NACH DER JAHRHUNDERTWENDE
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Die Studentenkundgebungen nach dem Manifest vom 17. Oktober1 veranlaßte den Pöbel vom Ochotnyj Rjad,2 die höheren Lehranstalten, die Universität und die Technische Hochschule zu demolieren. Auch der Hochschule für Malerei drohte ein Überfall. Auf Anordnung des Direktors wurden auf den Podesten der Paradetreppe Pflastersteine aufgehäuft und Schläuche an die Hydranten angeschlossen, um das Gesindel gebührend zu empfangen.
Manche Demonstranten trennten sich von der Menge, drangen in die Schule ein, veranstalteten in der Aula Meetings, besetzten mehrere Räume und hielten vom Balkon aus den auf der Straße Gebliebenen Ansprachen. Die Hochschüler hatten Kampfgruppen gebildet, die abwechselnd Nachtwache im Gebäude hielten.
Unter den Skizzen meines Vaters befinden sich einige Blätter aus jenen Tagen: Heransprengende Dragoner feuern von unten auf eine Agitatorin, die vom Balkon aus eine Rede hält. Sie wird getroffen, lehnt sich an eine Säule, um nicht umzusinken, und spricht weiter.
Gegen Ende des Jahres 1905 kam Gorkij nach Moskau. Hier herrschte Generalstreik.3 Die Nächte waren bitterkalt. Biwakfeuer erhellten das in Dunkelheit versunkene Moskau, verirrte Kugeln pfiffen durch die Luft. Kosakenpatrouillen jagten mit verhängten Zügeln über den jungfräulichen, schweigenden Schnee, in dem kein Fußgänger seine Spur hinterlassen hatte.
Mein Vater traf sich mit Gorkij wegen einiger politisch-satirischer Zeitschriften – Die Peitsche, Die Vogelscheuche und andere –, an denen mitzuarbeiten Gorkij Vater eingeladen hatte. Wahrscheinlich geriet ich damals – oder auch erst nach unserem einjährigen Aufenthalt in Berlin4 – zum ersten Mal im Leben an Verse von Alexander Blok. Ich erinnere mich nicht, was es war, „Die Weidenkätzchen“ oder etwas aus den Olenina d’Ahlheim gewidmeten „Kindergedichten“ oder etwas Revolutionäres, Städtisches. Aber ich erinnere mich so lebhaft an den Eindruck, daß ich ihn wiederaufleben lassen und beschreiben kann.
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Was ist Literatur im gängigen, verbreitetsten Sinne des Wortes? Literatur ist die Welt der Eloquenz, der Gemeinplätze, der wohlgerundeten Phrasen und der geachteten Namen von Personen, die in ihrer Jugend das Leben beobachtet haben, aber berühmt geworden, zu Abstraktionen, Selbstzitaten und Besonnenheit übergingen. Wenn in diesem Reich der etablierten und eben deshalb nicht mehr wahrgenommenen Unnatürlichkeit jemand den Mund auftut, nicht etwa aus Liebe zur schönen Literatur, sondern weil er etwas weiß und es sagen will, entsteht der Eindruck einer Umwälzung, als sei eine Tür aufgerissen worden, in die der gewaltige Lärm des Lebens eindringt, als erzähle nicht ein Mensch von dem, was in der Stadt geschieht, sondern als verkünde die Stadt selber ihr Dasein durch den Mund eines einzelnen. So war es bei Blok. Derart waren seine einzigartige, kindlich makellose Sprache und die Kraft seiner Wirkung.
Schon im Druckbild zeigte sich das Neue; als ob dieses Neue sich ganz von selbst der gedruckten Seite bemächtigt habe, als seien diese Gedichte von niemandem verfaßt und niedergeschrieben worden. Auf diesen Seiten schienen nicht Verse über Wind, Pfützen, Laternen und Sterne zu stehen; die Laternen und Pfützen selber warfen ihr windig bewegtes Flimmern über die Seiten der Zeitschrift und hinterließen feuchte, machtvolle Spuren.
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Mit Blok verbrachten wir, ein Teil meiner Altersgenossen, von denen noch zu sprechen sein wird, und ich unsere Jugend. Blok besaß alles, was den großen Dichter ausmacht: Glut, Zartheit, Eindringlichkeit, sein eigenes Weltbild und die Gabe der besonderen, alles verwandelnden Berührung, ein allen verborgenes Geschick, das sich ganz in ihm selbst erfüllte. Von diesen und vielen anderen Qualitäten will ich nur eine Seite hervorheben, die auf mich den maßgeblichen Eindruck gemacht hat und mir daher vorrangig erscheint: Bloks ungestüme Zielgerichtetheit, seine umherschweifende Aufmerksamkeit, die Schnelligkeit seiner Beobachtungen.
Licht schwankt in der schmalen Pforte.
Im Dämmerscheine, ganz verlassen,
Flüstert zaghaft mit den Schatten
Harlekin vor hohem Tore.
* * *
Schnee durch die Straßen weht.
Wirbelnder, taumelnder Schnee,
Jemand reicht mir die Hand,
Jemand lächelt mich an.
* * *
Jemand narrt mich mit seinem Licht.
So werden in Winternächten
Schatten zu Schemen
Am Straßenrand und verschwinden.5
Eigenschaftswörter ohne Hauptwörter, Verben ohne Substantive, Versteckspiel, flüchtig vorüberhuschende Figuren, Erregtheit, Stakkato. Wie sehr entsprach dieser Stil dem Geist der Zeit, dem sich verborgen haltenden, geheimen, untergründigen, der kaum seinen Verliesen entstieg, sich in der Sprache von Verschwörern ausdrückte, dessen Hauptperson die Stadt, das entscheidende Ereignis die Straße war.
Diese Züge durchdringen Blok grundlegend und beherrschend im zweiten Band der Alkonost-Ausgabe6 Ich nenne „Welt des Schreckens“, „Der letzte Tag“, „Betrug“, „Erzählung“, „Legende“, „Meeting“, „Die Unbekannte“, die Gedichte: „In Nebeln über taufunkelnde Rosen“, „Suchte in Schenken, Winkeln, Gassen“, „Im Kirchenchor war ein Mädchen“.7
Die Züge der Wirklichkeit sind als Luftstrom, als Wirbel der Blokschen Sensibilität in seine Bücher eingegangen; sogar in das Fernliegende, das als Mystik erscheinen oder das Göttliche genannt werden könnte. Alle seine Verse enthalten Fragmente des Alltags und des kirchlichen Lebens: Zitate aus Ektenien, aus Gebeten vorm Abendmahl, aus Sterbepsalmen, die jeder auswendig kannte und hundertmal in der Kirche gehört hat. Summe dieser Welt- und Seelenwirklichkeit, ihr Träger, ist die Stadt der Blokschen Gedichte, sie ist Held seiner Geschichte, seiner Biographie.
Diese Stadt, dieses Petersburg Bloks ist von keinem anderen neuzeitlichen Künstler so realistisch gezeichnet worden. Sie existiert ununterscheidbar zugleich in der Wirklichkeit und in der Phantasie. Sie ist erfüllt von der alltäglichen Prosa, der die Poesie ihre dramatische Erregtheit verdankt. In den Straßen erklingt jenes alltägliche Umgangsrussisch, das die Sprache der Dichtung erneuert.
Gleichzeitig ist das Bild dieser Stadt von so feinfühliger Hand zusammengesetzt und so vergeistigt, daß es zu einer ergreifenden Erscheinung kostbarster innerer Welt wird.
4
Ich hatte die Gelegenheit und das Glück, viele der in Moskau lebenden Dichter der älteren Generation kennenzulernen: Brjussow, Andrej Belyj, Wladislaw Chodassewitsch, Wjatscheslaw Iwanow, Jurgis Baltruschaitis.8 Blok wurde ich während seines letzten Moskauer Aufenthalts vorgestellt, auf der Treppe oder im Korridor des Polytechnikums, in dem er an jenem Abend aus seinen Werken las. Blok war freundlich zu mir, sagte, er habe viel Gutes über mich gehört, klagte über sein Befinden und bat mich, meinen Besuch aufzuschieben, bis es ihm gesundheitlich besser gehe.
An diesem Abend hatte er an drei verschiedenen Orten zu lesen: im Polytechnikum, im Pressehaus und in der Dante-Gesellschaft, dort versammelten sich seine glühendsten Verehrer, er würde seine „italienischen Verse“ lesen.
Zur Lesung im Polytechnikum war auch Majakowskij gekommen. Während des Vortrags sagte er mir, im Pressehaus wolle man unter dem Vorwand unbestechlicher Kritik ein „Blok-Benefiz“ veranstalten, das heißt ein Katzenkonzert, einen Skandal heraufbeschwören. Er schlug vor, wir sollten zusammen hingehen und diese Niedertracht verhindern. Wir verließen die Lesung, gingen aber zu Fuß, während Blok zu seinem zweiten Vortrag im Auto gebracht wurde; und ehe wir noch den Nikita-Boulevard mit dem Pressehaus erreicht hatten, war die Lesung bereits zu Ende, und Blok hatte sich in die Gesellschaft der Liebhaber italienischer Dichtung begeben. Der befürchtete Skandal hatte stattgefunden. Blok hatte die Lesung kaum beendet, als man ihn mit den ungeheuerlichsten Anwürfen überschüttete, ihm schamlos ins Gesicht sagte, seine Zeit sei vorbei, er sei innerlich tot. Er gab es in aller Ruhe zu. Dieser Zwischenfall spielte sich wenige Monate vor seinem wirklichen Tod ab.9
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In jenen Jahren unserer ersten Wagnisse verfügten nur zwei Menschen, Assejew und Marina Zwetajewa10 über eine dichterisch reife und vollkommen durchgebildete Sprache. Die vielgepriesene Originalität der anderen, mich eingeschlossen, entsprang absoluter Hilflosigkeit und Unfreiheit. Sie hinderte uns jedoch nicht daran, zu schreiben, zu publizieren und zu übersetzen. Von all meinen deprimierend dilettantischen Arbeiten jener Zeit sind die schlechtesten meine Übersetzungen von Ben Johnsons Drama Der Alchimist und Goethes Dichtung Die Geheimnisse. Unter den Rezensionen Bloks, die er für den Verlag Weltliteratur geschrieben hat und die im letzten Band seiner Werke erschienen sind, findet sich auch eine Besprechung dieser Übersetzungen. Seine vernichtende und geringschätzige Kritik ist gerecht und durchaus angemessen.
Doch es ist Zeit, den Bericht da fortzusetzen, wo er, spätere Ereignisse vorwegnehmend, unterbrochen wurde: in jenen längst vergangenen Jahren nach der Jahrhundertwende.
6
Ich war in der dritten oder vierten Klasse des Gymnasiums, als ich mit einer Freifahrkarte, die mir mein Onkel – Direktor des Petersburger Güterbahnhofs der Nikolaj-Linie – geschenkt hatte, in den Weihnachtsferien allein nach Petersburg fuhr. Tagelang durchstreifte ich die Straßen der unsterblichen Stadt, verschlang sie mit Füßen und Augen wie die Seiten eines genialen steinernen Buches. Die Abende verbrachte ich im Theater der Komissarshewskaja.11 Regelrecht vergiftet von der modernsten Literatur, schwärmte ich für Belyj, Hamsun und Przybyszewski.12 Ein noch intensiveres Reiseerlebnis hatte ich 1906, als unsere ganze Familie nach Berlin fuhr. Es war mein erster Aufenthalt im Ausland.
Alles war ungewöhnlich, alles war anders. Als lebtest du nicht in der Wirklichkeit, sondern sähest einen Traum, nähmest teil an einem imaginären, für niemanden verbindlichen Schauspiel. Du kennst niemand. Niemand hat dir etwas zu sagen.
Eine lange Reihe sich öffnender und wieder zuklappender Türen die ganze Wand der Wagen entlang, zu jedem Coupé eine Tür. Eine viergleisige ringartige Brückenkonstruktion hängt über Straßen, Kanälen, über Rennställen und Hinterhöfen der Riesenstadt. Einander einholende, überholende, nebeneinander herfahrende oder einander kreuzende Züge. Sich verdoppelnde, sich kreuzende, einander überspringende Straßenlaternen unter den Brücken; die Lichter der ersten und zweiten Etagen auf gleicher Höhe mit den Stadtbahngleisen; mit buntfarbigen Lämpchen illuminierte Automaten in den Bahnhofsbufetts mit Zigarren, Süßigkeiten, gebrannten Mandeln. Rasch gewöhnte ich mich an Berlin, vagabundierte durch seine zahllosen Straßen und den grenzenlosen Park. Ich sprach deutsch und ahmte den Berliner Dialekt nach, atmete das Gemisch von Lokomotivendampf, Leuchtgas und Bierschaum ein und hörte Wagner.
Berlin war voller Russen. Der Komponist Rebikow13 spielte Bekannten sein Stück Der Weihnachtsbaum vor. Er unterschied zwischen drei Musikepochen: animalische Musik bis zu Beethoven, menschliche Musik in der folgenden Epoche und, mit ihm beginnend, die Musik der Zukunft.
Auch Gorkij hielt sich in Berlin auf. Vater porträtierte ihn. Andrejewa14 gefielen auf dem Bild seine kantig vorspringenden Backenknochen nicht. Sie sagte: „Sie haben ihn nicht verstanden. Er ist gotisch.“ So drückte man sich damals aus.
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Es muß nach dieser Reise und der Rückkehr nach Moskau gewesen sein, daß ein anderer großer Dichter dieses Jahrhunderts in mein Leben trat: der damals noch kaum bekannte, heute in der ganzen Welt anerkannte deutsche Dichter Rainer Maria Rilke.15 Im Jahre 1900 besuchte er Tolstoj in Jasnaja Poljana, er kannte meinen Vater und korrespondierte mit ihm. Einen Sommer lang war er nahe bei Klin in Sawidow bei dem Bauerndichter Droshshin16 zu Gast.
In jenen fernen Jahren hatte er meinem Vater seine frühen Gedichtbände mit warmherzigen Widmungen geschickt. Zwei dieser Bücher fielen mir sehr viel später in die Hand, in einem der beschriebenen Winter, und überwältigten mich ebenso wie die ersten Gedichte von Blok durch die Dringlichkeit der Aussage, durch Unbedingtheit, Ernst und Bestimmtheit der Sprache.
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Bei uns kennt man Rilke überhaupt nicht. Die wenigen Versuche, seine Dichtung ins Russische zu übertragen, sind gescheitert. Das ist nicht die Schuld der Übersetzer. Sie waren gewöhnt, den Sinn zu reproduzieren, nicht den Wortklang, der aber ist hier entscheidend.
1913 weilte Verhaeren in Moskau. Vater malte ihn. Er bat mich hin und wieder, bei solchen Sitzungen Gesellschaft zu leisten, damit das Gesicht des Modells nicht einen starren, unlebendigen Ausdruck annähme. Einmal hatte ich den Historiker Kljutschewskij17 unterhalten müssen. Jetzt also Verhaeren. Mit verständlicher Begeisterung sprach ich zu ihm über sein eigenes Werk und fragte dann schüchtern, ob er schon einmal von Rilke gehörte habe. Ich nahm nicht an, daß Verhaeren ihn kannte. Sofort war er wie verwandelt. Vater hätte sich nichts Besseres wünschen können. Allein der Name belebte das Gesicht des Modells stärker, als all mein Geplauder. „Er ist der beste Dichter Europas“, sagte Verhaeren, „ich betrachte ihn als meinen geliebten Bruder.“
Für Blok ist Prosa die Quelle, aus der ein Gedicht entsteht. Er bezieht sie nicht in das System seiner Ausdrucksmittel ein. Für Rilke sind die malerischen und psychologischen Verfahren der zeitgenössischen Romanschriftsteller (Tolstoi, Flaubert, Proust und die Skandinavier) von Sprache und Stil seiner Dichtung nicht zu trennen.
Aber ich könnte mich noch so sehr bemühen, Rilkes Eigenart zu analysieren und zu beschreiben, es gelänge nicht, einen Begriff davon zu vermitteln, ohne einige Beispiele anzuführen; ich habe sie eigens für dieses Kapitel übersetzt.18
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Rainer Maria Rilke
DER LESENDE
Ich las schon lang. Seit dieser Nachmittag,
mit Regen rauschend, an den Fenstern lag.
Vom Winde draußen hörte ich nichts mehr;
mein Buch war schwer.
Ich sah ihm in die Blätter wie in Mienen,
die dunkel werden von Nachdenklichkeit,
und um mein Lesen staute sich die Zeit. –
Auf einmal sind die Seiten überschienen,
und statt der bangen Wortverworrenheit
steht: Abend, Abend… überall auf ihnen.
Ich schau noch nicht hinaus, und doch zerreißen
die langen Zeilen, und die Worte rollen
von ihren Fäden fort, wohin sie wollen…
Da weiß ich es: über den übervollen
glänzenden Gärten sind die Himmel weit;
die Sonne hat noch einmal kommen sollen. –
Und jetzt wird Sommernacht, soweit man sieht:
Zu wenig Gruppen stellt sich das Verstreute,
dunkel, auf langen Wegen, gehn die Leute,
und seltsam weit, als ob es mehr bedeute,
hört man das Wenige, das noch geschieht.
Und wenn ich jetzt vom Buch die Augen hebe,
wird nichts befremdlich sein und alles groß.
Dort draußen ist, was ich hier drinnen lebe,
und hier und dort ist alles grenzenlos;
nur daß ich mich noch mehr damit verwebe,
wenn meine Blicke an die Dinge passen
und an die ernste Einfachheit der Massen –
da wächst die Erde über sich hinaus.
Den ganzen Himmel scheint sie zu umfassen:
der erste Stern ist wie das letzte Haus.
Rainer Maria Rilke
DER SCHAUENDE
Ich sehe den Bäumen die Stürme an,
die aus laugewordenen Tagen
an meine ängstlichen Fenster schlagen,
und höre die Fernen Dinge sagen,
die ich nicht ohne Freund ertragen,
nicht ohne Schwester lieben kann.
Da geht der Sturm, ein Umgestalter,
geht durch den Wald und durch die Zeit,
und alles ist wie ohne Alter:
die Landschaft, wie ein Vers im Psalter,
ist Ernst und Wucht und Ewigkeit.
Wie ist das klein, womit wir ringen,
was mit uns ringt, wie ist das groß;
ließen wir, ähnlicher den Dingen,
uns so vom großen Sturm bezwingen –
wir würden weit und namenlos.
Was wir besiegen, ist das Kleine,
und der Erfolg selbst macht uns klein.
Das Ewige und Ungemeine
will nicht von uns gebogen sein.
Das ist der Engel, der den Ringern
des Alten Testaments erschien;
wenn seiner Widersacher Sehnen
im Kampfe sich metallen dehnen,
fühlt er sie unter seinen Fingern
wie Saiten tiefer Melodien.
Wen dieser Engel überwand,
welcher so oft auf Kampf verzichtet,
der geht gerecht und aufgerichtet
und groß aus jener harten Hand,
die sich, wie formend, an ihn schmiegte.
Die Siege laden ihn nicht ein.
Sein Wachstum ist: Der Tiefbesiegte
von immer Größerem zu sein.
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Etwa seit 1907 sprossen neue Verlage wie Pilze aus der Erde. Auch Konzerte moderner Musik wurden jetzt häufiger veranstaltet. Eine Kunstausstellung drängte die andere. Die Veranstalter waren Die Welt der Kunst, Das goldene Vlies, Karo-Bube, Eselsschwanz und Blaue Rose.19 Neben den Russen Somow, Sapunow, Sudejkin, Krymow, Larionow, Gontscharowa20 waren auch Franzosen vertreten, etwa Bonnard und Vuillard. Das goldene Vlies zeigte in seinen mit Vorhängen abgedunkelten Räumen, in denen die ringsum aufgestellten Hyazinthen erdigen Treibhausgeruch ausströmten, Matisse und Rodin. Die Jugend war auf ihrer Seite.
Auf dem Gelände eines der Neubauten in Rasguljaj war das alte hölzerne Wohnhaus des Eigentümers, eines Generals, stehengeblieben. Im Mezzanin sammelte sein Sohn, der Dichter und Maler Julian Pawlowitsch Anissimow, gleichgesinnte junge Leute um sich. Er hatte schwache Lungen und lebte im Winter im Ausland. Im Frühling und im Herbst besuchten ihn bei gutem Wetter seine Freunde. Man las, man musizierte, zeichnete, diskutierte, aß etwas und trank Tee mit Rum. Dort lernte ich eine Menge Menschen kennen.
Der Hausherr, ein außerordentlich begabter Mann von erlesenem Geschmack, hochgebildet und kultiviert, der mehrere Sprachen so beherrschte wie die russische, verkörperte in sich die Poesie auf einer Stufe, die den Charme des Amateurs ausmacht, von der aus es aber nur schwer gelingt, darüberhinaus schöpferisch zu werden durch Persönlichkeits- und Charakterstärke, die zu Meisterschaft führt. Wir hatten ähnliche Neigungen, unsere Vorliebe galt denselben Künstlern. Er gefiel mir sehr.
Hierher kam auch der verstorbene Sergej Nikolajewitsch Durylin, der damals unter dem Pseudonym Sergej Rajewskij schrieb. Er war es, der mich von der Musik zur Literatur hinüberlockte, als er gütigerweise in meinen ersten Versuchen einiges Bemerkenswerte zu finden glaubte. Er lebte ärmlich, verdiente durch Stundengeben den Unterhalt auch noch für Mutter und Tante. In seiner begeisterten Geradlinigkeit und der ungestümen Überzeugtheit von seinen Ansichten erinnerte er an Belinskij,21 wie die Überlieferung ihn schildert.
Hier machte mich mein Studienfreund K.R. Lox, den ich schon länger kannte, auf Innokentij Annenskijs22 Gedichte aufmerksam; er meinte, eine gewisse Verwandtschaft zwischen meinen eigenen Versuchen und Entgleisungen und dem Werk des bedeutenden, mir damals noch unbekannten Dichters zu sehen.
Der Kreis hatte auch einen Namen: „Serdarda“. Ein Wort, dessen Bedeutung niemand kannte. Der Dichter und Bassist Arkadij Gurjew wollte es einmal auf der Wolga gehört haben. Im nächtlichen Durcheinander an einer Anlegestelle, als zwei Dampfer Bord an Bord miteinander vertäut wurden, und die Passagiere des zweiten Schiffes, um an Land zu kommen, sich mit ihrem Gepäck zwischen den Fahrgästen und Güterladungen im Inneren des ersten durchzwängen mußten, schlug dieser seltsame Laut an sein Ohr.
Gurjew stammte aus Saratow. Er besaß eine mächtige, doch weiche Stimme und brachte die dramatischen und gesanglichen Feinheiten seiner Partien vollendet zum Ausdruck. Wie jedes urwüchsige Talent verblüffte er durch seine ständigen Späße und Clownerien ebenso wie durch die tiefe Originalität, die hinter seiner Gespreiztheit durchschimmerte. Seine außerordentlichen Gedichte nahmen die schrankenlose Aufrichtigkeit eines Majakowskij und die präzisen, leicht faßlichen Bilder eines Jessenin23 vorweg. Er war ein Sänger und Schauspieler von Geblüt, von jener Ursprünglichkeit, die Ostrowskij24 so oft dargestellt hat.
Gurjew hatte eine große Stirn, sein Kopf war rund wie eine Zwiebel und sein Näschen winzig. Die ersten Anzeichen künftiger Kahlköpfigkeit machten sich schon über den ganzen Schädel von der Stirn bis zum Nacken hinunter bemerkbar. Alles an ihm war Bewegung, Ausdruck. Er gestikulierte nicht, fuchtelte nicht mit den Armen herum. Aber wenn er im Stehen sprach oder deklamierte, schien sein ganzer Oberkörper umherzugehen, zu spielen, für ihn zu sprechen. Er neigte den Kopf, warf den Oberkörper zurück. Er trank recht gern, und im Rausch glaubte er an alle seine Einfälle. Am Schluß seiner Vorführungen blieb er einen Augenblick wie angewurzelt stehen und versicherte ernsthaft, der Teufel halte ihn am Bein fest.
Im Serdarda verkehrten Dichter, Maler und Musiker, B. Krassin, der Bloks „Weidenkätzchen“ vertont hatte, Sergej Bobrow,25 der später mein Debut unterstützte und der in Rasguljaj für einen neu erstandenen russischen Rimbaud gehalten wurde, der Verleger des Mussaget,26 Alexander Koshebatkin und, bei seinen Moskaubesuchen, Sergej Makowskii, der Herausgeber des Apollon.
Ich selbst war durch meinen ehemaligen Ruf als Musiker in den Serdarda-Kreis gelangt. Zu Beginn des Abends improvisierte ich auf dem Klavier das musikalische Porträt jedes Ankömmlings, bis die Gesellschaft versammelt war.
Die kurze Frühlingsnacht war schnell vorüber. Durch das offene Fenster wehte morgendliche Kühle. Ihr Atem bauschte die Gardinen; die Flammen der heruntergebrannten Kerzen zitterten, auf dem Tisch flüsterten Notenblätter und Manuskripte. Und alle gähnten – die Gäste, der Hausherr, die öden Fernen, der graue Himmel, die Zimmer und die Treppen. Wir trennten uns auf den endlos scheinenden breiten, menschenleeren Straßen und überholten die rumpelnden Tonnen der Stadtreinigung. „Kentauren“ nannte sie jemand im Ton der Zeit.
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Um den Verlag Mussaget hatte sich eine Art Akademie gebildet. Zu ihr gehörten Andrej Belyj, Fjodor Stepun, Grigorij Ratschinkisj, Boris Sadowskoj, Emil Mettner, Wladimir Schönrock, Michail Petrowskii, Lew Ellis-Kobylinskij, W.O. Nieländer.27
Gemeinsam mit einer Gruppe enthusiastischer junger Leute befaßten sie sich mit Problemen des Rhythmus, mit der Geschichte der deutschen Romantik, mit russischer Lyrik, mit der Ästhetik Goethes und Wagners, mit Baudelaire und den französischen Symbolisten und mit der Philosophie der Vorsokratiker.
Die Seele all dieser Bemühungen und unbestrittene Autorität war Andrej Belyj. Als hervorragender Lyriker und mehr noch als Verfasser der Symphonien in Prosa und der Romane Die silberne Taube und Petersburg hat er vor der Revolution den literarischen Geschmack jener Zeitgenossen verändert, mit denen die sowjetische Prosa begann.
Andrej Belyj besaß alle Züge eines Genies, das nicht von den Mühen und dem Verdruß des Alltags gezeichnet, nicht beengt ist durch eine Familie oder durch das Unverständnis seiner Nächsten – eines Genies, das sich ins Leere verausgabt und dessen schöpferische Kräfte sich ins Unfruchtbare, ja Zerstörerische verkehren. Dieser Fehler, eine Folge übermäßiger Vergeistigung minderte sein Ansehen nicht, rief vielmehr Teilnahme hervor und fügte seinem Zauber einen Leidenszug bei.
In einem von ihm veranstalteten Kursus ließ er praktische Versuche mit dem klassischen russischen Jambus anstellen. Mit statistischen Methoden wurden die verschiedenen rhythmischen Figuren und Variationsformen analysiert. Ich nahm an den Arbeiten dieses Zirkels nicht teil, weil ich schon damals meinte, daß die Musik der Sprache kein akustisches Phänomen und nicht dasselbe ist wie der Wohlklang der einzelnen Vokale und Konsonanten, sondern in der Wechselwirkung zwischen Bedeutung und Klang des Wortes besteht.
Mitunter traf sich die Jugend des Mussaget statt im Büro des Verlages auch anderswo – etwa im Atelier des Bildhauers Kracht an der Pressnja.
Der obere Teil des Ateliers, eine Art Hängeboden, war Wohnraum. Im unterem, mit Efeu und anderen Pflanzen dekorierten Zimmer schimmerten zwischen dem Grün der Gewächse weiß die Kopien antiker Torsos, Gipsmasken und eigene Plastiken des Künstlers.
Einmal, im Spätherbst, hielt ich in diesem Atelier einen Vortrag über Symbolismus und Unsterblichkeit. Ein Teil meiner Zuhörer saß unten, ein anderer oben und ließ auf dem Boden ausgestreckt, die Köpfe über den Rand des Hängebodens herabhängen.
Ich ging in meinem Vortrag von der Annahme aus, daß alle unsere Wahrnehmungen subjektiv seien und daß, was wir als Töne und Farben in der Natur empfinden, objektiv der Bewegung von Schall- und Lichtwellen entspricht. Mein Hauptgedanke war, daß diese Subjektivität nicht individuell an die einzelne Person gebunden, sondern eine überpersönliche, allgemein menschliche Eigenschaft sei: die Subjektivität der menschlichen Welt, der Gattung Mensch. Ich setzte voraus, daß von jedem Sterblichen ein Teilchen dieser Gattungssubjektivität, die er zu Lebzeiten besaß und durch die er in die Menschheitsgeschichte einbezogen war, ihn überlebt. Ich stellte die Hypothese auf, daß möglicherweise dieser spezifisch subjektive und allgemein menschliche Winkel oder Anteil der Seele der ewige Bereich künstlerischen Wirkens und Hauptinhalt der Kunst sei; daß darüberhinaus das Daseinsglück des natürlich wie alle Menschen sterblichen Künstlers in seinen Werken unsterblich ist und von anderen, die in eigener Form und Intensität seinen ursprünglichen Empfindungen nahekommen, auch noch ein Jahrhundert später erfahren werden kann.
Ich hatte den Vortrag „Symbolismus und Unsterblichkeit“ genannt, weil ich in ihm das bedingt symbolische Wesen aller Kunst behauptete und zwar in jenem umfassend allgemeinen Sinn, wie man etwa von der Symbolik der Algebra spricht.
Das Referat hatte Eindruck gemacht. Man sprach darüber. Ich kehrte erst spät heim. Zu Hause erfuhr ich, daß Tolstoj nach seiner Flucht aus Jasnaja Poljana erkrankt und auf der Bahnstation Astapowo gestorben war.28 Vater war telegraphisch hingerufen worden. Wir besorgten eilig unser Gepäck und begaben uns zum Nachtzug auf den Pawelezker Bahnhof.
Damals war eine Fahrt aus der Stadt hinaus auffallender als heute. Ländliches und Städtisches unterschieden sich stärker. Vom frühen Morgen an und während des ganzen Tages war unser Waggonfenster erfüllt von der grenzenlosen, ebenen Weite brachliegender oder mit Wintersaat bestellter Felder nur selten von kleinen Ortschaften belebt. Es waren die über Tausende von Werst sich hinstreckenden Äcker des bäuerlichen Rußland, das für das kleine städtische Rußland arbeitete und es ernährte. Die ersten Fröste versilberten die Erde, und die Birken an den Wegrändern rahmten sie mit dem Gold ihres späten Laubes ein. Das Silber des Frostes und das Gold der Birken lagen auf der Erde wie ein bescheidener Schmuck, wie Blattgold und Silberfolien auf ihren heiligen und demütigen Altertümern.
Das gepflügte und nun ruhende Land glitt an den Wagenfenstern vorüber und wußte nicht, daß in der Nähe, gar nicht weit entfernt, sein letzter Recke gestorben war, der seiner Abstammung nach sein Zar und durch den Reichtum seines Geistes, der alles Zarte und Feine dieser Welt in sich aufgenommen hatte, Herr der Herren und Glücklichster der Glücklichen hätte sein können, der aber aus Liebe zu diesem Land, aus Gewissenhaftigkeit hinter dem Hakenpflug ging und Hemd und Gürtel eines Bauern trug.
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Es war inzwischen bekannt geworden, daß ein Maler den Verstorbenen zeichnen und der mit Merkurow zusammen eingetroffene Modelleur die Totenmaske abnehmen sollte. Alle Besucher, die Tolstoj die letzte Ehre erweisen wollten, waren gebeten worden, sich zu entfernen. Als wir eintraten, war das Zimmer leer. Aus einer entfernten Ecke eilte die verweinte Sofia Andrejewna auf Vater zu, ergriff seine Hand und stieß mit halberstickter Stimme aus:
Ach, Leonid Ossipowitsch, was habe ich erdulden müssen. Sie wissen, wie sehr ich ihn geliebt habe!
Sie erzählte, daß sie, als Tolstoj fortgegangen war, versucht hatte, sich zu ertränken und kaum noch lebend aus dem Teich gezogen worden war.
Im Zimmer lag ein Berg, riesig wie der Elbrus. Und sie war ein abgelöster Felsteil dieses Berges. Eine Gewitterwolke, groß wie der halbe Himmel, erfüllte das Zimmer, und sie war ein Blitz aus dieser Wolke. Und sie wußte nicht, daß sie das Recht des Felsens und des Blitzes besaß, das Recht zu schweigen und durch Unergründlichkeit zu überwältigen, nicht aber das Recht, sich auf einen Streit mit dem einzulassen, was auf der Welt am wenigsten Tolstoj gemäß war – mit den Tolstojanern –, und sich in einen Zwergenkampf zu verstricken.
Sie wollte sich rechtfertigen; und sie rief meinen Vater zum Zeugen, daß sie an treuer Ergebenheit und Einfühlung ihre Widersacher übertreffe und den Verstorbenen besser behütet hätte als jene. O Gott, dachte ich, wohin kann es mit einem Menschen, mehr noch, mit der Frau Tolstojs kommen!
Seltsam in der Tat! Ein moderner Mensch, der das Duell als veraltet ablehnt, schreibt ein Riesenwerk über Duell und Tod Puschkins.29 Armer Puschkin! Hätte er doch Schtschogoljew und die jüngste Puschkinforschung geheiratet, alles wäre in Ordnung gewesen. Er hätte bis in unsere Tage gelebt, hätte einige Fortsetzungen zum Onegin verfaßt und vielleicht fünf Poltawa-Poeme geschrieben statt eines einzigen. Dabei habe ich immer geglaubt, ich würde aufhören Puschkin zu verstehen, wenn ich für möglich hielte, daß er unser Verständnis nötiger brauche als das von Natalija Nikolajewna.30
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Aber in der Ecke lag kein Berg, sondern ein kleiner verrunzelter Greis – eine jener Greisengestalten, die Tolstoj so oft geschildert hat und die er immer wieder in seinen Werken auftreten ließ. Ringsum standen kleine Tannen. Die sinkende Sonne zerteilte den Raum durch vier schräge Lichtgarben und bekreuzigte die Ecke und den Leichnam mit dem großen Schatten des Fensterkreuzes und den kleinen Kinderkreuzen der jungen Tannen.
Im kleinen Astapowo hatte an jenem Tag der Weltjournalismus sein turbulentes, lärmendes Heerlager aufgeschlagen. Das Bahnhofsrestaurant machte flotte Geschäfte; die Kellner rannten hin und her und hatten Mühe, alle Bestellungen auszuführen; im Laufschritt servierten sie halbrohe Beefsteaks. Bier floß in Strömen.
Die Söhne Ilja und Andrej waren auf dem Bahnhof, als Sergej mit dem Zug ankam, der die sterbliche Hülle des Vaters nach Jasnaja Poljana bringen sollte.
Studenten und junge Leute sangen „Ewiges Gedenken“, trugen den Sarg mit dem Toten über den Bahnhofsplatz, dann durch den Garten zum Bahnsteig, an dem der Zug hielt, und hoben den Sarg in den Gepäckwagen. Die Menge entblößte ihr Haupt, und als der Zug langsam in Richtung Tula davonfuhr, ertönte wieder der Trauergesang.
Es war ganz natürlich, daß Tolstoj seine letzte Ruhe unterwegs gefunden hatte, unterwegs wie ein Pilger, nicht weit von den großen Straßen des damaligen Rußland, auf denen seine Helden und Heldinnen hin- und herreisten und aus den Wagenfenstern den winzigen Bahnhof sahen, ohne zu wissen, daß die Augen, die ein ganzes Leben lang sie beobachtet, mit seinem Blick umfangen, sie verewigt hatten, nun für immer geschlossen waren.
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Wollte man bei jedem Dichter eine Eigenschaft hervorheben – Lermontows Leidenschaftlichkeit etwa, Tjutschews Fülle, das Poetische an Tschechow, das Sinnverwirrende bei Gogol, die Vorstellungskraft Dostojewskijs – welche wäre bei Tolstoj zu nennen?
Die wichtigste Eigenschaft dieses Moralisten und Gleichmachers, Verkünders einer Gesetzlichkeit, die ohne Abschwächung und Ausnahme für alle gelten soll, war seine mit nichts zu vergleichende, ans Paradoxe grenzende Originalität.
In keinem Moment seines Lebens verließ ihn die Fähigkeit, jedes Phänomen in seiner für sich selbst existierenden Endgültigkeit des Augenblicks in erschöpfend klarem Umriß zu sehen, so wie wir es nur ganz selten in der Kindheit vermögen oder auf dem Gipfel eines alles erneuernden Glücks oder im Jubel eines großen geistigen Sieges.
Um so sehen zu können, muß Leidenschaft das Auge leiten, nur sie erhellt durch ihr Aufflammen den Gegenstand, verstärkt seine Sichtbarkeit.
Diese Leidenschaft, die Leidenschaft des schöpferischen Schauens trug Tolstoj in sich. In ihrem Licht sah er alles in seiner uranfänglichen Frische, neu wie zum ersten Mal. Die Authentizität des von ihm Gesehenen unterscheidet sich so von unseren Sehgewohnheiten, daß sie uns fremdartig erscheinen kann. Aber Tolstoj suchte dieses Fremdartige nicht, verfolgte es nicht als Ziel, und noch weniger diente es seinen Werken als künstlerisches Verfahren.
Der im Herbst 1953 erklungene Ruf: „Aufrichtigkeit in der Literatur!“ bildete den Auftakt zum sogenannten Tauwetter, das der sowjetischen Literatur junge, unverbrauchte Kräfte zuführte und älteren Autoren die Möglichkeit gab, wieder zu publizieren. So konnte auch Boris Pasternak einen Vertrag mit dem sowjetischen Staatsverlag über einen Band Ausgewählte Gedichte abschließen. Als Einleitung dazu schrieb er im Mai und Juni 1956 einen autobiographischen Essay, den er zunächst nur „Statt eines Vorworts“ betitelte, später jedoch „Menschen und Situationen“ nannte. Der Essay sollte 1957 als Vorabdruck in der Zeitschrift Nowyj mir erscheinen. Dort erschien er auch, aber erst zehn Jahre später im Januarheft 1967. Dazwischen lagen die Jahre der Verfemung.
Pasternak hat den Essay mehrmals redigiert. Die 1959 unter dem Titel Über mich selbst. Versuch einer Autobiographie erschienene deutsche Übersetzung wurde nach der ersten Fassung besorgt; die jetzt vorgelegte Überarbeitung des Textes richtet sich nach Pasternaks Redaktion letzter Hand (Abdruck in dem Prosaband Wosduschnyje puti [Luftwege] Moskau 1982).
Die Arbeit ist keine Autobiographie im landläufigen Sinne. Sie enthält nur wenig Privates. Pasternak vermied es, konkrete biographische Angaben zu machen und erklärte in einem Brief an Jacqueline de Proyart:
Wann immer jemand über sich selbst spricht, erweckt er den Eindruck, sich, was er ist oder sein könnte, rechtfertigen zu wollen. Erweckt er diesen Eindruck nicht, bedeutet dies, daß er sich verurteilt, daß er bedauert, zu sein, was und wie er ist; er errichtet ein ganzes philosophisches Gebäude, um sich zu verurteilen. Ich will weder das eine noch das andere… Jenes fabulöse Etwas, in dem ich meine Wahrheit ausdrücke, findet sich in meinen Aufsätzen und in meinem Roman.
Den Weg zu dieser Wahrheit umreißt Pasternak in der autobiographischen Skizze und schreibt im Schlußwort, das in der Redaktion letzter Hand gestrichen wurde, er habe dem Leser nur einen Begriff davon geben wollen, wie in seinem persönlichen Fall das Leben in künstlerische Gestaltung überging, und wie diese Gestaltung aus Schicksal und Erfahrung geboren wurde. Mit voller Absicht habe er dabei die Grenzen seines engsten Lebenskreises nicht überschritten.
Der engste Lebenskreis liegt in Malerei, Musik und Dichtung beschlossen. Die politischen und sozialen Probleme berühren diesen Lebenskreis nur am Rande, wirken indirekt aber nicht unmittelbar auf ihn ein. Sie sind offenkundig und bedürfen keiner Erörterung, einige Streiflichter genügen. Wichtig für Pasternaks künstlerischen Werdegang waren Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Vertretern der eigenen Generation, Konfrontationen mit und Lernprozesse an den Vorgängern. Sie ermöglichten dem Heranreifenden, seine eigene, nur ihm bestimmte Aufgabe in der Kunst – und das bedeutete für ihn im Leben – zu erkennen und ihr zu gehorchen.
Als dem sechsundsechzigiährigen Pasternak die Möglichkeit geboten wurde, in einem Band jene im Laufe von Jahrzehnten geschriebenen Gedichte zu veröffentlichen, denen er selbst Gültigkeit zuerkannte, empfand er die Notwendigkeit, Lesern, die nichts oder nur ideologisch Entstelltes von seiner Arbeit wußten, die Epoche nahezubringen, die dem Dichter Pasternak die entscheidenden Impulse für sein Werk, für seine Wahrheit geschenkt hatte.
Dem heutigen Leser, dreißig Jahre später, kann es manchmal scheinen, als sei der eigentliche Held dieser autobiographischen Skizze nicht ihr Autor, sondern das erste Drittel unseres Jahrhunderts mit seinen optimistischen vorwärtsweisenden Illusionen und seinen pessimistischen Schreckvisionen.
Der reife Dichter Pasternak kondensiert die Zeit seines Werdens in einer plastischen, mosaikartigen Bilderfolge von atemberaubender Eindringlichkeit und hoher Subjektivität. Man könnte lyrischen Lakonismus nennen, was in einem Nebensatz, in einer scheinbar beiläufigen Bemerkung die Atmosphäre des Zeitalters heraufbeschwört. Anfänglich schildert Pasternak einschneidende Erlebnisse und Ereignisse aus der Kindheit, dann geht er mehr und mehr zur Porträtierung einzelner Personen und zu allgemeinen Überlegungen über. Ein Kapitel, das in der ersten Fassung nicht enthalten ist und in die Fassung letzter Hand nicht aufgenommen wurde, haben dankenswerterweise die Herausgeber des Buches Luftwege im Kommentar zu der autobiographischen Skizze veröffentlicht, so daß es hier angefügt werden kann. Es gehört zwischen die Kapitel „Vor dem Ersten Weltkrieg“ und „Drei Schatten“:
Meine Schwester – das Leben
1
Lenin, das Unverhoffte seines Kommens aus dem verschlossenen Ausland; seine zündenden Reden; seine frappierende Direktheit, seine fordernde Strenge und sein Ungestüm; die beispiellose Kühnheit seines Appells an die wilde Elementarkraft des Volkes; seine Entschlossenheit, auf nichts Rücksicht zu nehmen, nicht einmal auf den unbeendeten Krieg, und unverzüglich die neue, unerhörte Welt zu schaffen; seine Ungeduld und Kompromißlosigkeit zusammen mit der Schärfe seiner vernichtenden, höhnischen Anklagen verblüfften die nicht mit ihm Einverstandenen, entwaffneten seine Gegner und riefen noch bei den Feinden Entzücken hervor.
2
Wie sehr sich große Revolutionen zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern auch voneinander unterscheiden mögen, eins haben sie im Rückblick miteinander gemeinsam, das sie nachträglich vereint. Sie alle sind seltene historische Ausnahmen oder Sonderfälle in den Annalen der Menschheit, sie fordern von ihr so außerordentliche und zerstörende Kräfte, daß sie sich nicht häufig wiederholen können.
3
Lenin war mit Herz und Sinnen eine dieser so seltenen Ausnahmen, war Gesicht und Stimme des großen russischen Sturms einzigartig und außergewöhnlich. Mit dem Feuer des Genies nahm er ohne Schwanken die Verantwortung für Blut und Zerstörung, wie die Welt sie noch nie erlebt hatte, auf sich, er fürchtete sich nicht, das Volk aufzurufen, an seine geheimsten, sehnlichsten Hoffnungen zu appellieren, er ließ das Meer toben, segnete den Orkan.
4
Menschen, die die schwere Schule der Kränkungen durchlebt hatten mit denen Macht und Reichtum die Notleidenden überschütteten, begriffen die Revolution als Explosion ihres eigenen Zorns, als ihre blutige Rache für lange, viel zu lange Schändung.
Die distanzierten Beobachter – in erster Linie Intellektuelle –, die die Leiden des Volkes nicht erfahren hatten, betrachteten die Revolution, soweit sie mit ihr sympathisierten, durch das Prisma der in den Kriegsjahren herrschenden, ererbten und neu aufgelebten slawophilen, patriotischen Philososphie. Sie faßten den Oktober und den Februar nicht als Gegensätze auf, in ihren Vorstellungen flossen beide Umbrüche zusammen in der einen unteilbaren Großen Russischen Revolution, die Rußland unter den Völkern unsterblich machte, und die in ihren Augen ganz natürlich der gesamten russischen mühseligen und heiligen geistigen Tradition entsprang.
5
Vierzig Jahre sind seitdem vergangen. Aus solcher Ferne vernimmt man keine Stimmen mehr aus der Menge, die sich Tag und Nacht auf sommerlichen Plätzen unter freiem Himmel zusammenfand wie zu einer altertümlichen Volksversammlung. Doch auch aus solcher Entfernung noch sehe ich bis heute diese Versammlungen als stumme Schauspiele oder lebende Bilder.
Zahllose aus dem Schlaf gerissene, die Ohren spitzenden Menschen hielten einander an, strömten zusammen und – wie man in der alten Zeit sagte – „hielten Rat“, dachten laut. Leute aus dem Volk schütteten ihre Herzen aus, redeten über das Wichtigste, darüber wie und wofür man lebt, mit welchen Mitteln die einzig mögliche, menschenwürdige Existenz aufzubauen sei. Der erstaunliche, alles umfassende Aufbruch verwischte die Grenze zwischen Mensch und Natur. In diesem denkwürdigen Sommer 19171 zwischen zwei Revolutionen, schien es, als veranstalteten Straßen, Bäume, Sterne mit den Menschen zusammen Meetings, hielten Reden. Die Luft war durch und durch erfüllt von heißer, tausendwerstweiter Begeisterung, erschien als Person mit Namen, hellseherisch und beseelt.
6
Heute scheint mir, daß die Menschheit im Verlauf langer, ruhiger Epochen unter der Alltagsoberfläche täuschender Ruhe, dem Leben voller Kompromisse mit dem Gewissen, voller Zugeständnisse an die Unwahrheit möglicherweise immer große Vorräte hoher sittlicher Ansprüche versteckt, den Traum von einem anderen, tapfereren, reineren Leben hegt, von ihren eigenen geheimen Absichten jedoch nichts weiß, sie nicht vermutet.
Aber es braucht nur die Standfestigkeit der Gesellschaft ins Wanken zu geraten, es genügt, daß eine elementare Not oder eine militärische Niederlage an der unabänderlich und ewig scheinenden Alltagsfestigkeit rüttelt, und schon reißen sich wie lichte Säulen die geheimen sittlichen Ablagerungen als ein Wunder aus der Erde heraus ans Tageslicht.
Die Menschen wachsen über sich hinaus, wundern sich über sich, erkennen sich nicht mehr, werden zu Helden. Menschen, denen man auf der Straße begegnet, sind keine namenlosen Passanten, sondern Inkarnation oder Repräsentanten des Menschengeschlechts in seiner Gesamtheit. Diese Empfindung des Alltäglichen, auf Schritt und Tritt Beobachteten, das gleichzeitig zu Geschichte wird, diese Empfindung des Ewigen, das auf die Erde herabgestiegen ist und von überallher ins Auge fällt, diese märchenhafte Stimmung versuchte ich damals in dem Gedichtband Meine Schwester – das Leben wiederzugeben.
Boris Pasternak hat zweimal die Geschichte seines Lebens geschrieben. Im Anschluß an seinen Roman Doktor Schiwago entstand der Lebensbericht Über mich selbst, der die autobiographische Ergänzung zu dem großen Alterswerk bildet. Der Dichter bezeichnete diese Selbstdarstellung als die für ihn maßgebliche.
Boris Pasternak beschreibt nicht den äußeren Gang seines Lebens, sondern die Ereignisse und die Personen, die ihn auf seinem Weg als Dichter begleitet und beeinflußt haben. Am Anfang seiner Entwicklung steht die Begegnung mit Tolstoj, den er im Hause seines Vaters, des Malers Leonid Pasternak, zum erstenmal sah.
Inmitten der intellektuellen und künstlerischen Elite Moskaus erlebt Pasternak als Kind die große Stadt des zwanzigsten Jahrhunderts. Damals entstand eine neue Kunst, deren erste Blüte er im Werk Alexander Skrjabins, in der Lyrik Rilkes und in den Gedichten Alexander Bloks bewunderte.
In den Kapiteln „Nach der Iahrhundertwende“ und „Vor dem Ersten Weltkrieg“ sieht der Leser die Generation von 1910, der die russische Literatur einige ihrer größten Namen verdankt, inmitten der geistigen und politischen Umwälzungen sich ihren Platz erobern. Majakowskij, den Pasternak lange Zeit bewunderte, Marina Zwetajewa, große Gestalten, die das Bild der Epoche bestimmten, werden vorgestellt, ihr Werk und ihre Persönlichkeit charakterisiert.
Fischer Taschenbuch Verlag, Klappentext, 1990
[…] Ich besitze ein Exemplar der Anthologie Lirika (Moskau, 1913). Es enthält Gedichte von S. Rajewski, N. Assejew und B. Pasternak. Am Anfang des Teils „B. Pasternak“ steht die Widmung: „Für Serjosha, der mich hier untergebracht hat.“ (Nicht ganz genau, aber sinngemäß.) Dieser Serjosha bin ich. Assejew wurde von Bobrow in dem Lyrik-Band untergebracht.
Boris’ Gedichte wurden nur „unter Stirnrunzeln“ in den Lyrik-Band aufgenommen: wohlwollend und mit halbem Lob von seiten J. Anissimows, wenig wohlwollend von seiten W. Stanewitschs und gleichgültig von seiten A. Sidorows. Bobrow verhielt sich „herablassend“. Von Assejew weiß ich es nicht. Und hinsichtlich Rubanowitschs kann ich mich nicht mehr erinnern. Bobrow, Sidorow, Rubanowitsch und ich waren bereits im Musaget31abgedruckt worden, Rubanowitsch und ich schon in den Wessy (Waage). Im Musaget hatte sich Boris nicht beteiligt.
Im Winter 1912–13 hielt er bei Kracht,32 im „jungen Musaget“, einen Vortrag über „Lyrik und Unsterblichkeit“, bei dem auch E. Medtner war. „Im großen und ganzen“ begriff niemand etwas davon, und man sah mich ein wenig scheel an. (Ich hatte den Vortrag organisiert.)
Boris Leonidowitsch, ja, gewiß, ein hochgebildeter Mann und hat in Marburg gelebt, aber… trotzdem, was hat das hier mit „Lyrik und Unsterblichkeit“ zu tun?
In der Tat war einiges recht kompliziert. Da wurde so etwas wie eine schmale neokantianische Brücke von der „Lyrik“ zur „Unsterblichkeit“ geschlagen, und über diese schwanke Brücke schritt Borja mit vor größter Verlegenheit gerötetem Gesicht in echter „lyrischer Gemütsbewegung“, die unzweifelhaft seine ureigene, pasternakische war, jedoch mit dem Gang des gnoseologisierenden Andrej Bely, der gerade Skrjabins „Poème de l’Extase“ gehört hat.
Medtner – Germanist und Kantianer – zuckte lächelnd mit den Achseln. Dieses Lächeln kannte ich. Es besagte:
Noch recht juvenil!
Die Dichter haben einfach nichts begriffen. Einzig der inzwischen verstorbene S.W. Schönrock ging, sein „gnoseologisches“ Messer zum Aufschneiden von Büchern schwenkend, von dem er sich niemals trennte (es war aus Elfenbein), wie ein Eingeweihter zu Boris hin und unterhielt sich allein mit ihm. An die „Diskussion“ kann ich mich nicht mehr erinnern. Und gab es überhaupt eine? Wenn ja, dann „sagte dieser und jener dieses und jenes“, mehr nicht. Auch war das Referat sehr lang. Mit einer Pause dazwischen.
So lernte eine Gruppe von Leuten aus dem „alten“ Musaget und dem „jungen“ Musaget zum erstenmal Pasternak kennen. Bis zu dem Lyrik-Band waren Borjas Gedichte und sogar, daß er welche schrieb, allen völlig unbekannt. Er hatte sie niemals irgendwo vorgetragen.
Auch seine Familie begegnete seinen „Gedichten“ mit „Mißtrauen“, und niemand maß ihnen irgendwelche Bedeutung bei.
Wir haben uns 1908 kennengelernt, als er noch Schüler am 5. Gymnasium (einem streng humanistischen, mit Griechisch-Unt[erricht]) war, aber bereits in einer höheren Klasse. Beim ersten Mal nahm ich Borjas Gedichte gar nicht für voll.
Sein Vater war Maler, seine Mutter Pianistin. Borjas Zukunft, meinten alle – Verwandte wie Bekannte –, liege auf einem dieser beiden Gebiete. Als Kind zeichnete er. Von seinen Zeichnungen habe ich nie welche gesehen. 1908 spielte er bereits Klavier und schrieb Klavierstücke. Er beschäftigte sich mit Musiktheorie, wahrscheinlich zusammen mit J.D. Engel. Skrjabin war öfter bei den Pasternaks zu Gast, und Borja unterhielt sich dann viel mit ihm. Häufig kam D. Engel zu Besuch. Im Jahre 1909 war Borja von Skrjabin leidenschaftlich begeistert.
Zu Beginn jenes Jahres war folgendes geschehen: Die Russ(ische) Mus(ikalische) Ges(ellschaft) hatte eine ihrer Symphon(ischen) Versammlungen Skrjabin gewidmet. Er war damals gerade aus dem Ausland nach Rußland zurückgekehrt. In diesem Konzert, in dem „l’Extase“ uraufgeführt wurde, spielte er selber eine eigene Sonate. Bei der Probe trat Engel zu Borja und äußerte über das „Poème de l’Extase“: „Das ist das Ende der Musik!“ – „Das ist ihr Anfang!“ rief Boris.
Unentwegt hörten wir Skrjabin. Nach jedem Konzert streiften wir wie Besessene, sozusagen „skrjabiniert“ durch Moskau. Borja begleitete mich vom Adelsklub zur Perewedjonowka. Dabei trug ich ihm meine Gedichte über Skrjabin vor. Nach so einem Konzert überkam es Borja. Es war eine Art lyrische Verzückung, ein endloses Schmachten – die lyrische Hefe gärte in ihm, quälte ihn. Aber nicht das Musikalische ließ sie gehen, wie jetzt klar ist, sondern das Poetische.
Einmal saßen wir im Café am Mjasnizk(ije)-Tor. Wir bestellten Kaffee. Jeder nach seinem Geschmack: nach Warschauer, nach Wiener, nach jeder möglichen Art. Boris aber schwebte in lyrischen Gefilden, und als die Bedienung sich in Erwartung seiner Anweisung, wie der Kaffee serviert werden solle, ostentativ zu ihm herabbeugte, antwortete er so etwas wie:
Für mich nach Marburger Art.
Die Bedienung wurde dadurch in arge Verlegenheit gebracht und servierte einen Kaffee nach ich weiß nicht welcher Art. Boris aber schlürfte den Kaffee vom Löffel, kaute und wußte wahrscheinlich gar nicht so recht, was er da trank: Kaffee, Benediktiner oder Sodawasser. Er war stocknüchtern, hatte jedoch einen lyrischen Rausch.
Bis zu dem Lyrik-Band aber, bis zum Jahre 1912 war eigentlich allen, die Boris kannten, klar, daß er Musiker, daß er ein Komponist werden würde. Engel lobte seine Kompositionen, und auch Skrjabin lobte sie. Die Mutter frohlockte. Ihr Erbteil setzte sich durch. Wir beide versäumten kein einziges Sinfoniekonzert. Von Nikisch war er ganz hingerissen. Sein Vater malte Nikisch.
Oft schlenderten wir gemeinsam durch die Straßen. Einmal kam er ganz schwermütig zu mir. Beim Umherschlendern gelangten wir nach Sokolniki. Er hatte wiederholt Anwandlungen hin und her irrender Sehnsucht. Das Skrjabinsche Sehnen (ein unstillbares!) war ganz nach seinem Herzen. Er verstand es. Er schrieb mir ellenlange Briefe, die voll waren von sehnsüchtigem Aufbegehren, von so etwas wie Übermanntsein durch die Unerfüllbarkeit, die Unaussprechlichkeit, die von vornherein erklärte Unmöglichkeit eines lyrischen Auswegs in die Welt, ins Dasein, in die Begeisterung und eine Art von nackter Verzweiflung. Der lyrische Rausch der Wortsuche war es, der ihm zu Kopf stieg. Wjatscheslaw Iwanow würde sagen, er sei von Dionysos besessen. Und das träfe den Nagel auf den Kopf.
Und ebendort in Sokolniki hieß er mich einmal inmitten alter Kiefern stehenbleiben und sagte:
Sehen Sie doch nur, Serjosha, der Wal da ist gen Sonnenuntergang geschwommen und auf der Untiefe der Kiefern gestrandet.
Das bezog sich auf eine riesige schwere Wolke.
Sterbend ringt der Wal auf den Wipfeln der Kiefern nach Luft.
Doch gleich darauf, ins Leere starrend:
Nein, das ist nicht gut.
Und Bild auf Bild entströmte Borjas Seele. Immer abgerissen, bruchstückweise, in Abständen.
Einmal rief er urplötzlich voller Qual und Schwermut, wobei er die Zähne, so weiß wie die eines Negers, bleckte:
Die Welt, das ist Musik, zu der es Worte zu finden gilt! Es gilt, Worte zu finden!
Vor Verwunderung blieb ich stehen. Ein Musiker müßte eigentlich genau das Gegenteil sagen:
Die Welt, das sind Worte, zu denen es die Musik zu schreiben gilt!
Nur ein Dichter konnte es so ausdrücken wie Borja. Dabei wurde er für einen Musiker gehalten! Seine Worte haben sich mir für immer eingeprägt. Auch der „Wal“ in Sokolniki wurde mir verständlich. Es war der Versuch, eigene Worte zu finden für das ruhige Schwimmen der Wolken und die vorabendliche Musik der Kiefern, die bei Sonnenuntergang metallisch klar und schwermütig rauschten und einander dabei zu übertönen suchten.
Im Jahre 1910 lebte Boris den Sommer über allein in der Wohnung seines Vaters im Gebäude der Schule für Malerei. Er gab Stunden und war im großen und ganzen sich selbst überlassen. Es war Ende Mai und sehr heiß. Ich weiß noch, wir saßen beide auf dem Fensterbrett im dritten Stock und sahen zum weit geöffneten Fenster hinaus auf die Mjasnizkaja, die erfüllt war von sommerlichem Lärm und der wabernden Glut der Fahrbahnen unter dem strahlend blauen Himmel.
Boris begann mir das Sujet eines Werkes zu erläutern und las mir Passagen und Sätze daraus vor, die auf losen Blättern flüchtig skizziert waren. Sie machten den Eindruck von Bruchstücken ungeschriebener „Sinfonien“ Andrej Belys, wirkten jedoch ungestümer und männlicher. Bely ist weiblich, Boris männlich.
Der Held hieß Reliquimini.
Er war nicht weniger merkwürdig als sein Name, und der – was Boris besonders befriedigte – war klassisch: geradewegs aus dem 5. Gymnasium. Da gibt es so ein den Gymnasiasten besonders unangenehmes unregelmäßiges Verb: reliquor, relictus sum, reliqui. Wenn man dieses reliquor konjugiert, lautet die 2. Person Plural Präsens reliquimini.
Boris hatte damals noch vor allen Futuristen (die 1913 wie Pilze aus dem Boden schossen) bereits eine besondere Neigung zu ausgeklügelten Klängen und Wörtern, und ich glaube, es machte ihm Vergnügen, daß sein Held nicht nur litt, sondern sich auch konjugieren ließ.
Ein anderer Held war ein zweiter Alexander der Große. Reliquimini trieb sich auf den Straßen herum – er schmachtete bei Sonnenuntergang und suchte nach Walen, die sich schwerfällig auf den Nadeln von Sokolniki-Kiefern niederlassen. Im Grunde genommen gab es in diesen Bruchstücken wie auch jetzt in seinen Novellen und Erzählungen gar keinen „Helden“. Der war Borja Pasternak.
Reliquimini verschmolz für mich mit den Briefen an mich: den gleichen „Worten“ zu von Boris gehörter unbestimmbarer Musik. (Wo sind diese Briefe geblieben? Wahrscheinlich haben sie die Wirren meines bunten und fruchtlosen Lebens nicht heil überstanden.)
Ich weiß noch, daß mich damals eine Szene in diesem Chaos „Reliquimini“ stark beeindruckt hat. Reliquimini geht durch die Nikolskaja. Eine Ecke der Kasaner Kathedrale. Es ist Frühling, aber er bemerkt es nicht. Es ist warm und sonnig, aber in seinem Herzen ist es nicht warm und sonnig, sondern eher mondig, vielleicht auch windig und womöglich auch wolkig. Lärmend ergießt sich die Straße auf einen Platz. Gesenkten Kopfes wandelt Reliquimini dahin. Plötzlich erblickt er auf dem nassen Asphalt des Gehsteigs eine lebhafte kleine grüne Eidechse; wie ein lebendiger Smaragd mit diamantenen Facetten windet sie sich, zuckt mit dem Schwanz, schlängelt sich, eidechst, und die Sonne spielt mit ihren Strahlen in den Diamanten und Smaragden. An dieser Eidechse erkennt Reliquimini, daß Frühling ist. Auf ihrem Rücken gewahrt er die Sonne und – hebt den Kopf: „Frühling!“ Die Eidechse aber hat ein Straßenjunge, der Spielzeug verkauft, an einer Schnur über den Gehsteig laufen lassen. Die Eidechse besteht aus Blech, ist grün angestrichen und kostet zehn Kopeken.
Frühling angesichts einer Eidechse, pars pro toto – das hat mich in Boris’ Bruchstück beeindruckt, und ich habe ihm erklärt, ich wisse zwar nicht, was weiter aus ihm werden und was er machen würde, aber das hier sei wunderschön, das sei Poesie, Dichtung so lauter und pur wie ein Stück Gold.
Darüber schreibt auch Pasternak 1928:
Da war ein Mann,33 S.N. Durylin, der mich damals schon mit seinem Gutheißen unterstützte.
Das stimmt. Und es stimmt wohl auch, daß dieser Jemand damals der einzige war. Ich weiß nicht, wem noch Boris damals (in den Jahren 1909 bis 1911) seine anfangs in Prosa – „Reliquimini“ war Prosa –, später in Gedichtform geschriebenen Fragmente vorgelesen und ob er sie überhaupt vorgelesen hat; ich glaube, nicht (es sei denn Ida Wyssozkaja, in die er verliebt war; er gab ihr Stunden und zog auch mich dazu heran; ich war ihr bei russischer Lyrik behilflich), doch als bei den Pasternaks zu Hause bekannt wurde, daß Borja schrieb und die Musik vernachlässigte, herrschte dort große Unzufriedenheit.
Im Jahre 1911, als wir auf dem Fensterbrett saßen, wurde es absolut klar. Papa Pasternak war unzufrieden, Mama Pasternak war unzufrieden; äußerst reserviert stand Borjas Schriftstellerei auch sein einziger Bruder, der tüchtige und musterhafte Schura, gegenüber (heute Architekt, damals noch Schüler des 5. Gymnasiums, der in einer Schüleraufführung der Tragödie des Sophokles die Antigone in griechischer Sprache gespielt hat).
J.D. Engel, ein Freund der Familie, äußerte sein Bedauern darüber, daß Borja die Musik aufgab, und brachte Borjas „Versuchen“ unverhohlene Skepsis entgegen. Nicht 1910, sondern 1917 – also sieben Jahre später! – schüttelte ein anderer Freund der Familie Pasternak, P.D. Ettinger, als wir uns einmal bei Sidorow begegneten, bekümmert den Kopf:
Ach der Borja! Schreibt immer nur – „Die Intonation fährt fort“ – futuristischen Unsinn.
Ich schwieg dazu.
Verstehen Sie, was er schreibt? „Die Intonation fährt fort“: Das kann man doch gar nicht verstehen. Und zu welchen Hoffnungen hat er mal berechtigt! Skrjabin hat wiederholt gesagt, daß…
Gewiß, Skrjabin hat gesagt, daß Boris einmal ein bedeutender Komponist werden würde. Unbestreitbar hat er das gesagt.
Fragmente, Passagen, Bruchstücke hat mir Boris viele vorgelesen. Kein einziges davon hat mich je befriedigt, aber ich habe immer geglaubt, daß… Hier ein Gespräch mit J. Anissimow:
Er: „Borja versteht nicht, Zeilen zu einem Gedicht zusammenzufügen. Bei ihm herrscht eine Hypertrophie der Bilder.“
Ich: „Bei ihm herrscht Chaos. Aber er sucht immer nach dem vollkommenen Bild. Er will den Kosmos seiner Poesie die Poesie im eigentlichen Sinne ist, aus dem Chaos errichten. Das ist wie im Universum: ,Aus Chaos,34 dem gebärenden, sieh da, sieh da, ein Stern…‘ Wir aber errichten unsere kleinen Kosmosse, doch unter ihnen brodelt kein Chaos.“35
Ich habe daran geglaubt, daß Boris’ Poesie kosmisch wird. (Kosmos bedeutet im Griechischen sowohl Welt als auch Schmuck.) Und daß aus dem Chaos das Gold eines Sterns gegossen wird. Lauteres, glänzendes und edles Gold. Das ist bis heute nicht geschehen. Und das Gold des Sterns jagt immer noch als geschmolzene Partikel in den Massen des nebelhaften Chaos, im brodelnden Äther dahin. Doch um der goldenen, wahrhaft goldenen Partikel willen, mit denen das Chaos schwanger geht, habe ich auch die Bruchstücke dieses Chaos geliebt und – darauf bestanden, daß man Boris in dem „Lyrik“-Band abdruckte. Es ist wahr, daß ich ihn dort eingeführt und untergebracht habe.
Im Frühjahr 1913 war der Band Lirika erschienen. Auf der Swjataja traf ich N.K. Medtner.36 Noch vor allen anderen Beteiligten hatte man ihm ein Exemplar der Anthologie zugeschickt. Er begrüßte mich freundlich wie immer, lobte meinen „Serafim Sarowski“ und beklagte sich darüber, daß die Anthologie durch Pasternak verhunzt worden sei. Er hatte ihn nicht einmal verstanden, seufzte und entrüstete sich gutmütig, aber entschieden:
Was soll das? Verstehen Sie irgend etwas davon?
Ich blieb die Antwort schuldig. Und ich muß gestehen, ich schaute den großen Komponisten wie schuldbewußt an. Wie konnte ich ihm denn all das klarmachen, was ich auf dem Fensterbrett in Sokolniki und in der Nikolskaja bei Reliquimini empfunden hatte!? Aus den Augen von Sofja Karlowna, N(ikolai) K(arlowitsch)s Schwester, sprach Vorwurf. So sagte ich denn auch nichts. Habe aber Borja gegenüber ein schlechtes Gewissen.
Im Jahre 1927 traf ich ihn in einem Konzert von N. K. Medtner nach fünf Jahren zum erstenmal wieder, und seine ersten Worte waren:
Serjosha, Sie waren es, der mich in die Literatur eingeführt hat.
Das waren die Dankesworte eines Menschen, der sich freut, daß er da ist, wo er jetzt ist, weil er da am richtigen Platz steht.
Das hat er jetzt auch geschrieben.
Das tun heutzutage nicht viele, ja fast niemand.
Seine Novelle habe ich noch nicht gelesen, die Nr. 8 der Swesda (Der Stern) habe ich nicht gesehen, und ich weiß nur, was ich den Briefen entnommen habe.
Doch wie teuer ist mir diese Erinnerung, diese Liebe, diese offene und ehrliche Dankbarkeit.
Sergej Durylin, aus Erinnerungen an Boris Pasternak, herausgegeben von Franziska Thun, Aufbau Verlag, 1994
Übersetzung Dieter Pommerenke
– Text einer im Jahr 1969 am Internationalen Kongress Poésie vivante in Charleroi gehaltenen Rede. –
In der Januar-Nummer von 1968 der Zeitschrift Inostrannaya Literatura (Ausländische Literatur) beginnt Andrej Vosnessensky seine Rezension eines neuen Taschenbuches von Pasternak mit diesen Worten:
Ein einziges Wort von ihm sagt mehr aus als ein Schwall von Worten über ihn. Sie wollen Pasternak kennenlernen? Lesen Sie ihn! Warum Hunderte von nebensächlichen Tatsachen anhäufen anstatt das Einmalige, vom Dichter Ausgewählte zu lesen? Das ist, wie wenn man die großen Scheine der Algebra mit dem Kleingeld der Rechenoperation vertauschen würde.
Ich bin ganz seiner Meinung. Seine Worte erinnern an Marina Zwetajewa, diese große russische Dichterin und Zeitgenossin Pasternaks, die in den 20er Jahren in einem hervorragenden Essay mit dem Titel „Lichtregen“ über ihn schreibt. Ich zitiere:
Wer hat in letzter Zeit von der Natur gesprochen? Tatsächlich niemand. Man sprach viel und bewundernswert (vor allem Achmatova) über das Ich in der Natur; die Natur in den Hintergrund drängend sprach man von der Natur im „Ich“ (vergleichend, verglichen mit); man sprach von Ereignissen in der Natur, von ihren Bildern und besonderen Momenten. Aber alle schrieben sie „über“, wenn auch gekonnt. Nicht ein einziger unter ihnen hat die Natur selbst wahrgenommen, direkt, Nase an Nase. Und jetzt, plötzlich, Pasternak!… Und man fragt sich, wer von den beiden wirklich den anderen wahrnimmt?
All dies wird Sie vielleicht etwas verwirren. Es geht darum, daß Vosnessensky und Zwetajewa auf eine Charakteristik hinweisen, nicht nur bei Pasternak, sondern bei jedem lebendigen und spontanen Schöpfer höheren Ranges. Es geht in Wirklichkeit um die unvermeidbare Verschiebung des Akzents weg vom Präpositionalobjekt (entsprechend dem Ablativ im Latein), das die Kritiker verwenden, wenn sie „über“ etwas schreiben, hin zum Akkusativobjekt. Und da, sagt Zwetajewa, geschieht es oft, daß das Objekt, „das Akkusative“, sich plötzlich zum Subjekt des Gedichts wandelt, sich selbst schreibt, die Arbeit des Autors übernimmt und ihn interpretiert. Das Essay von Zwetajewa, wie auch dasjenige von Vosnessensky, enthält zahlreiche Zitate aus dem Werk Pasternaks, da auch sie nicht „über“ etwas schreibt. Sie erlaubt dem Objekt ihres Essays dessen Subjekt zu werden und seine Worte und Ausrufe voller Begeisterung zu erhellen.
Pasternak erzählt in seiner autobiographischen Skizze, wie er anfing, Verse zu komponieren:
… nicht vereinzelt, sondern ohne Unterbrechung in einem Zug, wie man malt oder komponiert.
Der Autor sagt:
Eine innere Notwendigkeit drängte mich, diese Verse niederzuschreiben, durchzustreichen und wiederherzustellen; und ich fühlte ein unbeschreibliches Glück dabei, das mich zu Tränen rührte.
Ich gab mir Mühe, alle romantischen Übersteigerungen und alle Effekthascherei durch Nebensächlichkeiten zu vermeiden. Ich wollte diese Verse nicht vom Podium herabdonnern, um Intellektuelle aus der Fassung zu bringen und unwillig ausrufen zu hören: „Dekadentes Zeug! Barbarisch!“ Ich hatte weder das Bedürfnis, von ihrer bescheidenen Eleganz Fliegen krepieren und Professorengattinnen in Ohnmacht fallen zu sehen, noch nach dem Vortrag im Kreise von sechs oder sieben Verehrern zu hören:
„Gestatten Sie, das ich Ihnen zum Zeichen meiner Bewunderung die Hand drücke.“ Ich legte keinen Wert auf pointierten Rhythmus wie im Tanz oder wie im Lied, der fast ohne Zutun der Worte, Arme und Beine wie von selbst in Bewegung setzt. Ich drückte nicht aus, ich spiegelte nichts wider, ich stellte nichts dar.
… Meine Sorge galt im Gegenteil ständig dem Gehalt. Mein dauernder Wunsch war, daß das Gedicht selber etwas Wesentliches enthalte, einen neuen Gedanken oder ein neues Bild. Es sollte mit allen seinen Eigentümlichkeiten in das Buch eingegraben sein und aus den Seiten durch sein Schweigen reden, durch alle Farben seiner schwarzen, farblosen Erscheinung.
So schrieb ich zum Beispiel ein Gedicht „Venedig“ und ein anderes mit dem Titel „Bahnhof“. Vor mir sah ich die Stadt über dem Wasser; die Kreise und Achten ihrer Spiegelungen wogten, vervielfältigten sich und quollen auf wie Zwieback im Tee. Oder weit fort, ganz am Ende der Geleise und Bahnsteige erhob sich zwischen Wolken und Rauch der Horizont des Abschieds, hinter dem die Züge verschwanden, der die Geschichte menschlicher Beziehungen umschließt, Willkommen und Lebewohl, das Vorher und das Nachher.
Ich verlangte weder von mir, noch vom Leser, noch von der Kunsttheorie etwas. Das eine Gedicht sollte die Stadt Venedig enthalten, das andere den Brester Bahnhof, der heute Weissrussisch-Baltischer Bahnhof heißt. Allein das war maßgeblich.37
Ich möchte noch etwas hinzufügen, das den Akt des Schreibens eines Gedichtes betrifft. Es ist ein Teil der unvergeßlichen nächtlichen Szene in Warykino, als Yurij Schiwago überarbeitete Versionen von „Stern der Geburt“, „Winternacht“ und andere Gedichte niederschreibt und er etwas Neues beginnt.
Nachdem er zwei oder drei leicht dahinfliessende Strophen geschrieben hatte mit einigen Metaphern, die ihn selbst erstaunten, ergriff seine Arbeit von ihm Besitz, und er fühlte die Nähe dessen, was man Inspiration nennt: das gewohnte Verhältnis der Kräfte, die bei dem schöpferischen Vorgang zusammenwirken, scheint sich in sein Gegenteil zu verkehren. Den Vorrang hat nun nicht mehr der Mensch und sein Seelenzustand, für den nach einem Ausdruck gerungen wird, sondern die Sprache, in der er diesen zum Ausdruck bringen will. Die Sprache, diese Heimat der Schönheit und des Sinnes, beginnt selber zu denken und für den Menschen zu sprechen und wird Musik, nicht durch äußerlich hörbare Laute, sondern durch den Schwung und die Macht ihres inneren Sich-Verströmens. Dann findet, ähnlich der ungeheuren, rauschenden Masse eines Stromes, der durch seine Bewegung die Steine am Grunde abschleift und der die Räder der Mühlen treibt, die dahintrömende Sprache von selbst, kraft ihrer inneren Gesetze Rhythmus und Reim; und tausend Formen, tausend unbekannte Figuren der Sprache entstehen, von niemandem gewußt bis dahin und von niemandem geahnt.
In solchen Augenblicken empfand Jurij Andreitsch, daß nicht mehr er selber es war, der die Arbeit verrichtete, sondern das, was höher war als er und ihn lenkte: der universelle Weltgeist und die Weltpoesie, ihre Zukunft und jener nächste Schritt, der getan werden muß, damit sich ihre Entwicklung in jedem Augenblick der Geschichte vollendet und dennoch – dauern fortschreitet. Er selbst fühlte sich lediglich als Anlaß und Hebelpunkt, damit sie diese Bewegung versetzt wird.
Phantasievolle und umsichtige Forscher schrieben viel über den Symbolismus in Pasternaks Werk, nicht nur in seinen Romanen, sondern auch in seinen Gedichten. Sie haben beharrliche und gelehrte Forschungsarbeiten durchgeführt, tasteten durch ein Labyrinth von Unmöglichkeiten nach Erklärungen, die aufzeigen sollten, was Pasternak mit dieser Wendung oder jenem Bild im Geheimen beabsichtigt hatte. Obwohl sehr unterhaltsam, hat dies meiner Meinung nach nicht viel mit meinem Bruder zu tun. Pasternak war vor allem Realist. Seine Leser nur mit Vermutungen abzuspeisen; zu verdunkeln und hinter Symbolen zu verstecken, was er kundtun wollte, war seinem Charakter fremd. Es stimmt, daß trotz seiner Bemühungen zu größter Einfachheit hin, seine ersten Gedichte alles andere als einfach sind. Doch nur aus dem Grund, da sie ihm selbst klar und rein erschienen.
Es kostete ihn viele Jahre, um seine Perspektiven anzupassen, auf ein allgemein verständlicheres Niveau herabzusteigen und zu einer klaren und für alle annehmbaren Einfachheit zu gelangen. Für diejenigen, die das Werk Pasternaks studierten, blieb es trotzdem nicht dabei. Je klarer ein Gedicht war, desto mehr zerbrachen sie sich den Kopf darüber, kehrten es um wie einen Handschuh, um ihm entsprechend ihrer eigenen Phantasie eine Bedeutung zu verleihen. Dies ist der Unterschied zwischen einem Kritiker, einem Forscher und einem wirklichen Künstler, einem Dichter. Der Kritiker analysiert, zergliedert, stellt Vermutungen an und erfindet, entwickelt mehrere Möglichkeiten und wählt schließlich, was ihm am ehesten zusagt. Der Künstler, der Dichter hat keine Wahl. Er ist es, der gewählt wird. Er ist genötigt, kundzutun, wozu ihn Gott oder die Natur oder die Inspiration oder welchen Namen man dieser mysteriösen Macht geben will, zwingt, ob er will oder nicht.
In einer Würdigung von Chopin stellt Pasternak den Realismus der Romantik eines Kunstwerks gegenüber, und er sagt:
Der Realismus scheint nicht in einer deutlichen Tendenz, sondern in einer besonderen Konzentration der Kunst, in einem höchsten Grad von künstlerischer Präzision, zu bestehen… in einem solch entscheidendem Maß von kreativen Details, die weder generelle Regeln der Ästhetik vom Künstler noch das zeitgenössische Publikum fordern. An diesem Punkt hält die Kunst der Romantik inne und gibt sich zufrieden… Für den Realisten ist es etwas ganz anderes. Seine Arbeit ist sein Kreuz und sein Schicksal. Er kann sich weder seiner Phantasie noch seinem Eigensinn überlassen. Wie könnte er Zeit für Spielereien haben, er, das Spielzeug seines eigenen Schicksals?
Bedenken wir zuerst, wie der Mensch zu einem Realisten wird. Wie wird er geschaffen? Meiner Meinung nach durch die Sensibilität und Empfänglichkeit seiner frühesten Jugend und durch die Geburt eines menschlichen Gewissens. Nur diese zwei Kräfte drängen ihn zu dieser Arbeit, was der Künstler der Romantik weder wahrnimmt noch als notwendig erachtet. Es sind seine eigenen Erinnerungen, die ihn zu den technischen Entdeckungen führen, die für ihre Wiedergabe notwendig sind. Meiner Meinung nach entsteht die realistische Kunst aus dem tiefen Eindruck, den das Leben im Dichter hinterläßt und der sich zum Hauptziel seines Werks wandelt, ihn zwingt, erfinderisch und originell zu sein… Sein Werk ist vollends originell, nicht weil er sich von seinen Zeitgenossen absondert, sondern weil er sich der Natur, seinem Modell, so sehr nähert. Sein Werk ist immer autobiographisch, nicht weil er egozentrisch ist, sondern weil er sein eigenes Leben als Behelf für das Erkennen allen Lebens auf der Erde hält.
Eine der wichtigsten Wesenszüge in der Kunst Pasternaks ist, daß er sich mit jedem menschlichen Leben identifiziert, daß er die Schönheit und Frische des Lebens überall sieht und darstellt – sogar in den unbelebten Dingen und in den banalsten Situationen und Details. An anderer Stelle sagt er:
In gewissen Zirkeln dachte man, daß die Kunst wie ein Brunnen sei, wo sie doch wie ein Schwamm ist. Man beschloß, daß die Kunst emporschießen muß, wohingegen sie absorbieren und durchtränken sollte. Man legte fest, daß die Kunst in verschiedene Methoden der Wiedergabe unterteilt werden kann, während sie in Wirklichkeit von den Wahrnehmungsorganen bestimmt wird.
Und weiter:
Durch ihr sensibles Gehör sucht die Dichtung im Lärm der Wörterbücher die Melodie in der Natur, und sie entdeckt diese Musik, wie man ein musikalisches Thema entdeckt, und beginnt über dieses Thema zu improvisieren. Durch dieses Improvisieren begegnet die Dichtung der Natur.
Als Sohn zweier Künstler, eines impressionistische Malers und einer großen Malers und einer groß seinen Gedichten nicht nur eine größere Rolle, sie ist selbst diese Dichtung. Ich erinnere mich gut, wie wir als Kinder nicht einschlafen konnten, da wir durch die Improvisationen meines Bruders im Nebenzimmer aufgewühlt und zu Tränen gerührt waren. Jedesmal, wenn er inspiriert war, unruhig oder unglücklich war, drückte er seine Gefühle in Musik aus, die begleitet wurde von seinen Seufzern und leisem Gesang. Erst viel später begann er, diese Musik in Worten, in Gedichten auszudrücken.
In England ist es Brauch unter den großen und kleinen Dichtern, Gedichte ohne jede formale Disziplin zu schreiben: ohne Regeln der Prosodie, ohne Meter, ohne Reim, sogar ohne Rhythmus. Die modernen Dichter kommen ohne aus. Die Dichtung mit Reimen und Rhythmus wird oft als überholt eingeschätzt; man verachtet sie und nennt sie eine ,alte Leier‘. In Rußland ist es nicht so. Die Gedichte meines Bruders sind ohne Ausnahme vollends rhythmisch und hauptsächlich in einem klassischen Meter komponiert. In einem Brief an die New York Times zu diesem Thema, bemerkte ich, daß „Pasternak, wie auch der revolutionärste russische Dichter, Majakowsky, in seinem ganzen Leben nie einen Vers ohne Rhythmus geschrieben hat, und dies nicht wegen einer pedantischen Bindung an überholte Regeln, sondern aufgrund eines Gefühls für Rhythmus und Harmonie – eine ihm angeborene Qualität, die ihn daran hinderte, auf andere Art zu schreiben.“ Die Frage des Reims ist von geringerer Bedeutung, wobei es auch hier mein Bruder natürlicher fand, Reime zu verwenden, als sie wegzulassen.
1917 vollendete Pasternak seinen dritten Gedichtband mit dem Titel Meine Schwester, das Leben. Die junge Generation mondäner Literaten war außer sich. Es war keine Massenhysterie, diese Begeisterung war etwas anderes. Jeder Leser erkannte selbst, daß diese Gedichte das Aufleuchten eines wahren Dichters waren, eines von Gott begnadeten Dichters. Einige hatten es bereits in den zwei vorhergehenden Gedichtbänden erkannt, aber Meine Schwester, das Leben bestätigte und verstärkte ihre Gefühle von Glück und Dankbarkeit. Dieses Buch enthält beinahe kein einziges Gedicht, das nicht von größter Bedeutung wäre. Wie ich schon erwähnte, waren einige dieser Gedichte eher schwer verständlich, schwierig zu erklären oder sogar zu verstehen. In ihrer revolutionären Konstruktion waren sie aufgrund der wenig poetischen Wahl der Sujets, der Metaphern, unvollendeten Sätze, Assonanzen und Halbreimen außergewöhnlich und von paradoxer Dringlichkeit. Es war nicht erstaunlich, daß eine ältere Generation daran Anstoß nahm und erschüttert war, daß sie nicht verstand, worum es sich handelte, und sie vergebens versuchte, den grenzenlosen Enthusiasmus der Anhänger Pasternaks nachzuvollziehen. Die irreale Atmosphäre seiner Dichtung störte und beleidigte sie. Ich muß zugeben, daß einige dieser ersten Gedichte zu rätselhaft waren, zu kompliziert, daß sie in ein brillantes Gemisch von Klang und Wort ausbrachen, daß Pasternak zu wenig um Einfachheit, Ordnung und Präzision bemüht war. Aus diesem Grund sowie wegen ihrer Verbindung mit der Zeit und dem Milieu, in welchen sie komponiert wurden, verwarf Pasternak später viele davon. Es wäre aber trotzdem unangebracht, ihre impressionistische Kraft, ihre sofortige Wirkung und Bedeutung für die Zukunft zu verneinen. Bald schon wurden diese Gedichte zu klassischen Modellen, zu einer Quelle der russischen Dichtung von heute. Und die Gedichte aus der letzten Epoche, die einzigen, die er ohne Einschränkung akzeptieren konnte, sind in ihrer großen biblischen Einfachheit und ihrer Entsagung ohne diese Anfänge undenkbar. Sie sind durchtränkt vom selben Geist der Jugend und von Frische, von derselben unbewußten Qualität. Wie schon zuvor liegen ihre hauptsächlichen Qualitäten in ihrer Harmonie und ihren lebendigen Bildern. Pasternak begnügt sich nicht damit, den Flieder nach dem Gewitter zu zeichnen. Der Baum selbst mit all seinen purpurfarbenen Trauben entsteht in seinen Gedichten, man spürt ihn und man sieht ihn, wie er die kühle und gereinigte Luft trinkt.
Es wäre jetzt logisch, die Diskussion über die Gedichte Pasternaks zu beenden und sie für sich selbst sprechen zu lassen. Aber leider sind sie in russisch geschrieben und diese Sprache ist im Westen noch nicht genügend bekannt.
Man muß also erneut die schwierige Frage aufwerfen: Kann man Gedichte übersetzen, ohne sie zu zerstören? Wenn ja, wie kann man erreichen, daß ihnen so wenig Schaden wie möglich zugefügt wird? Jeder Übersetzer hält an seinen bevorzugten Theorien fest. Hier sind die meinen: Man muß aus einer Übersetzung ein erkennbares, vom Original inspiriertes Portrait (in gewissen Fällen ein Klangportrait) erstellen; man muß das Original in einem anderen Milieu, in einer anderen Sprache neu erschaffen. Daher muß der Übersetzer selbst Dichter und Schöpfer sein. Das dies jedoch noch nicht ausreicht, mußte ich anhand mehrerer von namhaften Dichtern übersetzten Beispiele erkennen; ihre Übersetzungen können in sich ausgezeichnete Gedichte sein; aber wie sie auch immer sie präsentiert werden: als Übersetzungen, als Adaptationen oder Imitationen, erkannte ich in ihnen nie Pasternak: aus einem einfachen Grund – sie klangen nicht wie die Original-Gedichte. Der Übersetzer-Dichter darf seiner Inspiration nicht freien Lauf lassen; er muß seine Persönlichkeit der des Dichters unterordnen, wie ein guter Schauspieler, der sich dem Helden, dessen Rolle er spielt, unterordnet. Das bedingt, daß man bescheiden und ehrlich ist. Vor dem Übersetzen eines Gedichts, muß man es sich so perfekt einverleiben, daß man unbewußt auf derselben Wellenlänge wie das Original zu vibrieren beginnt. Je mehr die Art des Schreibens des Übersetzers, seine Phantasie und seine Mentalität denen des Dichters, den er übersetzt, gleichen, desto leichter wird es ihm fallen, sie in eine organische Einheit, in eine glückliche und exakte Übersetzung, die treu das Original neu erschafft, zu vereinen. Die Gedichte meines Bruders sind die Folge seiner Improvisationen auf dem Klavier. Es ist Musik auf einem anderen Instrument gespielt. Der Rhythmus und die Melodie sind wesentliche Elemente einer musikalischen Komposition; die Gedichte Pasternaks zu übersetzen, ohne ihren Rhythmus und die Melodie zu bewahren, ist für mich gleichbedeutend, wie sie überhaupt nicht zu übersetzen. Dies ist nicht unbedingt anwendbar auf das Übersetzen jeden Dichters, noch jeden Gedichts, aber was die lyrische Poesie angeht, muß man vor allem den Klang bewahren. (Ich war glücklich festzustellen, daß mein Bruder dasselbe dachte, als er Rilke übersetzte: Er unterstrich, wie wichtig es ist, den Klang eines Gedichts wiederzugeben. Der Klang ist noch wichtiger als die Bedeutung. Er sagt: „Bei Rilke ist der Klang alles.“) Während ich exakt den Rhythmus und die Metra meines Bruders wiedergab, war ich weniger um die Reime und Assonanzen besorgt. Daß ich die Reime nicht vollständig wiedergab, war bedingt durch die Schwierigkeit, den Rhythmus, die Melodie und den Inhalt eines Gedichts zu bewahren, wie ich es wollte, während ich eine künstliche Ausdrucksweise vermied – eine große Sünde, die in vielen Übersetzungen aus dem Russischen begangen wird.
Lydia Pasternak Slater, aus Paul J. Mark (Hrsg.): Die Familie Pasternak. Erinnerungen, Berichte, Aufsätze, Königshausen & Neumann Verlag, 1975
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Boris Pasternak
Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa
Flg.: Ein Dichter in der Sjetsch
Die Tat, 10.2.1960
Heinz Schewe: Boris Pasternaks 70. Geburtstag
Boris Pasternak – Dokumentarfilm Teil 1/2.
Boris Pasternak – Dokumentarfilm Teil 2/2.
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