Brigitte Kronauer, Alexander Nitzberg, Ferdinand Schmatz: Dichtung für alle

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Brigitte Kronauer, Alexander Nitzberg, Ferdinand Schmatz: Dichtung für alle

Kronauer, Nitzberg, Schmatz-Dichtung für alle

MNEMOSYNE UND MNEMOTECHNIK

– Eine Wiener Poetik. –

Es ist mir eine Ehre und eine Herausforderung, hier sprechen zu dürfen – in einer Stadt, die sich in der Kunst das Wort „Avantgarde“ seit vielen Jahren auf die Fahnen geschrieben hat –, zumal bei einer Veranstaltung, deren Namenspatron Ernst Jandl ist. Beides, sowohl das Wort wie der Name, sind mir seit Jahren teuer geworden.
Dennoch will ich bei dem Versuch, mein Verständnis von Dichtung darzulegen, einen Weg einschlagen, der weit weniger „innovativ“ oder „experimentell“ zu sein beansprucht. Vielmehr möchte ich bis zur Wurzel des klassischen Poesiebegriffs vordringen, der mir dann aber doch genug Potential zu besitzen scheint, um heute wirksam werden zu können. Diese Entscheidung mag Sie überraschen, und gerade das ist auch meine Absicht: Denn wenn alles nach Neuerertum ruft, ist es vielleicht der rechte Zeitpunkt, sich auf die Ursprünge zu besinnen. Oder, schärfer ausgedrückt: Wenn die Forderung nach einer permanenten Revolution in der Kunst selbst längst zu einer Konvention geworden ist, wäre dasjenige, was diesem Streben diametral gegenübersteht, möglicherweise das größere Wagnis und in diesem Sinne auch wieder Avantgarde.
Zwei Wege stehen mir offen: Die Idee des Poetischen anhand von Gedichten auszuarbeiten und zu vertiefen. Oder aber mit grundsätzlichen Überlegungen zum Wesen der Lyrik anzufangen und sie dann in der Anwendung zu demonstrieren. Ich entscheide mich für den zweiten Weg. Er gestattet, über Dichtung zu sprechen, nachdem das Fundament gelegt worden ist.
In diesem ersten Teil meines Vortrags geht es daher um die Frage nach dem eigentlich poetischen Prinzip, welches hier mit dem Wort „Mnemosyne“ angedeutet werden soll. Im zweiten Teil hoffe ich zeigen zu können, wie dieses poetische Prinzip in der Praxis zum Einsatz kommt und auf welche Weise es alle sprachlichen Vorgänge im Hintergrund subtil mitbestimmt. Ich habe mir erlaubt, jenen zweiten Teil „Mnemotechnik“ zu betiteln, freilich mit neuen Konnotationen.

Mnemosyne

Wohl nur noch spaßeshalber werden Dichter als „Musensöhne“ bezeichnet. Die Muse ist längst museal geworden: Ein Marmorbild mit zerbrochenen Armen aus einem entgötterten Pantheon. „Seine Muse“ meint heute höchstens: „Geliebte“, und selbst das mit ironischem Unterton. „Ein Gedicht ist an die Muse gerichtet […], um die Tatsache zu verschleiern, daß Gedichte an niemanden gerichtet sind“, zitiert Gottfried Benn in „Problemen der Lyrik“ den Amerikaner Richard Wilbur. Somit wird die Muse – einstmals Göttin – zu einer Leerstelle, zu einem Hohlraum, zu einer nihilistischen Maske.
Diese Vorstellung ist heute ganz selbstverständlich, und niemand käme darauf zu behaupten, er glaube an so etwas wie die Realexistenz der Muse, es sei denn aus purer Koketterie. Und doch will ich gleich am Beginn meines Vortrags mich zu einem solchen Glauben bekennen: Ja, ich glaube ganz fest daran, daß die Muse real existiert! Und mehr noch: Ich glaube, daß von ihr allein auch die Existenz der gesamten Dichtung abhängt.
Bitte halten Sie es nicht für bizarre Launen oder reine Extravaganz. Denn innerhalb der russischen Lyrik – die auch meine poetischen Wurzeln nährte – wirkt der Satz sehr viel weniger provokant. Wer Gedichte von Alexander Puschkin liest, wird schon sehr bald das Gefühl nicht los, hier sei mit „Muse“ doch mehr gemeint als nur eine literarische Floskel. Auch im Briefwechsel seines Freundeskreises klingt dieses Wort durchaus ernst gemeint, auch wenn es nicht weiter kommentiert wird, so als wüßten die Adressaten Bescheid… Ja, selbst noch im 20. Jahrhundert, beispielsweise bei Anna Achmatowa, erscheint der Begriff mit soviel innerer Spannung geladen, daß durchwegs der Eindruck von größter Wahrhaftigkeit und persönlichem Durchleiden entsteht.
(Vergessen wir in dem Zusammenhang nicht, daß auch die russische Philosophie ähnliche Phänomene kennt: So behauptet Wladimir Solowjow – ein Titan des russischen Geisteslebens –, er sei der Sophia, dem Prinzip metaphysischer Erkenntnis, eines Tages leibhaftig begegnet…)
In der Muse und dem Glauben an sie verbirgt sich für mich der Zugang zur Kunst – zu ihrem Kern, zu ihrem Geheimnis. Denn es gibt ein Geheimnis der Kunst, ganz gleich, wie sehr dies von mancher Seite auch bestritten werden mag. Und Stéphane Mallarmé fragt sich zu Recht, „warum einer einzigen unter den Künsten […] dieser notwendige Geheimnischarakter verweigert wird. Der Poesie“. Nicht jeder Künstler kann es benennen, doch jeder fühlt es intuitiv. Auch kennen wir viele Bezeichnungen dafür, je nachdem, welche Terminologie zum Beschreiben der eigenen Arbeit verwendet wird. Jahrhundertelang hieß es „die Muse“, weshalb auch ich es so nennen will.
Nun, wenn die Muse real existiert, wie haben wir sie uns vorzustellen? Eine schöne Frau, die Rohrflöte spielt? Ein Bild, das – weil positiv – sicherlich besser ist als jenes Nichts, von dem Benn und Wilbur reden. Doch wären auch andere Definitionen denkbar: So vergleicht Plato in seinem „Ion“ die Muse mit einem starken Magneten – den Dichter mit einem Eisenring. Die Kraft der Muse packt den Poeten, während er dichtet. Soweit scheint das Gleichnis noch einigermaßen gewöhnlich zu sein, doch Plato entfaltet es folgerichtig: Ist es nicht so, daß Eisenringe, solange sie nur am Magneten haften, in der Lage sind, selbst magnetisch zu wirken? Das heißt: Wenn hinter dem Dichter und dem Gedicht die Muse steht, ziehen sie weitere Elemente an sich – zum Beispiel den Rezitator. Wenn dieser das Gedicht „ergriffen“ vorträgt (was in dem Fall keineswegs „sentimental“ meint, sondern vielmehr „an der Muse orientiert“), wird der Hörer ebenfalls gefesselt.
Hieraus ergibt sich eine Struktur, nämlich: Anfang, Mitte und Ende. Der Anfang ist die Muse. Das Ende ist der Mensch. Die Mitte bilden verschiedene Schichten: der Dichter, das verfaßte Gedicht, vielleicht das Buch, worin es fixiert ist, der Rezitator und dessen Stimme und schließlich sogar die Sinne des Menschen, welcher das Gedicht in sich aufnimmt – das Auge beim Lesen, das Ohr beim Hören. Sie alle dienen als Intermediär – mit dem Zweck, den Menschen an die Muse zu binden. Gemäß dieser Aufgabe ließe sich nun auch deren Qualität überprüfen und beurteilen: Fehlt es dem Dichter zum Beispiel an Kunst, wird er nicht fähig sein, die Impulse zu verarbeiten, ohne sie bereits stark zu dämpfen. Ist der Rezitator etwa mit anderen Dingen mehr beschäftigt als mit den Versen, die er gerade deklamiert, gelingt es ihm nicht, jener hinter ihnen schwingenden Kraft den nötigen Raum zu geben. Ist der Mensch – in der letzten Phase – schwerhörig oder gar taub, wird er auch das vollendetste Gedicht, vom besten Sprecher vorgetragen, nur rudimentär erfassen können.
Im gesamten Prozeß erweist sich die Muse als die alles bestimmende Instanz, denn sie ist der Ursprung des Magnetismus, der all diese Teile zusammenhält. Man stelle sich vor, ein Ring in der Kette wäre nicht aus Eisen, sondern aus Holz. – Schon würde der Strom unterbrochen sein, und die nachfolgenden Elemente brächen auseinander. Hier sehen wir schon ein erstes Merkmal der Muse: die innere Kohärenz des Kunstwerks.
Die genannte Wirkung ist vielfach bezeugt, und zwar gerade in der Moderne. Mit folgenden Worten beschreibt zum Beispiel Wladimir Majakowski den inneren Sog, aus welchem seine Verse entstehen:

Man kann ihn nicht erklären, man kann von ihm nur so sprechen, wie man von […] elektrischem Strom spricht.

Er, der für Dichtung in der Regel nur industrielle Metaphern gebraucht, benennt sie seiner Sprache gemäß. Wie anders redet vom lyrischen Vorgang Gottfried Benn. Was die Alten die Muse heißen, bezeichnet er als „einen dumpfen schöpferischen Keim“. Das Intermediär sind für ihn „Worte, die in seiner [des Dichters] Hand liegen, zu seiner Verfügung stehen, mit denen er umgehen kann, die er bewegen kann…“. Und den durch die Schichten pulsierenden Strom vergleicht er mit einem „Ariadnefaden, der ihn“, wie er sagt, „aus dieser bipolaren Spannung herausführt, mit absoluter Sicherheit herausführt, denn – und nun kommt das Rätselhafte: das Gedicht ist schon fertig, ehe es begonnen hat, er weiß nur seinen Text noch nicht“. Diese zwei so unterschiedlichen Dichter sind gezwungen, auf eigene Gleichnisse und Mythen zurückzugreifen, um von ihrem Geheimnis zu sprechen.
Und selbst bei Ernst Jandl, der in seinen theoretischen Texten allenthalben eine rein technische Terminologie benutzt und dadurch, daß er immer und alles gleich zu erläutern bereit ist, den Eindruck erweckt, es gebe am Dichterischen nichts Transzendentes – nur Material und dessen Verarbeitung –, finde ich folgende Sätze. Auf Englisch. So als könnte er es nicht übers Herz bringen, sie seinem geliebten Deutsch anzuvertrauen:

Poetry, like art and music, has its own secret. This secret is part of the secret that we all share. The secret of poetry is part of the secret of human existence, which itself is embedded in the secret of the universe.

Und etwas später das Zugeständnis:

But there is something else, something that makes people continue, year after year, all through their lives, and generation after generation, all through human history, something that is perhaps more than an answer, a source of strength, that gives them the will to continue, something that may perhaps be called faith.

Es ist bedeutsam, noch eine Besonderheit der soeben betrachteten Struktur (nämlich: MuseVermittlungRezipient) festzustellen: Der geschilderte Verlauf mit seinen Stufen ist nicht linear, sondern zyklisch zu sehen: Das Ende fließt in den Anfang ein. Denn wenn der Zweck aller Zwischenstationen die Anknüpfung des Menschen an den Ausgangspunkt ist, dann schließt sich, wenn die Verbindung gelingt, der Kreis! Ich will darauf später zurückkommen und mich fragen, was das für Folgen hat. Zuvor aber gilt es, die Muse näher zu umreißen. Der bloße Vergleich mit einer magnetischen Kraft reicht dazu nicht aus, zeigt nur die Funktionsweise. Was fehlt, ist ihr eigentlicher Gehalt.
Was nun ist dieser Magnetismus seinem Wesen nach? Eine „blinde“ Naturgewalt, frei von jeglicher Sinngebung? – Wenn ich es schon wagte, sie mit dem traditionellen mythischen Namen „Muse“ zu bezeichnen, will ich auch ihre überlieferte Genealogie nicht außer Acht lassen: Musen sind Kinder der Mnemosyne, der Göttin der Erinnerung. Mnemosyne selbst ist eine Tochter von Uranos und Gaia, von Himmel und Erde. Es ist also das Prinzip der Erinnerung, das in sich den gesuchten Schlüssel birgt. Doch wieder stehen wir vor einem Rätsel: Erinnerung welcher Art? – Sind doch, wenn heute von „Erinnerung“ gesprochen wird, meistens Ereignisse gemeint, persönliche oder historische. Kann es sich bei Mnemosyne um etwas dergleichen handeln? – Offenbar nicht, denn an welche Ereignisse kann sich die Tochter von Himmel und Erde schon erinnern? In Hesiods „Theogonie“ lesen wir:

Auf! beginnen wir nun von den Musen, die droben im Himmel
Singend den hehren Sinn des göttlichen Vaters erfreuen;
Künden doch alle Vergangnes, die Gegenwart und auch die Zukunft
Einig im Liede…

Eine seltsame Art von Erinnerung tritt uns hier entgegen: Sie ist nicht nur auf die Vergangenheit ausgerichtet, sondern genauso auf die Gegenwart und die Zukunft… Eine Erinnerung ohne den Faktor Zeit. – Der Wink läßt uns möglicherweise schon ahnen, was mit „Mnemosyne“ gemeint sein kann. Einen weiteren Wink erhalten wir beim Betrachten der klassischen Vorstellungen über die Muse. Zunächst einmal sollte uns spätestens hier klar werden, daß die Anziehungskraft, die von der Muse ausgeht, nichts anderes ist als die sogenannte Inspiration. Dieser Begriff wird heute in der Regel gänzlich verworfen oder aber romantisch gefärbt. Aber er kann auch anders verstanden werden: Auf die Überzeugung seines Freundes Wilhelm Küchelbecker, der Dichter drücke nur seine eigene, zutiefst individuelle Empfindung aus, und Inspiration sei nichts weiter als ein Zustand des Taumels, antwortet Puschkin mit dem Satz: „Nein, definitiv nicht: Taumel schließt nämlich Ruhe aus, jene notwendige Bedingung des Schönen“. Zu unserer ersten Beobachtung, daß die Muse im Kunstwerk für Kohärenz sorgt, kommt nun eine zweite Eigenschaft hinzu – und zwar Ruhe beziehungsweise Statik. Puschkin schreibt:

An ihr ist alles so vollendet,
wenn sie, mit kindlich sanftem Mut,
vom Weltgetümmel abgewendet
in königlicher Schönheit ruht

[…]

Und auch Goethe zeugt von dieser Ruhe in seinem Gedicht „Spiegel der Muse“:

Sich zu schmücken begierig, verfolgte den rinnenden Bach einst
Früh die Muse hinab, sie suchte die ruhigste Stelle.
Eilend und rauschend indes verzog die schwankende Fläche
Stets das bewegliche Bild; die Göttin wandte sich zürnend;
Doch der Bach rief hinter ihr drein und höhnte sie: Freilich
Magst du die Wahrheit nicht sehn, wie rein dir mein Spiegel sie zeiget!
Aber indessen stand sie schon fern, am Winkel des Sees,
Ihrer Gestalt sich erfreuend, und rückte den Kranz sich zurechte.

Bezeichnenderweise beansprucht gerade das rinnende, jeder Schwankung unterworfene Wasser für sich die Wahrhaftigkeit des Abbilds. Aus ihm spricht der Geist des Realismus, der nur in den wechselhaften Belangen des Lebens die Wirklichkeit zu erblicken vermag, was die Muse jedoch als Zerrbild ablehnt. Wozu aber sucht sie überhaupt nach einem unbeweglichen klaren Spiegel? – Um sich selbst zu schmücken, sich den Kranz aufzusetzen…
Wie ähnelt das doch Rilkes „Sonetten an Orpheus“, wo es heißt:

Mag auch die Spieglung im Teich
oft uns verschwimmen:
Wisse das Bild.

Auf solche Parallelen möchte ich hier erst einmal nur hinweisen. Sie haben einen Grund. Und der liegt am wenigsten im bloßen Zitieren…
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine Geschichte, die mir ein georgischer Freund erzählte: Ein Mann hörte im Radio Musik, die in ihm ganz deutlich die Vorstellung von Riza erweckte, einem See im westlichen Kaukasus. Stellen Sie sich seine Überraschung vor, als er am Ende der Sendung erfuhr: „Sie hörten die Tondichtung ,Der See Riza‘ von Andrej Balantschiwadse“. Er besorgte sich die Telefonnummer des Komponisten und rief ihn an:

Ich kannte den Titel Ihres Werks nicht und mußte trotzdem ständig an den See Riza denken! Das Erstaunlichste daran ist aber die Tatsache, daß ich noch niemals dort gewesen bin: Denn ich kenne den See nur vom Hörensagen…

Worauf der Komponist ihm antwortete:

Wissen Sie, ich muß gestehen: Ich ebenfalls.

An dieser Parabel können wir erkennen, wie die Muse – offenbar jenseits alles Mimetischen – gewisse Inhalte transportiert. Was bleibt vom See Riza, wenn er doch gar nicht mehr der geographische See Riza ist? Auf welche Weise wird ein See vom Komponisten in Töne umgesetzt? Wieso können überhaupt organisierte Klänge einen See im Raum entstehen lassen? – An solch einem Punkt versagen alle simplifizierenden und jeder Intelligenz spottenden Erklärungsversuche des 18. Jahrhunderts, die den Ursprung der menschlichen Sprache und Kunst im „natürlichen Nachahmungstrieb“ der Umwelt ansiedeln.
Um dem Geheimnis der Mnemosyne endlich auf die Spur zu kommen, wollen wir Friedrich Hebbels Prolog zum Drama Der Diamant betrachten. Zunächst einmal finden sich hier noch weitere Eigenschaften, die das poetische Prinzip kennzeichnen:

Die Lustgen hier, die Frommen dort,
Den Dichter locken sie nicht fort,
Ihn machte die Natur so reich,
Daß er sich freut und betet zugleich,
Daß er mit jedem Odemzug
Das Dasein ganz leert, wie im Flug,
Daß Wonne, Andacht, Lust und Schmerz
Ihm unzerschieden ziehn durchs Herz.
Er ist in die bewegte Welt
Als fester Mittelpunkt gestellt,
Der, unberührt von Ebb und Flut,
In sich gesättigt, schweigend ruht,
Weil er in sich jedweden Kreis
Begonnen und beschlossen weiß,
Und weil in ihm der Urgeist still
Die Perl, sein Abbild, zeugen will,
Das, wenn es in die Zeitlichkeit
Hinaustritt, jeden Riß der Zeit
Schon dadurch heilt, daß sie erkennt,
Was sie vom ewgen Wesen trennt.

Die Eigenschaften, die ich meine und die der Kohärenz und der Statik an die Seite treten, sind die Zentrizität und das Punktuelle. Es ist die Schau aus der Mitte heraus, die Aufrichtung einer polaren Achse, in der sich alle Energien bündeln. Auch die eigentliche Lösung unseres Problems hat Hebbel bereits en passant gestreift. Doch im folgenden spricht er sie deutlich aus, so unmißverständlich, wie es nur geht:

O Muse, die mein Herz bewegt,
Die meine tiefste Kraft erregt,
Mir wird zum Sterben bang und weh,
Wenn ich dich einen Tag nicht seh,
Aus Grund der Seelen ruf ich dich:
Komm still und überschatte mich,
Damit mein Auge, frisch gestärkt,
Des wirren Lebens Einheit merkt,
Und in dem Zweiglein, das ich pflücke,
Den ganzen Wunderbaum erblicke,
Damit ichs auch, wie ichs erkannt,
In rechter Form mit sichrer Hand
Der Welt zum Trost und zum Exempel
Aufstell als Altarblatt im Tempel.

Das also ist die Mnemosyne! „Des wirren Lebens Einheit merken“. – Die Erinnerung, nach der wir suchen, ist die Erinnerung an die metaphysische Einheit des Seins. Denn sie ist in der Tat die einzige Erinnerung, die von der Zeit unabhängig ist. Versuchen wir die Tragweite dieser Erkenntnis auszuloten: Es geht nicht darum, sich einer einstigen, etwa vorsintflutlichen Einheit zu entsinnen, wie sie mal bestanden hat. Sondern darum, blitzartig zu erfassen, daß die Dinge im Kern ungeteilt sind. Das, was sich dem äußeren Blick als das „wirre Leben“ zeigt, auseinanderdriftet – ganz gleich, ob räumlich oder zeitlich –, wird aus der Perspektive der Muse zu einer völligen Identität. Darum spricht Hebbel vom Zweiglein und Baum: Die grundsätzliche Einheit zwischen den beiden setzt sich sowohl über räumliche Größenverhältnisse als auch über zeitlichen Abstand hinweg. Und daß der Vorgang dieser Koinzidenz auch wirklich etwas mit Erinnerung zu tun hat, beweisen die anschließenden Worte Hebbels:

Ich werb ja nicht um Gold und Gunst,
Ich werbe um die heilge Kunst,
Und auch um diese werb ich nur,
Damit nicht ihre lichte Spur,
Die halb erloschen, völlig schwinde
Und schon vor Tag mein Volk erblinde.

Das erklärt auch den seltsamen Magnetismus, welcher durch die Gedichte wirkt: Es ist das Streben aller Gegensätze hin zum Zustand, in welchem jegliche Trennung zwischen ihnen aufgehoben sein würde.
Man könnte mir vorwerfen, daß ich übertreibe. Daß ich abstrakte philosophische Begriffe unrechtmäßig auf „naive bildhafte Vorstellungen“ anwende. Das glaube ich nicht. Denn die Idee der Einheit, eben jener metaphysischen Einheit, ist den alten Denkern und Mythenerzählern noch wesentlich geläufiger als uns heute. Die gesamte vorsokratische Philosophie zielt auf die Arché, die heute zu leichtfertig und im fast materialistischen Sinne als „Urstoff“ übersetzt wird. Doch ist damit vielmehr etwas gemeint, das für alle Dinge den Daseinsgrund bildet – nicht als Materie, doch als Prinzip. Und natürlich sind die verschiedenen Namen, die ihm in der Antike gegeben werden – ob „Feuer“, ob „Wasser“, ob „Apeiron“ –, selbst nichts anderes als Mythisierungen. Noch Plato greift auf Mythen zurück, wenn von Dingen die Rede ist, die sich jenseits des Diskursiven vollziehen.
Anaxagoras lehrt:

Das Weltall bildet eine Einheit, und die Stoffe, woraus es besteht, sind nicht voneinander getrennt oder mit dem Beil abgehauen, weder das Warme vom Kalten noch das Kalte vom Warmen.

Und bei Melissos lesen wir:

Denn während wir meinen, es gäbe viele Dinge von beständiger und fester Form, scheint sich uns nach dem jeweiligen Anblick alles zu verändern und seinen Zustand zu wechseln. Somit ist klar, daß wir nicht richtig sahen und daß Vielerlei nur ein falscher Schein ist; denn wenn jenen Dingen wirkliches Sein zukäme, so würden sie nicht ihren Zustand wechseln.

(…)

Alexander Nitzberg

ZUR REALISATION VON FREIHEIT IN DER POESIE:
„BLICKT ZU MIR DER TÖNE LICHT“:

– Dichtung im Garten der Sinne und der Vernunft. –

(…)

Was wirkt auf diesem Weg, der zum dichterischen Gebilde führt, ja dieses ist, wie heraus und wie durch ihn hindurch? Welcher Wert wird herauszuarbeiten versucht? Welche Funktionen, welche spezifischen Ausdrucksmittel sind am Werk, wenn sie nicht sogar das Werk allein konstituieren?!

Dieser Begriff des Gesetzes schließt jenen der Freiheit nicht aus, aber sehr nahe beieinander liegen beide Begriffe nicht.

Hierzu greife ich zunächst eine Frage Nabokovs aus seinem Roman Die Gabe auf:

Hier ist ein Thema für Sie… Der Dichter wählt den Gegenstand für seine Gedichte selbst; die Gesellschaft hat nicht das Recht, seine Inspiration zu lenken.

Worauf ich aber hinarbeiten möchte, ist eine Annäherung an den Begriff der Freiheit in der Dichtung – über das Moment des Verbindens. Und zwar des freien, besser: des anderen Verbindens – das nicht wie in der alltäglichen Wirklichkeit deren Zusammenhänge erzeugt und immer wieder bestätigt und bestätigt. Sondern: eine Wirklichkeit der anderen Art, in der Wirklichkeit der Dichtung.

Dieses Dilemma von Gebundensein oder Gelenktwerden und der Freiheit der Wahl, vor allem die Freiheit der Inspiration kristallisiert sich zu einem Kernproblem in der Kunst der Dichtung. An sich und besonders, wenn diese ihre Arbeit als Forschung begreift, in der sie das Individuelle, die Inspiration gleichsam, als abstraktes Modell und als sinnlichen Erfahrungskomplex herauszubilden versucht. In einer anders aufgebauten und ausgedrückten Form, als es ihr die gesellschaftliche Sprachnorm diktiert, um diese dann zum kommunikativen Austausch zu öffnen:

Wenn diese Dichtkunst versucht, Sinnliches ins Modell und Abstraktes in Erfahrung umzudrehen, um das, was üblicherweise reine Information bedeutet, zur rauschenden Botschaft des Poetischen zu erweitern, oder zu verkürzen, also zu verwandeln.

Oder zu was auch immer! Aber, aber: als Poesie, die anders als üblich probiert, experimentiert, auch dieses, ihr Anderssein zu erzeugen, wahrzunehmen, zu empfinden, und zu kommunizieren.

Wenn das, was das Auge sieht, abgebildet wird und wiedergegeben, wenn das, was das Ohr hört, aufgenommen und reproduziert wird, wenn das, was die Hand ergreift, in derselben Position wieder an seinen Platz gestellt wird – dann ist die Wirklichkeit die eine Wirklichkeit, die Welt die eine Welt, und auch die darin wurzelnde Wahrheit die eine Wahrheit. Dafür steht nicht nur die Literatur der Widerspiegelung, dafür steht auch das, was kulturelle Symbolisierung als Voraussetzung für eine gemeinsame Synchronisation betrachtet.

Aber, für mich, und ich glaube für viele, die Dichtung anders hervorbringen und hervorbringen lassen – auch dieses Lassen signalisiert einen der feinen Unterschiede zur autormächtigen Widerspiegelungsauffassung –, gibt es nicht nur die eine Wirklichkeit, nicht nur die eine Welt und die eine Wahrheit, sondern mehrere. Nicht beliebige, zufällige, sondern erzeugte, neu kombinierte, die sich ihre Wirklichkeiten und Werte selbst herauszubilden hoffen.

Wahr?
Falsch?
Form?
Inhalt?
Wirklichkeit?
Wirklichkeiten?
Wahrheit?
Wahrheiten?

Das alles anzufragen und zu bearbeiten macht das Gedicht (aus). Es steht nicht, es fließt. Es ist nämlich eins in Inhalt und Form. Nur dann kann es schön unwahr und hässlich wahr werden, wenn sich beide Ebenen treffen, kreuzen, miteinander vorantreiben. Oder das zähmen, was die Intuition oder eine selbstgewählte Regel in Gang gesetzt haben. Also das, was im Moment, in dem das Gedicht stillsteht, wahr ist, bis sich das Rad der Sprache weiterdreht, ohne dabei die Gefahr ihres Leerlaufens zu übersehen, vielleicht sogar zu versuchen, diese zu überlisten.

Das Gedicht schafft sich demnach seine eigene Wahrheit, da es gegebene Sprache als Substanz versteht, so z.B. die Alltagssprache, aber dieses Verstehen durch seine eingebrachten Bearbeitungen nicht mehr als reines Mittel zum Zweck benützt, sondern auch die Mittel selbst anders zu verstehen sucht. Diese im Verstehen sich schenkende Wahrheit ist nicht zu sehen im Sinne eines Richterspruchs, der bestimmt, was überhaupt Wahrheit ist. Sie kann im Dichter wie auch im Leser immer wieder neu gebildet werden: als sich nie einholende Lektüre, die nicht automatisiert abläuft, sondern die Regeln, die dem Gedicht zugrunde liegen oder die das Gedicht sich selber schafft, anwendet, und stets anders oder neu erfährt.
Ohne sie gelehrt zu bekommen – weil sie in der Form des Gedichts als Inhalt wachsen, der nichts anderes ist als: Gestaltgehalt.

G.M. Hopkins nennt das Ingestalt (Inscape, davon später mehr).
Die Regel, die den Gestaltgehalt oder die Ingestalt in Ausrichtung, Widerspruch oder Gleichgewicht auf die Phantasie, besser: Imagination schafft, ist also paradoxerweise eine intuitive Regel.

Eine Regel und eine Imagination sind, in der Dichtung, etwas Gewähltes und Freies zugleich. Das heißt, gebunden an die Intuition des Dichters und an die Verbindung dieser Intuition mit etwas Festgelegtem. Wodurch das Werk, die Botschaft der Dichtung ständig in Schwebe gehalten wird.

Dieses Festgelegte wird vor dem Dichten gewählt, aber es verändert sich während des Dichtens, so dass sich das dichterisch Ausgesagte ständig in Bewegung hält. Was nicht unklar, verwischt heißen soll, sondern die Möglichkeit der Deutungen erhöht und potenziert. Um auf den Kern der Botschaft während der Lektüre vorzustoßen, besser: vorzuwandern. Denn es ist mehr ein Tasten, ein Schauen, das zur Einsicht führt, die eine Übersetzung ist; mehr als ein Blick, als eine Festlegung, als eine Erfassung wird es ein Tun, ein Gehen, ein Wandern.

Dichtung ist ein Tun, das seine eigene Poetik im Aufbau einer Welt mitreflektiert, indem es diese in ihrer beiden Kerne entwickelt, nämlich im Zusammenwirken. Die Welt und die Poetik, und diese als Ganzes sind: Inspiration, Imagination, Intuition und ein Regelkatalog, ein Kalkül, ein Regelmechanismus:

Diese andere Dichtung ist demnach nicht ein beliebiges Reden über einen besonderen Gegenstand, sondern ein besonderes Reden über einen beliebigen Gegenstand – so postulierte Hans-Jost Frey die Grundkonstellation in der Rede der Dichter.

Und das ist die Freiheit, die wohl auch Ernst Jandl gemeint hat, wenn er gesagt hat:
Für ihn sei Kunst (oder Dichtung) eine fortwährende Realisation von Freiheit –

und die kann doch nicht in der Beobachtung des Gegebenen liegen, das nur aufgenommen und widergespiegelt zu werden braucht, wenngleich das auch in kritisierender und in die Ideologie zurechtzurückender Weise geschehen sollte.

Ernst Jandl sagt es auf seine Weise lapidar klipp und klar, in der „schönen kunst des schreibens“:

Er schreibt nicht nur eine, sondern verschiedene Arten von Gedichten. Wozu er durch seine, wie er es nennt, persönliche Eigenart veranlasst wird. Er sucht nicht nur eine Freiheit, er setzt auf mehrere, die er in poetischen Schritten erreichen will: eine Freiheit im Spiel mit der Sprache, dieses Spiel verstanden als Voraussetzung jeder Poesie, da es befreit von der nützlichen Funktion der Gegenstände des täglichen Gebrauchs. So dass er nach dem ihn Humor und Theorieverzicht lehrenden Dadaismus das Gedicht selbst zum konkreten Gegenstand erklären kann, und es nicht als Aussage über einen solchen versteht.
Und den letzten Schritt, der sein erster ist, setzt er als Dichter in seinem kleinsten persönlichen Bereich, der aber der größte ist, nämlich im Bereich der Sprache: Er wehrt sich mit und in ihr gegen den gleichgeschalteten Applaus genauso wie gegen die gleichgeschaltete Empörung, die durch Literatur ausgelöst werden können. Und fordert deshalb eine Freiheit vor allem im:

Gegenteil dessen, nämlich im Brechen der Gleichschaltung. Und zwar durch Engagement gegen das Gegebene. Gegen das Normale – vor allem in der Dichtung, da sie den spezifischsten Punkt der Bindung des Einzelnen an die Welt darstellt. Diesen Punkt aus Punkten zu verändern, ist Engagement, das jeder für sich selbst zu orten hat. Das kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen ist, aber auf eine Basis des Schreibens an sich.

Entscheidend wird, auf dieser Basis, die Poesie selbst zu verändern, und zwar so:

Veränderungen am Gedicht durch Veränderungen dieser Sprache und sogar deren Struktur. Veränderungen, die im Gegensatz zu allem stehen, woran wir uns gewöhnt haben. Durch bewusstes Abweichen von der Logik der Alltagssprache und des zweckgerichteten Denkens, um den Bereich der Dichtung ins Unbeschränkte zu erweitern. Wie das?
Durch das Durchbrechen von Barrieren, den unzerstörbaren Befestigungen des so genannten menschlichen Charakters. Es geht der sich diesem widersetzenden Dichtung darum, die ANDEREN anders zu erreichen. Um vor allem mit sprachlichen äußeren Mitteln in diesen Menschen eine innere Bewegung wiederzubeleben, wie sie das Kindeserleben und den jugendlichen Wagemut kennzeichnete, und in den jeweiligen Lebensabschnitt zu übertragen.

Der Dichter darf sich, wenn er so das Neue dem Alten entlockt, nämlich in dynamischer Tradition, nie als Fertiger betrachten. Er muss sich darauf einstellen, nie fertig zu sein und es nie zu werden. Wenn er sich konträr zu allem Gewohnten und konträr zu denen verhält, die ihre Existenz auf diesem gründen.

Und schließlich die Conclusio Jandls für seine neue Kunst:

„Das Ende des Normalen ist der Beginn der neuen Kunst!!“

(…)

Ferdinand Schmatz

 

 

 

Vorwort der Herausgeber

Poetik-Dozenturen haben an den literaturwissenschaftlichen Instituten im deutschen Sprachraum eine lange Tradition, die Frankfurter Vorlesungen zur Poetik (seit 1959/60), die vergleichsweise junge Tübinger Poetikdozentur (seit 1996), die Heidelberger, die Hildesheimer, die Freiburger, die Mainzer, die Erfurter, die Kieler, die Basler Poetikdozentur seien beispielhaft genannt. Poetik-Vorlesungen an den Universitäten Klagenfurt, Innsbruck und Graz haben in Österreich seit Jahren Autorinnen und Autoren zur poetologischen Reflexion eingeladen, in Wien pflegt die Alte Schmiede mit der 1977 aufgenommenen Reihe internationaler Autorenseminare und der 1986 vom Schriftsteller Josef Haslinger und Kurt Neumann ins Leben gerufenen Reihe Wiener Vorlesungen zur Literatur eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit grundsätzlichen und aktuellen Fragestellungen der Literatur in Form wissenschaftlicher Untersuchungen, vor allem aber als schriftstellerische und dichterische Selbstreflexion. Diese zwei Ausgangspunkte ziehen seither ganz verschiedene Weisen und Methoden der Auseinandersetzung mit zeitgenössischem künstlerischen Schaffen und dessen denkerischen, ästhetischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nach sich.
Zehn Jahre nach dem Tod Ernst Jandls richteten 2010 die Alte Schmiede, das Institut für Germanistik der Universität Wien und die Gesellschaft zur Erforschung von Grundlagen der Literatur eine der dichterischen Haltung Jandls verpflichtete Dozentur für Poetik als vom österreichischen Bundesministerium für Kunst und Kultur gefördertes Gemeinschaftsprojekt ein.
Jedes Jahr wird im Sommersemester eine namhafte Persönlichkeit der deutschsprachigen und internationalen Dichtung eingeladen, in zwei Vorlesungen an der Universität über jeweils wichtig erachtete Themen zu sprechen, ob sie nun spezifisch literarische Fragestellungen aufgreifen oder allgemeine Problemstellungen gegenwärtiger individueller oder kollektiver Lebenszusammenhänge.
Die dichterischen und gesellschaftspolitischen Perspektiven Ernst Jandls sind dabei den jeweils vortragenden Gästen als mögliche Orientierungsmarken oder Korrespondenzpunkte angeboten und werden in das auf die Vorlesungen folgende Konversatorium mit einbezogen.
Die zwei Vorlesungen an der Universität sind in eine universitäre Lehrveranstaltung zu den Schwerpunkten Gegenwartsdichtung/Grundfragen der Poetik/Lyrikanalyse/Zur Theorie der Dichtung/Sprachsoziale Aspekte der Dichtung etc. eingebettet, jedoch allgemein zugänglich.
Das Konversatorium in der Alten Schmiede steht allen Hörerinnen und Hörern der zwei Vorlesungen offen.
In den Jahren, in denen der Ernst-Jandl-Preis in Neuberg an der Mürz vergeben wird, findet das Konversatorium im Rahmen der jeweiligen Ernst-Jandl-Tage ebendort statt.
Als erster Vorlesungsgast hat 2010 der aus Russland stammende, ab seinem 11. Lebensjahr in Deutschland aufgewachsene und ausgebildete Dichter, Rezitator und Übersetzer Alexander Nitzberg zwei Vorlesungen zum Themenschwerpunkt „Mnemosyne und Mnemotechnik“ gehalten.
Darin hat er zunächst versucht, einen ursprünglichen Selbstbegriff der Dichtung darzustellen. Dabei stützt er sich auf die Leitfigur der „Muse“, die als zentrale schöpferische Kraft gesetzt wird, die alle von Gedichten affizierbare Menschen miteinander in Verbindung setzen könne. Um das Geheimnisvolle dieser Kraft anschaulich zu machen, zitiert er so unterschiedliche Gewährsleute wie den antiken Dichter-Philosophen Platon und unseren dichterischen Zeitgenossen Ernst Jandl, um damit die Geheimniskraft der Dichtung gegen eine in seinen Augen nihilistische Analytik der Moderne und einen rhetorischen Zugriff von außen zu verteidigen.
Die als real gesetzte Muse bilde das Fundament eines Verbindungsbogens, der über den Dichter, sein Gedicht, den Rezitator und den Übersetzer bis zu den Hörenden und Lesenden sich spannen lasse.
Als bestimmende Eigenschaften der Gedichtstruktur nennt Nitzberg Kohärenz, innere Statik, Zentrizität und Punktualität, die das Sprach-Kunstwerk als wirkkräftiges Phänomen in einer metaphysischen Einheit des Seins verankern. In dieser läge auch seine Zirkelstruktur, die das Ende stets mit einem Anfang verbindet, begründet. So wäre auch eine kategorische Trennung zwischen Dichtungstradition und Dichtungsmoderne aufgehoben.
Als Bürgen dieser metaphysischen Sichtweise zitiert Nitzberg in seinen Vorlesungen eine Vielzahl von Dichtern, von Goethe über Puschkin, Hebbel, Rilke, Majakowski, zurück bis zum Humanisten Melissus und noch weiter zum „Vorsokratiker“ Anaxagoras.

Brigitte Kronauer sprach 2011 in ihrer ersten von zwei Vorlesungen unter dem Titel „Mit Rücken und Gesicht zur Gesellschaft“, die sie dem Thema „Avantgardismus“ widmet, über die Notwendigkeit der zeitgenössischen Literatur, „die allgemeinen Vereinbarungen über Dinge und Gesellschaft zu korrigieren“. Denn, so weist sie nach, selbst ein „naives“ bzw. „natürliches“ Erzählen vollzieht dramaturgische und stilistische Eingriffe, während es vorgibt, die „Wirklichkeit“ einfach so wiederzugeben, wie sie sei.
Bei Adalbert Stifter, Wilhelm Raabe oder William Carlos Williams entdeckt sie höchste Artifizialität und avantgardistische Techniken, mit denen „reale Geschehnisse“ dargestellt und charakterisiert sind. Ihren eigenen literarischen Entwicklungsgang positioniert sie im Rahmen dieser grundsätzlichen Auseinandersetzung zwischen „Wirklichkeit“ und sprachlichem Ausdruck und nennt den Roman Frau Mühlenbeck im Gehäus in dieser Hinsicht als für ihr gesamtes Schaffen zentrales Werk.
„Avantgardist sein“, so lautet das Resümee ihrer Überlegung, „heißt, den Interpretationsmustern, Vor- und Urteilen der Gesellschaft auf die Schliche zu kommen“.
In ihrer zweiten Vorlesung mit dem Untertitel „Über Politik und Literatur“ spürt Kronauer dem Verhältnis des Schreibens zu öffentlichen Kontexten nach, wobei sie das Politische als das versteht, „was das in sich kreisende Subjekt zum Kollektiv hin öffnet, also das Private in den gesellschaftlichen Kontext von staatlicher Macht, Kapital, Gesetz stellt und entsprechende Wechselwirkungen aufzeigt“. Fernab von agitatorischer Stellungnahme sei Literatur jedoch nur dann im Feld des Politischen überzeugend, wenn sie mit den ihr innewohnenden Spezifika operiert, „wenn sie als Gattung auf ihrem Arbeitsfeld durch nichts anderes zu ersetzen ist und Komplexeres als Information und Analyse, die sich zu einem Resümee konzentrieren lassen, dabei herauskommt“. Ausdrucksformen des Journalismus und der Literatur werden von Brigitte Kronauer in ihrer Unterschiedlichkeit erkannt, auch und gerade entgegen der postmodernen Auffassung ihrer Austauschbarkeit: Literatur sei der Versuch, „was journalistisch als möglichst präzise und objektive Information erscheint, durch den erregten Redner subjektiv einzufärben und es auf diese Weise relativiert in den literarischen Text zurückzubiegen“.

Ausgehend von Ernst Jandls Satz, dass Dichtung eine fortwährende Realisation von Freiheit sei, hat sich Ferdinand Schmatz im Sommersemester 2012 in seinen beiden Vorlesungen die Frage nach dem Zusammenhang von Synästhesie, Mimesis und Dichtung gestellt. Das Phänomen der Synästhesie ist in der Psychologie zwar seit über 100 Jahren bekannt, wurde aber dennoch häufig als Kuriosität behandelt und in der Forschung kaum weiter beachtet. In jüngerer Zeit aber hat man die „schwache Synästhesie“ als eine allgemeine menschliche Disposition und Grundlage von Metaphern erkannt: Den psychischen Regularitäten setzt Schmatz in seinen Überlegungen die Freiheit des Dichters und des Dichtens ebenso entgegen wie er die Auffassung, dass die Gesellschaft Einfluss auf die dichterische Inspiration ausübe, als „Dilemma von Gebundensein oder Gelenktwerden und der Freiheit der Wahl, vor allem die Freiheit der Inspiration“, kritisch beleuchtet. Dazu zitiert er Ossip Mandelstam:

Der Dichter wählt den Gegenstand für seine Gedichte selbst; die Gesellschaft hat nicht das Recht, seine Inspiration zu lenken.

Das Gedicht als Einheit von Inhalt und Form halte dem beliebigen Sprechen über besondere Gegenstände das besondere, ja bestimmte Sprechen über beliebige Gegenstände entgegen. Weil aber durch sprachliche Mittel innere psychische Vorgänge ausgedrückt und auch im Lesenden zum Nachvollzug angeregt würden, ermögliche Dichtung, dass – mit Adorno – „das dichtende Subjekt durch Identifikation mit der Sprache, in Form seines monadologischen Widerspruchs sein bloßes Funktionieren innerhalb der vergesellschafteten Gesellschaft“ negiert.
Theoretisch fundiert Schmatz sein essayistisches Forschen unter anderem mit Sigmund Freuds Auffassungen zu „wortvorstellungen“ und „Sachvorstellungen“, wobei für Schmatz in einer „quasi forschenden Dichtung“ sich nicht nur das ausgewählte Wort an die Gegenstände schmiegt, „sondern sich die Sache auch aus dem Wort heraus erzeugen lässt“. Anhand von Gedichten Brentanos, Chlebnikovs, aber auch eigener Gedichte, eröffnet Schmatz seine Vorstellung einer Verdrehung von Sensorik und Kognition in der Poesie, die zu einer „mimetisch konstruktive[n] Welt der anderen Wahrheit“ führt.

Mit dieser ersten Serie von Ernst-Jandl-Poetik-Vorlesungen liegen markante Setzungen gegenwärtigen Schreibens und Dichtens vor, die sich im Rahmen dichterisch-philosophischer Selbst-Bestimmungen der europäischen Literatur (und Literaturgeschichte) positionieren.

Thomas Eder und Kurt Neumann, Vorwort

 

Brigitte Kronauer, Alexander Nitzberg und Ferdinand Schmatz

sprechen über Dichtung: Im Rahmen der Ernst-Jandl-Dozentur für Poetik gewährten die deutsche Autorin Brigitte Kronauer, der russisch-deutsche Dichter und Übersetzer Alexander Nitzberg und der österreichische Dichter Ferdinand Schmatz Einblicke in Positionen poetischen Schaffens.
In diesem Band sind ihre erhellenden Bemerkungen zu Grundlagen und modellhaften Beispielen für zeitgenössisches Dichten versammelt, herausgegeben und mit einem Vorwort von Thomas Eder und Kurt Neumann.

Haymon Verlag, Klappentext, 2013

 

Dichtung für alle – Drei Vorlesungen zur Poetik

– Die Wiener Ernst-Jandl-Poetik-Vorlesungen der drei dichterischen Persönlichkeiten der Gegenwart Brigitte Kronauer, Alexander Nitzberg und Ferdinand Schmatz, erhältlich in einem Sammelband, lassen in erfrischend unterschiedlichen poetologischen Überlegungen doch eine gemeinsame Achtung vor der fortwährenden Realisation von Freiheit in der Dichtung erkennen, ganz im Sinne Ernst Jandls. –

Die ersten drei Wiener Ernst-Jandl-Vorlesungen zur Poetik sind nun in dem von Thomas Eder und Kurt Neumann herausgegebenen Buch nachzulesen. Die GegenwartsautorInnen Alexander Nitzberg, Brigitte Kronauer und Ferdinand Schmatz stellen darin fundamentale Überlegungen zur Dichtung an. Das Fundament, das immer wieder gesucht wird, ist ein besseres Verständnis des eigentlichen Kerns von Dichtung überhaupt. Die AutorInnen schlagen dabei teilweise auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Wege ein: Nitzberg schürft tief in der Vergangenheit der Anfänge der griechischen Kunst und Philosophie, Kronauer orientiert sich an der Avantgarde und lässt keinen Zweifel daran, dass Kunst modern und zukunftsorientiert sein muss. Und doch zeigt eine genauere Musterung der Beiträge Gemeinsamkeiten, die nicht zuletzt auf den Einfluss Ernst Jandls zurückzuführen sind, der allen Vorlesenden als Orientierungspunkt diente.

Alexander Nitzberg sieht das zentrale künstlerische Prinzip in der Muse, die er als real existent versteht. Sie inspiriert den Künstler und sie kann mit einer magnetischen Kraft verglichen werden, die auf den Dichter, das Gedicht, den Rezitator und den Rezipienten wirkt und dabei eine zyklische Wirkung entfaltet, die immer auch schon vom Ende her gedacht werden muss. Ihr Wesenskern liegt aber darin, dass sie den Künstler mit der Mnemosyne, deren Tochter sie ist, verbindet, der Erinnerung an die metaphysische Einheit des Seins trotz der Mannigfaltigkeit der veränderlichen Erscheinungen. Dieses parmenideisch gedachte Sein weist die Eigenschaften der Kohärenz und Statik auf, die das Kunstwerk auch erkennen lassen muss, um die Wiedererinnerung an dieses überzeitliche Grundprinzip zu ermöglichen. Nur diesem inneren Prinzip gehorchend, muss die Kunst alle äußeren Zwecke wie die Abbildung der Wirklichkeit von sich weisen, und verstößt auch oft stark gegen die Gesetzmäßigkeiten der alltäglichen Sprache, wenn sie als Dichtkunst mit Sprache arbeitet und diese wie bei Ernst Jandl umgestalten muss, um sich selbst gerecht zu werden. Darin erweist sie ihre Freiheit.

Ohne platonische oder parmenideische metaphysische, ewige Prinzipien auskommend, ist Literatur aber auch für Brigitte Kronauer eine Anstrengung, sich vom Alltäglichen und Gewohnten zu befreien. Denn nur durch den avantgardistischen Versuch, den erpresserischen und oft kaum bewussten Vereinbarungen des je gegenwärtigen gesellschaftlichen Kollektivs zu entkommen, kann eine ganz persönliche, spezielle, noch nie dagewesene Perspektive auf die Wirklichkeit entfaltet werden, die für die Literatur essenziell ist, und schließlich sogar eine Gegenwirklichkeit erschaffen werden (damit ist auch für Kronauer die Kunst wie für Nitzberg der Ort einer anderen, nichtalltäglichen metaphysischen Sphäre, doch während diese bei Nitzberg eine schon ewig hinter den Erscheinungen liegende ist, die durch die Kunst aufgedeckt wird, wird sie bei Kronauer durch die Kunst erst erschaffen). Dieses Unternehmen schließt eine Dekonstruktion der alltäglichen Sprache ein, wie sie Ernst Jandl in beispielhafter Weise unternommen hat, um so zu etwas Neuem erst gelangen zu können. Es schließt aber auch etwas aus: die bloß politisch motivierte oder nur gesellschaftlich relevante Literatur, die kaum mehr ist als das, was Journalismus besser leisten könnte und darüber hinaus keinen literarischen Eigenwert besitzt. Sollen politische Stoffe literarisch bearbeitet werden, dann empfiehlt es sich, deren Präsentation subjektiv einzufärben – es geht also wieder um eine originär persönliche Perspektive – um die Souveränität der Literatur als Kunstform gegenüber dem Bereich der Politik zu behaupten.

Ferdinand Schmatz widmet sich der Synästhesie in der Dichtung. Den Naturgesetzen folgend, die dem Menschen Grenzen setzen, sieht er mit den Augen, hört er mit den Ohren, spricht er mit dem Mund, riecht er mit der Nase und greift er mit der Hand; Sinneseindrücke sind an bestimmte Sinnesorgane gebunden. Die Wissenschaft kennt zwar das Phänomen der Synästhesie, des gemeinsamen Anklingens eines Sinneserlebnisses in einem anderen Sinnesgebiet, doch kennt es dies nur als zufällig auftretende und fast vernachlässigbare Abweichung von der Regel. In der Dichtung aber weicht die Synästhesie von dieser Regel nicht zufällig ab, sondern sie durchbricht sie – und zwar ganz bewusst. Durch die gegenseitige Durchdringung von Sinn und Sinnen kommt es zu einer neuen Welterzeugung. Bei Schmatz wird dieser schöpferische Akt der Dichtung noch stärker betont als bei Kronauer.

So unterschiedliche Wege die drei SchriftstellerInnen einschlagen, ob sie weit zurück in die Vergangenheit oder weit voraus in die Zukunft blicken, ihre Überlegungen zu den Grundlagen der Dichtung haben doch einen gemeinsamen Kern: Ernst Jandls Verständnis von Dichtkunst als fortwährende Realisation von Freiheit, dem sie sich alle verpflichtet fühlen. Der Dichtung wird eine Souveränität gegenüber Einflüssen von außen, die dazu neigen, ihr Regeln vorzugeben, zugesprochen. Es werden dann jeweils die verschiedenen Anstrengungen beschrieben, sich solchen Regeln in ihrer Vielgestalt zu entziehen – den Regeln der gewöhnlichen Sprache, den Regeln der unausgesprochenen gesellschaftlichen Vereinbarungen, den Regeln der Natur – und dadurch die künstlerische Freiheit immer wieder zu realisieren.
Doch an diesem Anspruch müssen sich die vorgebrachten Überlegungen auch messen lassen. Und so kann man bei Nitzberg und Kronauer – bei Schmatz weniger, denn so große Begeisterung er für die Synästhesie zu wecken versteht, scheint er die Poesie doch nicht auf sie verpflichten zu wollen –, die doch so etwas wie die Essenz der Dichtung herauszuarbeiten versuchen, die Frage stellen: ist es nicht eine allzu große Einschränkung der Freiheit der Kunst, wenn man sie auf Merkmale verpflichtet – Statik oder Kohärenz bei Nitzberg – oder ihr etwas untersagt – die politische Intervention bei Kronauer – und dabei doch einiges aus dem Feld der Literatur ausschließt, so Nitzberg den Naturalismus? Und manchmal sind diese Festsetzungen auch nicht ganz überzeugend argumentiert: Kronauers Wertschätzung von persönlichem Mut für politische Überzeugungen jenseits des literarischen Schaffens einerseits sowie ihr Hinweis auf hin und wieder aber auch bei Literaten fehlende politische Urteilskraft andererseits stützen ihren Ausschluss politischer Motive aus der Literatur mangelhaft. Ersteres ist keine Begründung für diesen Ausschluss, und zweiteres provoziert folgenden Einwand: es mag politisch urteilsfähigere und politisch weniger urteilsfähige Autoren geben; geht man nun optimistisch davon aus, dass die erste Gruppe allgemein eine größere Affinität zu politischer Literatur hat, was ist dann dagegen einzuwenden, wenn sie sich dieser zuwendet? Aber abgesehen von wenigen Fragwürdigkeiten wie diesen in den – auch bei heute so ungewohnten Theorien wie der Metaphysik der Musen – überwiegend sehr nachvollziehbaren und erhellenden Überlegungen bleibt das Grundproblem doch: wie vertragen sich die Bemühungen, Dichtung auf einen – wie gesagt, an manchen Stellen engen – Begriff zu bringen, mit den Motiven der Grenzüberschreitung und des Freiheitsstrebens?
Aber möglicherweise handelt es sich dabei nicht um einen problematischen Zug der speziell in dem Band vorliegenden poetischen Ausführungen, sondern um ein Grundproblem solch literaturtheoretischen Denkens überhaupt. Denn wenn man die Frage nach einem Prinzip oder essenziellen Merkmalen der Dichtung stellt und nicht grundsätzlich schon für veraltet hält, wie möchte man dann zu Antworten – und seien es auch nur Teilantworten – gelangen, ohne in ihnen immer schon etwas auszuschließen? Wenn man sich nicht stattdessen auf andere literaturtheoretische Fragen wie die nach den gesellschaftlichen Funktionen von Literatur beschränkt oder überhaupt nach dem historisch je Ausgeschlossenen fragt anstatt wiederum etwas auszuschließen, welche Möglichkeiten ja seit einigen Jahrzehnten auch gerne ergriffen werden, sondern wenn man auch diese sehr traditionellen Fragen noch für einer Beschäftigung wert hält, dann wird man diesem Problem der Begrenztheit nicht ausweichen können.
Und vielleicht sind solche Grenzen, wenn auch nicht als absolute und für alle Zeiten, sondern nur begrenzt, gültige, ebensogut Teil der Dichtung wie ihrer Theorie. Denn wird ein Kunstwerk in Freiheit geschaffen, so werden damit nicht nur eventuell Grenzen durchbrochen, sondern es werden auf jeden Fall auch Grenzen gesetzt: indem man aus unendlichen Möglichkeiten des Gestaltens je eine wählt, findet eine Selbstbeschränkung statt. Selbst in der avantgardistischen Erforschung neuer Möglichkeiten grenzt man sich ja vom Bisherigen ab. Das Durchbrechen von Grenzen und die Selbstbegrenzung scheinen somit nicht voneinander zu scheiden zu sein und beide untrennbar zum künstlerischen Schaffensprozess, der fortwährenden Realisation von Freiheit, dazuzugehören. In diesem Sinne kann man den Sammelband nicht nur als Kollektion literaturtheoretischer Gedankengänge, die einen in anspruchsvolle Gespräche mit der Literatur versetzen, verstehen, auch nicht nur als Beiträge zur Merkmalsbestimmung der Dichtung als fortwährender Realisation von Freiheit, sondern sogar als lebendiges Zeugnis dieses Fortwährens selbst, Ernst Jandl nachfolgend.

Calvin Kiesel, Die Ernst-Jandl-Lyriktage 2013

Dichtung für alle

Längst haben sich vergleichbar mit Zeremonien an alten Kultstätten sogenannte Poetik-Vorlesungen etabliert, meist bleiben dabei die Germanisten unter sich und huldigen einander mit exzentrischen Thesen. Oft ist allerdings auch die Öffentlichkeit zugelassen und die Referenten bemühen sich, etwas Sinnvolles über das Unsagbare der Dichtung zu sagen. Bei den Wiener Ernst-Jandl-Vorlesungen zur Poetik stellen die Autorinnen und Autoren oft von markanten Sagern Ernst Jandls ausgehend ihr Werk unter dem gegenwärtigen Licht der Eigen-Rezeption in der Alten Schmiede Wien vor.
So bietet Alexander Nitzberg 2010 zwei Wege an, sich Gedichten zu nähern, entweder Gedichte zu lesen und eine Theorie zu erfinden, oder sich einen Sinn der Poetik zu überlegen und diesen mit Gedichten zu unterlegen. Er bezieht sich auf das Diktum Ernst Jandls wonach die Kunst eine fortwährende Realisation von Freiheit ist. (S. 43) Bei jedem Gedicht gibt es einen rhetorischen Zugriff von außen und einen poetischen von innen. (Unsereins denkt bei Zugriff freilich meist an einen Polizei-Einsatz.) Die Faustregel lautet: Ein Gedicht ist kein Text! (S. 53) Der Musiker Nitzberg vergleicht diese Thesen mit der Musik, wo es ja auch das Dreigespann Muse-Werk-Mensch gibt.
Brigitte Kronauer geht als Prosa-Schriftstellerin 2011 in anderen Schritten auf das Publikum zu, sie stellt das Verhältnis Politik und Poesie unter den Titel „Mit Rücken und Gesicht zur Gesellschaft“. Als Schlüsselerlebnis im Umgang mit Literatur und Politik beschreibt sie ein Frühstück nach einem langen Winter, wo zum persönlichen Frühling die Schlagwörter den politischen Stoff abliefern. Der persönliche Eindruck mündet in künstlerischen Lösungen. Verlässlich hilfreich ist in diesem Zusammenhang „das Alte“ bei Stifter, worin jeweils das Neue Platz hat in ganz anderer Form als in der Avantgarde, die durchaus vergreisen kann. (S. 86) Jandls Gedicht vom Heimkommen beinhaltet alle diese Komponenten vom Vertrauten und Tages-spezifischem Neuen. „Ins Innere aber kann nur die Vorstellung schauen, und das einzig zugänglich Innere ist das eigene“, wird Dorothea Dickmann zitiert. (S. 108) Ferdinand Schmatz schließlich stellt seine Vorlesung 2012 unter den Untertitel „Dichtung im Garten der Sinne und des Verstandes“. Die Aufgabenstellung des Dichters lautet vielleicht: Das Ende des Normalen ist der Beginn der neuen Kunst. (S. 139) Am Beispiel des Gartens werden die drei Wesensmerkmale Wort, Bild, Metapher als Garten der Natur, Garten des Gehirns und Garten als begriffliche Natur erschlossen. Die Gedankengänge überprüft Ferdinand Schmatz anhand seines eigenen Gedichtbandes Tokyo, Echo.
Drei Vorlesungen über drei Jahre, die den Leser einladen, sich seinen eigenen Zugang zum poetischen Wald freizulegen.

Helmuth Schönauer, aus Helmuth Schönauer: Tagebuch eines Bibliothekars, Bd. V, 2013–2015, Sisyphus, 2016

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber Thomas Eder
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Zum 60. Geburtstag von Ferdinand Schmatz:

Thomas Eder: Poeta Doctus
Die Furche, 7.2.2013

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shi 詩 yan 言 kou 口

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Ferdinand Schmatz

 

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