausgestaltung, die zum Umdenken zwingt. Und:

Ist nicht fertig.

SPÄTER
Später, hoffe ich, geschieht noch was. Bei einem Spaziergang. Kurz vor dem Einschlafen. Ich werde nach meinem Notizbuch greifen, einem Stift. Ich werde etwas festhalten wollen, eine Welle, einen Schwung. Es mag durch einen Satz ausgelöst sein, eine Bewegung, ein plötzlich emporwachsendes Bild. Von diesem Punkt an ist der Text ein anderer, einer, der weder unwahr noch authentisch ist. Hauptsache, er hat sich auf seine eigene Weise von der Erinnerung und den Ansprüchen des bekennenden Gespenstes emanzipiert.
Das Gespenst entspannt sich. Es hat seine Chance genauso vehement zu nutzen versucht wie ich, sein nervöser Zwilling. Beide haben wir investiert, und plötzlich erscheint die ganze Auseinandersetzung als gute Vorarbeit! Moment mal: Gestern noch keinen Plan gehabt, und jetzt ist es gleich „gute Vorarbeit“? Was höre, pardon, denke, pardon, erinnere ich, pardon, da?

Schau, sagt das bekennende Gespenst. Das hier, das ist die Erinnerung.

Birgit Kreipe, aus Aron Koban und Annett Groh (Hrsg.): denkzettelareale, Verlag Reineke & Voß, 2019

 

 

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