UNVERANTWORTLICHER MITTERNÄCHTLICHER STUNK
die vereinigten staaten sind Nicht schalldicht – ihr denkt vielleicht, nichts könnte zu den zehntausenden hinter der mauer aus dollars durchdringen … foto von einem farmer – lange unterhosen – mütze aus waschbärenfell – stranguliert sich an seinem schuh – seine frau stolpert über die totenschädel – ihr haar wie von ratten zerfressen – ihr kind trägt einen skorpion – der skorpion hat eine brille auf – das kind trinkt gin – alle haben ballons in den augen – daß sie sich nie in mexiko in der sonne aalen werden liegt auf der hand – schicken sie noch heute ihre dollarspende – geben sie sich einen ruck … oder halten sie für immer den mund
aaaaader raufbold kommt herein – tritt den
aaaaazeitungsjungen, na ihr wißt schon wo-
aaaaahin – & beginnt den elektromechaniker
aaaaadas hemd vom leib zu reißen
Im Herbst 1966 sollten wir Bob Dylans „erstes Buch“ herausbringen. Andere Verlage beneideten uns darum. „Das wird ein Verkaufsschlager“, sagten sie, ohne recht zu wissen, was das eigentlich war, außer daß es von Bob Dylan war. Dieser Name hatte damals eine magische Wirkung. „Außerdem, man braucht sich nur den Erfolg von John Lennons Buch anzusehen. Von dem hier verkauft ihr doppelt so viel vielleicht noch mehr.“ Ganz gleichgültig, was drinstand.
Bob schaute gelegentlich bei uns herein. Es war damals nicht leicht für ihn, sich am hellen Tag auf der Straße zu zeigen, und sei es auch nur auf dem kurzen Weg bis zu unserem alten Gebäude Ecke 12. Straße und Fifth Avenue, einem prächtigen Bau mit einer Marmortreppe und massiven Wänden, die vollgehängt waren mit Porträts und Fotos von Leuten wie W.B. Yeats. Dessen erstes Buch hatten wir auch veröffentlicht; und dann übrigens alle weiteren.
Eines Tages tauchte Bob wieder einmal auf, und unsere Empfangsdame hinter dem großen Eichentisch entschied, daß ihr sein Aufzug nicht gefiel. Sie telefonierte nach oben, um nachzufragen, ob man ihn so hereinlassen dürfe. Das fanden wir damals witzig, denn es gab nur sehr wenige Orte, wo er feststellen mußte, daß er nicht willkommen war. Er brauchte sonst nur reinzukommen, und sofort sah alles hin, flüsterte miteinander und machte ihm Platz. Man hatte es unschicklich gefunden, ihn zu bedrängen. Man wußte ohnehin nicht so recht, was man zu ihm sagen sollte.
Wir unterhielten uns über sein Buch, was er sich davon erhoffte, und welche Aufmachung er sich dafür wünschte. Und wie er es nennen wollte. Wir wußten lediglich, daß es noch „in Arbeit“ war, das Erstlingswerk eines jungen Liedermachers, eines rasch, berühmt gewordenen scheuen Jungen, der manchmal Gedichte schrieb und auf viele von uns eine eigenartige Wirkung hatte.
Wir waren uns nicht so ganz sicher, was wir mit dem Buch machen sollten – außer Geld. Wir wußten nicht, was von Bob zu erwarten war. Wir wußten nur, daß gute Verleger ihren Autoren die Chance geben, zu sich selbst zu finden. Robert Lowell spricht von einem „freihändigen Balancieren auf des Messers Schneide“, und wir dachten uns, daß das auch Bob ein bißchen tat.
Wir entwarfen für das Buch ein Design, das uns gefiel. Bob fand es auch gut, und wir ließen es so setzen. Außerdem dachten wir uns Ansteckknöpfe und Einkaufstüten aus, bedruckt mit einem Bild von Bob und dem Wort Tarantel. Wir wollten jedermann darauf aufmerksam machen, daß das Buch bald erscheinen würde. Wir wollten Life und Look und der New York Times und Time und Newsweek und all den anderen, die von Bob sprachen, ein bißchen unter die Arme greifen. Wir brachten ihm einen Satz Druckfahnen, damit er es sich noch einmal gründlich ansehen konnte, ehe wir darangingen, es zu drucken und zu binden und all die vorbestellten Exemplare auszuliefern.
Es war Juni. Bob arbeitete im Schneideraum an der Fertigstellung eines Films. In einer Pause unterhielten wir uns über das Buch und über Rameau und Rimbaud, und Bob versprach, seine letzten „paar Änderungen“ am Text innerhalb von zwei Wochen vorzunehmen. Wenige Tage später mußte er aussetzen. Ein Motorradunfall zwang ihn zu Untätigkeit.
Man hätte das Buch einfach so wie es war veröffentlichen können. Aber das konnten wir nicht tun. Bob wollte es nicht. Er war jetzt nicht in der Lage, seine „Änderungen zu machen“. Das war alles, und nichts weiter.
Die Zeit verging, und dann war das Jahr zu Ende. Manche Leute waren wütend. Wo war denn nun dieses sogenannte Buch? Er hatte es doch versprochen. Und die Macmillan Company hatte es versprochen. Sie hatten sogar diese Ansteckknöpfe und Einkaufstüten hergestellt, deren Restexemplare jetzt von manchen Leuten aus dem Lager entwendet und verkauft wurden, weil Bobs Foto darauf war – und ein Foto würde vielleicht ohnehin besser sein als das Buch.
Es waren auch einige wenige Exemplare der Druckfahnen an verschiedene Leute geschickt worden, die das Buch gleich bei Erscheinen besprechen wollten. Solche Vorausexemplare für Rezensenten gibt bei jedem Buch. Manchmal bestehen diese Exemplare nur aus losen Blättern, manchmal haben sie eine Spiralbindung.
Wieder verging einige Zeit. Es gab immer noch viele Leute, die von dem Buch sprachen und sich fragten, wann es wohl herauskommen würde. Doch es konnte erst herauskommen, wenn und falls Bob wollte. Er wollte nicht.
Je mehr Zeit verging, desto ungeduldiger und wütender wurden gewisse Leute. Interessiert uns nicht, daß es sein Werk ist, sagten sie. Interessiert uns nicht, was er will, sagten sie. Und überhaupt, er hat gar kein Recht dazu. Und so beschafften sie sich ein oder zwei Exemplare jener Druckfahnen und begannen mit der Herstellung von Kopien. Die verkauften sich sogar noch besser als die Ansteckknöpfe.
Einige Zeitungen sahen das und beschlossen, Teile des Buchs abzudrucken, zusammen mit ausführlichen Besprechungen und Spekulationen und Verleumdungen. Bob fand diese Idee nicht gut, und wir auch nicht: Wir wissen, daß ein Künstler das Recht hat, selbst zu entscheiden, was mit seinem Werk geschehen soll. Und ein Verleger sollte dieses Recht schützen, und es nicht preisgeben. Das sollte eigentlich jeder wissen. Man nimmt nicht etwas weg, was einem nicht gehört; und das einzige, was uns unbestreitbar gehört, ist unsere Arbeit.
Dichter und Schriftsteller sagen uns, was wir empfinden, indem sie uns sagen, was sie empfinden. Sie finden Mittel und Wege, das Unsagbare zu sagen. Manchmal sagen sie die Wahrheit, und manchmal erzählen sie uns Lügen, weil sie nicht wollen, daß uns das Herz bricht.
Bob ist uns immer voraus gewesen, und was er tat, war manchmal schwer zu verstehen. Vieles von dem, was er damals in Tarantel schrieb, ist inzwischen wohl nicht mehr so schwer verständlich. Menschen ändern sich, und ihre Gefühle ändern sich. Doch Tarantel blieb unverändert. Bob möchte, daß es veröffentlicht wird, und so ist nun also Zeit, es zu veröffentlichen. Dies ist Bob Dylans erstes Buch. So hat er es damals mit dreiundzwanzig Jahren geschrieben – genau so −, und jetzt wissen Sie es.
Der Verleger, Vorwort zur Originalausgabe, Macmillan Publishing, 1971
Tarantula ist seit über einem Jahrzehnt vergriffen. Mit dieser Neuauflage wird ein Schlüssel zum Verständnis der (musikalischen) Kultur der Sechziger wieder zugänglich. Es ist das einzige Buch, das Bob Dylan geschrieben hat, das einzige längere dichterische Werk, das er in Druck gegeben hat. In der Form eines Prosagedicht/Gedicht/ Prosagedichtes zieht vor unseren Augen eine solche Fülle von Gestalten vorüber, daß man eine Stadt damit bevölkern könnte, und wir sind hin- und hergerissen zwischen all den phantastischen Möglichkeiten einer irdischen Welt (ein junger „Dada“-Aufrührer wird von Rabauken zusammengeschlagen; während seiner Genesungszeit wird er nach Monaco verschickt), dann wieder verwirrt uns das Einbeziehen des Phantastischen in den Alltagstrott („Grace Kelly bekommt wieder ein Kind, und alle Ganoven werden zu besoffenen Geschäftsleuten“). Die Gestalten in Tarantula erinnern an die einer Schaubude, aber der Zirkus spielt sich auf unseren Straßen ab. Auf diese Weise ist, Tarantula ein Gegenstück zu den gleichzeitigen Aufnahmen – Bringing It All Back Home, Highway 61 Revisited und Blonde on Blonde – drei Alben, auf denen Dylan sich der elektrischen Gitarre zuwandte und dadurch die Popmusik und die Popkultur unwiderruflich veränderte.
Als Bob Dylan seine Gitarre auf dem Newport Folk Festival 1965 anschlug, demonstrierte er einer ganzen Generation, daß intelligente Musik durchaus populäre Form annehmen kann und daß Popmusik nicht notwendigerweise ohne intellektuellen Gehalt sein muß. Die Beatles beispielsweise gingen vom Teenyrock von 1964 „I Want to Hold Your Hand“ über zu „Norwegian Wood“ 1965 und „Eleanor Rigby“ 1966, eine Wandlung, die die Beatles ausdrücklich Bob Dylans Einfluß zuschreiben. Ebenso widerlegte Dylan mit „Like a Rolling Stone“ für immer die Behauptung, und das ganz eindeutig, eine Popsingle dürfe nicht länger als drei Minuten dauern. Dylan hob den Standard der Jugendmusik, die man insgesamt einfach „Rock and Roll“ nannte, auf ein höheres Niveau und verwandelte sie in das Medium für eine Jugendkultur, die ihre eigene Sprache zu erforschen begann und feststellte, daß sie etwas zu sagen hatte. Die Sechziger hatten nun wirklich begonnen.
Natürlich blieb Dylan, der ja immer auf dem schmalen Grat zwischen Ikone und Bilderstürmer wandelte, nicht lange ein Teil dessen, was er bewirkt hatte. So wie er die „Folkies“ 1965 im Abenddämmern von Newport verlassen hatte und die gezielten Protestsongs vermied, um statt dessen auf seinen ersten elektrischen Alben verbale Montagen nach Art der Imagisten zu schaffen (eine literarische Bewegung zwischen 1912 und 1920, die nach genauestem Ausdruck und knappsten dichterischen Bildern strebte), so enttäuschte er alle Erwartungen mit der Veröffentlichung des maßvollen akustischen Albums John Wesley Harding 1968, gerade als die Psychedelik auf dem Höhepunkt war. In einem Punkt blieb er allerdings mit dem verbunden, was er auf den Weg gebracht hatte: Dadurch, daß er die hohe und die niedere Kultur vereinte, hatte er seinen eigenen Platz in dieser ganzen Ordnung deutlich gemacht. Er war bei weitem nicht der erste überhaupt, der diese Vereinigung zustande brachte, aber als er in den Sechzigern auftauchte, war er nach geraumer Zeit der erste, der das wieder tat. Wie die Beatniks vor ihm, befreite auch er die Kultur für eine Weile aus ihrem akademischen Elfenbeinturm.
Was uns wieder zu Tarantula zurückbringt. Dies ist ein Buch urbaner Dichtung, voll mit Menschen von der Straße und volkstümlichen Erscheinungen, wo Aretha und James Cagney neben Bettlern, kleinen Gangstern und Lastwagenfahrern leben. Und Bob Dylan. Seine Gedichte sind aus dem gleichen purpurnen Stoff gemacht wie „Desolation Row“, „Sad Eyed Lady of the Lowlands“ und „Tombstone Blues“, Songs aus den einfallsreichsten Alben, die je aufgenommen wurden, vielfach mit den gleichen Leitmotiven und Bildern, im gleichen Ton. Man versteht die beiden Formen besser, wenn man Zugang zu beiden hat, und damit Bob Dylans gesungene und ungesungene Gedichte eine größere Anerkennung finden, legen wir hier noch einmal Tarantula vor – mit dem ungekürzten Originalvorwort des Herausgebers.
Hannibal Verlag, Vorwort
1965 geschrieben, sind die Texte ein literarisches Dokument jener Dekade, in der sich die Weltjugend zu rühren begann. Kein Popmusik-Autor vermochte es, die kollektiven Mythen und Emotionen seiner zeit mit einem solchen bilder- und Assoziationsreichtum auszudrücken wie Dylan, keiner ist je selbst zu solch einem Mythos geworden. Sein Einfluß als Rockpoet auf das gesamtkulturelle Geschehen der letzten drei Jahrzehnte ist epochal, und so führen uns seine Texte in die gleiche Welt wie seine zeitlosen Songs: „… in einen Zirkus voller Träume“ (Rolling Stone). Dylans Poetik schöpft aus der assoziativen Methode der Beatniks ebenso wie aus seinen Textvorbildern Joyce und Bert Brecht – seine zeitgleich entstandenen Songs wie „Like a Rolling Stone“ gelten heute längst als Klassiker, die das Lebensgefühl der 60er Jahre in Worte kleiden.
Hannibal Verlag, Klappentext, 1995
– Bob Dylans Tarantula ist Unsinn mit poetischem Kalkül. –
Die Veröffentlichungsgeschichte von Tarantula, Bob Dylans einzigem längeren Prosatext, ist ähnlich verkorkst wie die der legendären Basement Tapes und nicht zuletzt deshalb auch genauso mythenselig und geschichtenumrankt. Auch hier müssen erst sechs Jahre ins Land ziehen, bis der Text schließlich veröffentlicht wird; bei den Kelleraufnahmen aus dem „Big Pink“ waren es neun.
Und so wie dort längst Bootlegs kursieren und reißenden Absatz finden, bevor die Tapes offiziell erscheinen, gibt es hier zunächst nur einen Raubdruck, der die Korrekturbögen zur Grundlage hat, jene auch an ein paar Zeitungen und Zeitschriften verschickten Fahnenabzüge, die Dylan nicht bearbeiten konnte, weil ihn ein Motorradunfall, der berühmte Motorradunfall, für längere Zeit außer Gefecht gesetzt hatte, und die er danach nicht mehr bearbeiten wollte, weil er sich von dem Text in der Zwischenzeit schon zu weit entfernt hatte und ihn als „Unsinn“ abtat. Nicht zu Unrecht übrigens, denn das ist er ja wirklich, Unsinn, und zwar durchaus mit poetischem Kalkül. Aus Anlass seines Geburtstages ist Tarantula jetzt in einer zweisprachigen Ausgabe bei 2001 wieder erschienen.
Niedergeschrieben wurde Tarantula von Januar bis September 1965, in einer Zeit also, in der Dylan auch in seinen Lyrics – der Alben Bringing It All Back Home und Highway 61 Revisited – gegen die längst ritualisierte und also wohlfeile Protest-Attitüde der Folkies aufbegehrt und sich in eine surrealistische Bilderwelt flüchtet, sich also durch literarische Uneindeutigkeit gegen schnelle politische Vereinnahmung sperrt.
Tarantula geht noch einen Schritt weiter. Der Text ist ein Experiment des totalen Sinnentzugs und lässt zunächst an die surrealistische Praxis der écriture automatique denken, an das bereits von Rimbaud, Lautréamont und Apollinaire vorweggenommene und von André Breton dann nachdrücklich empfohlene delirante, trancehafte Schreiben, das der Konditionierung und Domestizierung, wie sie Logik und gesellschaftliche Normen nun einmal zeitigen, durch bloße Schnelligkeit oder aber chemische Hilfsmittel zu entkommen trachtet.
Dazu passt, was Joan Baez über die Zeit der Niederschrift von Tarantula zu berichten weiß. Dylan habe gearbeitet wie „ein Fernschreiber. Er stand da und wackelte mit den Knien. Er stand, rauchte den ganzen Tag und trank Wein. Und ich konnte ihn nur zum Essen bringen, wenn ich hinging und vor seinen Augen aß. Und sofort langte er nach allem, was ich in der Hand hatte.“
Auch wenn nichts davon stimmt, ist die Beschreibung aufschlussreich, weil sie zeigt, was Dylan prätendiert, in welche Tradition er sich stellt – in die des triebhaften, ekstatischen Schreibens der Beat-Literaten nämlich, vor allem der großen Drei, Allen Ginsberg, mit dem er gut befreundet war, William S. Burroughs und nicht zuletzt Jack Kerouac. Die schöne Legende um die Abfassung von On The Road zeigt denn auch große Ähnlichkeit mit der Baezschen Geschichte.
Und manche Passagen des Buches offenbaren durchaus eine gewisse stilistische Affinität zu den Genannten. Die folgende könnte etwa, der so ähnlich in Naked Lunch oder Nova Express stehen:
das jaulende F aus dem neon dobro & ein erhebendes gefühl nach enttäuschenden liedertexten auf der outlaw matratze am ende der straße während du trophäen abfummelst die zu besuch sind & dem tramp mit dem eisbeutel auf dem kopf im bett ein kissen in den rücken stopfst und die nächsten verwandten stehn am nackten paravent – ein herz voll tratsch & ein wolf mit silbrigen speichelfäden, drohend und unumgänglich, ein schoß der sich öffnet wie ein abgrundtiefer rostiger tümpel, ein jähes erwachen & dann gefriert alles in träumen von einem nebulösen geburtstag.
Aber die Inkohärenz dieses Textes geht letztlich doch weit über das hinaus, was uns die Beats zumuten. Bisweilen sieht es so aus, als hätte er alle avantgardistischen Schreibweisen inkorporiert, deren er habhaft werden konnte: dadaistische Montage, Cut-up-Verfahren, drogeninduziertes Bewusstseinsprotokoll, religiöse Exaltationen in der Nachfolge von William Blake etc. Er verschmilzt das alles zu einer gewaltigen Kakophonie, was manchmal nach einem monumentalen Medien-Mix klingt, so als würden alle Rundfunk- und Fernseh-Sender des Landes für einen kurzen Moment übereinandergeblendet. Ein unlesbares, weil undurchschaubares Stimmengewirr also, das ein bisschen an Finnegans Wake erinnert, weil man auch hier nicht herausbekommt, worum es eigentlich geht, und an die manieristischen Satzmäander in Johann Fischarts „Geschichtklitterung“.
Dieses dicke Prosamüsli wird immer wieder vermengt mit leichter goutierbaren versartigen Passagen, die nicht mit dem Bewusstseinsstrom, oder was immer das ist, sondern eher untereinander korrespondieren. Sie sind stringenter, bisweilen geradezu herkömmlich erzählt, oft in der Form eines Briefes, vor allem aber albern, anscheinend parodistisch.
Und meistens komisch:
lieber tom hab ich dir schon mal gesagt daß ich finde du solltest eigentlich bill heißen. ist natürlich nicht so wichtig, aber weißt du, ich habs gern leger wenn ich mit jemand zusammen bin. Wie gehts margy? Oder martha oder wie zum Teufel heißt sie eigentlich? Paß auf: wenn du ankommst & du hörst daß einer ,willy‘ brüllt, dann bin das ich, ja? … also komm. Ein wagen & eine party werden dich erwarten. ich werde sehr leicht zu finden sein, also sag hinterher nicht du hättest nicht gewußt daß ich da war
dein dankbarer
truman peyote.
Nun, alles in allem haben wir es hier also mit einem dieser Texte zu tun, die man eigentlich nicht lesen kann, über die sich nur schreiben lässt. Aber nicht mal das ist passiert. Außerhalb der Dylanologie wurde kaum etwas zu diesem Buch veröffentlicht, wenn man von zeitgenössischen Kritiken absieht, und selbst dort behandelt man es auch nur am Rande.
Dass Tarantula gleich nach dem offiziellen Erscheinen 1971 zum Bestseller avancierte und schließlich, mit einer Million verkaufter Exemplare auf Platz 7 der Time-Charts vorrückte, lag also an der geheimnisvollen Aura, die, wenn die verspätete Publikation nicht doch vom Verlag kalkuliert war, kein Werbestratege besser hätte evozieren können. Und nicht zuletzt an der Popularität des Autors. So einem frisst man ja bekanntlich aus der Hand, auch wenn er nur Kraut und Rüben zu bieten hat.
Klaus Schäfer, Jungle World, 22./23.5.2001 [Rezension bezieht sich auf eine andere Ausgabe]
Rechtzeitig zum 60. Geburtstag Bob Dylans präsentiert Zweitausendeins mit den zweisprachigen Ausgaben von Tarantel und den von Dylan selbst herausgegebenen und mit Zeichnungen versehenen Songtexten zwei wichtige Dokumente zur Geschichte der Popmusik. 1963 hatte Dylan begonnen, Tarantel zu schreiben, drei Jahre später, seine Platte Blonde on Blonde war gerade herausgekommen, sollte das Buch nach ein paar Änderungen endlich in Druck gehen. Doch dann passierte der berühmte Motorradunfall, und es geschah zunächst nichts mehr. Plötzlich tauchten Teile in Zeitschriften auf, und es erschien – wohl einmalig in der Geschichte des Buches – ein Raubdruck, bevor Tarantel offiziell veröffentlicht worden war. In schlechter Qualität kursierten solche Raubdrucke auch in Europa. Immerhin war das Buch damit bereits vor seinem Erscheinen zu einer Legende geworden.
1971, Dylan hatte gerade seinen sensationellen Auftritt beim „Konzert für Bangladesh“ absolviert – der erste nach seinem schweren Unfall −, erschien das Buch mit einer Startauflage von einer Million Exemplaren im renommierten Verlag The Macmillan Company; rasch landete es auf der US-Bestsellerliste. Tarantel beschreibt die ganz eigene, irgendwie fremde, funkelnde Welt eines dreiundzwanzigjährigen Folk- und Rock-Musikers, der den amerikanischen Traum des „All-American Boy“ auf seine Art träumt. Es ist zwar alles andere als ein On the Road-Buch im Sinne eines Jack Kerouac und der Literatur der Beat-Generation, aber es handelt sich dennoch um ein ebenso aufschlußreiches wie atmosphärisch dichtes Werk, das in seiner unprätentiösen Lakonie immerhin ein realistisches Bild von Dylans bewegter Psyche und seinem Innenleben abgibt…
Junge Freiheit, 25.5.2001 [Rezension bezieht sich auf eine andere Ausgabe]
Nachdem man sich an den ungewöhnlichen Schreibstil gewöhnt hat, eröffnen sich dem Leser von Tarantula faszinierende Einblicke in das Leben und den Seelenzustand eines Menschen, der, wie kaum ein Anderer, die moderne Musikgeschichte nachhaltig beeinflusst hat. Zwar möchte ich mich durchaus als „Bob Dylan Fan“ bezeichnen, allerdings glaube ich auch, dass alle Menschen, die an der heute existierenden „Pop-Kultur“ interessiert sind, dieses witzige und packende Standardwerk gelesen haben sollten. Fazit: keiner darf sagen „Woodstock war toll“ ohne vorher Tarantula verschlungen zu haben!
also ich muss ganz ehrlich sagen, das buch hat mich etwas enttäuscht. naja, bin sohl nicht der beste und interlektuellste gedichten/texte-leser und interpretierer, aber um hinter den sinn des buches zu kommen, fehlte es mir schnell an konzentration und ausdauer. sorry, von mir nur 1 stern, aber vielleicht bin ich ja auch ne ausnahme!
Klar ist Bob Dylan der Größte. Klar sind „Desolation Row“, „Every Grain of Sand“ oder „Blind Willie MacTell“ einige der größten lyrischen Meisterwerke der Popmusik. Klar haben schon schwächere Autoren als Dylan den Literaturnobelpreis bekommen. Klar ist er der neue Rimbaud. Aber das hier, das ist furchtbar. Ganz, ganz furchtbar. Weder für Fans noch für Interessierte noch für Musikhistoriker noch für Surrealisten noch für sonstwen lesbar. Und auch gar nicht dafür gedacht.
Ein Buch, das aus historisch-kulturellen Gründen zwar interessant sein mag, das sich jedoch dem unbefangenen europäischen Leser jedenfalls nicht erschließt. Ich kann damit nichts anfangen, und ich fand es deshalb langweilig. Entschuldigung, verehrter, großer Meister! Nochmals: Entschuldigung! Die Überschrift stammt aus einem Gedicht von Walther von der Vogelweide.
Rund zwei Dutzend Autoren standen in diesem Jahr auf der Wettliste für den Literaturnobelpreis. Da die anstehenden Kandidaten in aller Regel für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet werden, stellt man sich – rein rhetorisch – die Frage, wer von den akademischen Juroren (und wer überhaupt) in der Lage ist, das zur Beurteilung beziehungsweise zur Belobigung vorliegende Textmaterial auch bloss durchzublättern, geschweige denn kritisch gegenzulesen – es dürfte sich dabei alljährlich um mehrere zehntausend Druckseiten handeln. Dass ein solches Lektüreprogramm auch für einen bestallten Akademiker, der mitentscheiden soll, wer den global gewichtigsten Literaturpreis inkl. Laudatio erhalten soll, nicht zu schaffen ist, liegt auf der Hand. Klar auch, dass allein aus diesem Grund die Qualitätskriterien stillschweigen verlagert werden – weg von den Texten, hin zu nichtliterarischen, eher zufälligen, den Autor als Person betreffende Gegebenheiten wie nationale oder kontinentale Zugehörigkeit, Gender oder politische Korrektheit. Derartige Prämissen sind allemal leichter auszumachen als künstlerische Verdienste, die anhand der Texte – und nur der Texte – dargelegt werden müssten. Der Literaturnobelpreis sollte, meine ich, Leistungen honorieren, die für die Literatur als Kunst erbracht worden sind. Sicherlich ist es für einen Nobeljuror weit weniger aufwendig, sich ein paar „poetische“ CDs von Bob Dylan anzuhören als sich auf die unvergleichliche, widerständige, grossartig „instrumentierte“ Dichtung eines Dylan Thomas einzulassen, dem denn auch der Preis der Schwedischen Akademie ebenso versagt geblieben ist wie einer Marina Zwetajewa oder – im Bereich der Erzählkunst – einem Cesare Pavese, einer Clarice Lispector. Wer nun die Auszeichnung des US-amerikanischen Songpoeten zum Anlass nimmt, die Akademie zur „Erweiterung“ oder „Öffnung“ ihres Literaturbegriffs zu beglückwünschen, übersieht, dass Öffnung und Erweiterung gerade in den Künsten eher zur Verluderung denn zur Stärkung führt. Nichts gegen Dylan als Komponisten und Interpreten – den Grammy hat er wohl schon mehrfach bekommen, aber was eigentlich soll ihm (und der Literatur) der Nobelpreis bringen?
HUNDETRAUM
hast du je
dylans hund gesehn
der hat flügel
der kann fliegen
und erzählst du
ihm davon
kann dir dylan
zum erstenmal
nicht in die augen sehn
hattest du je
dylans schlange in der hand
die rasselt wie ein spielzeug
die schläft im gras
die ringelt sich in seiner hand
die summt und schlägt um sich
wenn dylan aufschreit
wenn dylan aufschreit
hast du dir je
dylans vogel
an die wange gedrückt
dylans vogel
der liegt auf dylans hüfte
zittert in seinem innern
der plumpst auf den boden
der tollt mit dylan rum
der ist der einzige
der kommt
wenn dylan kommt
hast du je
dylans hund gesehn
der hat flügel
der kann fliegen
wenn der landet
wie ein clown
darf er
als einziger
dylan in die augen sehn
Patti Smith
Wolfgang Hilbig: Solange es Rock’n’Roll gibt
faustkultur.de, 14.12.2016
Martin Wimmer: Ein literarisches Versprechen
faustkultur.de, 15.10.2016
Ria Endres: „Es ist noch nicht alles zu Ende, aber bald“
faustkultur.de, 9.12.2016
Michael Behrendt: Alles andere als schön – aber unglaublich gut
faustkultur.de, 14.10.2016
Markus Lücker: Der Literat Bob Dylan
mephisto 97.6, 9.12.2016
Julian Dörr, Sabrina Ebitsch, Sascha Goldhofer, Monika Link, Martina Schories: Drogen, Gott und Shakespeare – was in Bob Dylans Songs steckt
Süddeutsche Zeitung, 9.12.2016
Volker Panzer im Gespräch mit den Dylan-Fans Klaus Theweleit, Heinrich Detering, Christiane Rösinger und Markus Berges
Heinrich Detering spricht am 6.7.2021 in der Galerie Bilder Fuchs in Fulda über Bob Dylan – Zwischen Songpoesie und Bildkunst
Carl Weissner liest Bukowski beim Jetztmusikfestival Mannheim am 22.3.2010.
Frank Junghänel und Harry Nutt: Stürmer und Dränger, Spieler, Grübler und Clown
Frankfurter Rundschau, 21.5.2021
Edo Reents: Ein Mann für keine Tonart
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.5.2021
Christian Riethmüller: Meisters Schüler
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.5.2021
Willi Winkler: It Ain’t Me, Baby
Süddeutsche Zeitung, 21.5.2021
Peter Krümel: Mit der Stimme eines Grabräubers
Die Zeit, 19.5.2021
Ulrike Hug-Stüwe: Bob Dylan wird 80 Jahre alt
Neue Zürcher Zeitung, 24.5.2021
Wolf Biermann: „Mein hellster Stern am Liederhimmel“
Die Welt, 23.5.2021
Michael Pilz: Lieber Bob Dylan, ich glaube, dass Sie Ihre Generation lästig fanden
Die Welt, 24.5.2021
Gerold Hofmann: „Der größte Dichter Amerikas“
Cicero, 24.5.2021
Cornelia Zetzsche: Dylans frühes Vorbild war Brecht
BR, 21.5.2021
Gunther Reinhardt: Wer hat Angst vor Robert Zimmermann?
Stuttgarter Zeitung, 22.5.2021
Thomas Andre: Ikone, Held, der Größte
Hamburger Abendblatt, 22.5.2021
Michael Jacobs: Bob Dylan zum 80. Geburtstag – ein persönlicher Glückwunsch
Lauterbacher Anzeiger, 22.5.2021
Falk Janning: Bob Dylan und ich
RP-online.de, 20.5.2021
Dieter Lamping: All American Musician
literaturkritik.de, Mai 2021
Julian Weber: Hey, Mr. Tambourine Man
taz, 23.5.2021
Jacek Slaski: Bob Dylan und Berlin
tip-berlin, 23.5.2021
Arne Willander: Bob Dylan: Der Freidenker
rollingstone.de, 23.5.2021
Susanne Spröer: „Forever young“: Nobelpreis-Träger Bob Dylan wird 80
Deutsche Welle, 23.5.2021
Bruno Schrep: Wie ein Ölgemälde von Bob Dylan aufs Konzert in Ost-Berlin kam
Der Spiegel, 24.5.2021
Thomas Kopietz Interview mit Heinrich Detering: Für jede Situation ein Dylan Song
Hanauer Nachrichten, 23.5.2021
Jan Opielka: Prophet Bob Dylan
Die Furche, 27.5.2021
Christiane Rebmann: Musikpoet für Generationen
SWR2, 22.5.2021
WDR-Programm-Schwerpunkt zum 80. Geburtstag von Bob Dylan
Bob Dylan und Allen Ginsberg am Grab von Jack Kerouac.
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