TSCHECHOW
Und ich lese
meine Herren
auf meinem Gutsbesitz
viel Tschechow
in den zwei Zimmern
der Sybelstraße in Charlottenburg
ich wundere mich
wieso ich noch nicht in den Fängen
von Gläubigern bin
bin sogar etwas melancholisch
wegen des Schicksals
welches beinah russisch
leide an keiner Epilepsie
habe mich mit niemandem duelliert
reise durch Berlin
wie durch die russische Steppe
beobachte die Leute
wie im Zug nach Tula
dann schreibe ich etwas von diesen Dingen auf
für die Berliner Vedomosti Zeitung
sie wollen es drucken
verwundert über solches Schreiben
was tat ich denn vorher
gab es lyrische Geschichten
es gab sie
nur ist diese metaphorische Person gestorben
man hat den Kirschgarten verkauft
die Käufer haben ihn gefällt
Als ich um die Zwanzig war, übersetzte ich Majakowski und andere russische Futuristen. Gleichzeitig schrieb auch ich Verse futuristischer Art.
Später habe ich mich mehr den Dadaisten und Surrealisten zugewandt, noch später habe ich viele verschiedene Formen ausprobiert, aber immer in Prosa.
Im Januar 2000 starb mein Freund, ein Schriftsteller, in Serbien, wo man jetzt sehr oft einfach stirbt.
Er ist an seinem Schreibtisch zusammengebrochen. Am nächsten Morgen schrieb ich mein Klagelied über diesen Fall. Danach ist ein ganzes Büchlein entstanden, den toten Freunden und allen Verschwundenen gewidmet.
Ich kann nicht versprechen, daß ich mit meinem neuen Handwerk so bald wieder aufhören werde.
Bora Ćosić, Vorwort
Wir haben Bora Ćosić gefragt, als wir die Gedichte, die Erstschriften, sahen: Du, sag mal, so vieles klein geschrieben und ohne Punkt und Komma, ohne jedes Satzzeichen, wie stellst du dir das vor?
Wieso, hat er gesagt und einen kleinen dunklen Band Lyrik vom Bücherbord genommen, alles in kyrillischer Schrift, alles slawische Autoren, Klassiker alle, die Alten, und kein Satzzeichen weit und breit.
Was für eine Stille. Eine Offenheit. Und natürlich nichts von einer forcierten Moderne.
Also gut, sollen auch in der Übersetzung die Worte hauptsächlich niedrige Häuserreihen bilden, und soll Luft ohne Aufenthalt der Punkte durch die Zeilen von Charlottenburg und Berlin und Belgrad und durch das Exil wehen und streichen können, wenn alles nun schon einmal so ist, wie es ist.
Eine authentische Stimme ist zu hören, eine authentische Schrift zu lesen.
Authentisch? fragt ein Freund, das Exil? In diesem Berlin, in Charlottenburg? Fragt, als vermisse er das Bündel des Exilanten. Als tauge nicht die Adresse zu dessen Bild. Und die Jahre, die gelebten schon, zählen nicht, die späten. Als gäbe es nicht verschiedenartiges Exil, verschiedene Authentizitäten.
Wer überhaupt interessiert sich für Exil, nicht vergangenes, sondern gegenwärtiges, in der Nachbarschaft? Für jemanden, dem das Fremde so fremd nicht ist, nach dem Entweichen aus einer eigenen Fremde, einer mit Schrecken erlebten, und der sich die nördlichere Welt handhabbar zu machen versucht und Zeugnis davon ablegt?
Ćosić hat sein Lebtag lang nicht Lyrik geschrieben. Romane hat er verfaßt und Essays, auch aus dem Russischen übersetzt, wie Olga Vlatkovic, seine Frau.
Nun aber, in fortgeschrittenen Jahren, erreichte ihn vor nicht langer Zeit die Nachricht vom Tod eines Freundes in der Weißen Stadt, in Belgrad, und von der Art seines Todes, abends am Tisch, beim Essen. Seitdem sucht ihn in der Nacht fast immer ein Gedicht heim, ein Gebilde, Zeilen, es hat zu tun mit dem Gestorbenen, danach weitere, andere, Gedanken, Ängste, Erinnerungen, Wachträume auch, und in Verkleidungen, Übersetzungen manches, als Rollenspiel, Auseinandersetzung. So reiht sich Vergangenheit und Gegenwart aneinander und umgekehrt, dies Hier und das Dort, ein Nachtheft, ein Tagebuch, morgens aufgeschrieben, in Form und Gliederung gebracht, wie nebenbei; die Skepsis, Komik, der Hintergrund ist diese Zeit, der Schauplatz diese Stadt.
Vor uns nun die Gedichte. Die Bezugspunkte sind das Exil, die Herkunft liegt davor. Und nun, am jetzigen Ort:
Die Stadt Berlin ist mein Krankenhauspark
sehr groß.
So weht uns nun wiederum in Gedichten ein Wind von woandersher an, ob in der Sybel-, der Gervinus- oder der Droysenstraße, und an der geisterhaften Grenze am S-Bahnhof Friedrichstraße im fahrenden Standesamt.
Und, sagt Irena Vrkljan, man kann Entdeckungen machen, entschlüsseln, übertragen, wie zum Beispiel in der „Ölquelle“ in der Droysenstraße. Die Quelle ist das Schreiben, Öl ein Gleichnis dafür, die Redaktionen sind Verlage, der Lizenznehmer ein konkurrierender Kollege aus Ungarn. Und so fort. Um die Existenz geht es. So läuft das Spiel. Und schlußendlich „Prognosen“:
Berlin ist mein Krankenhauspark.
Und weiter und immer weiter, wer weiß wohin und in welcher Begleitung.
Eines Tages (wann?) war der Kleine König nach Berlin gekommen, wie aus dem Ei gepellt, wie immer, ein Bürgerkönig trotz allem. Mit der vierten Schwester Tschechows zusammen, mit Olga, wie er später einmal anmerkte, einer Slawistin – sie kamen wegen eines Stipendiums, infolge eines der gemeinsten Kriege, wiederum völliger Zerstörung (William Carlos Williams so zur Verbrennung einer toten Katze) – kam er, kamen sie, Olga und Borivoj, in diese umgewälzte, gerade vereinigte Stadt. Und hatten Belgrad, die Weiße Stadt, verlassen: mit zwei Koffern in den Händen, mit nichts weiter, stante pede, stehenden Fußes, anders war es einfach nicht möglich.
Benno Meyer-Wehlack, Nachwort
Interview mit Bora Ćosić: Ich bin ein Relikt am 24.3.2002
Matthias Zwarg: Frühstück mit einem kultivierten Europäer
Freie Presse, 4.4.2012
Carolin Fetscher: In der Tiefe ist es heiter
Der Tagesspiegel, 4.4.2012
Adelbert Reif: „Dennoch schreibe ich weiter“
Der Standart, 6.4.2012
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