BLINDSAAT
Geworfen aus dem Nirgendwo,
aus der hohlen Hand des Weltalls,
Samenkörner, ausgestreut zu Versuchszwecken,
willkürlich
oder, was schlimmer wäre,
unablässig unter Aufsicht,
fallen wir,
fallen
aaaaaimmer beschleunigter,
aaaaaimmer zielgerichteter,
aaaaaimmer senkrechter,
aaaaaimmer mehr
aaaaader Erde zu,
um auf ihr ausgesät zu werden.
Was wird wachsen?
„Eine Frau allein unterwegs. Das ist noch immer peinlich und riskant / in dieser Mänerwelt“, heißt es in einem Gedicht, das Blaga Dimitrowa 1965 schrieb.
… dein einziger Schutz
ist deine Schutzlosigkeit…
Ob du weit gelangen wirst…
du weißt es nicht, doch du bist beharrlich…
allein dein Aufbruch
ist schon Ankunft irgendwo…
Und neun Jahre später, in „Selbstbildnis“:
Du möchtest eine Ikone sein
mit dem Antlitz einer Bilderstürmerin.
Der Blick: blind für das Naheliegende,
gerichtet in unsichtbare Fernen…
Das Lächeln: eine Grimasse des Weinens,
das Weinen: ähnelnd
einem Lächeln.
Der Gang zerstreut, stets gegen den Wind
du selbst erzeugst
den Gegenwind…
Das Haus: ein Chaos, gepackte Koffer.
Unbeständigkeit der Reiserouten,
Beständigkeit der Veränderungen…
Der Verstand: zweifelnd am Offensichtlichen,
blind glaubend
dem Unwahrscheinlichen.
Einsamkeit in der Zeit für Liebe,
Liebe in der Zeit für Einsamkeit…
Wanderin, was ist dir Halt und Stütze?
Der Stolperstein vielleicht.
Diese beiden hier nur auszugsweise zitierten Texte fügen sich ergänzend zur „Ars poetica“, die unsere Gedichtauswahl einleitet: sie charakterisieren die künstlerische Handschrift der Verfasserin und weisen auf bestimmte Motive hin, auf die sie in ihrem umfangreichen und vielgestaltigen Werk immer wieder zurückgreift.
Es war ein gerader Weg, der Blaga Dimitrowa zur Literatur geführt hat. Am 2. Januar 1922 geboren, wuchs sie in der alten Zarenstadt Weliko Tyrnowo in einem bürgerlichen Elternhaus auf (der Vater war Anwalt, die Mutter Lehrerin), das der einzigen Tochter eine solide Bildung und auch musische Erziehung ermöglichte. Neben dem Besuch des klassischen Gymnasiums widmete sie sich dem Klavierspiel, nahm dann aber das Studium der Slawistik an der Sofioter Universität auf, das sie 1945 beendete, und sechs Jahre später promovierte sie am Moskauer Maxim-Gorki-Institut mit einer Dissertation über „Majakowski und die bulgarische Dichtung“ zum Kandidaten der philologischen Wissenschaften. Bereits 1950 hatte sie bei der Literaturzeitschrift Septemwri als Redakteur zu arbeiten begonnen, eine Funktion, die sie, unterbrochen durch eine zweijährige Tätigkeit als Korrespondentin auf den Großbaustellen im Rhodopengebirge, bis 1958 ausübte. 1962 war sie vorübergehend Lektor im Verlag des Bulgarischen Schriftstellerverbandes Bulgarski pisatel und von 1963 bis 1977 im Verlag für internationale Literatur Narodna kultura. Aktiv in der Friedensbewegung, nahm sie an den Weltfriedenskongressen 1969 in Berlin und 1971 in Moskau teil und erwarb sich als Sekretär des bulgarischen Solidaritätskomitees (seit 1967) besondere Verdienste um die internationale Hilfe für den Befreiungskampf des vietnamesischen Volkes.
Die künstlerische Biographie Blaga Dimitrowas ist von frühen Anfängen markiert. So weiß das Lexikon der bulgarischen Literatur (Band I, Sofia 1976) von poetischen Versuchen zu berichten, die die junge Dichterin, lange bevor an eine eigene Buchpublikation zu denken war, ab 1938 in verschiedenen, meist Schüler- oder Studentenzeitschriften veröffentlichte. Unter dem nachhaltigen Eindruck des Vaterländischen Krieges, der Befreiung Bulgariens vom Faschismus und der Errichtung der Volksmacht wendet sie sich patriotischen Themen zu, schreibt Verse über den Revolutionär und Staatsmann Georgi Dimitroff (1950), verarbeitet ihre auf den Großbaustellen gesammelten Erfahrungen in Liedern über die Rhodopen (1954). Ihr Gedichtband Im Freien erscheint 1956, in dem Jahr, das mit dem Aprilplenum der BKP eine entscheidende Zäsur in der Entwicklung der bulgarischen Gegenwartsliteratur setzte: „Auf ideologischem und geistig-kulturellem Gebiet wurde der Weg zur Überwindung von dogmatischer Enge und Schematismus, zur Entfaltung eines mit marxistisch-leninistischer Prinzipienfestigkeit gepaarten Schöpfertums gewiesen“, wie die Verfasser des 1983 in Leipzig publizierten Werks Bulgarische Literatur im Überblick erläutern. Vor allem in der Poesie, dem traditionell führenden Genre in der bulgarischen Literatur, drängte alles auf Veränderung und Erneuerung, hatten doch schon 1954 die Herausgeber einer repräsentativen Lyrikanthologie auf gravierende Schwächen hingewiesen wie „… zweidimensionale Zeichnung der Wirklichkeit, oberflächliche Kenntnis des Lebens und Fehlen von schöpferischer Kühnheit, um es in seiner Tiefe und mit den ihm eigenen Widersprüchen zu zeigen, eine oft unzulässige Geringschätzung der Form… “. So kam es nach 1956 zu einer Blütezeit der Dichtkunst, und der Name „Aprilgeneration“ ist seitdem ein feststehender Begriff in der Geschichte der bulgarischen Nachkriegsliteratur. Blaga Dimitrowa schaffte den Durchbruch mit Bis morgen (1959), einer Sammlung Liebesgedichte, die ihres großen Erfolges wegen schon ein Jahr später nachaufgelegt wurde; 1962 folgten weitere Liebesgedichte unter dem Titel Die Welt in einer Hand. Zusammen mit den Werken etwa gleichaltriger Dichter wie Valeri Petrow, Wesselin Chantschew oder Iwan Peitschew ließen diese Bücher aufhorchen durch die Erweiterung und Vertiefung des gedanklichen, emotionalen und ethischen Gehalts, durch Formen, die von den bisherigen starren Fesseln befreit waren.
Allmählich erschließt sich nun die Lyrikerin Blaga Dimitrowa auch andere literarische Genres: 1965 veröffentlicht sie Reise zu sich selbst, einen auf ihren Erlebnissen aus dem zweijährigen Rhodopenaufenthalt basierenden, umfänglichen, als Kunstwerk nicht rundum gelungenen Roman, der gleichwohl eine wichtige Station für ihre weitere Entwicklung darstellt, zeugt er doch vom unbestreitbaren epischen Vermögen der Autorin, das sich in weiteren Büchern bestätigen wird: Liebe auf Umwegen (1967; dt. bei Volk und Welt 1969, 1975, 1980, bei Reclam 1985), Das Jüngste Gericht (1969), Die Lawine (1971; dt. bei Volk und Welt 1981), Unterirdischer Himmel (1972), Die Jugend Bagrjanas / Schwarze und weiße Tage (eine zweibändige Monographie über die Dichterin Elisaweta Bagrjana, zusammen mit Jordan Wassilew, 1975), Das Gesicht (1981) – Büchern, die Genrebezeichnungen tragen wie „Roman-Poem“, „Roman-Reise“, „Tagebuch“ und solcherart der bulgarischen zeitgenössischen Prosa interessante neue Mischformen schenkten und deren größte Stärke in der Darstellung einprägsamer Frauengestalten liegt; in diesem Zusammenhang sind auch die Bühnenwerke Dr. Faustina (1972), Blinde Begegnung (1974) und Eine Frau allein unterwegs (1981) zu nennen.
Dennoch ist diese fleißige, produktive und vielseitige Schriftstellerin (sie hat „ganz nebenher“ auch zahlreiche, ob ihrer Qualität hochgeschätzte Übersetzungen geschaffen, so Homers Ilias, den Pan Tadeusz von Adam Mickiewicz, russische, französische, jugoslawische, deutschsprachige Lyrik) zuerst und vor allem Dichterin. Mit den etwa zwanzig Gedicht- und Poemsammlungen, die sie seit Mitte der fünfziger Jahre veröffentlichte (diese nur ungefähre Bibliographie wird ergänzt durch viele Auswahlbände unterschiedlichster Zusammenstellung), ist sie im Ensemble der zeitgenössischen bulgarischen Poesie eine unverwechselbare Stimme, die längst auch internationalen Klang hat – in der Sowjetunion und in anderen sozialistischen Ländern bis hin zu Vietnam, aber auch in Westeuropa: in England, Frankreich, Belgien, der BRD.
Auch in der DDR ist die Lyrikerin Blaga Dimitrowa längst keine Unbekannte mehr. Bereits 1966 erschienen einzelne Gedichte in dem von Paul Wiens bei Volk und Welt herausgegebenen Sammelband Blaue Feuer, außerdem ist sie natürlich in der repräsentativen Anthologie Bulgarische Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts (Volk und Welt 1984) vertreten. Nach den beiden oben erwähnten Romanen liegt nun Fenster zur Hoffnung vor, eine schmale, gleichwohl charakteristische und jüngste Publikationen in der bulgarischen Literaturpresse einbeziehende Auswahl aus dem reifen poetischen Werk der Autorin. Schon beim ersten Blick wird klar: Diese Gedichte sind nicht „schön“ im landläufigen Sinne; sie entbehren des gefälligen Liebreizes, wie man ihn aus der Feder anderer Lyrikerinnen gewohnt ist, die Rosen besingen, die idyllische Bilder einer heilen Welt reproduzieren. Im Gegenteil: die bemühte, sorgsam Versfüße setzende und Reime schmiedende Kalligraphie der frühen Versuche, der man so oft noch den schwarzen Schulkittel mit dem gestärkten, weißen Kragen anmerkte (eine hier sinngemäß wiedergegebene; recht anschauliche Formulierung aus einer 1974 veröffentlichten Arbeit des Kritikers Emil Petrow), ist längst einer verknappten, sparsamen, zum Aphoristischen und Sentenziösen tendierenden, die Grenzen zur Prosa verwischenden Schreibweise gewichen (so wie umgekehrt die Prosawerke Blaga Dimitrowas nie frei von poetischen Elementen sind). Aus dem Spannungsfeld zwischen Pol und Widerpol, zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion, zwischen Besonderem und Allgemeinem, zwischen Negation und Affirmation resultiert die Dynamik dieser Dichtung, die manche Rezensenten dazu verleitet hat, von „dialektischer Methode“ zu sprechen, also der Aneignung der objektiven Realität als einer Einheit von Widersprüchen. So stimmig diese Definition auf den ersten Blick und in Ansehung des einen oder anderen Details auch erscheinen mag – man kommt mit ihr der Lyrik Blaga Dimitrowas nicht bei. Denn was hier klafft, ist der Kardinalwiderspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit, so unlösbar wie der in der Persönlichkeit der Dichterin begründete Zwiespalt: die Überfülle der Empfindungen (und Empfindlichkeiten) kollidiert unaufhörlich mit der kontrollierenden, kanalisierenden, zügelnden Ratio.
Die Gedichte Blaga Dimitrowas, erfüllt von Unruhe und Rastlosigkeit, von Dissonanzen, die nach Auflösung in Harmonie verlangen, von Räsonnement über existentielle Belange des menschlichen Seins und häufig in offenen Fragen mündend, erschließen sich nicht leicht. Sie sind spröde wie die Heldinnen ihrer Romane, die ihre Verletzlichkeit unter einem Panzer der Widerborstigkeit verbergen (und deren jede auf ihre Art auch Züge der Verfasserin trägt, von der in ihrem jugendlich naiven Optimismus enttäuschten Raina aus Reise zu sich selbst über die empfindsame Neda aus Liebe auf Umwegen, die ihren Traum von der großen Jugendliebe im reifen Alter endgültig begraben muß, bis zu der asketischen Marxismusdozentin Bora aus Das Gesicht, deren starre weltanschauliche Prinzipienfestigkeit unter dem Eindruck einer fatalen Begegnung erschüttert wird). Diese Gedichte sind von einem moralischen Rigorismus, der an die Strenge der christlichen Gebote gemahnte, wäre er nicht gepaart mit der Wärme der liebenden Frau, dem aus schmerzlicher Lebenserfahrung geborenen Wissen um die Kraft der Schwachen und die Verwundbarkeit der Starken, dem tätigen Mit-Leiden, wie es aus dem Vietnam-Zyklus spricht, dem rückhaltlosen Eingeständnis eigener Angst und Unsicherheit, eigener Fehlbarkeit und Schuld. Dies assoziiert nun doch ein Gebot, wenn auch abgewandelt aus Kapitel 20 des 2. Buches Mose: „Du sollst kein falsch Zeugnis reden“ – wider dich selbst.
Solcherart kompromißlos sich selbst und ihrem humanistischen Anliegen verpflichtet, von der Regierung der VR Bulgarien 1974 als Verdiente Künstlerin ausgezeichnet, von der Kritik nicht immer gelobt, sondern bisweilen auch mißverstanden und also gescholten, von den Lesern verehrt und geliebt, ist Blaga Dimitrowa unterwegs zu sich selbst und der Welt – eine Dichterin unserer Zeit.
Barbara Antkowiak, Juli 1985
„Du möchtest eine Ikone sein / mit dem Antlitz einer Bilderstürmerin“, so sieht sich Blaga Dimitrowa in einem 1974 verfaßten, trefflich charakterisierenden „Selbstbildnis“: „unter Tränen lächelnd, zweifelnd am Offensichtlichen, blind glaubend dem Unwahrscheinlichen… eine rastlose Wanderin“, „… allein unterwegs zu unbekanntem Ziel“, wie es an anderer Stelle heißt, „doch beharrlich… allein dein Aufbruch / ist schon Ankunft irgendwo…“.
Die 1922 geborene bulgarische Lyrikerin, Prosaschriftstellerin und Dramatikerin ist als Verfasserin der Romane Liebe auf Umwegen und Die Lawine seit langem bekannt. Mit Fenster zur Hoffnung liegt nun eine Auswahl von Gedichten vor, die in den letzten fünfundzwanzig Jahren entstanden. Empfindsam und grüblerisch, reich in der Vielfalt der Themen und sparsam in der Wahl der Ausdrucksmittel, stehen diese Gedichte im Spannungsfeld von Kontrasten – zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion, Dissonanzen und Harmonie, Wirklichkeit und Ideal. Sie sind erfüllt von Fragen, die nach Antwort verlangen, von Widersprüchen, die auf Lösung drängen; Liebe ist Begegnung und Trennung zugleich, Freiheit bedeutet Verantwortung. „Im Käfig der Worte“, „ans Kreuz des Gewissens“ geschlagen, nimmt Blaga Dimitrowa die Last ihrer humanistischen Pflicht als Künstlerin auf sich, „mein täglich unentbehrlich Brot, / steinhart“. Und dennoch tritt sie „furchtlos entgegen / den Winden dieser Welt“ – unterwegs zu sich selbst und zu den Menschen, im produktiven Dialog mit ihrer, mit unserer Zeit.
Verlag Volk und Welt, Beipackzettel
Adolf Endler: Eine Reihe internationaler Lyrik, Sinn und Form, Heft 4, 1973
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