Wenn die Menschheit das Rad verwirft
zugunsten von Stelzen,
wenn das Dezimalsystem ausstirbt,
Synchrophasotrone in Schrottiegeln
schmelzen,
wird sie Puschkin kennen
mit vollem Namen.
Ich wählte den besten Beruf,
in ihm altert das Schlechte
unterm Stift,
und das Gute
ist im zwanzigsten Jahrhundert
nicht schlechter als zwanzig Jahrhunderte
vor jener Wende der Zeiten.
Wenn sich die Menschheit von Händen und Augen
lossagt, von Mut und Liebe,
wird sie sich auch von uns lossagen
und Puschkin.
Übersetzung Richard Pietraß
Fast sechzigjährig – er wurde am 7. Mai 1919 geboren –, publiziert Boris Sluzki seine Gedichte in der Literaturzeitschrift für die Jugend Junost, deren Auflagenhöhe die zweieinhalb Millionen überschreitet. Zugegeben, er genießt nicht den spektakulären Ruhm eines Jewgeni Jewtuschenko, er hält keine Dichterlesungen vor einem mehrtausendköpfigen Auditorium. „Ich erkenne für mich nur eine Art an, Gedichte zu erfassen – das Lesen“, schreibt er. Sluzkis Dichtung ist einfach und herb, er ist ein Lyriker der verhaltenen Geste, einer, der keine Effekthascherei und aufgesetzten Modernismen mag.
Es ist vor allem der zeitgemäße und aktuelle Inhalt, der seine Gedichte zeitgemäß und aktuell macht. Sluzki reagiert feinfühlig auf alles, was in der Welt und unmittelbar um ihn herum vor sich geht, sein sittlicher Grundton, sein Autorenstandpunkt sind überraschend jung. Dem jugendlichen Leser imponiert auch Sluzkis Hellhörigkeit für das Neue in der Umgangssprache, die seinem dichterischen Wortschatz zugrunde liegt.
Jedes Gedicht von Sluzki ist ein offenherziges, vertrauliches Gespräch mit seinem Zeitgenossen, an dessen Verstand und Gefühl er sich wendet. Meist ist es eine kleine, bis zum äußersten verdichtete Erzählung – wie der Dichter schreibt, im Umfang von „zwanzig Zeilen plus-minus zehn“ – etwa darüber, wie er an der Front in die Partei aufgenommen wurde, wie er Brecht übertrug, wie er an der Abendschule unterrichtete.
Seine Gedichte setzen sich häufig aus einer Folge sich wechselseitig kontrastierender und aufeinanderprallender Fakten zusammen, woraus Dynamik und innere Spannung resultieren. So beginnt beispielsweise das Gedicht „Ich übertrage Brecht“ mit einer Klage über die Schwierigkeit, den „ungefügen“ Brechtschen Vers mit seiner unmelodischen Phonetik nachzudichten. Die Klage wechselt mit Bewunderung der unumstößlichen Brechtschen Logik, die er in die Worte „Hegel plus Kant“ faßt und so Pathetik mit einem Scherz umgeht. Nun folgt eine jähe Wendung – es werden die Vorzüge des Brechtschen Gedichts aufgeführt, die das anfänglich Gesagte widerlegen. Das Gedicht schließt mit einer Prophezeiung der Unsterblichkeit Brechts als Dichter auf ganz unpathetische Weise, als nachdenkliche Bemerkung und letzte Replik im Zwiegespräch mit dem Leser:
Brechts kluge Worte aber sind
selbst unterm Bombenheulen nie verstummt.
Und werden sie verstummen? Kaum.
Kaum,
aaaa asage ich euch.
aaaaaaaa aaaaaaa Kaum.
Es gibt ein Gedicht von Sluzki, das seinerzeit in der Sowjetunion eine lebhafte Diskussion auslöste: „Physiker und Lyriker.“ „Physiker stehn hoch in Achtung. Lyriker sind nicht geschätzt“, meint da der Autor ironisch bezüglich der anscheinend unbestreitbaren Überlegenheit der Physiker im Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Revolution. Doch er selbst ist überzeugt, daß der Dichter ebenfalls eine schwere und für die Menschen notwendige Arbeit leistet. Denn es gibt ein Gebiet, auf dem kein Computer etwas vermag – die Welt der menschlichen Empfindungen. Selbst „wenn die Menschheit das Rad verwirft“, heißt es in einem anderen Gedicht, also eine noch größere technische Revolution vollzieht, „wird sie Puschkin kennen mit vollem Namen“. Getreu den Traditionen sowjetischer Dichtkunst, Majakowskis bekannter These:
„Des Dichters Berufung – das Volk zu führen und zugleich des Volkes Diener zu sein“, sieht Boris Sluzki die Aufgabe der Dichtung in der Analyse des Lebens, in der Erzählung aus dem Leben, in der Neuschöpfung des realen Lebens, im Sichtbarmachen der dynamischen Wechselbeziehungen zwischen Dichter und Welt.
Die revolutionären Traditionen seit Marat sind in seinem Geist stets lebendig und gehen organisch in seine Dichtkunst ein – in Gestalt des Charkower Schülers, der sich auf den Straßen von Paris des Jahres 1789 sieht, der Platzanweiserin im Kino, die über das Schicksal der Matrosen vom Panzerkreuzer Potjomkin weint.
Für Sluzki sind die Helden und Schöpfer der Geschichte die einfachen, arbeitenden Menschen. Über einen von ihnen berichtet er in dem Gedicht „S.P. Sedow“, der in vierundvierzig Zeilen zusammengedrängten bemerkenswerten Biographie eines Burschen vom Dorf, der Anfang der zwanziger Jahre nach Moskau kam, sich als Dichter versuchte und in Jessenins Gefolgschaft geriet. Doch dann tauschte er die Lyrik gegen das Studium, den Ingenieurberuf. Das Gedicht vermittelt die Atmosphäre in den Moskauer Dichterkreisen jener Jahre, in der paradoxen NÖP-Zeit. Sedow, einer von vielen, die das neue Leben mit erbaut haben, stellt sich dem Leser vertraut und familiär dar. Der Dichter selbst hatte in Sedows Wohnung vorübergehend Quartier bezogen, Geschichte und Alltag gehen ineinander auf. Der Dichter betrachtet die Menschen, „die die Geschichte machen“, ganz aus der Nähe. Er zeigt sie wie mit einer Kamera in Großaufnahme. Da besichtigen sie mit Besitzerstolz die Sehenswürdigkeiten Moskaus, da erörtern sie die große Politik bei einem Glas Bier. Dann wieder sind sie im Dampfbad anzutreffen, wo man die Orden und Auszeichnungen nicht sieht, wohl aber die Narben von Kriegsverletzungen und Verstümmelungen. Es sind die Menschen, die die allergrößte Tat vollbrachten, die den Sieg im zweiten Weltkrieg errangen und die Welt vor dem Faschismus retteten. Doch das setzt Sluzki voraus, ihre Taten werden im Gedicht nicht erwähnt.
Die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg ist bei Sluzki allgegenwärtig, selbst in den unwillkürlichen Assoziationen, Parallelen und Vergleichen seiner Gegenwartsgedichte. „Welche Themen meine Freunde auch immer wählen“, äußerte der Leningrader Dichter und Altersgefährte Sluzkis, Michail Dudin, „auf ihren Gedichten liegt der Abdruck jener sittlichen Erfahrung, die sie an der Front erwarben“.
Boris Sluzki gehört zur Generation der Altersgenossen der Revolution, die von den ersten Komsomolzen, von Pawel Kortschagin den Stafettenstab übernahmen. Sie spürten die Schwere der dreißiger Jahre, die materiellen Entbehrungen nicht. Sie dachten im Weltmaßstab, sangen als Pioniere am Lagerfeuer die Lieder der Komintern, verfaßten Verse über die Revolution, über künftige Schlachten mit dem Kapital. Eine ganze Reihe talentierter junger Dichter fand Eingang in die sowjetische Literatur. Sie zeigten keine Eile, ihre mitunter prophetischen Gedichte – etwa über den künftigen Heldentod mit der Internationale auf den Lippen – zu veröffentlichen. Sie trugen sie in den Seminaren des Literaturinstituts vor. Anerkannte Dichter sagten ihnen eine große Zukunft voraus. Ihre Herzen und ihr Verstand waren von der Liebe zur Poesie, aber mehr noch von der Idee sozialer Gleichheit und von dem mächtigen Streben nach weltweiter Harmonie beherrscht. Im Gefühl der Verantwortung für das Schicksal der ganzen Menschheit zogen die „Jungen von 41“, wie man sie nannte, als Freiwillige in den Kampf gegen die Faschisten und schlugen sich tapfer an den Fronten.
Den Heldentod starben Boris Sluzkis Freund, der talentierte Dichter Michail Kultschizki, Nikolai Majorow und Pawel Kogan; einige Jahre nach dem Krieg starb „an den alten Wunden“ Semjon Gudsenko. Bis heute werden in der Sowjetunion Sammelbände zahlreicher gefallener Dichter postum herausgegeben. Ihre Gedichte erfreuen sich großer Beliebtheit.
Die Altersgefährten und Freunde der Gefallenen sind längst keine Jünglinge mehr, sie haben die Fünfzig überschritten. Sie erinnern sich oft an den Krieg und schreiben viel über ihn. Bis heute bezeichnet man sie als die Dichter der Kriegsgeneration: Sergej Orlow, Jewgeni Winokurow, Michail Lukonin, Alexander Meshirow, Julia Drunina, Boris Sluzki.
„Der Krieg ist eine Tragödie für das Volk, doch für uns, das Befreiervolk, ist es eine optimistische Tragödie“, hatte einer der „Jungen von 41“, der gefallene Literaturkritiker Juri Sewruk, geäußert. Man schrieb in Gedichten über den Krieg wie über eine Volkstragödie, über eine heroische Tat. Sluzkis Generation brachte eine neue Sicht in die Kriegslyrik – die Sicht des einfachen Soldaten, der Tag und Nacht im Schützengraben verbrachte, zum Angriff vorging, den Nahkampf erlebte. In ihren Gedichten gab es keine erhabenen, abstrakten Ergüsse; sie waren realistisch, konkret bis ins letzte. Der Krieg ist dort harter Alltag des Soldaten. Tragik im Alltäglichen. Die Gedichte sind sehr unterschiedlich, doch den besten gemeinsam sind Verhaltenheit des Gefühls, der Gebrauch der Umgangssprache, der fast völlige Verzicht auf Epitheta und die Einbeziehung derber, für die Dichtung ungewöhnlicher Details.
Heute bezeichnen die Literaturhistoriker jene Dichtung als einen wesentlichen Schritt in der Entwicklung der sowjetischen Literatur zur tieferen, wahrhaftigeren Darstellung des Volkslebens. Es lassen sich deutliche Parallelen in der Kriegslyrik und der später erschienenen Kriegsprosa feststellen. So erinnern Sluzkis Gedichte mit ihrem unverhüllten Realismus, ihren aktuellen, moralischen Fragestellungen und der stets spürbaren Gegenwart eines denkenden, urteilenden Autors an die Prosa Konstantin Simonows. Simonow selbst hat sich darüber in einem Interview folgendermaßen geäußert:
Was die Auffassung vom Krieg, die poetische Sicht des Krieges betrifft, gefällt mir Sluzki sehr. In seinen Gedichten gibt es etwas, was meiner Auffassung vom Krieg, meinem Herangehen an den Krieg sehr verwandt ist. Ich fühle mich gar nicht wohl, diese Gedichte so zu loben, weil sie mir sehr zu Herzen gehen… In Gedichten würde ich so nicht schreiben, aber als Prosaschriftsteller empfinde ich außerordentlich viele Gemeinsamkeiten.
Sowohl Simonow als auch Sluzki könnten wie Wassil Bykau von sich behaupten:
… Wir wollen den Krieg darstellen ausgehend von den lebensnotwendigen Erfordernissen heutiger Sittlichkeit.
Von diesen lebensnotwendigen Erfordernissen sind auch die anderen Themen geprägt, die wir in Sluzkis Gedichtbänden der letzten Jahre finden. Es sind Gedichte, die das Lebensgefühl und die Weltsicht eines Menschen vermitteln, der viel durchlebt und durchdacht hat, der dazu neigt, Bilanz zu ziehen. In ihnen spürt man das gewachsene Können des Dichters und ein für Sluzki charakteristisches empfindsames Reagieren auf fremdes Leid. Der Dichter bemerkt das Unglück dort, wo es nicht in die Augen sticht, nicht für alle sichtbar ist. Er ist streng zu sich selbst und zum Leser. Aber diese Strenge und die hohen sittlichen Forderungen sind verbunden mit großer Güte. Das Volk hat keine Zeit, sich Nichtigkeiten anzuhören, heißt es in einem seiner Gedichte. Der Dichter sollte den Menschen Güte, Hoffnung und Wahrheit bringen.
Edel Mirowa-Florin, Mai 1976, Nachwort
Es gibt Menschen, die die Unverbindlichkeit gegenüber den Mitmenschen zu ihrem kugelsicheren Wattepanzer gemacht haben. Leider gibt es auch Dichter von dieser Sorte. Boris Sluzki ist aus anderem Holz geschnitzt: Für ihn gilt die Verbindlichkeit – gegenüber den Nächsten, den Fernerstehenden, gegenüber der Zeit und sich selbst.
Eine der wertvollsten psychologischen Eigenschaften Sluzkis ist seine tiefe Volksverbundenheit. Der Dichter zeigt nicht lediglich Mitgefühl mit dem einfachen Menschen, sondern er leidet gemeinsam mit dem Volk in Augenblicken des Unglücks und will sich vom Dasein des Volkes in nichts und durch keinerlei Privilegien abheben.
An Sluzkis Lyrik frappierte mich die ungeschliffene Schroffheit, die mit keiner anderen vergleichbare markante Handschrift. Mittlerweile haben wir uns an diese Handschrift gewöhnt, in den fünfziger Jahren jedoch hat sie so manchen schockiert. Diese Gedichte waren gleichsam in einer besonderen Sprache verfaßt – einer gehauenen, kategorischen, unsentimentalen, „Sluzkischen“ Sprache. Etwas darin war von Baudelairescher Schärfe, etwas von Majakowskis Oratorischem, etwas von Selwinskis Konstruktivismus und zugleich etwas völlig Eigenständiges.
Es waren nicht nur Literaturlehrer, die ihm zu einer eigenen Sprache verhalfen. Sein Frontleben als Politoffizier hatte ihn diesen Stil gelehrt: barsch und unwiderruflich wie ein Befehl, informativ und bündig wie ein Lagebericht. Die Fakten gebraucht Sluzki nicht zur Illustration von Ideen oder zur Untermauerung von Metaphern; sie sind bei ihm derart verdichtet, daß sie selbst zu Ideen, zu Metaphern werden.
Das Prinzip des Dichters ist:
So war es im Leben, und genau so muß es im Gedicht sein.
Jewgeni Jewtuschenko, Verlag Volk und Welt, Beipackzettel, 1977
Adolf Endler: Eine Reihe internationaler Lyrik, Sinn und Form, Heft 4, 1973
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