HOHE TAGE
Aus vielen Wintern jedesmal
Denk ich der Sonnenwende später,
Tag, wiederholbar ohne Zahl,
Und doch: unwiederholbar jeder.
Und ganz allmählich und von weit
Herkommend sind sie nun verbunden –
Die Tage jener hohen Zeit,
Da scheinbar stillestehn die Stunden.
An jeden Tag denk ich sogleich:
Der Winter naht der Mitte leise,
Von Dächern tropfts, der Weg wird weich,
Die Sonne wärmt sich auf dem Eise.
Die Paare suchen wie im Traum
Und eiliger des andern Nähe,
Indes vor Wärme auf dem Baum
Starkästen schwitzen in der Höhe.
Schlaftrunkne Zeiger sind zu träg,
Sich auf dem Zifferblatt zu wenden,
Der Tag zieht den Jahrhundertweg,
Und die Umarmung will nicht enden.
Übersetzt von Günther Deicke
In seinem autobiographischen Werk Geleitbrief schildert Pasternak, wie er 1912 als zweiundzwanzigjähriger Student der Moskauer Universität nach Marburg fährt, um ein Semester Philosophie dort zu studieren. In Marburg begegnet er einem Mädchen, das er von Moskau her kennt. Er verliebt sich leidenschaftlich in sie, macht ihr einen Heiratsantrag und wird abgewiesen. Die Nacht verbringt er schlaflos am Tisch, frühmorgens steht er auf, blickt sich im Zimmer um, als sähe er es zum erstenmal, und öffnet weit das Fenster.
„Die Dinge um mich waren verwandelt. Im Wesen der Wirklichkeit lag etwas, was neu war. Der Morgen kannte mich von Angesicht und schien gekommen, um bei mir zu sein und nie mehr von mir zu gehen.“ (Geleitbrief)
Mit all seinen Sinnen, mit Gesicht, Gehör und Gespür, empfand er, daß er ein anderer geworden war. Der Dichter war in ihm erwacht. Seine leibhafte Zugehörigkeit zur Welt wurde ihm bewußt – „der Morgen kannte mich von Angesicht“. Früher hatte er den Blick auf die Welt gerichtet – jetzt fühlte er den vielfältigen Blick der Welt auf sich. In dem Gedicht „Marburg“ (1915), mit dem das Frühstadium seines Lebens und Schaffens ausklingt, beschreibt Pasternak dieses Erwachen des poetischen Sinns: Die Welt schaut ihn eindringlich an, nickt ihm zu, grüßt ihn, ruft ihn leise. Und alles ringsum ist erfüllt von verborgener Identität, hallt wider von Wechselrufen, von der vielzüngigen Rede des Lebens, wie dem Rauschen des Waldes, dem Murmeln des Bachs, dem Gesang der Vögel, der Stimme der Menschen, der Musik.
Verse sind für Pasternak nicht eine in sich eingekapselte Mikrowelt, sondern die Nervenenden all dessen, was ihn umgibt. Indem der Dichter die einmaligen Erscheinungsformen und Einzelheiten der Natur nachschöpft, bestätigt er sich selbst als lebendigen und untrennbaren Teil der Welt.
In dem Gedicht „Lektionen in Englisch“ taucht die Shakespeare-Heldin Ophelia „erstarrten Herzens ins Universum“, um sich „in Welten zu versenken, zu betäuben“. Ebenso ist Pasternak ein Dichter, der sich in Welten versenkt und betäubt hat.
Am wenigsten ist er ein Landschaftsmaler – denn er bildet die Natur nicht einfach ab, sondern spürt feinfühlig ihrem inneren Sein nach, ihrer Temperatur, ihrer verborgenen Glut. In seinen ersten Gedichtbänden, Zwilling in den Wolken (1914) und Über den Barrieren (1917), trat die Verbundenheit des Dichters mit der Welt, seiner Lyrik mit der Natur nicht offen zutage; sie blieb mehr ein Geheimnis, das nur der Dichter kannte.
In dem Band Meine Schwester – das Leben, der Gedichte aus dem Sommer 1917 enthält, hat sich das Gefühl für das Glühen, Sieden und Brodeln des Lebens deutlich verschärft; all das vollzieht sich nicht mehr im verborgenen, sondern drängt gewaltsam nach außen. Gewitter toben, Blitze zucken, Donner schwillt an wie vor einem Erdbeben. Das Leben verfließt mit der Vorstellung von weithin flutendem Frühlingshochwasser, von einem Regenguß, der alles durchdringt.
Meine Schwester, das Leben, mit schwellenden Wassern,
Mit Frühlingsregen tränkt sie die Welt…
Der Gedanke vom nahen Umschwung, von der ausbrechenden Revolution äußert sich zunächst in Bildern von spielenden, tosenden Naturelementen und scheint sich restlos in ihnen aufzulösen. Später wird dieser Gedanke immer offenkundiger und unabweisbarer. So im Gedicht „Der Kreml im Schneesturm 1918“, im Poem „Die hohe Krankheit“ (1923, zweite Fassung 1928) und in den beiden Poemen über die erste russische Revolution „Das Jahr 1905“ (1925/26) und „Leutnant Schmidt“ (1926/27). Maxim Gorki, dem Pasternak die Buchausgabe dieser beiden Poeme sandte, prophezeite dem Werk ein „langes Leben“ und sagte, es habe ihn als Leser „schnell, leicht und mächtig mitgerissen“.
Pasternak assoziiert das Bild der Revolution mit der Gestalt einer Frau. Gedemütigt durch Ungleichheit und Erniedrigung, wird die Dulderin zur Rebellin, zur Aufständischen, zur Zwangsarbeiterin – eine russische Jeanne d’Arc. Das Bild der Revolution als einer Frau, die Rache für Unrecht und Schmähung sucht, kehrt in vielen Gedichten und Poemen wieder.
In seiner Autobiographie schreibt der Dichter: „Am höchsten schätze ich an der Revolution ihren sittlichen Gehalt.“ Die Revolution ist für ihn etwas Unabdingbares, ist Erlösung von Unterdrückung, Leid und Schmach. Doch während der Dichter von der moralischen Berechtigung der Revolution überzeugt ist, stockt er bei dem Gedanken an die Härte ihrer Forderungen, an die historische Notwendigkeit der Gewalt, an das Schicksal der Kunst. Hier offenbart sich der tiefe Unterschied zwischen Pasternak und Majakowski.
Für Majakowski, den Autor der Poeme „Gut und schön!“ und „Mit aller Stimmhaft“, ist die Revolution der Ausgangspunkt, der im weiteren das ganze menschliche Sein bestimmt. Ob in der Liebe, in der Poesie, ob überhaupt im künstlerischen Schaffen – überall sollen „meine Republiken uns mit gleichem Rot befeuern“.
Für Pasternak hingegen besteht die Welt aus gleichwertigen, geheiligten Naturkräften. Der Dichter gibt sich rückhaltlos bald dem einen, bald dem anderen Lebenselement hin – der Natur, der Liebe und dem Schöpfertum. Die Revolution begreift er als einen neuen Urquell. Aber sie mit den Primärkräften des Daseins ganz zusammenzuführen gelingt ihm nicht. Hier zeigten sich, wie er es später ausdrückte, die „eigenen Grenzen, die ihn fesselten“.
Die frühen dreißiger Jahre waren wohl die glücklichsten seines schöpferischen Lebens. Er schreibt den Gedichtband Die zweite Geburt. Darin spiegeln sich die Reiseeindrücke aus dem Kaukasus, die Bekanntschaft mit Georgien, mit seiner Kultur und Poesie, mit der wilden Schönheit des Berglandes.
Charakteristisch für Pasternak ist, daß sich ihm die Natur, die Dichtkunst „in Wogen“, in emotionalen Ausbrüchen erschlossen; jeder neue Horizont des Lebens oder der Kunst, der in sein Blickfeld trat, wurde ihm zur Offenbarung, und mit unbändiger Leidenschaft gab er sich diesem Neuen hin.
„Mich von Orten, von Augenblicken, von Bäumen und Menschenschicksalen bannen lassen… kindlich und töricht mein Herz an sie hängen – das ist das einzige, was ich weiß und vermag, ganz gleich, ob es gefällt oder nicht“, schrieb er seinen neuen georgischen Freunden.
Doch man kann Die zweite Geburt nicht einfach ein Buch über den Kaukasus nennen. Die Verse über die Berghänge, über das Meer verflechten sich mit Zeilen über die Liebe, mit Gedanken über das Leben, das grenzenlos ist wie das Meer, wie die Linie des Horizonts. In dem Gedicht „Ich möcht nach Haus in den enormen Raum…“ scheinen die Mauern zu fallen, werden die Zwischenwände durchschreitbar. Die Wohnung des Dichters ist kein isoliertes Stübchen, sie ist von allen Seiten zu durchschauen, ist erhellt von den Lichtern der Straßen, von den Lichtern des Universums.
Und wo sich eine Zwischenwand erhebt −
Ich werde sie wie Licht durchschreiten.
So wie ein Bild ins andere Bild sich webt,
Wie Dinge sich mit Dingen überschneiden.
Der alte Gedanke von der Integrität der Welt verbindet sich hier mit einem Impuls aktiven Willens. Der Dichter schreitet nicht schlechthin über die Erde; er „durchschreitet“ alles, er verbrüdert sich mit der Welt, wie das Schwarze Meer und das hohe Kaukasusufer sich in der Umarmung vereinen. Die Liebe preist er als die Bestätigung des allgemeinen „Gesetzes“ von der gegenseitigen inneren Anziehungskraft. Die Harmonie der Liebe ist stärker als der Tod, und dem Dichter deucht, die Liebenden fühlten sich, selbst wenn sie in die Erde eingehen, auch weiterhin der Welt verbunden und saugten Wasser und Luft „mit Grases Mund“. („Geliebte, – allzusüßen Ruhms…“)
In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre entbrennen um Pasternak erbitterte kritische Auseinandersetzungen. Immer mehr wendet er sich der Nachdichtung fremdsprachiger Poesie zu.
Er, der souverän die deutsche, englische und französische Sprache beherrscht, überträgt viele Dichtungen von Shakespeare, von Goethe, Kleist, Hans Sachs, ja auch Werke des ungarischen Dichters Petőfi. Die Nachdichtung ist für ihn nicht nur Widerhall, Widerschein, sie ist das Ergebnis eines inneren schöpferischen Anliegens, die nahe Beziehung des Nachdichters zum Original – die Verwandtschaft von „Stamm“ und „Ableger“.
In den Vorkriegsjahren und in der Zeit des Vaterländischen Krieges nimmt in Pasternaks Lyrik das Volk klarere und schärfere Konturen an. Es ist nicht mehr allgemeine Kategorie, sondern wird zum Leben selbst, zu seiner Grundlage.
Neben dem Bild vom Heim des Dichters, in dem die Grenzen zwischen Alltag und Sein verfließen, erwächst das Bild des Volkes – ein Gebäude, dessen Dach unendlich ist wie der Himmel.
Das Volk ist wie ein Bauwerk,
Ist wie ein Steppenzelt,
Die Kuppel ist unendlich
Wie Luft uns, wie die Welt.
Das Gedicht „In Frühzügen“, das dem 1943 erschienenen Band den Titel gegeben hat, erzählt, wie der Dichter frühmorgens aus einer Vorortsiedlung nach Moskau fährt. Das Wesentliche ist hier das innere Sujet: der Übergang von winterlicher Finsternis, vom Waldesdunkel, in dem sich das „Schrittgeknirsch“ des einsamen Fußgängers „verstreut“, zum dichten, heißen Volksgetümmel.
In den Nachkriegsjahren durchlebt Pasternak eine tiefe Krise. In diesen Jahren schreibt er einen Gedichtzyklus, den man den tragischsten in seiner literarischen Biographie nennen kann. Aus ihm klingt der sehnsüchtige Ruf nach Vergessen und Vergehen, fast möchte man sagen: die feierliche Trauer des Abschieds vom Leben. Doch mit diesen Motiven, mit der Resignation, liegen andere in Widerstreit – wieder erwachende Daseinsfreude, Wißbegier, leidenschaftliche Liebe zum Leben.
In der letzten Schaffensperiode, Mitte der fünfziger Jahre, erfährt Pasternak einen neuen, letzten Zustrom schöpferischer Kräfte. Es entsteht der Band Wenn es aufklart (1956 bis 1959), dessen Zeilen erfüllt sind vom Gefühl frei gewordener Fernen, die nach Nebel und „ohnmächtiger“ Dunkelheit nun licht erscheinen, aufgeheitert, aufgeklart.
In dem Gedicht „Nacht“ kreist ein Flieger über der „schlafverhüllten Welt“, taucht in die Wolken, in das Nebelmeer. Kaum sehen wir ihn noch, gleich wird er entschwinden. So entschwand auch der lyrische Held des vorangegangenen Zyklus, der sich im herbstlichen Rauschen vergrub, der in Vergessen versank. Doch im Gedicht „Nacht“ ist die Welt in Wirklichkeit nicht in Schlaf gesunken. Wer sie aufmerksam betrachtet, in sie hineinhorcht, sich in sie einfühlt, unter ihre äußere Hülle dringt, der erkennt:
Es strahln im Universum
Die Kontinente licht,
In Kellern, Kesselhäusern
Die Heizer schlafen nicht.
Auch andere Menschen wachen und blicken mit schlaflosen Augen ins Weltall. An sich selbst, an seine Poesie wendet sich Pasternak:
Versäum nicht, ruh nicht, schaffe,
Tu deine Arbeit gern
Und kämpfe mit dem Schlafe,
Dem Flieger gleich, dem Stern.
Versäum nicht, ruh nicht, Dichter,
Und halt dem Schlafe stand,
Der Ewigkeit verpflichtet,
Und von der Zeit gebannt.
Poesie ist ewiges, unermüdliches Wachsein, ist stete Verbundenheit mit der ruhelosen, glutgeladenen Welt. Überall ist diese Glut: in den Heizkesseln, in den Sternen, in der Seele des schlaflosen Künstlers.
Die Verse Pasternaks, der sich der Welt fast kindlich vertrauensvoll öffnet, bereichern die Welt des Lesers durch die Kraft und Verinnerlichung des Erlebten. Von seinen ersten Gedichtbänden an wie Zwilling in den Wolken und Meine Schwester – das Leben verficht Pasternack die Idee der Verbrüderung zwischen Mensch und Welt. Viele ihn quälende Widersprüche vermochte er nicht zu lösen. Der Gedanke, daß die Kunst eine revolutionäre Pflicht hat, daß sie der Gesellschaft dienen muß – für Majakowski so selbstverständlich und notwendig −, weckte in Pasternak qualvolle Überlegungen. Aber er wich diesen Widersprüchen nicht aus, er stellte sich ihnen mit bezwingender Aufrichtigkeit, schöpferischer Kühnheit und völliger Hingabe. Auch hier, wie in allem anderen, wollte er „zum Wesen“ der Dinge, „bis zu den Wurzeln“ unserer Zeit, „bis zu den Gründen“ vordringen.
Majakowski, der die Poesie der Revolution pries, verkündete zugleich die Revolution der Poesie. Einen anderen Weg ging Pasternak: Er hielt sich an die klassische Tradition, den von Puschkin überkommenen Vers, doch er wollte ihn mit neuem Klang erfüllen.
Daß Pasternak der Sohn eines Malers und einer Pianistin war, ist nicht nur eine biographische Tatsache. In seinen Gedichten verbinden sich auf selten glückliche Weise Schärfe und Plastizität des Bildes mit Musikalität, nicht nur als Melodik verstanden, sondern als die Klangfülle eines Orchesters.
Beim Lesen seiner Gedichte wird man nicht müde, die Einmaligkeit seiner Weltsicht, die Bildassoziationen zu bewundern, die unerwartet und blendend sind wie ein Wetterleuchten. Zugleich spürt man, daß es keine ausgeklügelten Finessen sind: So sieht, hört und empfindet der Dichter. Aufrichtigkeit ist nicht nur für Pasternak als Mensch charakteristisch, sie kennzeichnet sein gesamtes Schaffen, auch seine Lyrik, die unvergleichbar und natürlich, paradox und organisch ist. Pasternak wandelte sich ständig und blieb dabei doch immer er selbst. So wurde er siebzig Jahre alt (er lebte von 1890 bis 1960), ohne innerlich, als Künstler, gealtert zu sein.
Sein Weg führte zu hoher und reifer Schlichtheit. Das stürmische, lärmende, betäubende Tohuwabohu der Bilder in seinen frühen Versen weicht der Weite und ausgereiften Klarheit des poetischen Gedankens in den Werken der letzten Jahre.
Der Nachdichter Pasternak hat dem russischen Leser viele Meisterwerke der Weltliteratur nahegebracht. Heute erweisen die Nachdichter vieler Länder dem Dichter ihre Achtung und bahnen seinen Versen den Weg zum Leser in Europa, in der Welt.
Mögen diese Nachdichtungen die Stimme des Dichters bewahren, seinen zwingenden Charme, die Eigenart seiner Intonation, in der die Begeisterung über die Schönheit der Welt überströmend Ausdruck findet, und seine Dankbarkeit dem Leben gegenüber, seine vertrauensvolle Bereitschaft, ihm ins Auge zu blicken.
Sinowi Paperny, Nachwort, Moskau, 1968
Boris Pasternak (1890–1960), der in der Sowjetunion zu den bedeutendsten Dichtern seines Landes gezählt wird, hat ein reiches lyrisches Werk hinterlassen. Die vorliegende Auswahl vereinigt Verse aus den verschiedenen Schaffensperioden des Poeten. Die Sprache des Dichters besticht durch ihre Kühnheit und durch ihre ungewöhnliche Bildhaftigkeit. Die Thematik ist vielfältig. Neben Natur- und Liebesgedichten stehen Strophen, die sich mit den großen weltanschaulichen Fragen auseinandersetzen. Einen besonderen Platz in Pasternaks Werk nimmt die Heimatverbundenheit und Hinwendung zum Volk ein. Der Band enthält einige der schönsten und bekanntesten Gedichte des Autors.
Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1969
Ist ein Dichter, der mit vollem Recht das Epitheon „höchst originell“ verdient. Seine Verse, rhythmisch stets eigenwillig, überraschend und kapriziös in den Reimen, sind nach Meinung einiger Kritiker „mit Bildern überladen und übersättigt“, mitunter sogar schwer verständlich. Liest man sich jedoch hinein, ist man überwältigt von dem Reichtum und der Bildhaftigkeit der Vergleiche, dem Wirbel wohllautender Worte, dem Klang der eigenwilligen Rhythmen, der kühnen Zeichnung und dem tiefen Gehalt…
Alles, was lebt, sich bewegt und klingt, alles, was sichtbar und fühlbar ist, dient Pasternak ausschließlich als Material. In der Beschreibung und Gegenüberstellung von „Realitäten“ bringt er seine Emotionen als Künstler, seine Intuition, die Geheimnisse seines Innenlebens, die Unruhe seines Geistes zum Ausdruck.
Er fühlt sich außerhalb der Welt des Allgemeingültigen und allgemein Anerkannten, ist ganz in sich zurückgezogen. Er ist der Boden, für den die Eindrücke des Seins lediglich der fruchtbare Regen sind. Die Sonne ist in ihm, ist sein Geist, seine Seele. Seine Berufung ist es, von sich selbst zu erzählen, von der Sonne in ihm, davon, wie er sich in der Welt sieht … Darin stimmt er mit Heinrich Heine … überein, der einmal sagte: „Denn jeder einzelne Mensch ist schon eine Welt, die mit ihm geboren wird und mit ihm stirbt, unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte.“
Maxim Gorki 1926/27, Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1987 4. Auflage
Ueber dem „Fall Solschenizyn“ ist der „Fall“ des Dichters Pasternak fast schon in Vergessenheit geraten. Boris Pasternak sollte im Jahre 1958 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet werden, musste ihn aber unter dem Druck der sowjetischen Literatur- und Parteifunktionäre zurückweisen, da kurz zuvor (im „kapitalistischen Westen“) sein antirevolutionärer Doktor Schiwago erschienen war. Pasternak wurde als reaktionärer „Nestbeschmutzer“ diffamiert und konnte bis zu seinem Tod, 1960, nicht mehr publizieren.
In seinen letzten Lebensjahren war Pasternak mit der Niederschrift eines monumentalen dramatischen Werks beschäftigt, das – wie er selbst hoffte – zum Höhepunkt seines Schaffens werden sollte. „Ich will von der ewig sich wiederholenden seltsamen Erscheinung erzählen, die man das letzte Jahr des Dichters nennen kann“, schreibt Pasternak in seinem autobiographischen Geleitbrief von 1931:
Plötzlich suchen die Dichter ihre unverwirklichten Pläne zu Ende zu führen… Sie ändern ihre Gewohnheiten, tragen sich mit neuen Ideen, können sich ihres geistigen Schwunges nicht genug rühmen Und plötzlich – das Ende, – manchmal gewaltsam, häufig auch natürlich, doch selbst dann einem Selbstmord ähnlich, weil man sich nicht dagegen zu wehren vermag…
Was der Einundvierzigjährige hier festhält: – fast dreissig Jahre später hat es Geltung auch für ihn selbst. Sein „letztes Jahr war der Blinden Schönheit gewidmet, einer dramatischen Trilogie, mit der er die „Vollendung“ zu erreichen suchte. Das Werk ist unvollendet geblieben, ein Torso, der zwar das ehrgeizige Anliegen des Dichters („eine ganze geschichtliche Epoche wieder aufleben zu lassen“) noch erkennbar macht, dem aber die künstlerische Qualität von Pasternaks lyrischem Spätwerk („Gedichte des Jurij Schiwago“) abgeht. Die Tragik der Blinden Schönheit – einer jungen Magd, die bei einem Streit ihr Augenlicht verliert– hat bei Pasternak gleichnishafte Bedeutung: es ist die Tragik Russlands; es ist aber auch – die Tragik des Dichters, der von der herunterstürzenden Ahnenbüste Stalins erschlagen wird.
Grösser als der Dramatiker, wichtiger auch als der Erzähler des Doktor Schiwago ist der Lyriker Pasternak. Davon kann sich nun auch der deutschsprachige Leser, dem eine solche Wertung vielleicht unverständlich ist, überzeugen. Dem Verlag Volk und Welt ist die erste repräsentative Gedichtauswahl in deutscher Sprache zu verdanken, eine Auswahl, die dazu beitragen wird, den frühen (hier – als Lyriker – noch kaum bekannten ) Pasternak endlich auch bei uns ins Bewusstsein des Publikums zu bringen. Die vorliegende Auswahl enthält ausserdem – in vorzüglicher Uebersetzung – eine Anzahl später Gedichte, die in ihrer Vollkommenheit fast „klassisch“, fast schon unzeitgemäss wirken und dennoch bleibende Bedeutung haben werden als Zeugnis eines ebenso bescheidenen wie unvergesslichen „Helden unserer Zeit“:
Und wie im aufgeweichten Lehme,
Wo sich der nackte Boden zeigt,
Ein kleiner Vogel heimlich zwitschert,
Sekundenlang, und schliesslich schweigt.
Als der russisch-sowjetische Dichter Boris Pasternak Ende der fünfziger Jahre, zwei Jahre vor seinem Tode, durch seinen autobiographisch gefärbten Roman Dr. Schiwago ungewollt in politisches Zwielicht geriet und sein Name in sensationelle Publizität hochstilisiert wurde, war eben dies dem Dichter völlig wesensfremd, zumal von dessen Lyrik, seiner eigentlichen und wesentlichen Existenz, in diesem Zusammenhang bezeichnenderweise nicht die Rede war. In einem Gedicht aus dem Jahr 1956 heißt es:
Es ist nicht gut, berühmt zu werden.
Nein, das erhebt den Menschen nicht.
Auch ein Archiv ist nicht notwendig,
Bangsein um jegliches Gedicht.
Des Schaffens Ziel ist Selbsthingabe
Und nicht das Aufsehn, der Applaus.
Wie schändlich, wenn ein Mittelmäßger
In aller Munde ist zu Haus.
Das eigne Ich nur darf man leben,
So leben, daß man unverwehrt
Erringt des Universums Liebe,
Daß man den Ruf der Zukunft hört.
Pasternak hat den Nobelpreis, der ihm für diesen Roman zuerkannt wurde, abgelehnt, als ihm die antisowjetische Demonstration dieser Preisverleihung bewußt wurde. Eingeweihte, Kenner seiner Poesie, sagten damals: Hätte man ihm den Nobelpreis für seine Lyrik gegeben, er hätte ihn ohne Scheu annehmen können.
Aber seine Poesie war bei uns noch weithin unbekannt, stand im Schatten Majakowskis und Jessenins, wenngleich im Zusammenhang mit diesen beiden großen Antipoden oft auch von ihm die Rede war. In den literaturkritischen und literaturhistorischen Veröffentlichungen der fünfziger Jahre wurde er zwar immer als bedeutender Dichter bezeichnet, aber Einschränkungen wie „Symbolismus“, „Subjektivismus“, „schwer verständlich“ waren immer auch zur Hand. Nur wenige Gedichte von ihm waren übersetzt, hauptsächlich Ausschnitte aus seinem autobiographisch-historischen Poem „Das Jahr 1905“. Später hat Bobrowski einige Liebesgedichte übertragen, konnte aber die Arbeit, Pasternak, den er sehr schätzte, in einer repräsentativen Auswahl vorzustellen, nicht weiterführen.
Als man mir angetragen hatte, diese Arbeit zu übernehmen ohne Kenntnis der russischen Sprache, nach Interlinearversionen −, und ich nach Zugängen zu diesem Dichter und seinem Werk suchte, gab mir Alfred Kurella den Rat, mich an Rilke zu orientieren; Pasternak sei so etwas wie ein russischer Rilke, er habe sich stark an diesem deutschen Dichter orientiert. Das war freilich nur ein hurtiger Hinweis zwischen Tür und Angel, aber er ist doch ein Beispiel dafür, wie leicht selbst die klügsten Köpfe aus dem kunstkritischen, kunsttheoretischen Bereich dazu neigen, eine kreative Persönlichkeit auf ein Prokrustesbett zu legen oder in einen Schubkasten zu sperren.
Natürlich war es erst einmal ein Fingerzeig für einen Ausgangspunkt: eine Gemeinsamkeit, die sich für mich dann freilich reduzierte auf eine gemeinsame Liebe zur französischen Literatur. Ansonsten fand ich diese beiden Dichter doch recht verschieden in Wesen und Weltsicht, immerhin lagen sie ja auch eine ganze Generation auseinander, und auch die feierliche Attitüde Rilkes schien mir bei Pasternak nicht vorhanden.
Wie sah er aus?
Alfred Kurella im schon genannten Gespräch:
Er war ein sehr schöner Mann, von einer sensiblen, fast aristokratischen Schönheit und nicht ohne eine gewisse Eitelkeit; denn er hat es natürlich gewußt.
Fotos, die mir zu Gesicht kamen, zeigen ihn auch so. Aber was sind Fotos?
Marina Zwetajewa, die er sehr verehrt hat, mehr noch und persönlicher als seinen zeitweiligen Freund und Streitgefährten Majakowski, soll gesagt haben: „Pasternak sieht aus wie ein Araber und zugleich wie dessen Pferd.“
Und bei Valentin Katajew, innerhalb der Beschreibung von Majakowskis Leichenbegängnis, steht: „Und plötzlich, alles andere überblendend, ein tränenüberströmtes Mulattengesicht. Starke Backenknochen, ein dunkler Mund. Pasternak. Seine Hände vollführten automatisch irgendwelche seltsamen Bewegungen, als wollte er sich die Brust aufreißen, den Brustkorb zerbrechen…“ Auch in Hugo Hupperts Erinnerungen an Majakowski taucht immer wieder auch Pasternak auf, der, wie Huppert sagt, „ein erstaunlicher Reiter und Schütze“ gewesen sei.
Boris Pasternak, geboren 1890, gestorben 1960, entstammt einer hochkultivierten Moskauer Künstlerfamilie. Sein Vater war der zu Lebzeiten weithin bekannte akademische Maler Leonid Pasternak, seine Mutter die Konzertpianistin Rosa Kaufman. In seinem Elternhaus verkehrten Lew Tolstoi, Alexander Skrjabin, Fjodor Schaljapin, Sergej Rachmaninow, Rainer Maria Rilke…
Als Halbwüchsiger erlebte er – mit der leidenschaftlichen Anteilnahme des weltaufgeschlossenen Gymnasiasten – die Revolution von 1905. Im Abschnitt „Kindheit“ seines 1926 verfaßten Poems „Das Jahr 1905“ hat er das so beschrieben:
Ich bin vierzehn,
Fast fünfzehn. Der Tage Lauf
Ist ein Tagebuch.
Drin liest du,
Wenn du es aufgeschlagen.
Schneeschlachten im Schulhof.
Wir pressen die weißen Ballen
Aus Flocken, Gerüchten,
Schlechten Noten,
Wie’s herabgeschneit war.
Dieser Erdrutsch der Dynastien,
Dieses trunkene Fallen
Des Schnees: im Hof
Des Gymnasiums
Im Januar.
Tag für Tag stöbert Schnee.
Adlergleich blicken
Die von der Partei.
Das sind ältre.
Wir kleineren
Ärgern den Griechen,
Rücken Bänke zur Wand,
Spielen Parlamentsquasselei
Und schweben in Träumen
Im Zentrum des Aufruhrs Grusiny.
Schon den dritten Tag schneit’s.
Schneit abends noch.
Und über Nacht
Klart es auf.
Und morgens −
Im Kreml hats eingeschlagen:
Der Kurator der Schule…
Großfürst Sergej…
Umgebracht…
Ich liebe Gewitter
Seit diesen Februartagen.
Um das Jahr 1905 hatte er unter dem Einfluß des Komponisten Alexander Skrjabin zu komponieren begonnen, er begann ein Musikstudium und gab es – auf den Rat Skrjabins – 1909 wieder auf. Dann studierte er ein Semester Jura, anschließend Philosophie, 1912 ein Semester in Marburg. Der Literatur war er um diese Zeit wie den anderen Künsten verbunden. 1906 war er Maxim Gorki begegnet, 1907 hatte er sich einem literarischen Zirkel angeschlossen, 1911 wurde er – wie etwa um die gleiche Zeit Majakowski – Mitglied einer futuristischen Gruppierung. In Marburg nun verliebte er sich leidenschaftlich in ein Mädchen, das er von Moskau her kannte, machte ihr einen Heiratsantrag und wurde abgewiesen. Er verbrachte, wie er in seinem autobiographischen Werk Geleitbrief schildert, die Nacht schlaflos am Tisch. In der Frühe öffnete er das Fenster: „Die Dinge um mich waren verwandelt. Im Wesen der Wirklichkeit lag etwas, was neu war. Der Morgen kannte mich von Angesicht und schien gekommen, um bei mir zu sein und nie mehr von mir zu gehen.“ Die Erschütterung ließ ihn plötzlich zum Dichter werden. Fortan war das sein Leben.
Im Gegensatz zu Majakowski, der mit seiner Dichtung eingreifen, wirken, die Revolution vorantreiben wollte, war Pasternak ein Nachvollziehender, ein Seismograph menschlicher und gesellschaftlicher Erschütterungen, wobei ihm die Revolution ebenso zum Naturereignis wurde wie die Liebe. Bezeichnenderweise nennt er zwei wesentliche Einflüsse für die Entstehung seines dritten Gedichtbandes im Frühling und Sommer 1917, der aber erst 1922 erschien: wiederum eine leidenschaftliche Liebe zu einer jungen Frau und das Erlebnis des Volkes auf Straßen und Plätzen, das von der Februarrevolution hin zur Oktoberrevolution sich freimacht von alten geistigen Fesseln und sich fortschreitend emanzipiert. So schrieb er vierzig Jahre später über diese Zeit:
Dieser Enthusiasmus war ansteckend und umwerfend, er riß die Schranken zwischen Mensch und Natur nieder. In jenem denkwürdigen Sommer 1917, in dem Intermezzo zwischen zwei Revolutionen, hatte es den Anschein, als nehme nicht nur das Volk an der Diskussion teil; auch die Straßen, die Bäume und Sterne, die Luft, frei und ungehindert, trugen diesen glühenden Enthusiasmus über Tausende von Werst; ja, sie waren wie ein Mensch, der einen Namen besitzt, einen klaren Blick und eine Seele.
Revolution ist ihm eine neue Naturkraft, ein Schöpfungselement. Meine Schwester – das Leben heißt dieser Gedichtband, in dem sich die revolutionären Ereignisse und Entwicklungen im Kampf der Naturelemente zu vollziehen scheinen.
So ist „Der Kreml im Schneesturm 1918“ die revolutionäre Kraft im Widersturm der Ereignisse, die auch dem Dichter Halt und Richtung gibt:
Hinterm Unwetter, diesem Meer voll Gefahr,
Seh ich, wie mich, den Zerschlagnen im Wind,
Dieses noch nicht begonnene Jahr
Von neuem zu erziehen beginnt.
Und in Versen vom Einsatz dreier revolutionärer Soldaten in den Interventionskriegen wird das Bild geschlossen „in der langen Versammlung der Bäume, die draußen so stürmisch verläuft“. Dabei wäre es grundfalsch, Pasternak zum Naturlyriker zu stempeln. Elemente der Musik, der Malerei, sogar der Fotografie durchdringen gleicherweise diese Dichtung; die Benutzung von Alltagsgeschehen und Umgangssprache gibt seinen Gedichten etwas lebendig Gegenwärtiges, das aller hohlen, hochgestochenen Feierlichkeit abhold ist. Dabei ist er durchaus kein Neuerer der Form wie Majakowski, seine Verssprache ist an Puschkin und Lermontow orientiert, doch er erfüllt sie mit neuem Klang, und er darf voll Stolz bekennen: „Als Sohn und nicht als Vagabund / geh ich in meine Sprache ein.“
Sein Bekenntnis zur Revolution als Triumph menschlichen Willens gewinnt Gestalt in dem Lenin-Poem „Die hohe Krankheit“, geschrieben 1923, und in den Dichtungen auf die revolutionären Ereignisse von 1905. „Das Jahr 1905“ und „Leutnant Schmidt“. Man hat ihm auch in bezug auf diese Poeme „subjektive Geschichtsbetrachtung“, „subjektivistische Weltsicht“ vorgeworfen, mit Recht, da die Gestaltung des Künstlers schon in der Wahl des Ausschnitts nur subjektiv sein kann, mit Unrecht, da mir ein solcher Vorwurf gleichbedeutend scheint mit dem absurden Tadel, der Künstler setze mit seiner Kunst gleichzeitig seine Persönlichkeit ein. Die Überzeugungskraft dieser Poesie geht nicht zuletzt aus vom Ergriffensein des Dichters, das sich in seinen Versen artikuliert, wobei die Erlebnisbereiche im Lauf dieses Lebens wechseln, ohne daß die Erlebnisfähigkeit nachläßt oder die Intensität seines Ausdrucks.
Im Band Die zweite Geburt war dieses Erlebnis Georgien und der Kaukasus. In dem während des Krieges erschienenen Versbuch In Frühzügen nimmt plötzlich das Volk deutlicher als in früheren Bänden Gestalt an in einer liebenden Hinwendung des Dichters, die sich am schönsten vielleicht im Titelgedicht mitteilt:
Und gruppenweis beisammen saßen
Wie auf dem Fuhrwerk, das dort rollt,
Erwachsene und Kinder, lasen
Wie Eingeweihte andachtsvoll.
Und Moskau lag in jenem Dunkel,
Das bald von Silber überfließt,
Das Zwielicht wich dem Lichtgefunkel,
Als ich die Metro dann verließ.
Das junge Volk, vorüberschweifend
Und drängend, gab in Pelz und Tuch
Uns einen Duft von Maulbeerseife,
Von Honigkuchen den Geruch.
„Leben heißt nicht nur ein Feld durchquern“ schIießt sein Gedicht „Hamlet“. Pasternak hat immer wieder den Beruf des Dichters in seinen Versen angesprochen und ihm höchste Verantwortung abverlangt, Verantwortung vor der Kunst wie vor dem Leben.
Versäum nicht, ruh nicht, schaffe,
Tu deine Arbeit gern
Und kämpfe mit dem Schlafe,
Dem Flieger gleich, dem Stern.
Versäum nicht, ruh nicht, Dichter,
Und halt dem Schlafe stand,
Der Ewigkeit verpflichtet
Und von der Zeit gebannt.
Pasternak hat einmal in einer Rede erklärt, die Dichtung sei die „organische Funktion eines glücklichen Menschen“. Seine späten, letzten Gedichte enthalten in ihrer Schlichtheit und kristallenen Klarheit etwas von jenem Glück und zugleich jener Verantwortung des Lebendigseins:
Leben ist ein Augenblick,
Ein Hinüberwandern,
Daß es, wie ein Gastgeschenk,
Aufgeh in den andern.
Günter Deicke, aus Boris Pasternak: Initialen der Leidenschaft, Verlag Volk und Welt, 1969
Wladimir Majakowski und Boris Pasternak
Wenn ich, spreche ich von der zeitgenössischen Poesie Rußlands, diese beiden Namen nebeneinandersteIle, so – weil sie nebeneinander stehen. Man kann, spricht man von der zeitgenössischen Poesie Rußlands, einen von ihnen nennen, den einen ohne den anderen – und die ganze Poesie wird trotzdem gegeben sein, wie in jedem großen Dichter, denn die Poesie ist nicht zerlegbar, weder in Dichtern noch auf Dichter, in allen ihren Erscheinungen ist sie eines, ein Ganzes, in jedem – ganz, ebenso wie es eigentlich nicht Dichter gibt, sondern es gibt den Dichter, ein und denselben seit Beginn und bis zum Ende der Welt, eine Kraft, annehmend die Farben gegebener Zeiten, Breiten, Völker, Mundarten, Gesichter, hindurchgehend durch die, von denen sie getragen wird, wie der Fluß von diesen oder jenen Ufern, diesen oder jenen Himmeln, diesem oder jenem Grund. (Wie würden wir sonst VilIon verstehen, den wir vollkommen verstehen, selbst entgegen der rein physischen Unverständlichkeit mancher Wörter. Eben weil wir in ihn zurückkehren wie in den Heimatfluß.)
Darum, wenn ich Pasternak und Majakowski nebeneinandersteIle – ich stelle nebeneinander, gebe sie nicht gemeinsam −, so nicht, weil einer zu wenig ist, nicht, weil einer des andern bedarf, den anderen anfüllt; ich wiederhole, jeder ist erfüllt bis an den Rand, und Rußland – durch jeden erfüllt (und gegeben) bis an den Rand, und nicht nur Rußland, die Poesie auch selbst – sondern ich tue es, um zweimal aufzuzeigen, was bestenfalls einmal in fünfzig Jahren, hier aber in einem Jahrfünft zweimal aufgezeigt wurde von der Natur: das reine volle Wunder des Dichters.
Ich stelle sie nebeneinander, weil sie sich selbst in der Epoche, an der Stirnseite der Epoche nebeneinandergestellt haben und bleiben werden (…)
Erstens, wenn wir von einem Dichter sprechen, so nur, indem wir uns auf das Zeitalter besinnen. Zweitens und umgekehrt: sprechen wir von einem heutigen Dichter, von Majakowski, so müssen wir uns nicht nur auf das Zeitalter besinnen, unentwegt müssen wir uns auch auf ein Zeitalter voraus besinnen. Diese Vakanz: des in der Welt ersten Dichters der Massen – wird nicht so bald ausgefüllt werden. Und nach Majakowski umzuwenden haben werden wir uns, und ebenso unsere Enkel vielleicht, nicht zurück, sondern nach vorn.
Wenn ich auf einer französischen Literaturversammlung alle Namen außer Proust höre und auf mein argloses Stutzen: „Et Proust?“ folgt: „Mais Proust est mort, nous parlons des vivants“, falle ich jedesmal wie aus den Wolken: nach welchem Merkmal wird die Lebendigkeit oder die Totheit eines Schriftstellers bestimmt? Ist X lebendig, gegenwärtig und wirksam, weil er zu der Versammlung kommen kann, und Marcel Proust, weil er mit den Beinen nirgends mehr hinkommen kann – tot? So urteile man nur über Schnelläufer.
Und zur Antwort das so gutmütige, so gelassene:
Wo aber finde ich
Einen wie mich so Schnellbeinigen?
Mit diesen seinen schnellen Beinen ist Majakowski weit über unsere Zeit hinausgeschritten, und irgendwo hinter einer Biegung wird er noch lange auf uns warten.
Pasternak und Majakowski sind gleichaltrig. Beide Moskauer, Majakowski dem Wuchs, Pasternak auch der Geburt nach. Beide kamen aus anderem in den Vers, Majakowski aus der Malerei, Pasternak aus der Musik. Beide brachten ins Eigene anderes mit: Majakowski „das räuberische Augenmaß des Tischlers“, Pasternak – die ganze Unsagbarkeit. Beide kamen bereichert. Beide fanden sich nicht gleich, beide fanden sich im Vers endgültig. (Beiläufiger Gedanke: lieber im anderen als im Eigenen sich nicht gleich finden. Lieber sich im Fremden verwirren und im Eigenen entdecken. So zumindest kommt man um die „Versuche“ herum.)
Beider Irrjahre endeten früh. Aber Majakowski kam in den Vers auch noch aus der Revolution, und wer weiß, woraus mehr. Aus der revolutionären Tätigkeit. Mit sechzehn saß er schon im Gefängnis. „Das ist kein Verdienst.“ – Aber ein Kennzeichen. Für den Dichter kein Verdienst, aber für den Menschen ein Kennzeichen. Für diesen Dichter jedoch auch ein Verdienst: er begann mit dem Bezahlen.
Die poetische Kontur des einen wie des anderen bildete und offenbarte sich früh. Majakowski begann, indem er sich der Welt darbot, mit der Schau, mit Lautstärke. Pasternak doch wer kann Pasternaks Beginn nennen? Wie lange wußte keiner von ihm. (Viktor Schklowski, 1922, in einem Gespräch: „Er hat einen so guten Ruf: einen unterirdischen.“) Majakowski bot sich dar, Pasternak verheimlichte sich. Majakowski zeigte sich, Pasternak verbarg sich. Und wenn jetzt Pasternak einen Namen hat – leicht hätte das auch nicht sein können: die Zufälligkeit eines für Talente günstigen Tages und Landes – la carrière ouverte aux talents, und nicht nur ouverte, sogar offerte, freilich sofern die Reihe der zu ernährenden, doch zu verschweigenden Dichter kein andersdenkender Träger dieses Talentes ist.
Majakowski hätte immer, nicht hätte, sondern hat immer einen Namen gehabt. Der Name, kann man sagen, war eher da als er selbst. Dann mußte er ihn einholen. Mit Majakowski ging es so zu: Ein junger Mensch fühlte in sich Kraft, was für eine, wußte er nicht; er machte den Mund auf und sagte: „Ich!“ Gefragt „Wer – ich?“, antwortete er: „Ich: Wladimir Majakowski.“ – „Und Wladimir Majakowski ist wer?“ – „Ich!“ Nichts weiter zunächst. Und weiter, dann – alles. Da ging es denn los: „Wladimir Majakowski – der, der ,ich‘ ist.“ Es wurde gelacht, doch das „Ich“ in den Ohren, doch die gelbe Bluse in den Augen – hafteten. So mancher hat leider bis auf den heutigen Tag nur das an ihm gehört und gesehen, doch keiner vergessen.
Pasternak… Der Name war bekannt, doch der Name des Vaters: der Maler Jasnaja Poljanas, der Pastellzeichner, Schöpfer der Frauen- und Kinderköpfchen. Selbst 1921 bin ich Äußerungen begegnet wie: „Ach so, Borja Pasternak, der Malerssohn, so ein wohlerzogener Junge, und so nett. Er ist bei uns öfter gewesen. Er schreibt also Gedichte? Hat er denn nicht Musik gemacht?“ Von der Malerei des Vaters und der eigenen (sehr starken) Jugendmusik wurde Pasternak erdrückt, wie von zwei zusammenführenden Bergen die Schlucht. Wo behauptet sich hier der Dritte, der Dichter? Und in seinem Rücken lagen schon drei Zwischenstationen (beginnend bei der letzten): 1917 – Meine Schwester – das Leben (herausgekommen erst 1922), 1913 – Über den Barrieren und die erste, früheste, für die nicht mal ich, ein Schreibender, einen Namen weiß. Wozu also andere fragen? Vor 1920 wußten von Pasternak jene wenigen, die sehen, wie das Blut fließt, und hören, wie das Gras wächst. Über Pasternak kann man mit Rilke sagen:
… die wollten blühn,
Wir wollen dunkel sein und uns bemühn.
Pasternak wollte keinen Ruhm. Vielleicht fürchtete er den bösen Blick: das allgegenwärtige, teilnahmslose, gegenstandslose Auge des Ruhms. So sollte Rußland den Auslandstourismus fürchten.
Majakowski fürchtete sich vor nichts, er stand und brüllte, und je lauter er brüllte, desto mehr Volk hörte zu, je mehr Volk zuhörte, desto lauter brüllte er – bis er sich an „Krieg und Welt“ und das vieltausendohrige Auditorium des Polytechnischen Museums – und dann auch an den 150-millionenohrigen Platz ganz Rußlands herangebrüllt hatte. (Wie über einen Sänger – er sang sich aus, so über Majakowski er brüllte sich aus.)
Pasternak wird nie einen vielohrigen Platz haben. Er wird, und hat sie auch schon, eine Vielzahl Einsamer haben, eine einsame Vielzahl Durstiger, die er, ein einsamer Quell, tränkt. Man geht hinter Majakowski her und geht nach Pasternak, wie an eine geheime Stelle nach Wasser, irgendwohin nach etwas – soviel ist gewiß, nur wo? nur was? −, etwas Wahrhaftem, tastend, aufs Geratewohl, jeder auf eigenem Weg, jeder allein, alle voneinander losgelöst. Bei Pasternak, wie an einem Bach, trifft man sich, um wieder auseinanderzugehen, jeder gelabt, jeder gereinigt, den Bach in sich und auf sich mitnehmend. Bei Majakowski, wie auf einem Platz, prügelt man sich oder verschmilzt im Gesang.
Pasternak: wieviel Leser, soviel Köpfe. Majakowski hat einen Leser: Rußland.
In Pasternak vergißt man sich nicht: man erwirbt sowohl sich als auch Pasternak, das heißt ein neues Auge, neues Gehör.
In Majakowski vergißt man sowohl sich als auch Majakowski.
Majakowski will von allen gemeinsam gelesen werden, fast im Chor (Schreichor, Litaneichor), stimmhaft jedenfalls und möglichst laut, was mit jedem Lesenden denn auch geschieht. Mit Ganzsaalstimme. Jahrhundertstimme.
Pasternak will stets bei sich getragen werden wie ein Talisman, verborgen vor all denen, die da im Chor immer dieselben beiden (unstreitigen) Majakowskischen Wahrheiten schreien. Oder besser noch, so wie zu allen Zeiten Dichter schrieben und Dichter gelesen wurden – im Wald, für sich, unbekümmert darum, ob es der Wald ist mit seinen Blättern oder Pasternak.
Ich sagte: der in der Welt erste Dichter der Massen. Und füge hinzu: der erste russische Dichter-Tribun. Von der Tragödie „Wladimir Majakowski“ bis zu dem letzten Vierzeiler:
Die Sache ging, wie man so sagt, vor den Wagen.
Das Liebesboot brach, lief aufs Dasein auf.
Tja, quitt sind wir, Leben, passé, was noch klagen,
Sich vorrechnen rechtend – ich nehms in Kauf.
Überall, über die Länge seines ganzen Ichs hin – direkte Rede mit lebendigem Zielobjekt. Ob Redekünstler oder Marktschreier, unermüdlich hämmert Majakowski den Hirnen etwas ein, holt er sich etwas aus uns heraus, mit beliebigen Mitteln, bis hin zu den gröbsten, stets wirkungsvollen.
Für letzteres ein Beispiel:
Und auf Alexandra Fjodorownas Bett
Liegt Alexander Fjodorowitsch –
etwas, was wir alle wußten, der Gleichlaut der Namen, den alle bemerkt hatten; nichts Neues, aber – es hat was! Und was wir auch halten mögen von Alexandra Fjodorowna, Alexander Fjodorowitsch oder Majakowski selbst, uns alle stellen diese Zeilen wie eine Formel zufrieden. Er ist der Dichter, dem alles gerät, weil es geraten muß. Denn fehllaufen in jenem Land, durch das Majakowski unermüdlich läuft, heißt auflaufen, brechen. Die ganze Dichtung Majakowskis – ein Balancieren zwischen Großem und Großgeschriebenem. Majakowskis Weg ist kein literarischer Weg. Die auf seinen Wegen Gehenden beweisen das tagtäglich. Kraft läßt sich nicht nachahmen, doch ein Majakowski ohne Kraft ist Nonsens. Gemeinplatz, zu Größe gesteigert – so, meistenteils, die Formel für Majakowski. Darin (ein anderes Zeitalter, eine andere Redeweise) gleicht er Hugo, den er, ich erinnere, schätzte:
In jedem Jungen – Marinettis Pulver,
In jedem Alten die Weisheit Hugos.
Nicht von ungefähr Hugo, und nicht Goethe, mit dem er nichts Gemeinsames hat.
Zu wem spricht Pasternak? Pasternak spricht zu sich selbst. Fast möchte man sagen: im eigenen Beisein zu sich selbst, wie im Beisein eines Baums oder eines Hundes, eines, der nicht preisgibt. Pasternaks Leser, ein jeder wird das empfinden, ist ein Späher, Voyeur. Sein Blick geht nicht in seine, Pasternaks, Stube (was tut er?), sondern direkt unter seine Haut, unter die Rippen (was tut sich in ihm?).
Bei all seinen (schon jahrelangen) Bemühungen, aus sich herauszugehen, zu dem und dem (ja allen) das und das so und so zu sprechen, spricht Pasternak unentwegt anderes als das und anders als so und vor allem – zu niemand. Denn es sind laut gedachte Gedanken. Manchmal in unserem Beisein. Worte in Schlaf oder Schlaftrunkenheit. „Des Parks verschlafenes Lallen…“
(Der Versuch des Lesers, mit Pasternak ein Gespräch zu führen, erinnert mich an die Dialoge in Alice im Wunderland, wo auf jede Frage entweder eine verspätete oder eine vorgreifende oder eine in keinerlei Beziehung zur Sache stehende Antwort folgt, eine, die sehr genau zuträfe, träfe sie, die aber hier nicht paßt. Diese Ähnlichkeit erklärt sich daraus, daß in Alice eine andere Zeit eingeführt wird, die Zeit des Traums, aus welchem Pasternak nie herauskommt.)
Im Grunde hat weder Majakowski noch Pasternak einen Leser. Majakowski hat einen Hörer, Pasternak einen Lauscher, Späher, sogar Spurenleser.
Noch eines: Majakowski braucht die Mitwirkung des Lesers nicht, wer (allereinfachste) Ohren hat, zu hören, der höre, der nehme auf.
Pasternak ist ganz auf die Lesermitwirkung gestellt. Pasternak zu lesen ist nur für wenige, vielleicht sogar niemanden leichter, als für Pasternak – sich zu schreiben.
Majakowski wirkt auf uns, Pasternak – in uns. Pasternak wird von uns nicht gelesen, er vollzieht sich in uns.
Es gibt für Pasternak und Majakowski eine Formel: die zwei einige Zeile von Tjutschew:
Alles ist in mir, und ich bin in allem.
Alles ist in mir: Pasternak. Ich bin in allem: Majakowski. Dichter und Berg. Majakowski braucht, um zu sein (existent zu werden), die Existenz der Berge. Majakowski in der Einzelhaft ist nichts. Pasternak brauchte, daß Berge existieren, nur geboren zu werden. Pasternak in der Einzelhaft ist alles. Majakowski wird existent durch den Berg. Durch Pasternak wird der Berg existent. Majakowski verwandelt sich, empfindet er sich als Ural, in den Ural. Majakowski ist verschwunden. Da – der Ural. Pasternak, nimmt er den Ural in sich auf, verwandelt den Ural – in sein Selbst. Der Ural ist verschwunden. Da – Pasternak. (Weitergeführt: es gibt keinen Ural außer dem Pasternakschen, wie es sich denn auch verhält: ich berufe mich auf alle, die Lüvers’ Kindheit und die Uralverse gelesen haben.)
Pasternak ist Aufsaugen, Majakowski Abgeben. Majakowski ist die Verwandlung des Selbst in das Objekt, die Auflösung des Selbst im Objekt. Pasternak die Verwandlung des Objekts in das Selbst, die Auflösung des Objekts im Selbst: der unlöslichsten Objekte sogar, wie die Gesteine des Ural. Alles Uralgestein löst sich auf in seinem lyrischen Strom, einem allein deshalb so schweren, massiven, weil er – nein, nicht einmal Lava, denn Lava ist ein homogener Erdenstoff −, weil er eine (von Welt) gesättigte Lösung ist.
Majakowski ist unpersönlich, er ist Ding geworden – darstellbar. Majakowski ist wie ein Name, ein Sammelbegriff. Majakowski, das ist der Friedhof von Krieg und Welt, ist das Geburtsfest des Oktober, ist die Vendômesäule, die den Konkordiaplatz heiraten möchte, ist der gußeiserne Poniatowski, der Rußland droht, und einer (Majakowski selbst), der vom lebendigen Postament der Massen herab ihm droht, ist das gegen Versailles gehende „Brot!“. Majakowski, das ist die letzte Krim, der letzte Wrangel… Majakowski ist verschwunden. Da – das Epos.
Pasternak wird als Adjektiv bleiben: der Pasternaksche Regen, die Pasternaksche Flut, der Pasternaksche Haselnußstrauch, der Pasternaksche und so weiter und so fort.
Majakowski als Kollektivum: als Kürzel.
Im Leben der Tage steht Majakowski allein für alle (im Namen aller).
(Zehnter Jahrestag des Oktober)
Die Freude nicht hüllend
aaaaaaIn falsche Bescheidenheit,
Brüll ich mit den Siegern
aaaaaaÜber Hunger und Dunst:
„Das bin ich!
aaaaaDas sind wir!“
(Falsche Bescheidenheit hatte er nicht, aber – lest gut! welch zutiefst echte. Erstmals rühmt sich ein Dichter, daß er genau so, daß er alle ist!)
Pasternak: allein unter allen, inmitten aller, ohne alle.
Wie alle sein war stets mein Wunsch,
Die Welt rings aber scherte sich
Den Teufel was um mein Geflunsch
Und wollte sein wie ich!
Pasternak – das Unvermögen, zu verschmelzen. Majakowski – das Unvermögen, nicht zu verschmelzen.
Majakowski in der Feindschaft verschmilzt mit dem Feind mehr als Pasternak in der Liebe mit dem Geliebten. (Ich weiß natürlich, daß auch Majakowski einsam war, doch einsam nur der Außerordentlichkeit seiner Kraft nach; nicht Einmaligkeit der Person, sondern Einzigartigkeit der Kraft.) Majakowski ist durch und durch Mensch. Bei ihm sprechen selbst Berge die Menschensprache (wie im Märchen, in jedem Epos). Bei Pasternak spricht der Mensch die Bergsprache (als ebenjener Pasternaksche Strom). Nichts rührt einen mehr als Pasternaks Versuche, den Menschen zu imitieren, die bis zu Knechtschaft getriebene Redlichkeit einiger Passagen des „Leutnant Schmidt“. Er weiß so wenig, wie es (dieses oder jenes „es“) mit den Menschen zugeht, daß er, wie der schwächste Schüler bei der Prüfung, alles samt allen Schreibfehlern beim Nachbarn abschreibt. Und welch grausiger Kontrast: der lebendige Pasternak mit seiner Sprache, und die Sprache seines – angeblich objektiven – Helden.
Alles ist Pasternak gegeben, außer dem anderen, dem beliebigen wie dem bestimmten, in all seiner Vielgestalt anderen lebendigen Menschen. Denn Pasternaks anderer Mensch ist kein lebendiger Mensch, sondern eine Sammlung von Gemeinplätzen und Redensarten – so als prahlte ein Deutscher mit seinem Russisch. Pasternaks normaler Mensch ist ganz unnormal. Pasternak sind lebendige Berge, das lebendige Meer (und welch eins! das erste Meer in der russischen Literatur nach dem Meer der freien Elementargewalt und dem Puschkinschen ebenbürtig), wozu aufzählen? – ist das lebendige Alles gegeben:
Hier duftet selbst der Schnee und atmet
Der Kiesel unter deinem Fuß…
alles, außer dem lebendigen Menschen, der ihm statt zu einem lebendigen Menschen entweder zu jenem Deutschen gerät oder zu Boris Pasternak, das heißt zu etwas Einmaligem, Unvergleichlichem, zum Leben selbst. („Meine Schwester – das Leben“, so nennen Menschen das Leben nicht.)
In seiner genialen Erzählung von dem vierzehnjährigen Mädchen ist alles gegeben außer dem vorgegebenen Mädchen, dem Mädchen in seiner Gesamtheit, das heißt, gegeben ist die ganze Pasternaksche Erkenntnis (und Aneignung) all dessen, was Seele ist. Das ganze Mädchentum und die ganze Vierzehnjährigkeit, das ganze Mädchen in Einzelteilen (fast möchte man sagen: Bruchteilen), alle Teilelemente des Mädchens, und doch – das gegebene Mädchen ergibt sich nicht. Wer ist es? Wie? Keiner kann es sagen. Denn das gegebene Mädchen ist kein Mädchen in seiner Gegebenheit, sondern ein Mädchen, gegeben durch Boris Pasternak hindurch: Boris Pasternak, wenn er ein Mädchen wäre, das heißt Pasternak an sich, der ganze Pasternak, der kein vierzehnjähriges Mädchen sein kann. (Menschen durch sich existent werden lassen kann Pasternak nicht. Hier ist er das Gegenteil von Medium und Magnet – falls es von Medium und Magnet ein Gegenteil gibt.) Was von der Erzählung bleibt uns? Pasternaks Augen.
Doch ich erweitere: diese Pasternak-Augen bleiben nicht allein in unserm Bewußtsein, sie bleiben physisch in allem, worauf er je seinen Blick wandte – in Form eines Zeichens, Signums, einer Patentmarke, so daß wir untrüglich sagen können, ob es ein Pasternaksches Blatt ist oder nichts weiter. Hat er (das Blatt) mit dem Auge aufgenommen, so gibt er es zusammen mit dem Auge (Spähauge) wieder. (Nicht enthalten kann ich mich der folgenden – es gibt kein russisches Wort Reminiszenz: das bekannte und wundervolle Pastell von Pasternak [senior]: „Spähauge“. Ein riesiger Becher, über ihm, das ganze Gesicht des Trinkenden bedeckend und verdeckend – ein riesiges Kinderauge: Spähauge .. Vielleicht Boris Pasternak als Kind, gewiß aber Boris Pasternak in der Ewigkeit. Hätte der Vater nur gewußt, wer und vor allem was so trinkt.)
Wie einst, über die Achmatowa, ganz anders, lyrisch und sinnbildlich:
Und mit deinen Augen schauen alle Ikonen! –
so sage ich heute – ganz sachbezogen und objektiv – über Pasternak:
Und mit deinen Augen schauen alle Bäume!
Jeder Lyriker nimmt auf, doch das meiste nicht durch Sieb und Filter des Auges, sondern direkt von außen her in die Seele, taucht die Dinge in eine allgemeinlyrische Feuchte und gibt sie wieder im Farbton dieser allgemeinlyrischen Seele. Doch Pasternak filtert die Welt durchs Auge. Pasternak ist Auslese. Sein Auge – eine Filterpresse. Hinter die Netzhaut des Pasternakschen Auges fließt – strömt in Strömen – die ganze Natur, schlüpft auch zuweilen ein Menschenfragment (stets unvergeßlich!), ein Mensch im ganzen ist nie hinter sie gedrungen. Auch ihn löst Pasternak unweigerlich auf. Nicht Mensch, sondern Menschenlösung.
Poesie! Sei ein Schwamm, im Meer geboren,
Und ich leg dich mit deinen tausend Poren
Auf die glitschige grüne Bretterfläche
Dieser Bank unterm Fall der Blätterbäche.
Kräusel auf deine Krausen, Krinolinen,
Sauge Wolken ein, Schluchten, Seen, Dünen,
Und nachts wring ich dich aus und tränk mit dir,
Poesie, das – es lechzt nach dir – Papier.
Ich erinnere daran, daß Pasternaks „Schwamm“ stark abfärbt. Alles, was er einsaugt, wird nie wieder sein, was es war, und wir, die wir eingangs feststellten, daß es einen solchen Regen (wie bei Pasternak) nie gab, schließen mit der Feststellung, daß es einen anderen Regen außer dem Pasternakschen weder je gegeben hat noch je geben kann. Der Fall Wilde die Wirkung der Kunst (alias: des Auges) auf die Natur, das heißt allem voran auf die Natur unseres Auges.
Pasternaks lebendiger Mensch ist, wie wir sagten, entweder ein Phantom oder Pasternak selbst, stets eine vorgebliche Person. Majakowski ist des lebendigen Menschen ebenso nicht fähig, doch aus anderem Grund. Pasternak zerstückelt und verquirlt ihn, Majakowski schöpft bei ihm hinzu, pfropft auf und an – oben, unten und in die Breite (nur nicht in die Tiefe!), fundamentiert ihn mit dem Podest seiner Liebe oder der Tribüne seines Hasses, so daß sich nicht die geliebte Lilja Brick ergibt, sondern eine Lilja Brick, erhoben auf die x-te Potenz seiner, Majakowskis, Liebe: der ganzen Menschen-, Männer- und Dichterliebe – eine Pariser Notre-Dame-Kathedrale. Das heißt die Liebe an sich, das ganze Massiv der Majakowskischen Liebe, aller Liebe. Ist es aber der „Weißgardist“ (Feind), so belegt Majakowski ihn mit so starken Attributen, daß uns kein einziger von den uns bekannten Freiwilligen in den Sinn kommt, es wird die Weiße Armee in den Augen der Roten Armee: das heißt ein lebendiges Epos des Hasses, das heißt ein vollkommenes Scheusal (Ungetüm), nur kein lebendiger (unvollkommener, also auch Tugenden habender) Mensch. Der General wird – ins Kolossale gewachsene Epauletten plus Backenbart, der Bourgeois – ein uns nicht als Fleisch, sondern als ganzes Ozeankap rammender Bauch, der Ehemann (in dem Poem „Liebe“) – durch seinen, Majakowskis, Haß eine mit nichts, nicht einmal mit ihrer Nichtigkeit zu entschuldigende ganze Hundertschaft „Ehemänner“. Solchen Ehemann gibt es nicht. Doch solchen Haß. Majakowskis Gefühle sind keine Hyperbel. Doch der lebendige Mensch ist eine Hyperbel. Im Fall Liebe – Kathedrale. Im Fall Haß – Latrine, das heißt das Epos unserer Tage: Plakat.
Das Augenmaß der Massen im Haß und das Augenmaß der ganzen Masse Majakowskis in der Liebe. Nicht nur er ist episch, auch seine Helden sind es, das heißt sie sind namenlos… Das eint ihn wiederum mit Hugo, der in den unendlichen und dicht besiedelten Räumen seiner Elenden keinen einzigen lebendigen Menschen gab, keinen, wie er ist, sondern die Pflicht (Gavers), das Gute (Monsigneur), das Unglück (Valjean), die Mutterschaft (Fantine), das Mädchenturn (Cosette) und so weiter, doch so unendlich mehr gab als den „lebendigen Menschen“: lebendige Kräfte, die die Welt bewegen. Denn – ich bestehe darauf mit ganzem Gewicht – Majakowski gibt jede Kraft, und sei es die rein physische, selbst bei lebendigstem Haß lebendig. Nur wenn er verachtet, verzerrt er – angesichts von Schwäche (und sei es einer ganzen triumphierenden Klasse!), doch nicht von Kraft – und sei es einer forcierten. Unverzeihlich ist für ihn letztlich nur Ohnmacht. Jeder Macht zollt seine Macht ihren Tribut. Erinnern wir uns der Verse an Poniatowski und, nur wenig weiter, der genialen Zeilen über den letzten Wrangel, der aufsteht und stehen bleibt als letzter Schemen des Freiwilligentums über einer letzten Krim, WrangeI, nur von Majakowski in der Größe seines unmenschlichen Unglücks gegeben, Wrangel in der Größe der Tragödie.
Im Angesicht der Kraft bekommt Majakowski ein sicheres Auge, genauer – erweist sich sein maßloses Auge als richtig am Platz: als normal. Pasternak irrt sich in der Zusammensetzung des Menschen, Majakowski im Maß des Menschen.
Ich sage „Künder der Massen“ und sehe entweder eine Zeit, da alle den Wuchs, Schritt und die Kraft eines Majakowskis hatten, oder eine Zeit, da alle sie haben werden. Zunächst freilich, jedenfalls im Bereich der Empfindungen, ist er ein Gulliver unter Liliputanern, die genau so wie er sind, nur sehr klein. Davon spricht auch Pasternak in seinem Grußwort an einen Liegenden:
Dein Schuß und Knall war wie ein Ätna
Im Hügelland des Hasen und der Ratze.
Unmöglich ist der „lebendige Mensch“ bei Pasternak wie bei Majakowski auch deshalb, weil beide Dichter sind, das heißt ein lebendiger Mensch plus etwas und minus etwas.
Pasternaks Wirkung und Majakowskis Wirkung. Majakowski ernüchtert, das heißt, indem er uns die Augen so weit wie möglich aufreißt – mit dem Werstpfahl des Fingers in die Sache stechend oder sogar ins Auge: sieh! −, zwingt er uns, eine Sache zu sehen, die immer da war und die wir nur deshalb nicht sahen, weil wir schliefen – oder nicht wollten.
Pasternak – nicht nur, daß er alles mit seinem Auge prägt, er setzt dieses Auge uns auch noch ein.
Majakowski ernüchtert. Pasternak verzaubert.
Lesen wir Majakowski, so behalten wir alles außer Majakowski.
Lesen wir Pasternak, so vergessen wir alles außer Pasternak.
Majakowski wird kosmisch bleiben in der ganzen äußeren Welt. Unpersönlich (verschmolzen). Pasternak bleibt in uns wie eine Injektion, die unser Blutbild verändert hat.
Operieren mit Massen, sogar Massiven („les grandes machines“, Majakowski selbst – ein Fabrikgigant). Darbieten durch Details – Pasternak. Bei Majakowski gibt es auch Details, er ist voller Details, doch jedes Detail ist groß wie ein Klavier. (Bisweilen erinnert mich die Physis der Majakowskischen Verse an das Gesicht des Sonntag aus „Der Mann, der Donnerstag war“ – zu groß, um es sich denken zu können.) Im großen – Majakowski. Im kleinen – Pasternak.
Geheimschrift – Pasternak. Klarschrift, fast Schreibvorlage – Majakowski. „Kauft nicht Schwarz, nicht Weiß, sagt nicht ja, nicht nein“ – Pasternak. Schwarz, Weiß. Ja, nein Majakowski.
Bildlichkeit (Pasternak). Wörtlichkeit; übrigens, wenn es nicht verstanden wird, wiederholt er und wird es bis zur Bewußtlosigkeit wiederholen, bis er das Seine erreicht hat. (An Kraft reicht es bei ihm immer!)
Chiffre (Pasternak). – Lichtreklame oder besser – Scheinwerfer oder noch besser – Leuchtturm.
Einen Menschen, der Majakowski nicht versteht, gibt es nicht. Wo der Mensch, der Pasternak bis ins Letzte verstünde? (Wenn es ihn gibt – Boris Pasternak ist es nicht.) Majakowski – ganz Selbstbewußtsein, sogar im Geben:
Ich gebe dir, attackierende Klasse,
Meine ganze klingende Dichterkraft! –
mit Betonung auf ganze. Er weiß, was er gibt! Pasternak ganz Selbstzweifel und Selbstvergessen.
Der homerische Humor Majakowskis.
Die Ausgeschlossenheit von Humor bei Pasternak, allenfalls der Anfang eines leisen (und komplizierten), gleich wieder endenden Lächelns.
Pasternak lange lesen – ist vor lauter Anstrengung (des Hirns und des Auges) unerträglich, so als schautest du durch eine zu scharfe, deinem Auge nicht angepaßte Brille (wessen Auge ist er angepaßt?).
Majakowski lange lesen ist aus rein physischer Belastung unerträglich. Nach Majakowski muß man viel und lange essen. Oder schlafen. Oder – wer standhafter ist – laufen. Ihn einholen oder – wer standhafter ist – ausschreiten. Und unversehens ein Bild: Peter, gesehen mit den Augen des achtzehnjährigen Pasternak:
Wie war er groß, wie trat auf die eisernen Wangen
Ein Netzwerk von Konvulsionen,
Als ihm in die Augen trat,
Sie tränen machend, die Flut…
Und an die Kehle rollten,
Wie der Kloß Trauer im Hals,
Die schweren baltischen Wellen…
So schaut Majakowski heute auf das russische Baugeschehen.
Bei Majakowski wissen wir immer worüber, weswegen, warum. Er ist ganz Rechenschaft. Bei Pasternak finden wir uns nie ganz bis zum Thema durch, ist es, als haschten und haschten wir nach einem Schwanz, der über den linken Hirnrand entgleitet, als versuchten wir einen Traum zu erinnern und uns zu erklären.
Majakowski – der Dichter eines Themas.
Pasternak – der Dichter ohne Thema. Das Thema des Dichters selbst.
Pasternaks Wirkung ist gleich der Wirkung des Traums.
Wir verstehen ihn nicht. Wir fallen in ihn. Verfallen ihm. Erliegen ihm. Pasternak – wenn wir ihn verstehen, so verstehen wir ihn von ihm abgesehen, abgesehen vom Sinn (der da ist und um dessen Erhellung er selbst ringt) – aus der Intonation, die äußerst präzis ist und klar. Wir verstehen Pasternak, wie uns Tiere verstehen. Pasternaks Sprache können wir ebensowenig sprechen wie Pasternak die unsere, doch beide Sprachen existieren und beide sind vernehmlich und sinnvoll, nur stehen sie auf verschiedenen Entwicklungsstufen. Getrennt. Brücke – ist die Intonation. Darüber hinaus: je mehr Pasternak seine Idee zu entwickeln und zu erhellen sucht, desto mehr Nebensätze häuft er an (sein Satzbau ist immer richtig und erinnert an die deutsche schöngeistig-philosophische Prosa zu Beginn des vorigen Jahrhunderts), desto mehr verdunkelt er den Sinn. Es gibt die Dunkelheit der Dichte, und es gibt die Dunkelheit der Weitschweifigkeit; hier aber – ich spreche von Stellen in seiner Prosa – herrscht die zweifache Dunkelheit der dichterischen Dichte und der philosophischen Weitschweifigkeit. In der weitschweifigen Prosa, wie zum Beispiel der Lektorenprosa, muß es Wasser geben (ein Abflauen der Inspiration), das heißt, die Weitschweifigkeit muß Wiederholung sein, nicht Erläuterung des einen Bildes durch das andere und des einen Gedankens durch den anderen.
Nehmen wir die Prosa von Majakowski: der gleiche kontrahierte Versmuskel, die gleiche Prosa seiner Verse, wie die Pasternak-Prosa – die Prosa der Verse von Pasternak. Fleisch vom Fleische und Bein vom Beine. Über Majakowski wurde, was ich über mich gesagt habe, gesagt:
Ich nehme das Wort ins Visier!
Und mit dem Wort den Gegenstand und mit dem Gegenstand den Leser. (Wir alle sind von Majakowski erschlagen, wenn nicht zu Leben erweckt!)
Eine wichtige Besonderheit: Majakowski ist ein ganz in Prosa übersetzbarer Dichter, das heißt, er ist erzählbar mit eigenen Worten, und nicht nur von ihm selbst, sondern von jedem. Sogar der Wortschatz kann bleiben, denn Majakowskis Wortschatz ist völlig gebräuchlich, umgangssprachlich, prosaisch (genauso wie der Wortschatz des Onegin, den seinerzeit ältere Zeitgenossen für „gemein“ hielten). Verloren geht nur die Kraft der dichterischen Rede: die Majakowskische Reihenfolge: der Rhythmus.
Doch übersetzt man Pasternak in Prosa, so entsteht Prosa von Pasternak, ein weit dunklerer Ort als seine Verse, das heißt, die Dunkelheit, unabdinglich dem Vers und daher im Vers von uns sanktioniert, erweist sich hier als die Dunkelheit des Wesens, das durch keinerlei Vers zu klären oder erklären ist. Denn vergessen wir nicht: Lyrik erhellt das Dunkle und verhüllt das Sichtliche. Jeder Vers – ein Spruch der Sybille, das heißt unendlich mehr, als die Sprache sagt.
Majakowski ist stets bündig und folgerichtig, Pasternaks Logik dagegen – ein festes, doch unerforschliches Band zwischen den Geschehnissen, sie ist im Traum, nur im Traum allerdings, unwiderleglich. Im Traum (lesen wir Pasternak) kommt alles ja so, wie es kommen muß, alles erkennen wir, doch versuche nur mal, den Traum zu erzählen, das heißt Pasternak wiederzugeben mit eigenen Worten – was würde bleiben? Pasternaks Welt ruht allein auf seinem magischen Wort. „Und durch das magische Kristall…“ Pasternaks magisches Kristall – seine Augenlinse.
Majakowski zu erzählen kann jeder versuchen, ich sage voraus: es wird glücken, das heißt die Hälfte von Majakowski bleiben. Pasternak erzählen kann nur Pasternak selbst. Was er in seiner genialen Prosa, die uns jählings in ein Traumgesicht und eine, Traumvision zieht, auch tut.
Pasternak – Zauber.
Majakowski – Sichtlichkeit: hellstes Licht am hellichten Tage.
Doch der Hauptgrund dafür, daß Pasternak uns zunächst einmal unverständlich ist, liegt in uns. Wir vermenschlichen zu sehr die Natur, daher erkennen wir in Pasternak zunächst nichts – bis wir eingeschlafen sind. Zwischen der Sache und uns steht unsere (eigentlich: eine fremde) Vorstellung von der Sache, unsere die Sache verschleiernde Gewohnheit, unsere, das heißt eine fremde, das heißt eine schlechte Erfahrung mit der Sache, stehen alle Gemeinplätze der Literatur und Erfahrung. Zwischen uns und der Sache steht unsere Blindheit, unser mangelhaftes, verdorbenes Auge.
Zwischen Pasternak und dem Gegenstand steht nichts, daher ist sein Regen zu nah, schlägt uns mehr als der aus der Wolke, an den wir gewöhnt sind. Einen Regen aus der Buchseite hatten wir nicht erwartet, erwartet hatten wir Verse über den Regen. Also sagen wir: „Das ist kein Regen!“ und „Das sind keine Verse!“ Der Regen trommelte straks auf uns los:
Die Blätter – mit hunderten Knöpfchen benäht,
Der Garten nur vag zu wähnen:
Ein Fluß im Erblinden, verschleiert, besät
Von tausenden blauen Tränen.
Die Natur offenbarte sich über ein ganz schutzloses, ein mondsüchtiges, mediumistisches Wesen: Pasternak.
Pasternak ist unerschöpflich. Jede Sache in seiner Hand geht zusammen mit seiner Hand aus seiner Hand in die Unendlichkeit fort – und wir mit ihr, ihr nach. Pasternak ist nur invitation au voyage – der Selbstentdeckung und Weltentdeckung, nur Startpunkt: das Woher. Unsere Ablegestelle. Gerade soviel Platz, um – abzulegen. Auf Pasternak verweilen wir nicht, wir retardieren über Pasternak. Über der Pasternakzeile ist eine dichte und dreifache Aura von Möglichkeiten: der Pasternakschen, des Lesers und der Sache selbst. Pasternak wird über der Zeile existent. Das Lesen von Pasternak ist ein Lesen über der Zeile – paralleles und perpendikulares. Weniger, daß du liest, als daß du schaust (denkst, gehst) von – weg. Ein auf etwas Bringendes. In etwas Fortführendes. Man kann sagen, Pasternak schreibt der Leser selbst.
Pasternak ist unerschöpflich.
Majakowski schöpft aus. Unerschöpflich ist nur seine Kraft, mit der er den Gegenstand derart ausschöpft. Eine Kraft, bereit wie die Erde, jedesmal alles von vorn, jedesmal – ein für allemal.
Hinter der Schwelle seiner Verse ist – nichts: nur Aktion. Der einzige Ausweg aus seinen Versen – der Ausweg in die Aktion. Seine Verse stoßen uns aus den Versen, wie der helle Tag aus dem Bett des Traums. Denn er ist der helle Tag, der nichts Verborgenes duldet. – Die Sonne bringt es an den Tag! Seht seine Schatten, sind das nicht mit dem Messer beschnittene, begrenzte Schatten des Mittags, auf die man unweigerlich tritt? Pasternak – die Unerschöpflichkeit (Unbegrenztheit) der Nacht.
Über Majakowskis Zeilen ist nichts, der Gegenstand ist ganz in seiner Zeile enthalten, er ist ganz in die eigenen Zeilen eingegangen, wie der ganz ins Brett getriebene Nagel: wir aber sind schon unmittelbar bei der Sache und haben den Hammer in der Hand.
Von Pasternak kommt Denken.
Von Majakowski – Tun.
Nach Majakowski bleibt nichts mehr zu sagen.
Nach Pasternak – alles.
Und, eines letzten, schließlichen Endes:
„Mich hinderte der Kampf, Poet zu sein“ – Pasternak.
„Mich hinderten die Lieder, Kämpfer zu sein“ – Majakowski.
Denn Pasternaks Schwerpunkt ist im Dichter.
Denn Majakowskis Schwerpunkt ist im Kämpfer.
„Sänger im Lager der russischen Krieger“ – Pasternak in der russischen Gegenwart.
Kämpfer im Lager der Weltsänger – Majakowski in der poetischen Gegenwart.
Und – wer weiß – wohin, in welche Tiefe wäre Pasternak gegangen, wäre da nicht die unwillkürliche, ebenfalls mediumistische, Bindung an das Gesellschaftliche gewesen: an die gegebene Stunde Rußlands, des Zeitalters, der Geschichte? Dem Jahr fünf alle Ehre – Pasternaks Genius in Gestalt des Jahres fünf -, kann ich nicht umhin, zu sagen, daß Schmidt auch ohne Pasternak Schmidt, Pasternak auch ohne Schmidt Pasternak geblieben; ja daß Pasternak mit irgendwas anderem als Schmidt, mit irgendwas Unbenanntem – weiter gelangt wäre.
Wie günstig die Stunde für eine Dichterkarriere – das äußere Durchkommen und Ankommen des Dichters – heute in Rußland auch sein mag, für den einsamen Dichterweg ist sie ungünstig. Die Ereignisse nähren, doch stören auch, und im Fall des lyrischen Dichters stören sie mehr, als daß sie nähren. Die Ereignisse nähren nur den Leeren (Unerfüllten, Entleerten, vorübergehend Leerwerdenden), den Übervollen stören sie. Die Ereignisse nähren Majakowski, der nur eine Fülle hat – an Kraft. Die Ereignisse nähren nur den Kämpfer. Der Dichter hat seine eigenen Ereignisse, sein Eigenereignis des Dichters. Dies wurde in Pasternak wenn nicht abgebrochen, so doch abgebogen, abgedrängt, umgeleitet. Eine Umleitung von Flüssen, wenn Sie wollen. Veränderung des Flußbetts.
Pasternak in seinem Wesensadel hebt seine Stromschnellen selbst auf – so weit er konnte. Voller Skrupel müht er sich, nicht ins Kaspische Meer zu münden.
Kann sein, kann sein. Doch – schade um die Nejassyt. Und um jene Wolga – wie schade.
„Die Lieder hinderten mich, Kämpfer zu sein“ – Majakowski. Ja, denn es gibt einen direkteren Kampf als mit dem Wort – mit dem Körper! – und einen wirksameren als mit dem Wort – mit der Tat. Die gemeinsame Tat des Truppenkampfs. Doch Majakowski hat nie in der Truppe gestanden. Sein Talent musterte ihn unter allen seinen Mitkämpfern den Genossen – aus, stellte ihn von jeder, außer der gesprochenen, Tat ab. Majakowski, dieser offenste aller Kämpfer, mußte verhüllt kämpfen, dieser kämpferischste aller Kämpfer – indirekt kämpfen. Und erklärt Majakowski auch noch so oft: „Ich – das sind alle! Ich – das sind wir!“ – er ist trotzdem ein einsamer Genosse, ein ungleicher Gleicher, der Ataman einer Rotte, die es nicht gibt oder deren wirklicher Ataman ein anderer ist. Hier Verse eines Arbeiters:
Ich denke an dich und singe mein
Lied, das wie Stahl unterm Hammer schellt.
Es steigt zu dir, zu dir allein.
Und keinem sonst auf der Welt.
Nie hast du Schwäche an dir gekannt,
Warst stets von festem Sinn,
Und darum geb ich als Treuepfand
Dir meine Jugend hin.
Du bist der Beste, den wir je
Hatten in unserer Mitte.
Der Frühling blaut und nimmt seinen Lauf.
Die Wasser brodeln und drehen,
Die Straßen der Erde seufzen auf.
Die Jahre kommen und gehen.
Doch nie hat einer gelebt seither,
Der uns so liebte
Wie du.
Nun aber gibt es dich nicht mehr.
Doch seh ich dich und steh für dich ein:
Lebendig bist du… Und wirst es sein,
Solang sich die Erde bewegt.
Der Kreml in machtvollen Klängen schlägt
Den Takt der Pariser Commune.
Und alle getriebenen Herzen der Welt,
In deiner Brust deinem Herzen gesellt,
Spannen die Saiten kühn.
Auf dem Roten Platz hier stehe ich,
Allein mit dem singenden Frühlingszyklon,
Und singe, ein siegreicher Vorstadtsohn,
Mit ganzer Stimmkraft
Dich.
Verse nicht an Majakowski. Verse an einen, der von dem Ruhm im Volk gehört, Majakowskis Gesammelte Werke bezogen, zwei Seiten gelesen und für immer beiseite gelegt hat: „Trotzdem, Puschkin schreibt doch besser!“
Ich aber sage, ohne Majakowski hätte die russische Revolution stark verloren, ebenso wie ohne die Revolution – Majakowski.
Pasternak wäre gewachsen und gewachsen…
Wenn es für uns einen Ausweg aus Majakowskis Versen gibt – in die Aktion, so gab es für Majakowski einen Ausweg aus all seiner Aktivität – in den Vers. Daher die überwältigende Physis seines Verses, die mitunter erdrückende Muskulösität, physische Stoßkraft. Der ganze Kämpfer mußte sich in die Zeilen zwängen. Daher auch das gebrochene Versmaß. Durch Majakowski krachte der Vers in allen Fugen, platzte aus den Nähten auch ohne Nähte. Und der Leser, in seiner naiven Selbstgewißheit zunächst überzeugt, Majakowski zerbreche sich für ihn (tatsächlich – brach er: wie Eis bei Eisgang!), mußte sich überzeugen, daß Majakowskis Durchbrüche und Brechungen kein Geklapper für ihn, den Leser, ist, sondern eine unmittelbare Sache des Lebens – um Luft zum Atmen zu haben. Majakowskis Rhythmik ist das physische Herzklopfen – Schläge des Herzens – eines bewegungshungrigen Pferdes oder gefesselten Menschen. (Über Majakowski kann man mit dem wunderlichen Jahrmarktausspruch des mit der Nachbarbude konkurrierenden Besitzers einer Liliputanertruppe sagen: „Was gafft ihr? Ein gaanz gewööhnlicher Goliath!“) Kein Joch größer als unterdrückte Kraft. Und Majakowski, selbst in seiner sichtlichen Freiheit, ist an Händen und Füßen gefesselt. Von dem Vers spreche ich, von nichts sonst.
Wenn Majakowskis Verse Tat waren, so war es Majakowskis Sache nicht – Verse zu schreiben.
Es gibt geborene Dichter – Pasternak.
Es gibt geborene Kämpfer – Majakowski.
Und für den geborenen Kämpfer – dazu solcher Idee – ist jeder Weg günstiger als der des Dichters.
Noch eine notwendige Unterscheidung. Majakowski, bei all seiner Dynamik, ist statisch, ist jene Unentwegtheit, Extremheit und Gleichartigkeit einer Bewegung, aus der sich Reglosigkeit ergibt. (Die reglose Säule des Kreisels. Der Kreisel bewegt sich erst, wenn er stehenzubleiben beginnt.)
Pasternak ist die Dynamik zweier auf den Tisch gesetzter Ellbogen, die die Stirn stützen – des Denkers.
So reglos ist das Meer – im Sturm.
So dynamisch der Himmel, an dem die Wolken ziehen.
Majakowskis Statik kommt von seiner Statuenhaftigkeit. Selbst als der schnellbeinige Läufer ist er – marmorn. Majakowski ist Rom, das Rom der Rhetorik. Rom der Aktion. „Karthago muß zerstört sein!“ (Wenn ihn schmähen, so nur: „Statue!“) Majakowski ist ein lebendiges Denkmal. Ein Gladiator in natura. Seht seine Stirnbuckel, seht seine Augenhöhlen, seht seine Backenknochen und seine Kinnlade. Russe? Nein. Arbeiter. In diesem Gesicht haben sich die Proletarier aller Länder mehr als vereinigt – zusammengeschlossen haben sie sich, zusammengedrängt in dieses Gesicht. Dieses Gesicht ist genauso kollektiv wie dieser Name. Ein namenloser Name. Unpersönliches Gesicht. Wie es Gesichter mit dem Stempel des internationalen Abenteuers gibt, so ist dieses Gesicht – der Stempel des Proletariats selbst, mit diesem Gesicht könnte das Proletariat sein Geld und seine Briefmarken prägen.
Majakowski war unter den Arbeitern der Welt so sehr zu Hause, war so sehr – sie, daß er es sich leisten konnte, sie mit englischem Tabak aus der englischen Pfeife anzupaffen und mit dem schwarzen Lack der Pariser Schuhe und des Pariser Privatautos anzublitzen – nichts als Freude: einer von uns hat Glück gehabt! – und zu duzen (der ganze Pasternak – ein angestrengtes „Sie“, per du ist er nur mit Goethe, Rilke, solchen. Das „du“ des Bruderseins, Schülerseins, Auserwähltseins. Majakowski hat das Truppen-Du der Genossenschaft). Majakowski ist im Kommunismus so sehr zu Hause, daß er trotz aller Schelte für Jessenin und Empfehlungen an die Komsomolzin Marussja, die sich vergiftete, weil es keine Lackschuhe gab (wegen derer der Liebste sie doch verließ!) −
Denk jeden Tag daran, du bist der Ingenieur
Des neuen Liebens, neuen Miteinander.
Was soll da noch die tränige Affaire
Von der und der Ljubow mit einem Alexander −,
wegen einer privaten desolaten Liebe ebenso einfach mit sich Schluß machen konnte, wie er seinerzeit an die Karten geriet. Dem Eigenen ist alles erlaubt, dem Fremden – nichts. Dem Eigenen unter den Eigenen. Nur, jene sind lebendige Arbeiter, dieser – ein steinerner.
Ich fürchte, daß trotz des Volksbegräbnisses, trotz aller Ehrungen, trotz der Tränen Moskaus und Rußlands um ihn, Rußland bis heute nicht richtig begriffen hat, wer ihm in der Person Majakowskis gegeben war. Majakowski hat in Rußland nur einen – Gleichen. (Ich sage nicht: in der Welt, nicht: im Wort, ich sage: in Rußland.) War jener „Brot“, so dieser „Spiele“, das heißt der erste Schritt der Seele aus dem Brot heraus, die erste neue russische Seele. Majakowski ist der erste neue Mensch der neuen Welt, der erste künftige. Wer das nicht verstanden hat, hat an ihm nichts verstanden. Nicht umsonst sagte ich sofort, als ich die (bereits angeführten) Verse eines Arbeiters „Frühling“ hörte, wo alles auf eines hinausführt: auf ihn: den Gegangenen: „Entweder Majakowski – oder.“ Das Proletariat kann sich nur mit zwei Gesichtern drucken. Sollte sich mit zwei Gesichtern drucken.
Selbst seine gewisse Begrenztheit ist die Begrenztheit der Statue. Eine Statue kann nur die Posen wechseln: der Drohung, Verteidigung, Angst usw. (Die ganze antike Welt ist eine Statue in verschiedenen Posen.) Die Posen wechseln, nicht das Material, das ein für allemal begrenzt ist und ein für allemal die Möglichkeiten begrenzt. Die Statue ist ganz in sich eingeschlossen. Sie wird aus sich nicht herausgehen. Darum ist sie ja Statue. Eben dafür ist sie ja Statue. In der Beschränkung zeigt sich der Meister. In dieser Hinsicht ist Majakowski vielleicht mehr Meister und Meisterwerk als Pasternak, den man genauso unsinnig wie Rilke in der begrenzten Welt der Meisterschaft sucht und genauso natürlich wie Rilke in der unbegrenzten, durch nichts von uns abgegrenzten Welt des Wunders findet.
Laokoon wird nie aus der Haut gefahren sein, ist aber immer dabei, herauszufahren, wird aber nie herausgefahren sein und so weiter bis ins Unendliche. In Laokoon ist das Herausfahren aus gegeben: die Statik der Dynamik. Ihm, wie dem Meer, sind Gesetz und Grenze auferlegt. Diese Reglosigkeit des Kämpfers ist auch in Majakowski gegeben.
Jetzt bitte ich um äußerste Aufmerksamkeit. Aus Majakowskis Haut ist nur der Kämpfer gefahren, nur das Ausmaß gefahren. Wie aus seinen Augenhöhlen – das Augenmaß. Gib ihm einen Körper und eine Tat, tausendmal größer als ihm auferlegt, den Körper und die Tat seiner Kraft, und der ganze Majakowski wird Platz in sich haben, nämlich wird sich verteilen in der Unentwegtheit der lebendigen Bewegung, und nicht Statue werden. Statue ist er geworden. Seine Tragödie ist wiederum eine Frage der Quantität, nicht der Qualität (des Wertunterschieds). Darin steht er ein weiteres Mal einsam unter den Dichtern, denn er ist ja gerade aus der Haut des Wortes gefahren, die auf verhängnisvolle Weise zu seiner eigenen geworden war und die er, in die Aktionswelt drängend, überall durchbrach, während alle Dichter doch gerade aus der Haut der Aktionswelt fahren. Alle Dichter: aus der Physis – in die Psyche. Majakowski aus der Psyche – in die Physis, von unserem Blickpunkt aus, denn für Majakowski, allen Dichtern entgegengesetzt, war das Wort Körper, und die Tat Seele. Mag für den Lyriker selbst die Poesie zu eng sein, für Majakowski war gerade sie zu eng. Majakowski am Schreibtisch – ein physisches Mißverhältnis. Eher siehst du ihn schon an den „grandes machines“ der Dekorationsmalerei, wo zumindest der Arm Raum zum Ausholen, der Fuß Boden zum Zurücktreten, das Auge Weite zum Schweifen hat. Aus der Haut der Poesie drängte er auch als Maler. Der Moment, da Majakowski zum erstenmal den Ellbogen auf den Tisch stützte, ist der Beginn seines Statuendaseins. (Er versteinerte vom Ellbogen aus.) In diesem Moment gewann Rußland seinen lebendigsten, kämpferischsten, unwiderstehlichsten Dichter, in diesem Moment verloren beliebige Kampfreihen – die erste Kampfreihe, alle ersten Kampfreihen aller Kämpfer der Welt ihren besten, kämpferischsten, unwiderstehlichsten Kämpfer.
Er gewann das Epos und verlor den Mythos (…)
Wenn Majakowski im lyrischen Pasternakschen Kontext Epos ist, so ist er im epischen Aktionskontext der Epoche Lyrik. Wenn er unter den Dichtern – Held ist, so ist er unter den Helden – Dichter. Wenn Majakowskis Poesie Epos ist, so allein deshalb, weil er, gedacht als epischer Held, dieser nicht geworden ist, den ganzen Helden in den Dichter nahm. Die Poesie gewann, der Held litt.
Held eines Epos, der epischer Dichter wurde – dies ist die Stärke und die Schwäche des Lebens und des Todes von Majakowski.
Mit Pasternak ist es einfacher, diesmal kann man Pasternak den Dunklen vom Blatt lesen. Für Pasternak, wie für jeden lyrischen Dichter, ist es überall zu eng, außer im Innern, in der ganzen Welt der Aktion zu eng, besonders aber im Zentrum der Weltaktion des gegenwärtigen Rußland.
Und weiß ich nicht – das Dunkel hätte, hausend
Im dunkeln ewig, nie ans Licht gefunden?
Und bin ich nicht dem Glück von Hunderttausend
Als dem von einem Hundert mehr verbunden?
Und nehm ich nicht den Fünfjahrplan zum Maß
Und sinke, steige nicht, auf ihn geeicht?
Doch ach der Brustkasten und in ihm das,
Was alle Rückständigkeit übersteigt!
Pasternak, der wie jeder Dichter, wie jeder große, an Glück nicht dachte, muß sich herablassen auf den Zahlenvergleich des Glücks von Hundert und Hunderttausend, bis hin zu dem Begriff von Glück als Wert, mit zwei unbekannten, zumindest ihm von vornherein verdächtigen Größen operieren: des Glücks und der Zahl.
Pasternak, der noch vor so kurzem, den Kopf aus der Fensterklappe gereckt, zu den Kindern:
Was haben wir, ihr Lieben, heute
Für ein Jahrtausend auf dem Hof? –
sagt, muß ganz aus freiem Willen, den ihm keiner dankt (den verdrießt, den bekümmert, den rührt es, und allen ist es peinlich), sich am Fünfjahrplan messen.
Der ganze Pasternak in der Gegenwart ist ein großes erstauntes leidvolles Auge – das Spähauge über dem Becher, das Auge aus der Fensterklappe – Auge direkt aus dem Brustkasten hervor, ebenjenem, mit dem er nicht weiß wohin, denn das Gesehene und Vorhandene in ihm, so meint Pasternak, braucht heute keiner. Pasternak fährt aus den eigenen Augenhöhlen heraus, um das zu sehen, was alle sehen, und gegen alles, was nicht das ist, zu erblinden. Das Auge eines Sehers, das sich plagt, das Auge eines Augenzeugen zu werden.
Und wie möchte man da, im Namen der Welt, der Ewigkeit, der Zukunft, im Namen jedes Blättchens, auf das er so blickte, Pasternak mit den leisen Worten seines geliebten Lenau („Bitte“) bitten:
Weil’ auf mir, du dunkles Auge,
Übe deine ganze Macht.
Wir sind angekommen bei dem einzigen Maß der Dinge und Menschen in der gegenwärtigen Stunde des Zeitalters: dem Verhältnis zu Rußland.
Hier sind Pasternak und Majakowski – Gleichgesinnte. Beide sind für die neue Welt, und beide – doch ich sehe, das erste beide wird das letzte bleiben, denn ist auch Pasternak eindeutig für die neue Welt, so ist er doch durchaus nicht mit derselben Kraft der Eindeutigkeit gegen die alte, die, wie sehr er ihre politische und ökonomische Ordnung auch verurteilt, vor allem und nach allem seine große geistige Heimat ist. „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns.“ Wir beschränkt sich für Pasternak nicht auf „attackierende Klasse“. Sein wir sind all jene Vereinzelten aller Zeiten, die, voneinander getrennt und ohne voneinander zu wissen, dasselbe tun. Schöpfung ist eine gemeinsame Tat, geleistet von Vereinzelten. Das würde, ich bin sicher, Boris Pasternak selbst unterschreiben. Pasternak ist kein Kämpfer (kein Umstürzler). Pasternak ist ein Traumgesichtiger und Hellsichtiger. Seinem revolutionären Wesen nach unterscheidet er sich durch nichts von allen großen Lyrikern, allen, einschließlich des Royalisten Vigny und des hingerichteten Chénier, die für Freiheit – anderer eintraten (der Dichter hat seine eigene Freiheit), für Gleichheit an Möglichkeiten und Brüderlichkeit, von der jeder Dichter, trotz seiner Einsamkeit oder vielleicht gerade dank seiner Einsamkeit, übervoll ist bis an den Herzensrand. In seiner „Linksheit“ unterscheidet er sich durch nichts von jedem anderen Menschen, der das Herz an seinem Platz hat, das heißt – links.
Hier ein Bekenntnis von Pasternak selbst, ein neueres, nach fünfzehn Jahren Revolution:
Und weil mich von Kind an und Natur
Das Schicksal des Weibes trifft, verletzt
Und weil hinter seinen Spuren nur
Der Dichtende seine Spuren setzt
Und weil nur sein Leid mir Leid gewesen,
Eins, das rings sprießt in Überfülle −
So bin ich ganz froh, mich aufzulösen
Im revolutionären Willen –
das heißt dasselbe, wie von Vigny vor hundert Jahren: „Après avoir réfléchi sur la destinée des femmes dans tous les temps et chez toutes les nations, j’ai fini par penser que tout homme devrait dire à chaque femme, au lieu de Bonjour – Pardon!“
Und wieder vom Gegebenen zum Allgemeinen, der indirekte – rein dichterische! – Zugang, über das Detail und den Umweg des durch Jahrhunderte betrogenen Mädchens – über Gretchen letztlich!, zur Revolution. Wie zum Wald über das Blatt. Und wie bezeichnend, daß der selbst einsichtige, kämpferische, willentliche Majakowski mit seiner selbsteinsichtigen Gabe:
Ich gebe dir, attackierende Klasse
Meine ganze klingende Dichterkraft! –
sich mit seinem ganzen Willen und Wesen in dieser seiner Wahl – auflöst. Pasternaks Bekenntnis aber:
So bin ich ganz froh, mich aufzulösen
Im revolutionären Willen –
lesen wir entgegen Pasternaks Überzeugung und der Unübersehbarkeit der Buchstaben als:
So wäre ich froh, ganz mich aufzulösen –
das heißt, Pasternak wird sich in unserem Bewußtsein, trotz „Leutnant Schmidt“ und allem, was er dieser Art noch schreiben wird, weder in diesem revolutionären Willen noch überhaupt einem Menschenwillen auflösen, denn mit keinem Willen, außer dem Weltwillen, dem ganzen Weltwillen, der unmittelbar durch ihn wirkt, ist er verschmolzen oder überhaupt bekannt. Jeder ist untertan, doch ein jeder anderem (…)
Majakowski wird von den Massen geführt, man möchte französisch sagen: vom Genius der Massen, daher auch führt er sie. Von den Massen der Zukunft, daher auch führt er die Massen der Gegenwart. Und, um jede Zweideutigkeit zu vermeiden: Majakowski wird von der Geschichte geführt.
Majakowski: ein führender Geführter. Pasternak nur ein Geführter.
Gleichgesinntheit ist kein Vergleichsmaß für zwei Dichter. Majakowski hat Gleichgesinnte – wenn nicht ganz Rußland, so die ganze russische Jugend. Jeder Komsomolze ist ein größerer oder zumindest sichtlicherer Gleichgesinnter als Pasternak. Nur einmal treffen sich die beiden (sinnen gleich) – im Thema der Poeme „Oktober“ und „Das Jahr fünf“. Der eine schrieb einen Oktober, der andere einen Dezember, und dieser Dezember ist sehr viel anders als der Oktober… Und würde Pasternak morgen seinen Oktober schreiben, so käme vor allem sein Oktober heraus, einer, wo das Zentrum der Kampfhandlungen übertragen worden ist auf die Wipfel der sich hin- und herwerfenden Bäume. Die zweite, doch eigentlich erste und einzige Frage: nach dem Verhältnis des einen und des anderen zu Gott, Gottes zum einen und anderen, will ich jetzt nicht aufwerfen. Zu seiner Zeit.
In verschiedene Mündungen, von verschiedenen Urquellen her, verschieden den Quellen nach, aus denen sie (unterwegs) trinken, den Durstigen nach, die von ihnen trinken – wozu aufzählen?; nicht: verschieden in allem, sondern: Menschen verschiedener Dimensionen -, sind sie gleich nur in einem: der Kraft. In der Kraft der schöpferischen Gabe und Rückgabe. Folglich auch in der Kraft der Wirkung – auf uns.
Majakowski ist unser Kraftmesser, Pasternak unser Tiefenmesser, Lot.
Doch es gibt bei diesen beiden, die nur ein Haben verbindet – an Kraft, auch ein gemeinsames Nicht-Haben: das sie vereinende Fehlen des Liedes. Majakowski ist des Liedes nicht fähig, weil er zu sehr Dur, Schlag, Stimmkraft ist. So werden Witze gerissen („nicht allzu gute“) und Truppen kommandiert. So wird nicht gesungen. Pasternak ist des Liedes nicht fähig, weil er überladen, übersättigt und, vor allem, Einzelwesen ist. In Pasternak hat das Lied keinen Platz. Majakowski hat im Lied keinen Platz. Darum ist der Block-Jessenin-Platz bis heute in Rußland „vakant“. Der Gesangsquell Rußlands, zerrieselt in kleine und kurzlebige Bäche, muß ein einiges Flußbett, eine einige Kehle finden.
Um Volksdichter zu sein, muß man das ganze Volk durch sich singen lassen. Alles sein ist zu wenig dafür, man muß alle sein, das heißt gerade das, was Pasternak nicht sein kann. Das ganze und nur das gegebene, gegebene, dafür aber das ganze Volk – das, was Majakowski nicht sein will: der Sprecher einer Klasse, Schöpfer des proletarischen Epos.
Weder der Kämpfer (Majakowski) noch der Scharfsichtige dichtet Lieder.
Für das Lied braucht es einen, der gewiß schon in Rußland geboren wurde und irgendwo, im großen russischen stillen, wächst. Wir werden leben.
… Du schliefst, aufs Bett des Klatschs gesunken,
Schliefst – abgeregt, still, unaufhörlich.
Wie deine Jugendzeilen unken:
Schön, jung – grad zweiundzwanzigjährig.
Du schliefst aus ganzer Beineskraft,
Die Arme frei, weit aufgeschlagen,
Und sprangst im Anlauf, kraftgestrafft,
In die Phalanx der Jugendsagen.
Sprangst sicher auf den Millimeter
Und sichtbar, weil mit einem Satze.
Dein Schuß und Knall war wie ein Ätna
Im Hügelland des Hasen und der Ratze.
Pasternak an Majakowski
Marina Zwetajewa, aus: Ausgewählte Werke, Band 2 – Prosa, Verlag Volk und Welt, 1989
Im Frühjahr 1922 lernten mein Bruder1 und ich Boris Leonidowitsch Pasternak kennen. Wir waren damals noch halbe Kinder, unglaubliche Stubenhocker und so von der Familie geprägt, daß man uns in den täglichen Dingen des Lebens als völlig unerfahren, ja naiv bezeichnen konnte. Wir studierten an der Moskauer Universität und gleichzeitig am Brjussow-Institut für Literatur und Kunst.
An einem Frühlingstag ging ich kurz vor Abend von der Universität in der Mochowaja zum Institut in der Powarskaja, das heißt vom Marx-Prospekt zur Worowskistraße. Mein Bruder und ich hatten uns gestritten (was bei uns nur selten vorkam), und er fuhr von der Uni aus gleich nach Hause, ohne sein Testat abzulegen. Ich aber schaffte das Testat und begab mich dann, stolz über den errungenen Sieg, in die andere, weit poetischere Hochschule. Ich war fest entschlossen, mein Leben eigenständig zu führen, was für diesen Tag bedeutete, an einem bestimmten Seminar teilzunehmen (die Kurse an diesem Institut fanden abends statt). Doch auf der Powarskaja kamen mir in großem Trupp meine Kommilitonen entgegen.
„Wo wollt ihr denn hin?“ fragte ich erstaunt.
„Ins ,Haus der Presse‘, dort findet ein Abend mit Pasternak statt.“
Selbstverständlich schloß ich mich ihnen an – immerhin stand uns ein Wunder bevor: Verse von Pasternak, dazu noch von ihm selbst vorgetragen!
Und wie nicht anders zu erwarten, wurde es ein Wunder! Diese unbeschreibliche Stimme, tief, dröhnend, erfüllt von einer Art Meeresgrollen. War es Stöhnen? Gesang? Nein, ganz und gar nicht. Doch wieviel Musikalität in seinen Sätzen, welche melodiöse, kein bißchen aufgesetzte Intonation, wie organisch und fließend die Rhythmen, wie tief und ergreifend seine Erregtheit! Das Gefühl, der Gedanke, die Bilder von Natur und Seelenqualen – all das quoll gleichsam über.
Der Autor las Verse aus seinem noch unveröffentlichten Buch Themen und Variationen.
Doch als die Lesung beendet war, riß mich ein schmerzlicher Gedanke aus meiner starren Verzückung: mein Bruder! Bisher hatten wir alle Eindrücke gemeinsam in uns aufgenommen – und nun verpaßte er Pasternak, hörte seine Gedichte nicht! Das ging nicht, war einfach unzulässig! Er mußte sie unbedingt hören… Ja, dieser Abend mußte wiederholt werden, um jeden Preis! Und sofort kam mir auch in den Sinn, daß die Turgenjew-Bibliothek Autorenabende gegen Eintritt durchführte; der Erlös kam ihr zugute. Und ich war eng mit dieser Bibliothek verbunden, hatte früher dort mal gearbeitet. Genau, das war es.
Ich wandte mich an Wladimir Fefer, einen gemeinsamen Studienfreund.
Was meinst du, Wolodja, wollen wir nicht zu Pasternak gehn und ihn bitten, diesen Abend zu wiederholen? Du möchtest ihn doch bestimmt auch noch mal hören?
Einverstanden, gehn wir zu ihm!
Wir steuerten auf Boris Leonidowitsch zu. Nach einem kurzen Wortwechsel auf der Bühne mit dem Lyriker Pjotr Oreschin, der nichts begriff und irgendwie aufgebracht war („Da haben wir schon ganz andere Meister gehört, zum Beispiel Andrej Bely!“) ,nach einigen feinsinnigen Bemerkungen von Sergej Pawlowitsch Bobrow, der auf die Kontinuität der soeben gehörten Verse im Zusammenhang mit Fet und Innokenti Annenski verwies, war Pasternak mittlerweile ins Foyer hinübergewechselt. Er unterhielt sich dort angeregt mit jemandem aus dem Publikum.
Ich wartete in einiger Entfernung, nutzte die Gelegenheit, ihn unauffällig zu betrachten.
Es war weniger sein Äußeres, das mich faszinierte und beruhigend auf mich wirkte – paßte es doch genau zum Gesamteindruck, zu seiner Stimme und den Gedichten –, sondern vor allem die Art, sich zu geben: Pasternak war ganz schlicht, Jungenhaft, ungezwungen und natürlich, aber voller Herzlichkeit und zugleich Würde.
Fefer und ich schnappten einen Satz des Dichters auf, in dem er seinem Gesprächspartner gegenüber von Konstantin Grigorjewitsch Loks sprach, seinem Freund aus der Studentenzeit:
Das ist der Mann, der mich Prosa schreiben gelehrt hat.
Dann endlich, als wir an der Reihe waren, traten wir näher.
Wir hätten eine Bitte, Boris Leonidowitsch. Wäre es nicht möglich, daß Sie Ihre Lesung in den Räumen der Turgenjew-Bibliothek wiederholen?
„Nun ja, warum nicht? Rufen Sie mich bitte in den nächsten Tagen an, wir machen dann etwas aus. Hier ist meine Telefonnummer.
Wir drückten ihm die Hand und verabschiedeten uns.
So begann eine neue Etappe unserer Bekanntschaft mit Pasternak – der Begegnung mit seiner Poesie folgte die Begegnung mit dem Schöpfer der Gedichte selbst.
Ein paar Tage danach standen mein Bruder und ich, aufgeregt und vor lauter Schüchternheit bereit, noch an der Tür Fersengeld zu geben, vor seiner Wohnung. Wir hatten uns am Telefon verabredet. Die Wohnung trug die Nummer 9 und lag in der ersten Etage des Hauses 14 in der Wolchonka. Von diesem Haus an der Ecke der Antipjewski-Gasse ist später noch lange Zeit ein kläglicher Überrest geblieben. Amputiert war auch der Aufgang, in dem die Familie Pasternak damals wohnte – Boris Leonidowitsch mit seiner blutjungen Frau Jewgenija Wladimirowna und seinem Bruder Alexander Leonidowitsch. Bis zum heutigen Tag empfinde ich beim Anblick dieses Ortes Schmerz und Verlegenheit, ganz so, als würde man einem Menschen begegnen, der einem teuer ist und früher einmal kerngesund war, nun aber zum Krüppel wurde.
Damals allerdings war es ein Haus wie jedes andere. Dennoch unterschied es sich für uns von allen übrigen ganz wesentlich in einem Punkt: Hier lebte – nein, residierte – Boris Pasternak.
„Soll ich klingeln? Ich trau mich nicht!“
„Natürlich müssen wir klingeln…“
„Vielleicht ist es noch nicht zu spät? Laß ab, laß ab davon!…“
Diese Zeile aus seinem Band Über den Barrieren wurde jäh unterbrochen. Boris Leonidowitsch öffnete uns die Tür.
Der Hausherr, der ein wenig verschlafen und sehr häuslich wirkte, ließ uns mit den Worten ein: „Bei mir ist nicht aufgeräumt, gehn wir besser in das Zimmer meines Bruders“, und bereits von diesem ersten Augenblick an legte sich die Erregung, die uns sowohl am Denken als auch am Reden gehindert hatte. Wir fühlten uns plötzlich einfach wohl. Das Gespräch sprengte schon bald den Rahmen des Geschäftlichen, drehte sich um alles mögliche, war zum Teil scherzhaft, streifte aber durchaus auch ernste Dinge.
Gerade war sein Buch Meine Schwester – das Leben erschienen; Verse daraus waren bis dahin nur in Abschriften in Umlauf gewesen.
„Man lobt mich, rückt mich sogar in den Mittelpunkt“, sagte er beinahe traurig, „doch ich habe ein merkwürdiges Gefühl dabei: es ist, als hätte ich sie hypnotisiert und als würde sich eines Tages herausstellen, daß alles ein Irrtum war. Als wenn man mir einen Haufen Geld anvertraute und dann die Angst vor dem Bankrott käme. Es ist das Gefühl einer riesigen Verantwortung, verstehen Sie?“
„Wie können Sie nur so etwas denken?!“ begehrte ich auf, vergaß dabei alle Schüchternheit und Zurückhaltung.
Da muß ich Ihnen nun wirklich widersprechen!
Natürlich begriff ich damals den Sinn und das Warum seiner Worte noch nicht. Erst jetzt weiß ich, daß Pasternak im Innersten vom Gedanken an die Verantwortung des Künstlers sowohl gegenüber der Gesellschaft als auch dem eigenen Schaffen bewegt war, der ihn in jenen Tagen besonders stark beschäftigte, ihn geradezu quälte. Sein Ruhm, damals gerade erst aufgekeimt, war sofort in hellem Licht erstrahlt.
[…]
Der zweite Abend mit Pasternak fand am 13. April 1922 statt.
Zu unserer Freude quoll der Saal von jungen Leuten über. Wir hätten uns vorher gar keine Sorgen um fehlendes Publikum zu machen brauchen, hätten nicht auf Teufel komm raus versuchen müssen, die Eintrittskarten unter die Leute zu bringen. Ehrlich, unsere Befürchtungen waren einmalig naiv gewesen: Boris Leonidowitsch trat sehr selten auf, und sein Name besaß gerade unter der Jugend bereits eine riesige Anziehungskraft. Seine Verse aus den gedruckten wie aus den noch nicht veröffentlichten Bänden gingen von Hand zu Hand, kursierten in Abschriften, und es tat dem Abend auch keinen Abbruch, daß die einleitenden Worte wegfielen, die wir so gern Valeri Brjussow übertragen hätten, dem damals angesehensten Kenner in Sachen Poesie. Welche Freude für uns auch, Boris Leonidowitsch gleich dort im Lesesaal, an einem kleinen Tisch mit Tee bewirten zu können. Und zu sehen, mit wieviel Ehrerbietung unsere Kommilitonen vom Institut für Literatur und Kunst – Boris Lapin, Theodor Levit und andere – ihn umringten. Wir hatten auch unsere Eltern zum Kommen überredet, machten sie mit unserem Halbgott (genauer gesagt, unserer Gestalt gewordenen Gottheit) bekannt, woraufhin wir von ihm allerdings zu hören bekamen:
Was quält ihr sie bloß mit solchen Dingen?
Möglicherweise war dieser Satz auf das Unverständnis zurückzuführen, das seine Eltern der poetischen Begabung ihres Sohnes entgegenbrachten, hatte er sich doch der Dichtung zugewandt und nicht anderen, ihnen eher zugänglichen Künsten.
„Borja ist ein ausgezeichneter Musiker, er kann gut zeichnen… doch nein, er schreibt Gedichte!“ soll sein Vater, Leonid Ossipowitsch Pasternak, einmal konsterniert gesagt haben (das erzählte mir zumindest Sergej Pawlowitsch Bobrow, ein Jugendfreund von Boris).
„Borja befaßt sich mit Dummheiten!“ klagte Leonid Ossipowitsch auch betrübt seinem Mitarbeiter im Institut für Malerei, Bildhauerei und Architektur, Professor M. Tschaplin, dem Bruder meines Mannes, der im Institut Heizung und Ventilatoren lehrte.
Damals wußten wir das noch nicht. Hätten wir Kenntnis davon gehabt – es wäre uns ungeheuerlich erschienen.
Wir setzten unsere Besuche in der Wolchonka auch dann noch fort, als es nichts Geschäftliches mehr zu regeln gab. Dabei drehten sich unsere Gespräche nicht nur um fachliche Dinge. Worüber wir uns unterhielten? Wir haben es nicht aufgeschrieben, waren zu sehr erfüllt von dem, was wir unmittelbar, mit dem ganzen Wesen in uns aufnahmen. Wobei Stimme, Intonation und Gesichtsausdruck als eine Einheit auf uns wirkten. Wie soll man so etwas aufschreiben! Der Sinn seiner Worte war für uns damals untrennbar vom Ganzen. Vereinzelte Inselchen sind erhalten geblieben, die sich auf etwas für uns Bedeutsames bezogen oder sich verselbständigten. Zum Beispiel, was Pasternak über Shenja Lüvers sagte, zu der wir plötzlich Zugang fanden wie zu etwas sehr Vertrautem:
Ich habe über einen Menschen geschrieben, der einen keine zehn Werst an sich heranließ… Dennoch stellte sich heraus – es stimmt alles.
Oder:
Meine Schwester – und zwar nicht – Meine Schwester – das Leben, sondern meine leibhaftige Schwester – Shonja…
Wie schade, daß ich nicht notiert habe und später unverzeihlicherweise vergaß, was dem Namen Shonja weiter folgte. Aber konnte ich denn wissen, wie teuer mir dieser Name und seine Trägerin einmal sein würden? Daß Jahre später der bereits erwähnte Bobrow uns gegenüber von „Shonetschka“ als derjenigen sprechen würde, die dem älteren Bruder viel näher stand als die übrigen Familienmitglieder und besser begriff, was in ihm vorging? „Shonetschka war so wunderbar“, sagte Bobrow, „daß man sich nicht einmal in sie verlieben konnte.“
Bobrow war unser erster literarischer „Vordenker“. Die Geheimgesellschaft, oder genauer der Verlag Zentrifuga, der unter Leitung von S. P. B. (Sergej Pawlowitsch Bobrow) die Bücher von ihm selbst, von Pasternak, Assejew und anderen, sich als Futuristen bezeichnenden Autoren publizierte, fand im Herbst 1922 Eingang in unsere phantastische Powest Oktaeder (die man auch einen Roman nennen könnte).
Im Sommer desselben Jahres fragten wir Pasternak, der mit uns in der halbleeren Straßenbahn der Linie „A“ vom Kropotkinskije- zum Kirowskije-Tor (damals Mjasnizkije-Tor) fuhr, offenbar um in die Wodopjany-Gasse zu Majakowski und den Briks zu gelangen, während wir nach Hause wollten:
Boris Leonidowitsch, woher stammt eigentlich die Bezeichnung Zentrifuga?
Er erwiderte lachend, halb im Scherz und fast wie zu halben Kindern:
Da muß sich wohl vor Bobrows Augen plötzlich alles gedreht haben (er deutete beim Sprechen mit der Hand Kreise vor dem Gesicht an), und so hat er sich eben diesen Namen einfallen lassen.
Und wieso ist die Lirika in der Zentrifuga aufgegangen?
Nun ja, weil die Lirika ein ziemlich langweiliger Verein war, wo sie den Damen die Hand küßten und so weiter. In der Zentrifuga aber fanden sich jene zusammen, die aufbegehrten.
Wir waren an den Tschistyje Prudy angelangt und mußten uns verabschieden. Unser Verständnis von dem, was nun die Lirika und was die Zentrifuga war, hatte etwas Lustiges, wenn auch ziemlich Ungenaues an sich. Die Richtung allerdings war damit vorgegeben.
Wesentlich erscheint mir jedoch etwas anderes. Pasternak war mit uns auf eine fröhliche, lockere Art befreundet. Vielleicht fühlte er sich in unserem Beisein sorgloser, konnte sich besser von den eigenen Schwierigkeiten lösen. Lag nicht auch hierin die Erklärung für den freundlichen Umgang mit uns? Mir als der Älteren von uns Geschwistern fiel es immer zu, ihn anzurufen – sobald er mich am Telefon erkannte, erwiderte er freudig:
Aah, die Kunins! Aber ja, ich bin zu Hause, kommen Sie ruhig her.
Mitunter trafen wir ihn allein zu Hause an (was wir als Glück empfanden!), manchmal, wie im Fall der Zentrifuga, war er im Aufbruch begriffen, und wir begleiteten ihn.
Einmal, ich war in der Universität gewesen und hatte mich mit meinem Bruder am Eingang des Hauses Nummer 14 in der Wolchonka verabredet, ging ich die Scheremetjewski-Gasse und den Antipjew-Boulevard entlang, als mir plötzlich Boris Leonidowitsch entgegenkam. Ich beteuerte, ihn nicht aufhalten zu wollen, doch er nahm mich am Arm, machte kehrt, und wir gingen zu ihm nach Hause. Als wir dann die Straße überquerten, sah ich meinen Bruder auf der Wolchonka. Er bog langsam um die Ecke, war es offenbar leid geworden, noch länger auf mich zu warten, und wollte heim.
„Da ist mein Bruder, er geht nach Hause!“ rief ich und machte Anstalten, ihm hinterherzulaufen
„So bleiben Sie doch hier“, sagte Pasternak, „ich hol ihn gleich zurück.“
Und wie ein Junge rannte er zu meinem Entsetzen und Entzücken los, hinter meinem Bruder her.
Ich erinnere mich nicht mehr, ob wir drei dann wirklich zu Boris Leonidowitsch in die Wohnung gingen oder letzten Endes auf der Straße blieben, doch der Anblick des Dichters, wie er so ganz natürlich auf Jungenart losrannte, hat sich mir eingeprägt wie eine Filmaufnahme.
Manchmal trafen wir ihn auch zusammen mit seiner jungen Frau, Jewgenija Wladimirowna Lourié-Pasternak, zu Hause an. Sie war eine schlanke, zierliche Person mit schöner Stirn, einem zarten, schmalen, leicht ovalen Gesicht und schwarzem, dichtem, nach hinten gekämmtem Haar. In ihrer ganzen Erscheinung lag eine lässige Grazie – sowohl in den Bewegungen als auch in ihrer melodiösen Stimme, die zum Mezzosopran tendierte. Für uns, ich gebe es zu, bedeutete sie hauptsächlich ein Hindernis im Umgang mit ihrem Mann. Erst später dachten wir tiefer über sie nach.
Dann fuhren sie plötzlich weg, ins Ausland! Nach Berlin, wo seinerzeit die Eltern von Boris Leonidowitsch lebten. Würde es für lange sein?
Wir empfanden das als einen persönlichen Verlust und waren so kühn, ihm im Sommer einen Brief zu schreiben – er hatte uns ja seine Adresse gegeben! Allerdings kam keine Antwort.
Doch am 9. Februar 1923 erhielten wir ein Päckchen mit einem Büchlein in grell violettem Einband: Themen und Variationen. Es war gerade in Berlin erschienen und enthielt eine Widmung, die unserer dankbaren Begeisterung ein Gefühl von Trauer beimengte:
Den Kunins zur freundlichen Erinnerung vom ganz und gar nicht fröhlichen Autor.
In Swjagino, einem Dorf in der Nähe von Moskau, wo unsere Familie – Vater, Mutter und das Kindermädchen Wassilissa – den Sommer 1922 verbrachte, begannen mein Bruder und ich mit der Arbeit an unserem phantastischen Roman Oktaeder. Es war bereits nach der Abreise von Boris Leonidowitsch.
[…]
Doch ich eile voraus. Im Herbst 1922 beendeten wir den Roman, und in den Jahren 1923–24 wurde das Leben unserer Familie radikal und grausam verändert.
Aus meinem Bruder wurde jener „unschuldig verurteilte Junge“,2 den Boris Leonidowitsch in einem der Briefe an seine Leningrader Cousine erwähnt und von dem er schrieb „die Bemühungen um ihn hätten ihn bis zum Kreml geführt“.
Ohne den glücklichen Ausgang dieser Bemühungen zu erleben, starb im Alter von sechsundvierzig Jahren unsere Mutter. Unsere Familie liebte sie nicht nur unendlich, sondern hatte auch im wahrsten Sinne des Wortes seelisch wie materiell durch sie gelebt. Nun brach urplötzlich so etwas wie eine Sonnenfinsternis über uns herein, die für alle Zeiten anhalten sollte.
Aus dieser Finsternis errettete mich die Notwendigkeit, die Mutter, zumindest in finanzieller Hinsicht, unverzüglich ersetzen zu müssen. Ich hatte nach dem Gymnasium, wenn auch mit schwerem Herzen, das eigentlich zur Literatur, zur Philosophie strebte, eine Zahnarztausbildung aufgenommen, wie sie sechzehn Jahre zuvor schon meine Mutter absolvierte. Nach Abschluß dieser Ausbildung hatte ich Mama des öfteren vertreten, wenn sie ihre Herzanfälle bekam, und ihre Patienten brachten mir gleichfalls Vertrauen entgegen. Bereits am Tag nach ihrer Beerdigung empfing ich die erste Patientin, und in der Folgezeit wurden es immer mehr.
Was nun meinen Bruder betraf, so mußte er nach einer ernsten Erkrankung dringend operiert werden. Damals arbeitete in der Botkin-Klinik (seinerzeit noch die Soldatenkowskaja) ein wunderbarer Chirurg, Wladimir Nikolajewitsch Rosanow, der mir acht Jahre zuvor nach einer chronischen Entzündung den Blinddarm entfernt hatte. Nun brachten Papa und ich meinen Bruder zu ihm. Ich flehte Doktor Rosanow an die Operation selber durchzuführen. Und dann, am Morgen, als mein Vater und ich, schon in Hut und Mantel, aufbrechen wollten, um vor und während der Operation bei dem Kranken zu sein, klingelte das Telefon.
Ich lief hin, hob den Hörer ab: „Ja bitte?“
Zur Antwort ertönte ein mir sehr, sehr liebes Brummen, das ich sofort erkannte. „M-m-m…Shenja, Shenja Kunina, wie war doch gleich Ihr Vatersname?“
„Boris Leonidowitsch, Sie! Wozu denn mein Vatersname? Sprechen Sie nur.“
„Ja also, Shenja, wie geht es Jusa?“
„Er wird heute am Blinddarm operiert. Papa und ich wollen gerade zu ihm fahren.“
„Nun dann… viel Glück! Rufen Sie mich danach unbedingt an.“
„Ich danke Ihnen, Boris Leonidowitsch, danke vielmals!“ Ich hatte wieder aufgelegt. Tränen der Dankbarkeit und der Hoffnung traten mir in die Augen. Daß er angerufen hatte, betrachtete ich als ein gutes Omen. Die Sonne war zum Vorschein gekommen!
Die Operation verlief schwierig und zog sich in die Länge (ein vorangegangener Durchbruch mit anschließender Bauchfellentzündung brachte Komplikationen). Nach anfänglicher Lokalanästhesie mußten die Ärzte zur Vollnarkose übergehen, obwohl der Kranke die Schmerzen schweigend erduldet hatte.
Mein Vater und ich warteten am Eingang zum Operationssaal. Daß ein Assistent sich über die „erstaunliche Geduld“ des Patienten verwundert zeigte, tröstete uns nur wenig.
Endlich ging die Tür auf – mein Bruder wurde auf einer Trage ins Krankenzimmer gefahren. Rosanow kam auf den Flur heraus und nahm erschöpft in einem Sessel Platz. Ich trat zu ihm und fragte ihn, kaum imstande, die Lippen zu bewegen: „Wie sieht es aus, Wladimir Nikolajewitsch?“
„Früher hätte man gesagt: ,Vertrauen Sie auf Gott, meine Liebe‘“, erwiderte er ruhig.
Ich weiß nicht, ob er noch etwas hinzufügte. Ich jedenfalls ergänzte in Gedanken: Und auf unser gutes Omen – den Anruf von Boris Leonidowitsch.
War das nicht vielleicht eine tiefe innere Seelenverwandtschaft? Auf unsere kindlich überschwenglichen Liebesbezeigungen reagierte Pasternak einmal ein wenig nachdenklich mit den Worten:
Es rührt wohl daher, daß wir ein und dasselbe lieben.
Die guten Wünsche, die er mir am Telefon mit auf den Weg gegeben hatte, waren nicht bloß eine Gefühlsaufwallung. Dank seiner Bemühungen wurde das Urteil gegen meinen Bruder aufgehoben. Der Fall wurde noch einmal aufgerollt und die Strafe zur Bewährung ausgesetzt (er galt somit nicht mehr als vorbestraft!). Von Boris Leonidowitsch jedoch erforderte dieses Engagement einen großen Einsatz, war auch mit familiären Unannehmlichkeiten verbunden: Ein Jahr zuvor, am 23. September 1923, hatte seine Frau Jewgenija Wladimirowna einen Sohn zur Welt gebracht, Shenja, und daß der Vater sich nun um Dinge fremder Leute kümmerte, war ihm von der Familie offenbar übelgenommen worden. Zumal ein Kind von Freunden, die er in dieser Sache aufsuchte, die Masern hatte, wodurch er Gefahr lief, das eigene Baby anzustecken! -„Nun ja, ich hab zu Hause ganz schönen Ärger bekommen!“ gestand er uns später betrübt und ein wenig verlegen.
Doch genau wie sein Leutnant Schmidt hätte er mit Fug und Recht sagen können:
Ein großes Werk ist vollbracht, und ich habe dieses Werk getan.
Die Monate gingen ins Land, wuchsen sich zu Jahren aus. Mein Bruder und ich wurden erwachsen. Boris Leonidowitsch, mit dem wir uns auch weiterhin trafen und den wir stets als den Älteren ansahen, brauchte uns nun nicht mehr als halbe Kinder zu betrachten.
In den Jahren 1925 und 1926 war er bei mir in zahnärztlicher Behandlung. Bei diesen Gelegenheiten unterhielten wir uns, und er erzählte mir von den Dingen, die ihn zu jener Zeit beschäftigten. […]
1929 erschien Pasternaks Band Über den Barrieren, der auch Gedichte aus seinen frühen Büchern enthielt. Diese Verse hatte er in dem Bestreben überarbeitet, unverständliche Stellen auszumerzen und die neue Variante insgesamt klarer zu gestalten. Nach unserer Meinung ging die ursprüngliche, wie aus einem Guß bestehende Form der Gedichte durch die Überarbeitung verloren. Teilweise gewann der Verstand Oberhand über die Poesie, wodurch gleichsam ihr lebendiger Atem unterbrochen wurde. Als Boris Leonidowitsch uns eines Tages ein Exemplar seines gerade erschienenen Buches mitbrachte und wir die seit langem liebgewonnenen Verse, von ihm selbst vorgetragen, in der neuen, verzerrten Form vernahmen, waren mein Bruder und ich bitter enttäuscht.
… Ich vor allem konnte nicht an mich halten:
Boris Leonidowitsch, man darf nicht in etwas eingreifen, das schon sein eigenständiges Leben lebt! Wenn Ihnen die frühere Variante nicht mehr gefiel, hätten Sie eine zweite schaffen müssen, ohne die erste anzurühren! Angenommen, Ihr Sohn Shenja wächst heran und Ihnen mißfällt die Farbe seiner Augen – dann würden Sie ihm doch auch keine anderen malen. Diese Gedichte aber sind ebenfalls eine Ihrer lebendigen Schöpfungen! Sie hätten die Verse am Leben lassen und eine neue Variation dazu schreiben sollen!
„Es gibt keine Themen und Variationen. Es gibt ein einziges Thema!“ antwortete Pasternak.
Mir ist entfallen, was er uns sonst noch entgegenhielt und sagte. Jedenfalls verabschiedete sich unser Gast bedrückt, und auch wir waren traurig, bereuten schnell, daß wir so heftig aufbegehrt hatten. Gegen etwas, das bereits erfolgt war, selbst wenn sich der Autor nach unserer Meinung im Verständnis seiner Arbeit irrte. Wie hatten wir nur zu jemandem, den wir so schätzten und liebten, derart grausam sein können!
An einem der nächsten Abende machten wir uns auf, ihn zu besuchen. Unterwegs, auf dem Theaterplatz (dem Swerdlowsker Platz), bot ein Junge Blumen feil. Ich kaufte drei tiefdunkle Rosen; sie waren klein, aber, wie mir schien, besonders anrührend.
Einigermaßen verschüchtert trafen wir bei ihm ein; Boris Leonidowitsch war allein, oder genauer gesagt, Shenja (ich nannte sie damals bereits beim Vornamen) war mit dem Söhnchen Shenetschka außer Haus. Er saß am Tisch und erhob sich, um uns zu begrüßen. Ich hielt die Blumen zunächst hinter dem Rücken versteckt, dann gab ich sie ihm und erklärte leise:
Das ist für Sie.
Er begriff sofort alles, schaute gerührt auf die Rosen.
Bestimmt haben Sie gedacht, Sie hätten mich neulich gekränkt! Danke, vielen Dank!… Es läßt sich ganz anders schreiben, wenn einen drei solche Köpfchen anblicken.
Wir saßen für kurze Zeit höchst einträchtig mit ihm zusammen, obwohl er ganz offenkundig bei der Arbeit war.
Beim Abschied schließlich sagte er zu mir: „Einen innigen Kuß für die Rosen.“
„Aber ja, küssen wir uns…“ Und wir gaben uns einen Kuß auf die Wange.
Meinem Bruder und mir war warm ums Herz, als wir das Haus in der Wolchonka wieder verließen. Wir fühlten uns sehr erleichtert, hatte er uns doch verziehen.
Es war wohl in dieser Zeit, als wir uns tiefer in die Beziehungen der beiden Ehegatten zu versetzen und sie besser zu begreifen begannen. Jewgenija Wladimirowna war für uns nun nicht mehr eine Art Störfaktor in unserem Umgang mit Boris Leonidowitsch. Wir bemühten uns, sowohl sie selbst als auch ihren Platz in seinem Leben und im Leben der Familie zu verstehen. Uns wurde klar, daß sie Pasternaks Bedeutung als Dichter, als einer außergewöhnlichen Persönlichkeit, die besonderer Aufmerksamkeit und Fürsorge durch die Nächsten bedurfte, nicht erkannte. Offenbar hatte er solche Aufmerksamkeit auch vor der Heirat nicht erfahren, wenn man die elterliche Fürsorge in der Kindheit ausnahm. Schon in früher Jugend begann er ein selbständiges Leben, und die Heirat brachte ihm lediglich einen Zuwachs an Sorgen und Verantwortung, besonders nach der Geburt seines Sohnes. Die häuslichen Pflichten aber waren nach und nach dennoch auf sie, die junge Hausherrin, übergegangen, so wie das bei jeder anderen Frau an ihrer Stelle gewesen wäre. Doch sie war eine Künstlerin, eine begabte Porträtmalerin! Deshalb mußte es für sie alles andere als verlockend sein, ihre Berufung der Familie zu opfern, wie das seinerzeit unter vergleichbaren Umständen die Mutter von Boris getan hatte, die hervorragende Pianistin Rosalia Pasternak, als sie die Frau des berühmten Malers Leonid Ossipowitsch Pasternak wurde. Jewgenija Wladimirowna dagegen machte das dichterische Talent ihres Mannes nicht zum „Angelpunkt“ ihres gemeinsamen Lebens. Vor allem in ihrem Innersten, vom Herzen her, vermochte sie das nicht.
Es wäre falsch, sie deswegen zu verurteilen. Ihre Berufung war stärker als die Liebe, als das Pflichtgefühl; ihr fehlte die Einsicht dafür, daß ihre Begabung seiner nicht gleichkam. So mündeten diese beiden Wege nicht in einen. Beide waren sie Menschen der Kunst. Beide benötigten sie Fürsorge, Befreiung von den Mühen des Alltags. Und beide litten sie.
Das erste Gedicht, in dem Pasternak von seiner Frau als Künstlerin spricht, trägt den Titel „Nach Jahren, irgendwann im Konzertsaal…“ aus dem Band Die zweite Geburt. Bemerkenswert ist, daß er gerade hier, im Hochgefühl eines neuen, ihn wie eine Brandung überflutenden Gefühls, voller Bewunderung das Porträt seiner Frau zeichnet- und zwar im Augenblick, da er sich von ihr trennt und einer anderen zuwendet:
Der Künstlerin, scheu wie ein Traum, hohe Stirn,
Ihr so großes Lächeln, aus tiefstem Grund,
Ihr Lächeln weit, wie ein Globus rund,
Der Künstlerin Antlitz, ihr Lächeln, die Stirn.
In dieser Porträtskizze kommt jener liebenswerte, besondere Charme von Shenja Lourié-Pasternak zum Ausdruck, der ihr Ähnlichkeit mit den italienischen Madonnen des Quatrocento verlieh. Sie glich der Simonetta, dem Prototyp der Frauengestalten Botticellis. Vielleicht hat jener Sommer in Irpen, der ihn mit neuen Freundschaften und wieder mit dem Gefühl für frauliche Schönheit belebte, der auch den Staub des Alltags fortwehte, in ihm zugleich den verblaßten Sinn für jene feine Anmut wiedererweckt, die ihn früher einmal an Jewgenija Wladimirowna fasziniert hatte.
In den Versen über sie beschreibt nichts ihre Stimme. Tief und gütig, war sie ein Ausdruck für ihre innere Wärme, die sich mir zweimal mitteilte und in den Jahren meiner Besuche in der Wolchonka besonders einprägte.
Das erste Mal im Jahre 1923. Die Hausangestellte der Pasternaks, eine ältere Frau (vielleicht das einstige Kindermädchen), war krank geworden, und sie hatten den Arzt gerufen. Als ich eintraf, war er bereits gegangen, und ich höre noch heute die große Anteilnahme in Jewgenija Wladimirownas Stimme, als sie ihrem Mann und mir von seinem Besuch erzählte. Vor allem, wie zufrieden die Kranke mit dem Arzt gewesen war und daß der Doktor „sogar ihren Kopf abgehört hätte“. Dabei wiederholte sie die Worte der alten Frau voller Rührung, mit jenem ergreifenden „Lächeln aus tiefstem Grund“, dem ich später in dem Gedicht begegnete.
Das zweite Mal aber erschloß sich mir ihre Herzensgüte schlicht und unverhofft in einem einzigen Satz, der sich auf mich bezog. Ich besuchte die Pasternaks an diesem Tag allein. Es mag im Jahre 1927 gewesen sein, und meine tägliche, von morgens bis abends währende Zahnarzttätigkeit erschöpfte mich über die Maßen, verschaffte mir kein bißchen Befriedigung. Ich war verzagt und klagte über mein Schicksal. Boris Leonidowitsch, der es zu jener Zeit selber nicht leicht hatte, erwiderte:
Nun ja, jeder von uns hat eben irgendwie zu kämpfen!
„Das schon, nur muß Jewgenija Filippowna mit dem Bohrer in der Hand kämpfen“, sagte seine Frau voller Mitgefühl. Mich aber rührte ihr aus tiefstem Herzen kommendes Verständnis.
Wann fingen wir beide an, uns mit dem Vornamen anzusprechen? Ich weiß es nicht mehr. Doch ich erinnere mich noch sehr deutlich an einen Traum, in dem ich sie „Shenja“ nannte. Bis ins kleinste Detail steht dieser Traum vor mir.
…Eines Tages kam ich zu Boris Leonidowitsch, und die ganze Familie war versammelt. Womit Jewgenija Wladimirowna gerade beschäftigt war, kann ich nicht sagen, er jedenfalls saß da und stopfte die Strümpfe des Söhnchens. Er, der große Dichter! War das vielleicht seine Aufgabe? Und mit großer Bitterkeit, seinetwegen aufs höchste gekränkt, sagte ich zu ihr:
Irgendwann werden Sie es begreifen, Shenja, doch dann ist es zu spät!
Kurze Zeit danach wurde gemunkelt, Boris Leonidowitsch und die Neuhausens seien sich nähergekommen, wenig später – er wolle sich von seiner Frau trennen. Was aber würde aus Shenja und Shenetschka werden?
Doch über all das gibt es so viele Gedichte, so viele reumütige, verliebte, glückliche, traurige und tröstende Verse, die der Dichter selbst hinterlassen hat, und nicht mir steht es an, darüber zu schreiben! Es war ein Glück, erblüht auf Leiden.
Eines Tages besuchte uns Boris Leonidowitsch – ganz unverhofft und ohne vorher anzurufen, gegen fünf Uhr am Nachmittag. Mein Bruder war noch auf der Arbeit, und meine Freude war ein bißchen getrübt, weil er diesen Besuch verpaßte.
Pasternak saß eine Weile da, erzählte und lachte. So schilderte er zum Beispiel sehr anschaulich (oder war das vielleicht doch ein andermal?), wie Jewgenija Wladimirowna mit dem dreijährigen Shenja aus dem Ausland zurückgekehrt war. Boris Leonidowitsch hatte sie an einer Zwischenstation abgeholt, um den Rest des Weges gemeinsam mit ihnen zurückzulegen, und der kleine Shenja hatte, als er ihn sah, ausgerufen:
Der Sohn fährt zum Vater, und der Vater ist dem Sohn entgegengefahren!
Schließlich erhob sich Pasternak: „Nun ja, dann werde ich jetzt mal gehen.“
„Bitte bleiben Sie noch etwas, Boris Leonidowitsch! Jusa wird sehr enttäuscht darüber sein, daß er Sie nicht mehr angetroffen hat.“
„Nein, nein, es wird wirklich Zeit für mich.“
Da hatte ich einen Einfall (bestimmt würde es ihm peinlich sein, mir das abzuschlagen): „Boris Leonidowitsch, dürfte ich Ihnen meine Gedichte zeigen?“
„Also gut, geben Sie her!“
Ich legte das Manuskript vor ihn auf den Klavierdeckel. Er begann zu lesen.
„Sehr nett.“
„Nein, nein, das da ist nicht der Rede wert! Lesen Sie weiter.“
Er fuhr in der Lektüre fort. Und wieder: „Sehr nett.“ Plötzlich aber, als er nach einem weiteren „Sehr nett“ an einer Stelle anlangte, die im Grunde ihm gewidmet war: „…Was denn, für mich?! Das ist doch Unsinn! Dennoch, vielen Dank!“
Ich begleitete ihn zur Straßenbahn – auf meinen Bruder hatte er trotz allem nicht warten können.
„Wie schön, wenn jemand im Rahmen seiner Fähigkeiten Gedichte schreibt“- das war das Resümee aus unserer Unterhaltung auf dem Weg zur Bahn und alles, was mir davon in Erinnerung geblieben ist.
Jewgenija Kunina, aus Erinnerungen an Boris Pasternak, herausgegeben von Franziska Thun, Aufbau Verlag, 1994
Übersetzung Aljona Möckel
Adolf Endler: Eine Reihe internationaler Lyrik, Sinn und Form, Heft 4, 1973
FÜR B. PASTERNAK
Entfernung: Kilometer, Meilen
wir sind entfernt, entsetzt, entstellt,
daß wir zur Ruhe kommen sollen
an den beiden Polen dieser Welt.
Entfernung: Kilometer, Meilen
wir sind entklebt, entlötet
in zwei Kreuzesarmen
und wußten nicht, daß dies die Mischung ist
erleuchtet und gespannt zu sein…
Entfremdet, nicht entfremdet
enthoben…
aaaaaaaaaaWand und Graben
entrissen wie Kriegsadler –
Verschwörer: Kilometer, Meilen
entknotet, nicht entronnen
in die Kabuffs entlegner Winkel
hineingestopft wie Waisenkinder.
An welchem wars, an welchem März
hat man uns wie ein Kartenspiel verteilt.
Marina Zwetajewa
übersetzt von Christa Reinig
DEM ANDENKEN B.L. PASTERNAKS
… die Leitung des Literaturfonds der UdSSR zeigt den Tod seines Mitglieds Boris Leonidowitsch Pasternak an, der am 30. Mai dieses Jahres in seinem 71. Lebensjahr nach langer und schwerer Krankheit eintrat, und drückt der Familie des Verstorbenen ihr Beileid aus.
Die einzige in Zeitungen, genau gesagt, in der Literaturnaja Gaseta erschienene Mitteilung über das Ableben B.L. Pasternaks.
Wir zerlegten die Kränze zu Zweigen
und trauerten ein halbes Stündchen…
Wie stolz sind wir, die Zeitgenossen,
daß er in seinem Bett gestorben ist!
Tumbe Gesellen quälten Chopin,
und feierlich nahm man Abschied von ihm…
Er hat nicht in Jelabuga die Schlinge eingeseift
und nicht in Sutschan den Verstand verloren!
Sogar die Kiewer ,Schreiber‘
eilten zu seiner Gedenkfeier herbei!…
Wie stolz sind wir, die Zeitgenossen,
daß er in seinem Bett gestorben ist!
Und nicht mit vierzig und ein bißchen drüber,
nein, genau mit siebzig ist er gestorben – das ist doch ein Alter, um zu sterben,
und keineswegs stiefmütterlich behandelt,
sondern als Mitglied des Literaturfonds – der Verstorbene ist ein Kostenfaktor gewesen!
Ach, die Tannenzweige fielen herab,
die Schneestürme hielten das Totenamt…
Wie stolz tun wir, wir Lumpen,
daß er in seinem Bett gestorben ist!
„Schneestürme überm ganzen Land, überall,
eine Kerze brannte auf dem Tisch, eine Kerze…
O nein, keineswegs eine Kerze –
ein Lüster brannte!
Die Brille auf der Schnauze des Henkers
funkelte geschäftig!
Und der Saal gähnte, der Saal langweilte sich –
quassel du nur da vorn!
Er muß ja nicht ins Gefängnis und nicht nach Sutschan
und nicht die Höchststrafe verbüßen!
Und zu seiner Märtyrerkrone kam er nicht
durch Rädern,
sondern, wie ein Holzscheit ins Gesicht,
durch eine Abstimmung!
Und einer fragte, betrunken:
„Wofür? Wen eigentlich?“
Und einer fraß, und einer wieherte
über einen Witz…
Wir werden dieses Lachen nicht vergessen
und diese Langeweile!
Wir werden uns an alle namentlich erinnern,
die ihre Hand aufhoben!
„Der Lärm verstummte. Ich trat auf die Bühne.
Ans Holz der Tür gelehnt…“
Verleumdung und Streit sind nun verstummt,
als hätte man bei der Ewigkeit freigenommen…
An der Bahre erheben sich die Marodeure
und halten
Eh-ren-wa-che!
Alexander Galitsch
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Boris Pasternak
Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa
Flg.: Ein Dichter in der Sjetsch
Die Tat, 10.2.1960
Heinz Schewe: Boris Pasternaks 70. Geburtstag
Boris Pasternak – Dokumentarfilm Teil 1/2.
Boris Pasternak – Dokumentarfilm Teil 2/2.
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