LEBEN AUF DER KIPPE
Ihr da oben ich da unten schau nicht eben herab
doch Neid ist es nicht was da grünt auch im Tale
Mein lieber Jäger lauf lauf lauf
jage die Zeit meine Zeitgenossen wir kennen uns
aaaaaschon
ihr überrundet mich maßlos und holt mich nicht ein
Ich schmücke den Wagen mit allem was von euch fällt
„Kadergespräche“ – „ich muß mich fügen“ und
„wenn er so rücksichtslos die ganzen Jahre in Interhotels verkehrt hat…“
Die Zeit die Zeit keucht das Altersheim an der Kehle
der neugebaute Horizont steht in Flammen drum
Komm ins Offene, Freund, laß dich heut gehen
fall zu den andern ins Gras
Der Schnitter dengelt die Sense eine rostige Wolke
macht alle gleich
nur in der Kleingartensparte Grönland am Fußball und Lindenberg
hackt Hotte Hein heute hurtiger als all die andern
Doch auf der Schambehaarung des Krieges kugeln die Köpfe
talwärts blättert der Wind die Kapitel blüht eine Lust
in der Senke zerschellte Schlittenkufe Saison Oderbruch
Kippe ich ab und zu den Quellen?
Auf meinem Schoß sitzt das Kind
als wäre es noch nicht geboren
Johanniskraut wie B. schon sagte macht unsichtbar
Die litauischen Genossen wissen ein Lied davon zu singen
Weißdorn und Rotdorn im August blühn die Rosen und überm Keller
über atomsicheren Keller notabene ein Schwalbenpaar
Schiebt übern Parkplatz den Bienenwagen:
Wir Fußgänger grüßen das werktätig fahrende Volk.
„Gedichte sind gemalte Fensterscheiben“ etc.
Goethe
Brigitte Struzyks Gedichte sind Aufzeichnungen beobachteter Situationen und Vorgänge dieser Zeit. Man schaut mit ihr nicht vom äußeren Markt des Lebens in die düstere Kirche, den Kunstraum, der sich erst erhellt, wenn ihn der Eingeweihte betritt. Zwischen Kunst und Leben, zwischen innen und außen gibt es bei ihr keine Trennwände. Sie beschreibt ,nur‘ Äußerlichkeiten und spricht dabei von ihrer inneren Befindlichkeit, unsentimental. Wenn sie sagt, wie es eigentlich um sie bestellt ist, gibt sie scheinbar nichts als Tatbestände; ohne die Stimme zu heben. Und indem sie diese kaum wahrnehmbare Bewegung von der Beobachtung zur Erfahrung, vom Betroffensein zum einfachen Vorgang hin so wirklichkeitsgetreu und wahrhaftig es ihr möglich ist aufs Papier bringt, gewinnt sie den Moment, den man dann Poesie nennen kann.
Was mir an ihren Texten gefällt, ist, daß die sich gegen die gemalten Fensterscheiben des herkömmlichen Gedichts sträuben und durchsetzen, selbst wenn sie hin und wieder üblicherweise gereimt sind. Mit dem Anspruch, etwas zu ,poetisieren‘, treten sie gar nicht erst auf; der bedeutungsvolle dichterische Zeigefinger – ,jetzt paßt aber mal gut auf, was ich euch zu sagen habe!‘ – fehlt; Lebensweisheiten oder irgendwelche Programme werden nicht verkündet. Eine Frau spricht von dem, was sie liebt, was sie haßt, was sie freut, was sie zornig macht. Eine Frau, die Kinder hat und deshalb weiß, wie anderen Frauen und Kindern zumute ist. Die davon mitteilen kann, was sie selbst einmal als Kind, später als Mädchen empfunden hat und was in ihr so lebendig geblieben ist, daß wir daraus eine unauffällige Lebensgeschichte ablesen können. Eine Landschaft mit Straßen, Häusern, Plätzen, z.B. Weimar – „Hier wohnte Goethe“ – oder Berlin – Oderberger Straße, Fennpfuhl –, mit alltäglichen Szenarien und den dazugehörigen Verrichtungen, wie aufwachen, duschen, s-bahnfahren, sich-erinnern, zähnezusammenbeißen, warten, verreisen, zunichtskommen, türen-offenlassen, verzagen, kleid aufknöpfen, nehmen und geben, kommen und gehen.
Brigitte Struzyk scheut sich nicht, die Dichter zu zitieren, die sie schätzt und denen sie manches verdankt – und sei es nur den Kontrast. Aber sie bedient sich nicht der Requisiten aus ihrem metaphorischen Fundus, sondern des „Mörtels der Mischsprache“ (Nicolas Born), die auf unseren Straßen heute von den Fußgängern gesprochen wird. Plötzlich reißt hier und da eine Zeile, ein Vers alle gewohnten Einzelheiten, diese einzelnen Gewöhnlichkeiten, auf (ich zitiere wahllos):
Im kalten Krieg trug ich ein Männerhemd
Am Fensterkreuz hängt ihre Heiterkeit
Meine Liebe ist das schwarze Tuch Nacht um
deinen weißen Leib
Liebe? Über sie wird nicht geredet, sie ist in diesen Versen anwesend, sinnlich, rückhaltlos, ohne Scheu und show. Emanzipatorisches ist diesen Versen nicht postulierend oder provozierend als „Leitfaden“ mitgegeben, es wird getan – frei nach G.
Arm am Beutel
Kind am Herzen
Leben auf der Kippe? Das meint wohl nichts anderes als ein sich Alternativen offenhaltendes, gleichzeitig bedrohtes wie gegen alle Verfestigungen sich sträubendes Leben – eben bis auf jeden, auch den letzten Vers.
Gerhard Wolf, Nachwort
Weibliche Lyrik ist nicht alltäglich. Auch in der DDR-Literatur, deren Prosa durch die weibliche Perspektive nachdrücklich mitbestimmt wird, blieb die Lyrik monistisch. Sie scheint kaum berührt von den unterschiedlichen Weisen der Weltsicht und Weltaneignung der Geschlechter. Die Rede ist hier nicht von Frauen, die Gedichte schreiben. Als weibliche Lyrik soll vielmehr diejenige bezeichnet werden, die darauf stößt, daß das Maß der Individualität für Frauen ein anderes ist als für Männer. Das lyrische Ich jedoch ist gerade durch die Tradition der deutschen Lyrik von männlichem Selbstbewußtsein geschaffen und ausgeprägt. Also ist die Auseinandersetzung mit jener Subjektivität, die der Gattung eingeschrieben ist, eigentlich unumgänglich, wo Lyrikerinnen eine Bestimmung ihres Selbst versuchen.
In den Gedichten von Brigitte Struzyk wird diese Spannung ausgetragen. Die Lyrikerin hat die Erfahrung gemacht, daß es nur einfach scheint, ein Gedicht mit dem Pronomen Ich zu beginnen. Allzu leicht nämlich kann diese Matrize persönliche Erfahrung in unpersönliche Sprache umformen. Struzyk geht daher diesem „Ich“ aus dem Wege, auch wo sie von sich spricht wie in dem Gedicht „Momentaufnahme“:
Es gibt Frauen
sie tragen
wie Geister
aus dem Keller
die Kohlen
Arm am Beutel
Kind am Herzen.
In nicht wenigen Gedichten läßt sich das Paradoxon beobachten, daß eben dort, wo die Umwelterfahrung der Frau als Lebenstatsache des Individuums ausgedrückt werden soll, die dritte Person Plural verwendet wird. Beschreibungen von Sachverhalten wie in dem Gedicht „Frauen“ oder skurrile Dinggedichte wie „Karriere eines Gummistiefels“ und „Geständnis eines Katalysators vorm Ausschuß für Seelenhygiene“ übernehmen die Aufgabe der Vermittlung.
Brigitte Struzyk hat aber andererseits auch begonnen, sich direkt mit dem männlichen Ich zu konfrontieren. Den Datierungen des Bandes zufolge ist dies ein Zuwachs der letzten Jahre. Sie wehrt sich gegen dessen Selbstbewußtsein wie in dem Gedicht „Entgegnung“. Der Text setzt mit einer Anspielung auf den Titel „Ich, beispielsweise“ ein, den Heinz Czechowski seinem 1982 bei Reclam erschienenen Gedichtband gab. Struzyk konstatiert in ihrem Gedicht, wie mühselig und verwirrend es ist, ohne Anleihen bei männlichem Identitätsgefühl auszukommen. Eine Verständigung darüber scheint kaum möglich. Dennoch bekennt sich das Gedicht zu diesem Durchgangsstadium der Provisorien. Aus der Perspektive des keimhaften weiblichen Selbstbewußtseins, die es behauptet, nimmt sich die Welt freilich recht unfest aus; ständig droht das „Chaos der Dinge“ die Oberhand zu behalten. Nur auf dem Wege der „Entgegensetzung“ vermag die Lyrikerin es zu bewältigen. So entwirft sie ihr „kleines Weltbild“, das von anderen Umwelterfahrungen, wenig Reflexion und viel Unmittelbarkeit gespeist ist. Muß doch von weiblichem Empfinden des Abstoßenden und Anziehenden, von weiblicher Beziehung zu den Kindern, von einem „nie richtig geborenen Teil der Schöpfung“ und schließlich auch von einem Alltag gesprochen werden, dem es sich auszusetzen und standzuhalten gilt. Die polemische Wendung gegen Czechowski nimmt dessen Lyrik nicht als Ausdruck persönlicher Erfahrung, sondern erklärt den Titel pars pro toto zum Exempel jener männlichen Unbedenklichkeit, die die suchende Lyrikerin herausfordert, vielleicht auch verletzt.
Der Alltag belastet Frauen mehr als Männer. Die Verrichtungen der Reproduktion des täglichen Bedarfs kennzeichnen ihre Umwelterfahrungen. Bei Struzyk werden sie mit einem Maßstab der Leistungsfähigkeit konfrontiert, in welchem die Frau sich mehr oder weniger verneint findet: „komme zu gar nichts“, „wieder nichts geschafft“, „nie richtig geboren“ heißen die entsprechenden Kennwörter in „Entgegnung“. Unsicherheit steht gegen Selbstgewißheit, Kinder stehen gegen erbrachte Leistungen, der ewige Alltag mit Chaos und Einerlei gegen die Klarheit der Gedanken. Das Gedicht schickt sich an, den Knoten mit einer lapidaren Wendung zu lösen:
Und das finden Sie in Ordnung?
Die Anstrengung, sich selbstironisch zu fassen, ist aber der Frage des Gedichts unangemessen und löst nichts. Der Grund ist noch schwankend, den die Lyrikerin betritt. Das aber beweist nichts gegen die Wichtigkeit ihrer Frage, wie nämlich der Rollenkonflikt der Frauen, welcher längst konstatiert ist, im Bewußtsein der Persönlichkeit bewältigt werden kann.
Der Gedichtband trägt einen treffenden Titel: Leben auf der Kippe. Das Titelgedicht, aus dem Jahre 1983, stellt einen Weltentwurf eigener Art dar. Das Dasein findet sich darin als ein Balanceakt beschrieben. Die Welt scheint, so wie sie ist, aufgestellt, das Ich aus seiner Bahn zu bringen. Sie droht mit Kriegen, mit Katastrophen, aber eben auch mit Unempfindlichkeit und Gleichgültigkeit. Die Anforderungen heißen Zeitdruck, Zielstrebigkeit, Selbstbeherrschung. Das alles wird im Gedicht zu einem Knäuel verwirrt. Das Ich des Gedichtes beschreibt sich selbst in Verlustanzeigen und Differenzbeträgen: Lust scheint portioniert, Disziplin schafft Leiden, Tätigkeit wird als Druck empfunden, und was Muße sein soll, wird im Gedicht als Vereinsamung durch Rückzug ins Privatleben von Kleingartenanlagen und Fußballplätzen dargestellt.
Mütterlichkeit wird zum festen Punkt, von dem her dieser verwirrenden Folge fremder Einflüsse ein Wille entgegengesetzt kann. „Kippe ich ab und zu den Quellen? / Auf meinem Schoß sitzt das Kind / als wäre es noch nicht geboren.“ Der Gang zu den Müttern und die Verantwortung für die kommende Generation, eine und nach ihr viele, wären diesem Text zufolge das Gefäß der Identität, worin persönliches Selbstgefühl und Zuständigkeit für das Ganze, für die Gattung, zusammenstimmen. Eine tätige Haltung ist auf die Zuständigkeit des Mütterlichen freilich nicht zu gründen. Das Gedicht arbeitet sich an der Unfreiheit des Ich gegenüber seiner Welt ab. Es „kippt“, wie der Titel signalisiert, von einer sprachlichen Ebene zur anderen. Sprachbrocken sind montiert und durch Anführungszeichen herausgestellt. Das Hölderlin-Zitat stößt an das Sprachklischee des Treppenhausgeschwätzes; die amtliche Sprache an die Allerweltsredensarten, mit denen Konflikte leichtgenommen werden. Unterschiedliche Wirklichkeiten stehen in diesen „Sprachen“ unvermittelt nebeneinander. Es wird nicht geglättet, nichts angeglichen. Darin liegt eine authentische Mitteilung des Textes. Es wird aber auch nicht geordnet, nicht durchdrungen. Das macht die Unbeholfenheit des Gedichtes aus. Die Sarkasmen, mit denen es schließlich endet, ersetzen natürlich nicht die Bewältigung des vorher aufgerufenen Erfahrungsmaterials.
Ob eine solche Bewältigung zu fordern wäre, muß hier offenbleiben. Brigitte Struzyk sucht nicht die Klärung, sondern strebt eher danach, die undurchsichtige, überwältigende, sie bedrängende Erfahrungsfülle hervorzuziehen und zu zeigen. Gedichte der siebziger Jahre sind einfacher, und man wird sie auch klarer nennen als jene kleinen Apokalypsen; die sie 1983 mehrfach, so auch in „Rückwärts den Berg hoch“, „Vor der Schöpfung“ als Bild ihrer Welt vorstellt. Und immer liegen die authentische Mitteilung und der Anschein ungezügelten Sprachmaterials dicht beieinander. Kein Zweifel jedoch, daß die Auseinandersetzung, welche diese Gedichte prägt, sich wirklich ereignet und nötig ist.
Keine Krise, auch nicht die weiblicher Identitätssuche, kann überwunden werden, ohne daß man sich ihr vorher ausgesetzt hätte.
Ästhetische Kriterien gelten dieser Lyrikerin wenig. In vielen der früheren Gedichte begegnet man abgenutzten Bildern, Allerweltsgedanken, sattsam bekannten Motiven. Dazu gehören die Neubauviertelgedichte wie „Fennpfuhl“ oder „Katzen im Neubau“, gehören Gedichte in der Art von Genrebildern auf historische oder literarische Ereignisse, gehören auch Porträtgedichte, sie alle voller Anspielungen, Zitate, sich assoziativ mitteilend. Wenig originell gestaltet sich auch die sogenannte Erbebeziehung. „Seifengasse“ belächelt Goethes Beziehung zu Charlotte von Stein. Das Gedicht „Verschlossen“ verfremdet Hölderlins „Gang aufs Land“. Die schönen Worte Hölderlins werden mit den Redensarten eines banalen und lieblosen Dialogs zwischen einem zeitgemäßen Paar konfrontiert. Als Parodie mag das passieren. Doch weiß man nicht, ob hier das Ideal das Leben kritisiert oder umgekehrt.
Der Eigensinn der Lyrikerin bewährt sich jedoch, sobald sie sich ihre eigenen Bilder schafft. Das Gras ist eines der Motive, die durch den Band hindurch als stetiges Zeichen, wenn auch mit wechselnder Bedeutung, wiederkehren. Zuerst ist es Zeichen des Erinnerns wie in „Kindheit“ aus dem Jahre 1974. Noch 1983 bezeichnet es die Möglichkeit einer freundlichen Welt in „Morgen im Park“: Gleichzeitig wird es zum „Gras des Vergessens“, das das Unrecht überwächst in „Rückwärts den Berg hoch“. Einmal spielt der Text mit den sinnlichen Äquivalenten solcher Namen wie Zittergras, Schmälgras oder Süßgras. Das andere Mal sind die Worte des Sinnlichen entkleidet, als Redensarten behandelt. In dem Gedicht „Gras“ von 1977 schließlich bekommt man zu sehen, wie das eine sich ins andere verwandelt. Die Geschichte als Krieg fällt über dieses Zeichen zarter Hoffnung auf die Beständigkeit des Unscheinbaren her und zerstört dessen Wertigkeit:
Im Krieg wirds beschrieben
von Blut. Grün und Rot.
Die darunter sind tot, die auf Wiesen gesessen.
Nun Gras drüber. Vergessen?
Auch Hoffnung auf Liebe geht durch den ganzen Band hindurch. Geschichten versagter Liebe anderer werden erzählt. („Paul und Simone“). Man begegnet Gedichten von fröhlicher Sinnlichkeit. In diesen glücklichen Fällen gibt es, keine Schwierigkeiten mit der Sprache, sie schmiegt sich der sinnlichen Erfahrung an. Die weitaus meisten Gedichte aber, die von Liebe reden, werden zur Bestandsaufnahme des Alleinseins. Darin verzeichnet die Sprache die Gefährdung des Selbstgefühls durch Starre und Brüchigkeit. Schließlich vermag man kaum zu unterscheiden, ob fehlende Verständigung und der Schmerz, auf sich selbst zurückgeworfen zu werden, gestörter Liebe zwischen zwei einzelnen oder dem Ausfall von Verständigung zwischen den Menschen generell anzulasten sind. In Struzyks Gedichten ist „Die Luft starr von Waffen“ („Nachtstück“); Liebe „vor die Tür gekehrter Hausrat / eine Friedenstaube aus Nachkriegsgrundschulheften“ („Meine Liebe“) und in „Status quo“ konstatieren die drei Sätze, aus denen das Gedicht besteht, ein wortkarges Urteil über die Aussicht, von anderen Menschen, einem oder vielen, angenommen zu werden. Viel Hoffnung ist nicht, aus der Beziehung zu anderen Menschen die vermißte Selbstgewißheit schöpfen zu können.
Solchen Gedichten soll man nicht entgegenhalten, daß das alles, Liebe, Freundlichkeit, Verstandenwerden, schon noch zu finden sei, die Perspektive also einseitig, die Konflikte selbstverschuldet wären. Denn es geht nicht um Schuldzuweisungen. „Selbstverschuldet“ heißt ein Gedicht; ein anderes, das über Liebe spricht, hat den Titel „Unzeit“. Der Konflikt in diesen Text kommt zweifellos aus dem Ich selbst, aus seinem Willen, nicht im Zustande einer negativen Subjektivität, als Abglanz der männlichen oder von ihm bestimmt zu verharren. Die Kochtöpfe, von denen in den Gedichten so oft die Rede ist, bleiben ein Hemmnis, praktisch wie geistig, das sich nicht mit einer großzügigen Gebärde wegwischen läßt. Insofern ist der Konflikt in Struzyks Gedichten kein singuläres Ereignis. Nur, so scharf wie hier zeichnet sich nicht immer ab, daß Emanzipation Aufbruch, nicht aber Ankunft bedeutet. Ohne viel Kunst tritt er zutage in den Gedichten einer Frau, die, gleichviel ob durch Not oder Absicht, auf sich selbst gestellt ist.
Ursula Heukenkamp, neue deutsche literatur, Heft 393, September 1985
– Zu Ursula Heukenkamps Rezension des Gedichtbandes Leben auf der Kippe, NDL 9/85. –
Ich, beispielsweise, nehme meine „wenig originelle Erbebeziehung“ ernst: „Ein freier Mann, der sich nix am Zeug flicken läßt“ ist Hölderlin für Ernst Zimmer, seinen Kammerwirt. Mein Maß ist klassisch: Menschenwürde.
Ich gehe davon aus, daß mich mit Ursula Heukenkamp eine gemeinsame Sache verbindet – das setze ich voraus, um das Trennende zu umreißen.
Fangen wir am Anfang an. Was, frage ich die Rezensentin, ist das Maß der Individualität für Frauen und Männer? Anders, ist die Antwort. Sie klingt nach dem Unterschied zwischen einem Raben. (Er hat zwei gleichlange Beine, besonders das linke.)
Mir graut vor Nebelhaftem, denn für mich ist das Maß für die Individualität des Menschen (Kind, Frau und Mann) deren Bedingung zugleich: Die Freiheit. Nachzulesen bei Marx:
Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Verhältnisse, die man nicht besser schildern kann als durch den Ausruf eines Franzosen bei einer projektierten Hundesteuer: „Arme Hunde! Man will euch wie Menschen behandeln!“ (MEGA, Bd. I, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“)
Und, arme Dichter, man will euch wie Hunde behandeln, indem man euer Potential in männlich und weiblich spaltet! Das ist der „Ausruf einer Betroffenen“!
Es ist doch wohl bekannt, daß gerade die Dichter lebendiger Beweis für die Ahnung sind, daß es eine menschliche Welt geben könne, die nicht geteilt ist, auch nicht in männlich und weiblich. Zwei Seelen, ach, ich ende.
Weiter zu meiner „wenig originellen Erbebeziehung“: Auch ich lasse mir nix am Zeug flicken.
Die Lyrikerin hat die Erfahrung gemacht, daß es nur einfach scheint, ein Gedicht mit dem Pronomen Ich zu beginnen…
Woher weiß das die Rezensentin? Man sollte meinen, aus den Texten, aber dieser Vermutung kann ich nicht trauen, wenn sie „Geständnis eines Katalysators vorm Ausschuß für Seelenhygiene“ als ein „skurriles Dinggedicht“ bezeichnet. Da kommen mir Zweifel an der gewissenhaften Lektüre. Ganz entschieden muß ich mich gegen die Interpretation des Textes „Entgegnung“ wenden. Selbstverständlich läßt er Raum für Assoziationen, und sicher sind auch die von Ursula Heukenkamp möglich. Es ist aber unzulässig, einen Autor oder eine Autorin zum Kronzeugen für den eigenen falschen Denkansatz zu machen. Ich zitiere:
Brigitte Struzyk hat aber andererseits auch begonnen, sich direkt mit dem männlichen Ich zu konfrontieren. Den Datierungen des Bandes zufolge ist dies ein Zuwachs, der letzten Jahre. Sie wehrt sich gegen dessen Selbstbewußtsein wie in dem Gedicht „Entgegnung“… Die polemische Wendung gegen Czechowski nimmt dessen Lyrik nicht als Ausdruck persönlicher Erfahrung, sondern erklärt den Titel pars pro toto zum Exempel jener männlichen Unbedenklichkeit, die die suchende Lyrikerin herausfordert, vielleicht auch verletzt.
Ich wehre mich keineswegs gegen männliches Selbstbewußtsein, wo auch immer es auftreten möge. Im Gegenteil: Ich begrüße es freudig, meine ganze Weiblichkeit(!) setze ich ein, um es herauszufordern, denn leider habe ich die Erfahrung gemacht, daß es vor allem den Männern unseres Landes an Selbstbewußtsein mangelt. Ich betrachte mich bildlich als Schwester, die mit ihrem Bruder Czechowski spricht.
Wäre ich von dem Schlage, wie ihn mir Ursula Heukenkamp verpaßt, dann hätte ich mir freilich ein untaugliches Opfer ausgesucht. Ein leichtes Leben hat er auch nicht, wenigstens soviel hätte ich Czechowskis Texten entnehmen müssen. Mühselig und verworren kann der Alltag sicher auch für einen männlichen Kollegen sein – und darüber verständige ich mich mit meinem Kollegen Czechowski. Allerdings muß ich mich zu dem „Chaos der Dinge“ bekennen. Es erscheint mir natürlich. Ich gestehe, daß Provisorien bei mir eher Zustimmung als den Drang auslösen, schnell alles einzuräumen.
Ich halte alle meine Gedichte für nicht gelungen, in denen sogenannte „Reflexionen“ vorkommen, aber nicht, weil ich des Reflektierens nicht fähig wäre, sondern weil ich eine Poetik habe, die auf das Wort und somit auf die Existenz baut. Wie aufmunternd war es doch für mich, einige Seiten weiter im gleichen Heft der NDL in der Laudatio für Wulf Kirsten Bechers Zeilen zu finden:
Unsere Beziehungen zur Wirklichkeit sind mangelhaft und fragwürdig. Jeder (nur Mut!; B. S.) kann an sich die Erfahrung machen, daß er kaum imstande ist, die Gegenstände, wie sie uns im täglichen Leben umgeben, einigermaßen genau aufzuzeichnen. Schemen und Wunschbilder sind es, mit denen dein Blick verhängt ist, gespensterhaft zieht an dir der Zug der Ereignisse vorüber, und das Leben, du selbst, wer bist du? Fragen wir nicht weiter. Beginnen wir damit, uns mit dem Gegenständlichen zu befassen, und, das Märchen der Wirklichkeit entdeckend, näher an uns selbst heranzukommen.
Den Becher kann ich ruhig zur Brust nehmen, womit ich bei dem „kleinen Unterschied“ wäre. Vor allem ist er mir eine Lust. „Auch Lust ist Gewinn aus Tätigsein“ schloß einmal mein Gedicht „Vierzehn Knöpfe“. Ich habe die Zeile weggenommen, mich fragend: Wem sagst du das? Natürlich ist mit jedem Tätigsein, mit Praxis, verbunden, daß Konflikte entstehen, und zwangsläufig sind diese Konflikte besonders empfindlich – für beide Seiten. So viele verlassene Frauen, so viele verlassene Männer. Aber Resignation löst diese Gleichung bei mir nicht aus, sondern Empörung!, daß die Natur des Menschen, die seines Geschlechtes, ebenso verwüstet ist wie viele andere Verhältnisse des Menschen zur Welt (siehe Marx). Gerade hier läßt sich mit der Erklärung, daß wir ja doch im Sozialismus leben und somit alles anders ist, nichts klären, denn die Unfreiheiten auf beiden Seiten wurden uns leider in die Wiege gelegt. Ich rede hier keinem Determinismus das Wort: Sofern Liebe zu finden ist, ist sie nie ein Geschehen allein zwischen Frau und Mann, sie ist Seismograph für die Möglichkeiten, die in uns stecken (soziale, politische, künstlerische einbegriffen), und deshalb befremdet es mich mehr und mehr, wenn Liebe arithmetisch mit Glück und Harmonie gleichgesetzt wird. In meinem Weltverständnis ist sie eine Öffnung nach außen und nicht ein Rückzug nach innen. Könnte die Rezensentin diesen Zusammenhang sehen, könnte sie meine Poetik beachten, dann fiele es ihr vielleicht nicht so schwer, mit Bildern wie „Vor die Tür gekehrter Hausrat“ umzugehen. Ich liebe das Leben so, daß ich auch diesem Hausrat, Hinterlassenschaft eines fremden Lebens, die Liebe erkläre. Sie braucht einfach mehr Raum, diese oft so selbstbeschränkt gelebte Fähigkeit! Könnte auch hier Ursula Heukenkamp den wörtlichen Raum betreten, dann unterliefe es ihr vielleicht nicht, „Paul und Simone“ als die „Geschichte einer versagten Liebe“ zu verstehen – sie ist das ganze Gegenteil: „Resistance, camarades“!
Und Widerstand gegen solche Fahrlässigkeit wie: „Der Gang zu den Müttern und die Verantwortung für die kommende Generation, eine und nach ihr viele, wären diesem Text zufolge (Leben auf der Kippe; B. S.) das Gefäß der Identität, worin persönliches Selbstgefühl und Zuständigkeit für das Ganze, für die Gattung, zusammenstimmen. Eine tätige Haltung ist auf die Zuständigkeit des Mütterlichen freilich nicht zu gründen.“ – sagt eine Frau. Ich lasse einmal Faust beiseite, auf den sich doch wohl Ursula Heukenkamps Gang zu den Müttern bezieht (auch das ist schon falsch: kein Gang zu den Müttern, sondern die Mutter geht selbst), auch von Brechts Fazit des Kreidekreis will ich mal ganz absehen, selbst die Erkenntnisse der Psychiatrie lasse ich unberücksichtigt, um die Rezensentin zu fragen: Gibt es – immer vorausgesetzt, daß man ernst macht und nicht andere für sich arbeiten läßt – irgendeine andere „tätige Haltung“ (was für ein schiefes Bild, nehmen Sie es einmal wörtlich, gestisch!), die so lebendig und folgenreich wäre? Das zum einen. Weiter: Was heißt „Zuständigkeit des Mütterlichen“? Wenn Ursula Heukenkamp Verantwortung damit meint, so empfehle ich ihr die Auseinandersetzung mit Forschungsergebnissen, die belegen, welche katastrophalen Entwicklungen ein Menschenleben heimsuchen können, wurde diese „Zuständigkeit des Mütterlichen“ versäumt. Was die Rezensentin mit einem Satz vom Tisch fegt, wird uns noch lange beunruhigen müssen, und zwar die ganze Gesellschaft.
Meine „tätige Haltung“ ist auf Solidarisierung aus, sie gründet sich keineswegs auf den „Ausfall von Verständigung zwischen den Menschen generell“, wie Ursula Heukenkamp annimmt. Bezweifelte ich die Verständigungsmöglichkeit zwischen den Menschen, wären meine vier Kinder arm dran…
Noch ein kleines Wort zu den Kochtöpfen. Ich habe sie von Bernward Vesper, dem das Gedicht „Transmissionen“ gewidmet ist. Und neulich fand ich doch bei Erich Fried ein ganzes Gedicht über seinen Büchsenöffner. Auch da müssen doch zwischen Mann und Frau Zusammenhänge bestehen.
Auf diese, die etwas vorwärts bringen auf dem Weg der menschlichen Emanzipation, setze ich. Auf das Zusammenleben! Auf eine Zeit, wo es selbstverständlich ist, daß der Mensch auf sich selbst gestellt ist, denn nur dann kann er wirklich Partner sein.
Brigitte Struzyk, neue deutsche literatur, Heft 397, Januar 1986
Ließe sich eine Regel für die Zeit aufstellen, die ein Lyriker braucht, seinem Debüt in der Reihe Poesiealbum den Einstand mit einem Gedicht-Buch folgen zu lassen, müßte sie im Falle von Brigitte Struzyk auf sechs Jahre festgesetzt werden. Der Zeitraum zwischen 1978 und 1984, den man – auf den ersten Blick – als die Zeitspanne anzusehen geneigt ist, der notwendig war, um von zwei Druckbogen (dem Umfang des Poesiealbums 134) auf acht (dem Umfang des Gedichtbandes Leben auf der Kippe) zu kommen, ist jedoch gerade der, in dem, verglichen mit früheren Jahren, die wenigsten Gedichte geschrieben wurden. Die meisten Texte verfaßte Brigitte Struzyk schon in den siebziger Jahren (die ersten sind auf 1970 datiert), in einem Lebensjahrzehnt, das durch das 25. und 35. Lebensjahr der Autorin markiert wird. Es sind jene Jahre, in denen sie als Verlagslektorin in Weimar arbeitete und ihrer Hauptbeschäftigung nach in einem vorwiegend reproduzierenden Verhältnis zur Literatur stand, dessen Wirkung für das eigene Schreiben jedoch schon in ihren ersten Gedichten zu erkennen ist. Es ist ganz offensichtlich ein Spannungsverhältnis, in dem die literarische Überlieferung und die erlebte und erfahrene Wirklichkeit des lyrischen Subjekts kontrastreich zueinander in Beziehung gesetzt werden. Umkehrung (der berühmte Goethe-Titel heißt bei Brigitte Struzyk „Abschied und Willkommen“), Montage (im Gedicht „Verschlossen“ wird Hölderlins „Landgang“ als Materialvorlage genutzt) und „Entgegnung“ (an Heinz Czechowski adressiert) heißen die Stichworte, die für dieses Wirklichkeitsverhältnis bis zum letzten Gedicht stehen und in dem 1983 verfaßten Titelgedicht zumindest der literarischen Verfahrensweise nach (Zitatmontage) ihre Bestätigung finden. Aus dieser Vertrautheit mit Geschichte und Gegenwart der deutschen Literatur erklärt sich, daß Brigitte Struzyks Gedichte schon bald das für die Lyrik der siebziger Jahre bestimmende hohe literarisch-technische Niveau erreichten und den Gedichten älterer Autoren zumindest in jenen Texten vergleichbar waren, die den Zugang zur heutigen Wirklichkeit über die Geschichte (vor allem die der Literatur) suchten.
Was die Gedichte von Brigitte Struzyk kenntlich macht, ist dort zu entdecken, wo ihr lyrisches Ich Gestalt annimmt. Das geschieht meist verhalten und beherrscht, selten als Gefühlsausbruch, der zu unreflektiertem Sprechen hinreißt. Es sind Gedichte, die frühere Lebenssituationen in Erinnerung rufen, wie „Durchbruch“, das von den Mühen der Selbstfindung berichtet („In kleinen Räumen bin ich groß geworden“), denen bald zahlreiche andere folgten, in denen ein neues Thema in vielfältigen Variationen die Oberhand gewinnt: die Liebe. Die Autorin ist aber auch hier weit davon entfernt, wohltönend das „Lob der Venus“ zu singen. Selbst dort, wo die gereimten Strophen, wie in „Weltliches Liebeslied“, im Bewegungsvorgang des Kommens und Gehens der Liebenden („komme ich von dir“ in der 1. Strophe, „gehst du zu mir“ in der 2. Strophe) die innere Übereinstimmung zweier Menschen spüren lassen, bleibt der Alltag im Wechsel von Morgen- und Abendlandschaft gegenwärtig. Ganz und gar – und hier fast bis zur Profanierung – aus der Alltagswelt sind die Bilder genommen, die in einem Gedicht gebraucht werden, dessen Titel „Meine Liebe“ gemeinhin eine andere Bilderwelt erwarten läßt. Hier wird allen romantischen Klischees abgesagt und nur in der Schlußzeile gestattet, was Liebe wieder poetisch-schön erscheinen läßt und nun mit der überraschenden Wirkung eines Verfremdungseffekts den Leser innehalten läßt: („Meine Liebe“) ist das „schwarze Tuch Nacht um deinen weißen Leib“. Eine fast schockierende Wirkung dagegen geht von einem Gedicht aus, das einem Bild „in der Manier des Hans Ticha“ gilt, auf dem ein „Akt eines befeindeten Ehepaars“ zu sehen ist. Hier wird die Gewalttätigkeit des Vorgangs in eine ganz und gar artfremde Sprache gebracht, die beschreibt, was zwischen diesen bei den Menschen vorgeht:
Mit feststehenden Klauen verhakt
der Verschlußkeil sich in den Flansch.
Von der Last des Alltagslebens, die Frauen im Sozialismus nicht erspart bleibt, ist auch in zwei Gedichten die Rede, die im Buch nebeneinander stehen: das eine fast epigrammatisch die Spanne zwischen Ideal und Wirklichkeit vermessend und die „kleinere Last“ noch immer als schwer genug vorweisend; das andere ein Widmungsgedicht („Für Frau B. in W.“) mit dem Titel „Frauen“, in dem von der Rastlosigkeit jener Frauen erzählt wird, die Kinder aufziehen und Familien versorgen, denen die gewonnene Freiheit zwar erlaubt, ihre Männer zu verlassen, denen sie damit aber auch nimmt, was sie so notwendig zum Leben brauchen. Auch dieses Gedicht gibt am Schluß, darin dem vorherigen vergleichbar, ein kritisches Fazit:
und verlassen sie die Männer,
sagt der Dichter: viel bewußter
sind die Frauen hier und heute.
Ach, sie wären lieber Bräute.
Heute, hier und hier und heute.
Die Erlebnis- und Erfahrungswelt des lyrischen Ego bleibt bei dieser Lyrikerin jedoch weder örtlich auf den „Weimarer Hinterhof“ noch zeitlich auf die unmittelbare Gegenwart begrenzt. Das Thema in „Schwester K.“ könnte – im übertragenen Sinn – auch für Frauenschicksale ausgeborgt worden sein, von denen in anderen Gedichten die Rede ist: von Simone (in „Paul und Simone“), von der anonymen Jüdin (in „Ravensbrücker Taschentuch“ und von der Malerin Hanka Krwacek (in „Alphabetisches Dokument Buchenwald“). Hier öffnet sich die Gegenwart zur unmittelbaren Vergangenheit und läßt die geschichtliche Wirklichkeit in Augenblicksaufnahmen aufscheinen, denen einige andere, die noch weiter in die geschichtliche Vergangenheit zurückgreifen, korrespondieren, die Frauen im Spannungsfeld von Gesellschaftsumwälzung und Selbstverwirklichung zeigen: „Der 17. Brumaire“, „Carolins unterm Freiheitsbaum“ und „Aufstand“. Solche Gedichte, die an historische Figuren erinnern, sind auch in lapidarer Sprache, die geschichtliche Sachverhalte und Hintergründe weitgehend ausspart oder zum Kürzel zusammendrängt, noch rezipierbar. Bei anderen Spruchgedichten gelingt das weniger überzeugend („Fin de siècle“, „Kleines Weltbild“, „1931 vor Verdun“), weil die Substanz für ein Gedankengedicht nicht ausreicht, das Bild schief gerät oder sein Gleichnischarakter nicht recht überzeugen will. Was gewollt geistvoll formuliert wurde, wirkt hin und wieder sogar ungewollt komisch („Undicht ist der Stoff, / mein Dichter!“), was als Warnbild gedacht war, bleibt eine verunglückte Bildkonstruktion:
Im Schoß der Erde nisten die zarten Gefühle,
und bis an die Zähne bewaffnet
schließt sich ihr Mund.
Solche „Schulweisheit“ (wie im gleichnamigen Gedicht) verfängt sich zu oft in der weitgehend von konkret erfaßter Wirklichkeit abgelösten Wortkombinatorik, die vermeintliche Gedankentiefe dem originellen Einfall aufopfert.
Erlebte Welt ist in zahlreichen Gedichten von Brigitte Struzyk an Ortsnamen gebunden, die beiläufig genannt, aber auch als handlungsträchtiger geschichtlicher Raum zur Beschreibung – wie die „Seifengasse“ in Weimar, wo Goethe wohnte – oder zu weitausholenden Reflexionen inspirieren können, wie der „Weiße Storch“ in der Synagoge in Wroclaw, meist aber sind es unberühmte Orte: ein „Gottesacker in H.“ oder Großstadtbauten, die eher Einblicke in die sozialen Lebensverhältnisse von Menschen geben, oder eine „Backsteinfabrik“ aus vergangener Zeit, ein „Alter Mann im Hof“ oder das Neubaugebiet „Fennpfuhl 13“, das als ein „Dschungel“ gezeigt wird, der ohne „Hintergrundinformation“ betreten werden muß. Daß im Neubauviertel auch Lieder gelingen, die gesungen werden können, ist Arno Holz zu danken, dem Brigitte Struzyk eine „Hommage“ geschrieben hat, die damaliges Proletarierelend! in einem Interieur verschwinden läßt, das Menschen hier und heute in Muße zu sich kommen läßt:
Schwarzer Tee in weißer Tasse,
China, Indien und Grusinien,
wenn ich Sahne gleiten lasse
und die Farbe von Melasse,
zart gemischt mit weißen Linien,
unbeschwert mein Herz erfreut,
zu der Stunde hab ich Zeit…
Die Sprache, die hier zu hören ist, nähert sich dem Wohlklang von Musik: der trochäische Rhythmus bestimmt die Abfolge von Senkung und Hebung, dreifache Reime („Tasse“, „lasse“, „Melasse“) zeigen an, daß Zusammenklang hier auch Zusammenhang (ungebrochene Stimmung) bedeutet, und bei genauem Hinhören ist obendrein noch zu entdecken, daß hier offenbar ein Vokalkonzert intoniert wird, in dem die Vokale A, E und I (das O fehlt ganz in dieser Strophe) stimmführend sind. Solche Sprachmelodik ist aber eher die Ausnahme als die Regel bei Brigitte Struzyk. Den Hauch von Exotik, der sich in diesem Gedicht mit den Teesorten aus China, Indien und Grusinien verbindet, sucht man in anderen Gedichten vergeblich, deren Wortbestand oft ganz heterogen ist, nicht zuletzt deshalb, weil Sprache in diesen Gedichten nicht auf ihre nackte Mitteilungsfunktion reduziert, sondern als strukturbildendes Element eingesetzt wird. Daraus erklärt sich das Neben- und Ineinander von hoher und niederer Sprache (Umgangssprache des Alltags), von Fachsprache und Jargon, Dichterzitat und „Inschriften auf Beton“, Worthülse und in die Polyvalenz der Dichtersprache integrierter Alltagsrede („Es stinkt zum Himmel“). Gelegentlich gerät solche Sprachmontage freilich auch zur Manier wie im Titelgedicht des Bandes, das wohl als Programmgedicht geschrieben wurde: mit Anklängen an Goethe beginnend (im Tale grünet Hoffnungsglück), in den Text eines Volksliedes (Lauf Jäger, lauf) hinüberspielend, durch wörtliche Rede zitierend unterbrochen und schließlich, als Nachhall eines früheren Gedichts, Hölderlins schönen Imperativ „Komm ins Offene“ noch einmal wiederholend. Das ist (nimmt man den Stabreim „hackt Hotte Hein heute hurtiger als all die anderen“ noch dazu) am Ende vielleicht doch zuviel des Guten für die Auskünfte, die der Leser in diesem Gedicht über dessen Verfasserin erfährt. Da hat er in anderen Gedichten, die diesem folgen, gewiß bessere Einstiegspunkte sich der Gedankenwelt Brigitte Struzyks zu nähern. In diesem Falle könnte ihm eines der spruchartigen Gedichte mit dem Titel „Status quo“ (obwohl diese Gedichte nicht gerade zu den besten des Bandes zählen) bündiger ins Bild setzen:
Mit leeren Händen
bleib ich im Rahmen.
Was ich gebe, sind Winke,
der Angelpunkt: Bleiben
in offenen Türen.
Das bedeutet, bei aller Bescheidenheit, daß diese Lyrikerin wohl einen festen Punkt gefunden hat, gibt ihr aber auch die Möglichkeit, sich dem zu stellen, was durch die „offenen Türen“ von draußen wahrzunehmen ist: die Wirklichkeit dieses Jahrhunderts.
Klaus Schuhmann, Sinn und Form, Heft 2, März/April 1986
– Am 6. Dezember 1987 sprach Marieluise de Waijer-Wilke auf einer DDR-Lyrik-Tagung in Bad Godesberg mit Brigitte Struzyk. –
Marieluise de Waijer-Wilke: Sie haben in bezug auf die von Ihnen ins Deutsche übersetzte Lyrik des ungarischen Dichters Marton Kalász eine sprachliche Qualität hervorgehoben, die Sie als ,körperlich‘ bezeichnen. Was verstehen Sie darunter?
Brigitte Struzyk: Marton Kalász’ Gedichte sind bei uns erschienen und auch in Tübingen unter dem Titel Bemessener Trost. Er ist aufgewachsen in einer Sprachenklave bei Pécz, wo alles mögliche gesprochen wird. Da wohnen Deutsche, Slowaken, Jugoslawen und noch halbtürkische Minderheiten. Mit diesem Sprachmehl zwischen den Zähnen ist er aufgewachsen und hat eigentlich keine Sprache gesprochen, sondern diesen merkwürdigen Dialekt. Als er sich dann entschieden hat, eine höhere Schulbildung zu absolvieren, mußte er Ungarisch lernen und hat das richtig synthetisch gelernt. Bis jetzt sind Wörterbücher noch immer seine Lieblingslektüre. Er hat auf diese Art in die ungarische Lyrik eine andere Sprache gebracht. Mit diesem Hintergrund hat er eine ganz wunderbare poetische Sprache, die sehr knapp und eben sehr körperlich ist, wieder aufgebracht.
Waijer-Wilke: Hat Ihr Interesse für gerade diese Sprachqualität, die ich auch in Ihren Gedichten finde, damit zu tun, daß Sie Frau sind und von daher der Sinnlichkeit von Sprache eine besondere Bedeutung geben?
Struzyk: Das kann ich schwer sagen. Für mich leitet sich das alles ganz woanders her. Und zwar, ich bin im Thüringerwald geboren, in einem ganz kleinen Nest, wo auch solche merkwürdigen sprachlichen Verhältnisse sind, wo von einem Dorf zum andern eine andere Sprache herrscht. Da sind unentwegt Sprachgrenzen: das Fränkische, das Hessische, das Thüringische, und überall sind andere Begriffe für die gleichen Gegenstände. Das habe ich jetzt bei wiederholten Besuchen dort gemerkt, daß ich eigentlich da meine Wurzeln habe. Denn es ist etwas ganz Merkwürdiges. Die Menschen spielen dort so mit der Sprache, und zwar mit den Dingen, die man anfassen kann. Das sind nicht irgend welche abstrakten Begriffe, wodurch ein Witz in den Alltag kommt. Sie sind so gewitzt, wenn einer nicht in der Lage ist, irgendeinen platten Sachverhalt so auszudrücken, daß man noch Spaß daran hat, dann ist er nicht gut angeschrieben. Einfach, wie man mit der Sprache umgehen kann, das ist auch für den einfachen Mann – sozusagen – eine ganz wichtige Sache, sonst hat er kein großes Ansehen. Wenn er nicht ein bißchen drehen und wenden kann an den Wörtern und noch etwas hinzufügen zu dem, was er als Information weitergeben will, dann ist das einfach ein „Dummkopf“… Und das geht mir auch so. Ich bin auch immer ganz froh, wenn die Sinnlichkeit der Gedanken wieder erscheint. Wenn man sehr abstrakt mit der Sprache umgeht, sich von der Sinnlichkeit entfernt, habe ich das Gefühl, das geht gegen den Menschen. Ob das nun eine weibliche Einstellung ist?… das mag schon sein. Ich glaube, die Männer sind in diesem Prozeß schon viel stärker abgeschliffen, Der Prozeß ist natürlich auch unterwegs, es betrifft eigentlich alle, sicher international.
Waijer-Wilke: Von weiblichen Autoren wurde in den 70er Jahren der Bereich der konkreten Alltagserfahrungen der Frau in die Literatur eingebracht. Die Kritik hat dies erst als Zugewinn gewertet. In einem Artikel über Ihre Gedichte ist dies – meinem Eindruck nach – jetzt als Vorwurf gewendet, so, als erschöpfe sich Ihre Poesie in diesem Alltäglichen.
Struzyk: Das habe ich nicht als Vorwurf verstanden, nur, ich habe ja auf den Artikel geantwortet, und zwar aus dem Grund, weil ich meine, man soll die Dinge nicht verwaschen und durcheinanderbringen. Was poetologische Positionen betrifft, da ist es nicht einfach so zu machen, daß man feststellt, ein Kochtopf wird benannt und schon geht es darum, daß es sich um eine Frau handelt, die ständig kocht! Sondern das hat damit zu tun, daß man die Gegenstände, die einen umgeben, mit ins Gedicht bringt, und zwar nicht aus dem Bestreben, jetzt über den schweren Alltag zu berichten und die Frage zu stellen, was kann man an sinnvollen Aussagen machen,
Waijer-Wilke: Sinnvolle oder sinnstiftende Aussagen?
Struzyk: Sinnvolle, also Aussagen über den Sinn des Lebens in der Lyrik machen. Ich meine, dafür gibt es andere Felder, wo man dies klären kann. Die Lyrik ist, denke ich, dafür nicht der Ort, solche Fragen zu bewegen. Ich glaube auch nicht, daß das eine Position moderner, experimenteller Lyrik ist, sondern der Lyrik insgesamt.
Waijer-Wilke: In Ihren Gedichten sehe ich beides verwirklicht: den Verzicht auf sinnstiftende Aussagen einerseits, andererseits aber so etwas wie Sinngebung.
Struzyk: Ja, aber das ist nicht der Vorgang, der stattfindet. Diese Frage wird zwischen dem Autor und dem Leser geklärt. Der Autor setzt sie nicht in den Raum. Das ist dann wirklich dieser Prozeß, den man als Dialog bezeichnen könnte, Wirkung wird natürlich letzten Endes auch vom Autor hervorgebracht, aber das ist nicht seine Intention, jedenfalls aus meinem Blickwinkel, sondern die Wirkung entsteht beim Leser. Da, wo es ihn trifft, der sein Umfeld hat, der ganz bestimmte Erfahrungen hat und Wellenlängen und Sensibilitäten für bestimmte Dinge.
Waijer-Wilke: Versucht der Autor nicht doch, diese Wirkung zu steuern durch bestimmte Signale und so auch seine Absicht mitzuteilen? Z.B. hat die Benennung von erkennbaren Gegenständen des Alltags einer Frau auf mich diese Signalwirkung gehabt oder auch als Verständigungshilfe gewirkt. Ähnlich wirken auch die Anknüpfungen an und Zitate aus der literarischen Tradition, die erkennbar sind. All das steht ja in Ihren Gedichten in einem Wortumfeld, das zwar nicht hermetisch, aber einer direkten Verständigung schwieriger zugänglich ist. Darum meine Frage: Haben diese „Signale“ nicht Steuerungsfunktion?
Struzyk: Letztendlich sind das ja soziale Signale. Und zwar, weil man auch von sich selbst spricht. Insofern kann das auch bei dem andern diese Signalwirkung, von der Sie sprechen, auslösen. Bevor man ein Lyriker ist, ist man natürlich ein Mensch, der einen Alltag hat. Da ergibt sich so etwas wie eine soziale Solidarität mit diesen Worten, die Sie angesprochen haben, und man läßt sich auch auf das ein, was einem sonst noch abgefordert wird.
Waijer-Wilke: Mir ist aufgefallen, daß ein direktes Aussprechen über ein lyrisches Ich verhältnismäßig selten ist. Vermeiden Sie diese direkten Ich-Aussagen?
Struzyk: Nein, das verhält sich anders. Ich denke, daß das Gedicht auch eine Bewegung auf das Objekt hin ist, um es zu erhalten. Márquez hat das beschrieben, wo alle beginnen in Schlaf zu fallen und wo die letzte Leistung, zu der sie fähig sind, darin besteht, daß sie wenigstens auf die Tasse schreiben: das ist die Tasse, damit der Begriff nicht verlorengeht. Sprache, die lyrische Sprache in besonderem Maße, bewegt sich in dieser Weise auf das Objekt zu und erhält es. Das ist eine Sache, die mich sehr interessiert. Es hat nichts damit zu tun, daß ich mich dabei herausnehmen möchte, denn ich mache ja diese Bewegung, aber ich muß es nicht beschreiben. Es ist doch ganz klar meine Sicht, meine Bewegung darauf hin. Ich würde auch nicht sagen, daß das so stark mit Frauenproblematik zusammenhängt, weil ich das noch mehr als menschheitliche Bewegung verfolge. Da interessiert mich am meisten diese Spaltung – und hier kommt gewissermaßen das Weibliche hinein –, das, was Hölderlin so schön beschrieben hat, die zwei Hälften, die wieder zusammengehören müssen, um überhaupt Menschheit zu garantieren. Nicht über die Fortpflanzung, sondern so, daß diese Gattung Mensch nur dann die verschiedenen Möglichkeiten hat, Welt seelisch, kreativ aufzunehmen, wenn diese beiden Hälften wieder eine Einheit bilden.
Waijer-Wilke: Ist die Replik auf Hölderlin in „verschlossen“ in seiner Zweiteilung nicht etwa als Gegenrede, sondern als eine angestrebte Ganzheit zu lesen?
Komm! ins Offene, Freund! –
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaber mach fest die Tür zu
Zwar glänzt ein Weniges heute –
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaber mach Licht mit der Kerze
[…]
(Leben auf der Kippe)
Struzyk: Das könnte man so sehen, aber ich wollte eigentlich die Verkommenheit beschreiben. Auf der einen Seite, da, wo eben Hölderlin spricht, steht das Gefühl, das sozusagen mein Wohlbefinden hervorruft. Und die rechte Seite, die Antworten, die das immer nach unten ziehen, die die Verkommenheit der Beziehung ausdrückt.
Waijer-Wilke: Nach meinem Verständnis enthielten die Repliken auf der rechten Seite geradezu den konkreten Ausdruck für die Erfüllung der Liebe.
Struzyk: Selbstverständlich…
Waijer-Wilke: Das macht es doch nicht zunichte.
Struzyk: Sie dürfen das nicht falsch verstehen. Wenn ich Verkommenheit sage, ist das natürlich so ein moralischer Begriff. Ich meine damit Herabgekommensein. Das, was man realisieren kann, bedeutet immer einen großen Abstrich von dem, was eigentlich der Wunsch in so einer Beziehung ist, verglichen mit dem, was sein könnte.
„Komm ins Offene, Freund, aber mach fest die Tür zu“ – ist nicht nur ein Problem zwischen Mann und Frau, die für sich sein wollen, sondern, daß eigentlich eine offene Beziehung, in der man sich entfalten kann, auch Öffentlichkeit voraussetzt und nicht ein Sich-Verstecken-Müssen.
Waijer-Wilke: Und daß Liebe sich nicht nur auf die zwei Liebenden beschränken sollte?
Struzyk: Ja, eben, und vor allem, daß dieses Menschenpaar – das klingt jetzt stark, und es ist klar, daß es nicht so passiert –, sich so, wie es ist, sich auch im Freien bewegen kann…
Waijer-Wilke: … um Liebe zu zeigen. Ihr Dritte-Welt-Gedicht gehört vielleicht in diesen Kontext. Hier tritt an die Stelle der Liebe zwischen zwei Personen und den Anspruch auf Verwirklichung einer solchen Liebe das Bewußtsein, daß es heute wichtig ist, „offene“ Liebe zu entwickeln, die mehr einschließt als den Geliebten. Ich halte dies für ein wichtiges politisches Gedicht:
Entwicklungshilfe
mit deutschem Märchengut
Mir gegenüber
Schläft die Dritte Welt
So lange solange so long
Die Zukunft ist schon da
draußen am Bahnsteig
Dornröschen dein Walkman
lullt dich bloß ein
und die Heckenschützen
erzielen totsicher
eine Verlängerung
deines Schlafvertrags
Schlafe heilfroh
Froh Heil grüßt der Wolf
Struzyk: Das ist eigentlich in dem Maße nicht erkannt worden… In diesem Sinne sind eigentlich alle meine Gedichte politisch. Das Dasein des Menschen ist so stark eingeschränkt von vielen gesteuerten Prozessen, daß man sich gar nicht unpolitisch verhalten kann. In diesem Sinne meine ich politisch, nicht als irgendein politisches Bekenntnis…
Waijer-Wilke: … Parteibekenntnis?
Struzyk: Überhaupt nicht. Das finde ich überhaupt das Letzte. Und ich denke, daß da sehr vieles dran krankt – an dieser merkwürdigen Praxis –, auf beiden Seiten. Nein, in dem Sinne, daß auch selbst der Vorgang, daß ich mich durchsetze, daß ich mich gutfühle, ein politischer Vorgang ist. Auch wenn der Mensch zu sich selber kommen will, geht das gar nicht, indem er sich auf irgendeine Insel zurückzieht. Das ist das, was ich mir selbst vielleicht als Wirkung wünsche, daß dieses Bewußtsein damit gefördert wird.
Waijer-Wilke: Ich möchte Sie noch etwas fragen zu Ihrem Prosaprojekt über Caroline Schlegel, der Sie ja auch ein Gedicht – „Caroline unterm Freiheitsbaum“ – in Ihrem Gedichtband gewidmet haben. Ist Ihre Prosaarbeit als eine Auseinandersetzung mit der Romantik angelegt?
Struzyk: Nein. Es ist eine Sache, die ich schon seit 1973 bewege – ich habe das mit Schrecken gesehen in einem alten Notizbuch. Was mich beschäftigt hat und wo ich sehr viel dazu geforscht habe, ist ein ganz anderer Ansatzpunkt. Es heißt eben „Caroline unterm Freiheitsbaum“. In Bewegung auf diese Frau hin und auf diese Prosa hat mich damals dieses furchtbar platte Emanzipationsgeplapper, das da in Schwang war, gebracht.
Waijer-Wilke: Von öffentlicher Seite oder in der Literatur?
Struzyk: In der Literatur, in den Entwicklungsromanen war es so, daß die Frauen immer alle Möglichkeiten hatten, sich hervorragend zu entwickeln.
Waijer-Wilke: Das änderte sich doch dann in der Literatur der 70er Jahre.
Struzyk: Ja, das hat sich dann geändert, Aber dann schloß sich dieses pure Beschreiben von den Alltagskonflikten der Frauen an, das die Literatur hat verkommen lassen. Es fehlte die gedankliche oder formale Anstrengung.
Waijer-Wilke: Denken Sie dabei an Karen W. von Gerti Tetzner beispielsweise?
Struzyk: Nein, ich mag die sehr. Das ist ganz gut. Ich denke eher an Brigitte Martin Der rote Ballon und letztendlich auch – und da stehe ich allerdings allein – die Geschichten der Maxie Wander, die mich mehr geärgert als gefreut haben. Die Euphorie, die ausbrach über diese Protokolle, fand ich sehr merkwürdig. Die Menschen, die sich darüber gefreut haben, sprechen ja nicht einmal mit ihren Nachbarn. Und wenn sie das täten, würden sie viel interessantere Dinge erfahren als das, was die Maxie Wander zutage gefördert hat. Natürlich hat es sein Verdienst…
Waijer-Wilke: Guten Morgen, Du Schöne von Maxie Wander wird ja als ein sehr wichtiges Buch von den Literaturhistorikern betrachtet, obwohl es nicht „Literatur“ in diesem Sinne ist.
Struzyk: Ich finde, da ist etwas durcheinander geraten, da es nicht solche Zeitschriften gibt, die über Alltagsprobleme sprechen, wo Fragen psychologischer, sozialer Art abgehandelt würden. Das wäre eigentlich eine richtige Aufgabe für Journalismus. Da gehört es hin, und es ist auch ganz wichtig. Daß es für die Leute wichtig war zur Selbstverständigung, das ist unumstritten.
Waijer-Wilke: Glauben Sie, daß Christa Wolf mit ihrem Essay zu den Protokollen vor allem diesen soziologischen, nicht aber den literarischen Wert hervorheben wollte?
Struzyk: Ja, auf jeden Fall. So eine Leistung wie die Bachmann sie hingestellt hat, das sollte weitergehen. Verglichen damit, war dies so ein Zusammenrutschen, nichts Konstruktives,
Waijer-Wilke: Das war also der Hintergrund zu Ihrem Caroline Schlegel-Buch?
Struzyk: Ja, das Motiv, Ich hatte in dieser Zeit den Briefwechsel gelesen und ich bin immer wieder darauf zurückgekommen, weil dieses Bewußtsein: Wir erfinden jetzt das Fahrrad! – mich geärgert hat. Denn es gab ja schon eine Menge Bewegung und Versuche, die auch schon ein Stück weitergegangen waren, wo es diese Vereinseitigungen nicht gab. Was mich interessiert hat an dem Stoff, war der Zusammenhang zwischen – ich sage es jetzt einmal etwas verkürzend – Erotik und Politik, zwischen dem Verwirklichen von Genuß und der Anstrengung, das auch durchsetzen zu müssen, und dem, was man als Identitätsproblematik beschreibt, und zwar unter Umständen, die auf ganz andere Art herausfordern als unser Alltag, in dem wir leben. Ich denke, es geht auch sehr viel Energie verloren, wenn man sich nicht erinnern kann. Deswegen hat mich das damals fasziniert. Und ich habe es geordnet unter diesem Freiheitsbaum. Ich habe keine Biographie schreiben wollen, das fand ich uninteressant für mich. Ich habe das Leben in solchen „Ansichtssachen“ – das ist der Untertitel – unter solchen Voraussetzungen darstellen wollen: Wenn man einmal unter dem Freiheitsbaum gestanden hat wie Caroline, der ja in Mainz aufgepflanzt war. Dort hat sie mit Forster gelebt, zu dem sie gestanden hat, als alle ihn schon verlassen hatten. Sie hat eine Politik der kleinen Schritte gemacht, ganz unaufwendig, nie mit großen Worten einhergehend, aber ganz konsequent bei der Demokratie bleibend, wo alle anderen schon wegliefen. Das ist eine ganz spannende Sache, wie sie unter diesen Bedingungen, mit regelrechten Diffamierungen – in bestimmten Ländern durfte sie sich dann nicht aufhalten – trotzdem ihren Weg gemacht hat in diesem Deutschland, das sich nun zerriß in soundsoviel Gruppierungen und Stücke und wo die Frühromantik auseinanderfiel, die sie stark mit initiiert hat mit ihren Erfahrungen von Mainz (nicht als die an Literatur interessierte Frau, die gern eine Gruppe hätte). Sie bewahrte die Forstersche Person, die zur Unperson geworden war, da auch Lichtenberg sich von ihm entfernte und gegen ihn schoß aus dem einfachen Grunde, um seine Position in Göttingen zu behaupten. Caroline aber hat sich keineswegs einschüchtern lassen. Mit Friedrich Schlegel, der sie in Lucka betreute, wo sie ihr Kind unter fremdem Namen, ein französisches Offizierskind, zur Welt brachte, haben die Gespräche stattgefunden, in denen jene Erfahrungen von Mainz und die Erinnerung an Forster wieder aufgehoben wurden, Schlegel hat dann das Forster-Porträt gemacht, revolutionär in einer Zeit, wo die Französische Revolution schon entschieden war. Von da kommen alle diese Impulse, die für mich in der Frühromantik von Interesse sind. Das war ja nur eine kurze Periode bis zu ihrer Auflösung und dem Übertritt vieler Romantiker zum Katholizismus.
Waijer-Wilke: Und neben dieser politischen Anstrengung auch die Anstrengung, zu genießen. Diese spricht sich auch in Ihren Gedichten aus, z.B.: „Spiegelscherbe“:
Die Tochter des Sisyphos
heißt Geduld.
Sie schminkt sich grau.
In Bleischuhen geht sie
über Pfützen und Müll,
hinterläßt haarige Spurn
und unstillbare Begierde
(Leben auf der Kippe).
Bedeutet es für eine Frau, die in der DDR lebt, eine besondere Anstrengung, beide Lebensbereiche, den öffentlichen und den privaten, zu vereinen?
Struzyk: Verstehen Sie mich nicht falsch, wenn ich sage, man brauchte Druck zur Produktion, überhaupt Druck zum Leben, daß man die Kraft entwickelt. Ich denke schon, daß es dazugehört, daß man gefordert wird.
Waijer-Wilke: Es kann aber doch auch wohl über die Kräfte gehen, vor allem, wenn man auch solche Erfahrungen durchstehen muß, wie sie in dem frühen Gedicht „Namenlos“ zum Ausdruck kommen, wo es u.a. heißt:
Aber das war ein sonnendurchglühter, glasklarer Tag.
Über den Wiesen flirrten die splittrigen Flügel der Feen.
Keinen bunten Rock, einen Kranz ich trag.
Maßlieb und Fenchel, Aglei, keine Veilchen, und Rosmarin
wand sie, meine Schwester, vor vierhundert Jahren
zu einem Kranz, gab sich hin ihrem Leid.
Hinter der Urne bergan stolpernd hab ich erfahren,
vierhundert Jahre sind zwischen uns wenig Zeit
(Poesiealbum 134).
Struzyk: Es gibt manchmal Dinge im Leben, die einen in eine ganz andere Generation schleudern, wo man eigentlich gar nicht hingehört. Ich war damals 23 Jahre alt, als das passierte, Das war für mich die erste, natürlich tödliche, Erfahrung mit Bürokratie. Das Kind ist gestorben, weil sie mir nicht geglaubt haben, wann es entstanden ist. Meine älteste Tochter wurde krank und hatte ganz hohes Fieber, erkannte mich nicht mehr. Ich bin mit dem Kind ins Krankenhaus gerannt. Das war so ein Schock, daß die Wehen kamen. Und man hat mir nicht geglaubt, daß das Kind erst 8 Monate war.
Waijer-Wilke: Sie haben in der Diskussion gesagt, für Ihre Generation habe die Lyrik Karl Mickels eine Wende bedeutet. Gilt das auch ganz persönlich für Sie?
Struzyk: Ja, Ich war, glaube ich, 18, 19 Jahre alt, als Vita nova mea erschien, Und das war, als ob man das Fenster aufmacht und frische Luft kommt herein. Vor allem Dinge, die immer so in einer grauen Büchse als „Realismus“ eingepackt waren, auch das dialektische Denken, das ich eigentlich schätze, und in einer solchen Weise vorgetragen, daß es nur anstrengend war, bekamen durch Mickel einen eleganten Ansatz. Es bedeutete, daß wirklich einmal Ernst gemacht wurde mit dem, was Marxismus ist, was historischer Materialismus, was dialektisches Denken ist. Das war schon so etwas wie eine Öffnung.
Waijer-Wilke: Diese Wirkung hatte Mickel eher auf Sie als Volker Braun?
Struzyk: Ja, Volker Braun hat uns zwar interessiert, aber vom Methodischen her verfuhr er mehr nach den alten Mustern. Für mich ist Mickel gedanklich eleganter. Letzten Endes sind die Produkte etwas Klareres. Für mich ist das ziemlich klar, was er macht. Dazu gehört auch die Anthologie In diesem besseren Land, die haben ja Karl Mickel und Adolf Endler gemacht. Dazu kommt Fritz Mierau, damals mit Oktoberland, der die russische Lyrik ganz anders zusammenstellte. Das war etwas Zündendes. Das war für uns nicht mit praktischen Zwecken verbunden, daß wir das etwa für eigene Lyrik gebraucht hätten, sondern um im Durchsehen der Situation ein Stück weiterzukommen. Das waren Stützen.
Waijer-Wilke: In welchem Jahr haben Sie angefangen zu schreiben?
Struzyk: 1973 war meine erste Veröffentlichung, im Literaturmagazin bei Rowohlt. Ich arbeitete damals schon im Aufbau-Verlag, als es im Börsenblatt angekündigt wurde. Die Autorenliste war dort aufgeführt, Wulf Kirsten, Kirsch, Rainer und Sarah, Mickel waren dabei und ich. Damals war das ja noch ziemlich verheerend mit diesen deutsch-deutschen Berührungsängsten. Die Publikation war zufällig, da hatte ich gar nicht so einen großen Anteil daran.
Waijer-Wilke: Waren Sie nicht zufrieden mit der Publikation?
Struzyk: Ich war schon zufrieden damit, aber mit der Wirkung war ich natürlich nicht zufrieden. Es wurden Konstruktionen gemacht, Vorwürfe, das war lächerlich. Das Thema des Heftes war neuere Literatur zur Klassikrezeption: Von Goethe lernen, ein schönes Heft, für das mein Gedicht „Seifengasse“ ausgewählt war.
Waijer-Wilke: Sie haben ein sehr gutes Verhältnis zu Elke Erb, der sie das Gedicht „Trost“ von 1983 widmen:
Elke gehört zu den Menschen.
Eine Mutmacht! […]
(Leben auf der Kippe).
Haben Sie auch gemeinsame poetische Positionen?
Struzyk: Das betrifft mehr den Gedankenaustausch. Wir unterhalten uns gern und arbeiten gern zusammen. Wenn ich nicht alle Vierteljahr ein ordentliches Gespräch mit Elke geführt habe, fühle ich mich irgendwie nicht ganz gut. Ich habe vorhin von der Sinnlichkeit gesprochen. Es gibt auch eine Sinnlichkeit des Gedankens, des Denkens. Darin ist Elke Erb meisterhaft. Ihr Denken ist auch nicht abstrakt in dem Sinne von – losgelöst von einer Lebensform. Es ist sehr sozial und sehr abhängig von Menschen, was sie macht, und auf Menschen zubewegt. Aber es ist eine andere Form und die ist einzigartig für meine Begriffe. Ein Gespräch mit ihr ist, wie wenn man schwimmen geht…
Waijer-Wilke: Das bringt mich auf Ihr Gedicht „Dienstreisende“. Das Ophelia-Motiv ist sehr poetisch und die Beschreibung des Schriftstellerlebens sozusagen als Dienstreise in Sachen Poesie voll Humor:
Eines Tages werde ich hier aussteigen,
wo der See sich in die Hecken drückt,
[…]
Ich werde den Fahrplan kennen,
durch die Saale schwimmen,
mit tropfnassem Haar dem D-Zug winken,
[…]
(Poesiealbum 134)
Es ist nicht in Leben auf der Kippe aufgenommen. Haben Sie die Auswahl zusammengestellt?
Struzyk: Ja, ich hatte natürlich Einfluß darauf.
Waijer-Wilke: In dem eigentümlichen Liebesgedicht „Gespensterzug“ erinnert die Pflanzen- und Tiermetaphorik an Sarah Kirschs Bildsprache, in der sie vom Geliebten spricht.
Du mit der bunten Haut,
den verkuppten Fingern,
Narben über Narben,
hast Muschelfüße, Irrlichtaugen […]
(Leben auf der Kippe).
Wie ist Ihre Beziehung zu Sarah Kirsch?
Struzyk: Hier gibt es keinen direkten Bezug. In „Seifengasse“ kommt eine Zeile vor, in der es von einer „tönernen Katze im Fenster“ heißt:
Sie ist sorgfältig geputzt und glänzt in der Sonne (Leben auf der Kippe).
Die Zeile gibt es fast genauso bei Sarah Kirsch. Das sind Sachen, über die man sich freut. Nicht, weil die geschätzte Sarah das gemacht hat, sondern weil sie hervorgebracht werden wie Erfindungen. Und wenn sie dann zweimal da sind, hat man das Gefühl, das ist richtig.
Aus Deutsche Bücher, Heft 4, 1988
Gerd Labroisse/Ian Wallace: Wie schätzen Sie aus heutiger Sicht Ihre Äußerungen im früheren Interview ein und wie würden Sie dort angeschnittene Fragen ergänzen wollen?
Brigitte Struzyk: Es bleibt dabei.
Labroisse/Wallace: Welche Chancen sehen Sie für sich als Autor in den wesentlich veränderten Verhältnissen seit der Wende? Erfahren Sie die neuen literarisch-gesellschaftlichen Verhältnisse (auch in bezug auf die Distribution) als Erleichterung, vielleicht auch als kreative Herausforderung, oder eher als Bedrohung?
Struzyk: Unverändert. Das muß an der Lyrik liegen – Immaterielles, das sich nicht verwalten läßt, ist in jedem Verwaltungssystem etwas Fremdes. Selbstverständlich ist die menschliche Bewegungsfreiheit ein Gewinn, setzt aber auch Geld voraus – das muß an der Lyrik liegen.
Labroisse/Wallace: Meinen Sie, daß ,DDR-Literatur‘ eine abgeschlossene Epoche ist oder halten Sie es für möglich, daß von dieser Literatur bzw. von Ihnen selbst etwas DDR-Spezifisches in die deutschsprachige Literatur weiterhin eingebracht werden kann?
Struzyk: Es gab Literatur, die auf dem Gebiet der ehemaligen DDR entstand. Der Begriff „DDR-Literatur“ ärgert mich nicht erst seit heute, aber er ist halt so zählebig wie „Engpaß“.
Labroisse/Wallace: Sehen Sie für sich im vereinten Deutschland eine politische Aufgabe als Autor, oder hat (jetzt) Schreiben eine rein bzw. weitgehend ästhetische Funktion?
Struzyk: Unverändert. Was heißt hier Aufgabe? Wir sind Menschen, die leben, und unsere Texte sind ein Teil des Lebens. Der Angriff auf das Leben ist auch der Angriff auf die Poesie – insofern kann ich mir keinen unpolitischen Autor vorstellen. Selbst wenn er nur Steuern abführt, macht er Politik. Aber ich verstehe das wohl klassisch.
Labroisse/Wallace: Haben Sie in der Zeit der Wende überhaupt schreiben können? Haben Sie sich schriftstellerisch mit den Ereignissen der letzten anderthalb Jahre auseinandergesetzt? Werden Sie sich in Zukunft mit dieser Thematik beschäftigen?
Struzyk: Wie es für mich keine „DDR-Literatur“ gibt, gibt es auch keine „Wende“. Die zwei Seiten einer Medaille, die Kopf gegen Zahl gestanden haben, kleben jetzt wieder Rücken an Rücken. Das ist ein Akt der Normalität, und das Normale ist meist fade, aber für die meisten wohl erstrebenswert – so sieht nun mal Demokratie aus, die mir auf alle Fälle besser gefällt als die quadratische Idiotie von Weltverbesserern, die sich schon genial deuchten, wenn sie eine Schleife binden konnten.
Aber so richtig gefällt mir die Demokratie auch nicht – sie erinnert mich an Pausengymnastik für alle.
Und Schreiben hat für mich keine Funktion. Es ist eine Lust – und es ist gut so. Natürlich schreibe ich von allem, was ich erlebt habe, z.B.: die Leidenschaft des Herbstes, die in dem Aufschrei gipfelte: wenn es uns schon nicht gut geht, dann wollen wir wenigstens glücklich werden, hatte sich im Frühjahr zu der Erkenntnis gewandelt: wenn wir schon nicht glücklich werden, so soll es uns wenigstens gut gehen. In Zahlen: 1:1.
Aus Gerd Labroisse und Ian Wallace (Hrsg.): DDR-Schriftsteller sprechen in der Zeit. Eine Dokumentation, Rodopi, 1991
BRIGITTE STRUZYK
der Wolf ein Formular
das Rotkäppchen
ein Amtsweg
das Blumenmeer ist die Stütze
der Wald die Republik
Peter Wawerzinek
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