IM SCHALLTOTEN RAUM
DICHTER IM ZEITENWECHSEL
Man könnte, was die Geschichte angeht, die wir in den letzten Jahren durchlebt haben, durchaus einen Satz von Arno Schmidt abwandeln, in dem er sagt: Der einzige Nutzen von Diskussionen sei der, daß einem erst hinterher die besten Argumente einfallen. Auch die Geschichte – was man immer auch darunter verstehen mag – macht uns erst klüger, wenn sie hinter uns liegt.
DIE ÜBERSTANDENE WENDE
Was hinter uns liegt,
Wissen wir. Was vor uns liegt,
Wird uns unbekannt bleiben,
Bis wir es
Hinter uns haben.
Mit der erlebten Geschichte ist es wie mit dem Schreiben: Man muß vergessen, was man gelesen oder gelernt hat. Auch die Geschichte, an der man beteiligt war, ist ein gefühlsmäßig-automatischer Akt, der uns Entscheidungen abverlangt, die zu Irrtümern führen können. Erlebte Geschichte in ihrem vorreflektierten Stadium – damit meine ich unser Beteiligtsein als Konsequenz vorbewußter Entscheidungen, etwas, dessen Herausforderung die Bremsen angelernten Verhaltens löst und zu kollektiven Handlungen führt, deren Folgen unabsehbar sind.
Die Ursachen und Folgen der „Staatsumschaffung“ – um einen Begriff Klopstocks zu gebrauchen – von 1989, die uns hier im Zusammenhang mit dem Thema Dichter im Zeitenwechsel beschäftigen, beginnen sich allmählich schon wieder im Diesseits von Gut und Böse der Geschichte aufzulösen. Die Erinnerungen „verblassen“ nicht nur – wie es in der gängigen Rede heißt –, sondern sie ergreifen in veränderter Gestalt Besitz von unserem Bewußtsein. Das die Zeit begleitende Ich wird zum Widergänger des individuellen Ichs; es stülpt sich über das, was wir Erinnerung nennen. Im Kontext der Zeit ist es das eigene Wort, der eigene Satz und schließlich der eigene Text, den wir eines Tages lesen, als wäre er von fremder Hand geschrieben.
Für einen Schriftsteller meiner Generation, der, wie ich, in drei unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen gelebt hat, der als Kind den Übergang vom Dritten Reich in den Kommunismus erlebt hat und in diesem erzogen und ausgebildet wurde, bedeutete das nicht nur, eine dreimalige Anpassung vollzogen haben zu müssen.
Dem, was man heute als Paradigmenwechsel bezeichnet, scheint jedoch schon immer ein biographisches Moment der Verunsicherung beigegeben gewesen zu sein. Ich erinnere an Werner Söllners Satz:
Wo andere Leute eine Philosophie oder eine Ideologie haben, dort habe ich eine Biographie.
Dies als Bekenntnis eines Schriftstellers, also eines Menschen, der seine Zeitgenossenschaft anders erlebt als ein Philosoph oder Wissenschaftler, der vorwiegend begrifflich zu denken gewohnt ist.
Im Gegensatz zu diesen sieht sich der Dichter – und ich möchte fürderhin vor allem von diesem sprechen – von der Flut der Bilder bedrängt, die ihm zur Verfügung stehen. Die Tatsache, nichts mehr „auf den Punkt“ bringen zu können und statt dessen die Wirklichkeit „auseinanderfalten“ zu müssen – wie es Franz Fühmann genannt hat –, kennzeichnet das Verhältnis des Dichters zur Welt und seine Produktionsweise.
Wenn ich in diesem Zusammenhang von mir sprechen darf, so möchte ich meine derzeitige Existenz charakterisieren als geprägt von dem Konflikt der Vormoderne, aus der ich komme, mit der Moderne. Die Forderung, über den eigenen Schatten zu springen, ist, wie dies Klischee selbst, für mich nicht mehr aufzulösen. Vor dem Begriff Zeitenwende stehe ich, offen gesagt, ratlos. Auch dieser Begriff zerfließt und wird unscharf, wenn ich ihn im Zusammenhang mit meiner Biographie betrachte. Um mir Rat zu holen, versuche ich einen Exkurs in die Vergangenheit.
In seinem Todesjahr schreibt Rainer Maria Rilke in einem Brief über das Italien Mussolinis:
Auf jeden Fall bekundet dieses Italien von 1926 auf bewundernswerte Weise handlungsfähiges Leben und einen guten Willen, während die in den Ländern rundum geschürte Verwirrung fortfährt, jene zu untergraben und ihre Zerstörung zu betreiben. Das ist eine Tatsache, der ich mittlerweile nicht zögern würde, einige Ideen und Gefühle zu opfern, so groß und ungeduldig ist mein Wunsch nach Ordnung.
Sieben Jahre vor Gottfried Benns Rede „Der neue Staat und die Intellektuellen“ konstatiert der heimatlose und entwurzelte Dichter im gleichen Brief seine Abneigung gegen die Demokratie und die Hinnahme „eine(r) gewisse(n) Gewalt und den Entzug der Freiheit“.
Auf dem Vorfeld unserer jüngeren Geschichte liegen als Trümmer die Bekenntnisse und Absagen deutscher Dichter zur Französischen Revolution. Erinnert sei hier nur Goethes oft im Sinne der Fortschrittsgläubigkeit mißbrauchte Äußerung auf der Campagne, während der Kanonade von Valmy („Von hier und heute beginnt eine neue Epoche der Weltgeschichte. Und wir können sagen, wir sind dabeigewesen.“] oder Klopstocks sprachmächtige Ode „Mein Tal“ mit den Versen:
Auch ich stand auf einem der hohen Felsengestade,
Schauete heißteilnehmend hinab
Auf die empörten Wogen, des donnernden Ozeans Berge,
Alle sie Spiele des Sturms,
In die Nacht hinab der Staatsumschaffung!
Erst im Moment eines von Kälte klirrenden Kahlschlags in einer kurzen, ideologiefreien Zeitenwende der Nachkriegszeit entsteht ein Gedicht wie Günter Eichs „Latrine“:
Irr mir im Ohre schallen
Verse von Hölderlin.
In schneeiger Reinheit spiegeln
Wolken sich im Urin.
Mit dieser Kahlschlag-Lyrik, wie sie später genannt wurde, beginnt auch so etwas wie die Teilung der deutschen Literatur in zwei sich mitunter feindlich gegenüberstehende Lager. Ich bin nicht der Meinung Hans Mayers, es habe immer nur eine deutsche Literatur gegeben, deren einziges Kennzeichen ihre Qualität gewesen ist. Mit dem, was nach 1945 und bis 1989 im Osten geschrieben wurde, verbanden sich andere Schreibweisen, Hoffnungen und Illusionen als im Westen, der schnell den Anschluß an die westeuropäische Moderne fand, während die Moderne am Osten vorüberging, dessen Autoren sich nach 1990 in der Postmoderne wiederfanden.
Das zerfallende Haus, das Sozialismus hieß und in dem sich viele DDR-Autoren bis zur Wende verschanzt hatten und von dem viele noch bis zuletzt glaubten, es ließe sich sanieren, ist endgültig zerfallen.
Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.
KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN
Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.
Es wirft sich weg und seine magere Zierde.
Dem Winter folgt der Sommer der Begierde.
Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst.
Und unverständlich wird mein ganzer Text
Was ich niemals besaß, wird mir entrissen.
Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.
Die Hoffnung lag am Weg wie eine Falle
Mein Eigentum, jetzt hab ichs auf der Kralle.
Wann sag ich wieder mein und meine alle.
In diesem Gedicht Volker Brauns – dem neben Christa Wolf prominentesten Vertreter der DDR-Elite – mit dem Titel „Das Eigentum“ –, das übrigens nicht zufällig zunächst „Nachruf“ hieß – spricht dieser Protagonist einer besseren DDR, eines besseren Sozialismus von seinem Abschied von der Utopie. Das aufgelöste, privatisierte Volkseigentum ist ins Kapital und damit in eine fast grenzenlose Freiheit übergegangen. Für den Schriftsteller stellt sich die Frage, was er mit dieser Freiheit anfängt. Er, der last but not least zum Produzenten geworden ist, der für den Markt produzieren muß – und zwar so, wie es Walter Benjamin analysiert hat –, steht vor völlig neuen Fragen seiner Schreibstrategie. Das ist, zugegeben, alles bekannt und schon lange banal, hat jedoch eine total neue Lebenssituation geschaffen, deren Folgen für den „freien Autor“ tödlich sein können.
Er kann sich nun, psychologisch gesehen, wie Rilke, nach einer starken Ordnung (zurück)sehnen, wie Klopstock das Scheitern der Utopie dichterisch ausdrücken oder, wie Eich, emphatisch-nüchtern den Kahlschlag konstatieren.
Ein anders Problem ist das der Sprache. Beim Schreiben, so auch hier, merke ich, daß ich für das, was ich im Zusammenhang mit meinem Thema sagen will, keine angemessene Sprache zur Verfügung habe. Das Bemühen, Objektivität vorzulegen, erweist sich, je weiter ich mich an meinem Gegenstand entlangbewege, mehr und mehr als sinnlos. Diese Sprache scheitert an jedem Versuch, der erlebten Geschichte überhaupt noch einen Sinn zu unterlegen. Erweist sich letzten Endes das, was einmal fortschrittlich war, als reaktionär und das Reaktionäre als fortschrittlich? Kann sich die Sprache derartigen Fragen gegenüber nur noch auf sich selbst zurückziehen? Und: Erfahren wir in der Sprache, in der eigenen und vielleicht in einer fremden, noch unsere Identität? Das klingt, zugegeben, alles etwas übertrieben, denn ich weiß: Nüchternheit ist angesagt, jene analytische Schärfe, welche die Jungen im Griff haben, wenn sie ohne jede Beteiligung von Emotionen reden. Die veränderte Bewußtseinslage verlangt nach einer anderen Sprache als nach der eines Georg Lukács oder der des Theoretikers Brecht, mit der ich aufgewachsen bin.
Es ist, kurz gesagt, die Sprache des Einzelnen, des Vereinzelten, welche die Diktion des Sprechens heute bestimmt. Serielle Gedichte voll klirrender Kälte, Essays und Gedichte, wie die von Kurt Drawert, geprägt von Ratlosigkeit und eiskalter Schärfe. Ein Ausbruch wie der von Bertram Kronenberger – „… verdammt, wann habe ich das letzte Mal mit jemandem geredet, wann habe ich das letzte Mal jemandem zugehört, wann hat mir das letzte Mal jemand zugehört…“ – kann vermutlich nur noch im Osten der deutschen Republik geschrieben werden, während im Essay des Westens ein distanzierter Pessimismus die Sprache herausfordert, eine Sprache, deren vorgegebene Entschiedenheit oft nur eine Perspektive der Allwissenheit vortäuscht.
Während der Skeptizismus der Moderne und Postmoderne seine Hinterlassenschaften markiert, scheint im Osten der Bundesrepublik Deutschland noch immer der Ton einer Klage um die verlorene Identität vorzuherrschen. Das mag aus der Perspektive des Westens befremdlich erscheinen. Doch den Sprung aus der sozialistischen DDR in den hochkapitalistischen Westen können nur die wenigsten Autoren unbeschädigt verkraften.
Liest man zum Beispiel eines der letzten Hefte der Dresdner Zeitschrift Ostragehege, so verdichtet sich der Eindruck, daß die Klagen vieler Beiträger handfeste Ursachen haben. Die Abwesenheit jeder Transzendenz spricht für sich. Eingeklagt wird u.a. von Wolfgang Hilbig die enttäuschte Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft oder von Roland Erb das Fehlen jeglicher Solidarität unter den von Wohnungsnot und vom einklagbaren Recht des Geldes Betroffenen.
Ich selbst weiß von diesen Phänomenen mein eigenes Lied zu singen. Dennoch frage ich mich, warum diese Mutlosigkeit im Angesicht des real existierenden Kapitalismus eine so große literarische Resonanz hat. Nebenbei gesagt handelt es sich bei beiden Autoren keinesfalls um Protagonisten des alten Systems. Im Gegenteil. Dennoch scheinen beide und viele andere Autoren der ehemaligen DDR von den neuen Tatsachen erdrückt. Ihre sogar schon innerhalb der allgemeinen Bedürfnislosigkeit der sozialistischen Verhältnisse unzulänglich abgesicherte ökonomische Existenz hält den neuen Bedingungen des Marktes nicht stand. So Roland Erb:
Vielleicht müßten wir wieder auf dem Ring herummarschieren, mal sehn, ob die neuen Leute, die so perfekte Gesetze für alles haben, dann auch kommen würden mit Wasserwerfern und Hunden und schlimmeren Sachen, mal sehn. Doch Pustekuchen, wer würde heute noch ernsthaft protestieren, gäbe es wirklich viele, die ein Risiko eingehen, jetzt, wo sie so viel verloren haben, vor allem an Hoffnung? Die Solidarität ist ja völlig zusammengebrochen, und jeder ist heilfroh und dankt Gott auf den Knien, wenn er selbst überlebt, wenn er ein Zipfelchen überleben erhascht in dem wahnsinnigen Alptraum am Ende eines Jahrtausends in Mitteleuropa in einem der reichsten Länder der Welt.
Was mich an derartigen Bekenntnissen beunruhigt, ist nicht allein die Tatsache der sozial ungesicherten Existenz, die sich nahezu schamlos kundgibt, sondern vor allem das Eingeständnis von Machtlosigkeit und Handlungsunfähigkeit. Daß mir selbst derartige Alpträume nicht fremd sind – lebe ich doch auch in der ungesicherten Existenz eines freien Schriftstellers in der Zeitenwende –, gestehe ich ein. Wir, die wir in der Relativität des freien Falls ins Bodenlose existieren, haben uns wohl oder übel einer weiterhin echolosen Existenz ausgesetzt. Echolos – das meint vor allem den Verlust jener machtgeschützten Innerlichkeit, von der Thomas Mann sprach, als er die in Nazideutschland verbliebenen Schriftsteller zurechtwies. Auch die DDR garantierte ihren Autoren diese machtgeschützte Innerlichkeit, verbunden mit langfristigen Verlagsbindungen und, wenn es gut ging, mit Reisepaß ins westliche Ausland. Das „Leseland“, wie es der einstige Buchminister und jetzige PDS-Abgeordnete Klaus Höpcke gern nannte, überließ seinen Autoren ein im Schriftstellerverband und im PEN geregeltes und überwachtes Beieinander. Kam es zu Krisen und Entscheidungen, gab es noch immer für viele den Ausweg, das Land Richtung Westen ordentlich zu verlassen. Deutsche Ordnung und deutsche Zuverlässigkeit, versehen mit sozialistischen Vorzeichen, auch hier…
Man mag es sich heute eingestehen oder auch nicht: Wer bis zuletzt in diesem Lande geblieben ist und publizierte, unterwarf sich diesem Regelsystem. Das macht es heute vielen, die jetzt von sich behaupten, sie kennten nur die Feindschaft zwischen ihrem Ich und der Zeit, vermutlich schwer. Oder leicht? Aber die Innerlichkeit, das hatte schon Hans Magnus Enzensberger im Vorwort zu seinem Museum der Modernen Poesie festgestellt, kennt keine Epochen. Das Thema jedoch, von dem ich hier zu sprechen gehalten bin, zielt genau in den Gegensinn der Innerlichkeit.
Hans Driesch, ein vergessener Leipziger Philosoph, definiert Leben als von Unterschieden bedingt. Doch für einen von derartiger Unterschiedslosigkeit geprägten Poeten scheint eine Epoche in die andere überzugehen. Die Stunde der Usurpatoren. Je nach Gemütslage ist es immer die gleiche Trauer oder Freude, welche ihre Monologe bestimmt. Sie haben sich ihre Welt geschaffen – unberührt von den Zäsuren der Zeitgeschichte. Nische und Festung scheinen ihnen die einzigen Orte der deutschen Literatur…
Von einer Zeitenwende geprägt ist jedoch auch die Biographie Paul Celans, von dessen Schicksal mir meine Ehrfurcht fast zu schweigen gebietet. Sprache und Metaphorik dieses Dichters, seine heilige Wut und die Hoffnungslosigkeit, die ihn in die Seine trieb, haben seine Epigonen auf den Plan gerufen. Doch das Unwiederholbare der Wiederholung gab ihnen keine Chance. So haben wir es heute allein mit unseren Erfahrungen und mit unserer Sprache zu tun.
An der Schnittstelle, nämlich dort, wo die Wörter unserer Erfahrungen mit denen der Vergangenheit zusammentreffen, entsteht, was wir auch heute noch Poesie nennen. Auch wenn wir uns Schnittstellen wie die, die Paul Celan zum Dichter gemacht haben, nicht wünschen, bleibt doch die Frage, ob Poesie heute noch möglich ist und wie sie beschaffen sein müßte.
EIN GROSSES GEWALTIGES SCHWEIGEN
liegt überm Land, es dröhnt in den Ohren. Das Wenige,
das noch gesagt werden kann, erreicht nicht
den mit Wachspropfen verstopften Gehörgang. Sprachlos
scheint das Jahrhundert zu Ende zu gehn.
In infarktverdächtigen Kreisen
wird die Saison der Lyrik gemanagt. Preise
werden verliehen, Medaillen verschenkt: das Nichtstun
hält Hochzeit mit Intolleranza, in Weimar
bereitet man sich darauf vor, das heilige Dreigestirn
den Hunden zum Fraß vorzuwerfen, die Verinszenierung
dieses Jahrhunderts beginnt Gestalt anzunehmen, bald
werden die letzten
Dichter mit ihren Büchern
einen Hochdrahtseilakt absolvieren…
In einem schalltoten Raum
sing ich mein Lied
auf die Alt-alt-Stalinisten, in meinen Träumen
führe ich erbitterten Kleinkrieg
mit meinen Freunden: Ach, bald sind wir alle tot,
dann endlich wird niemand mehr wissen,
was einmal gewesen ist, den Rest
schlucken die steigenden Wellen der See, hinter Hannover
gelten die ersten Königspalmen
als Landmarken. In Wuischke
am Czorneboh nahe Bautzen
soll noch, höre ich, jemand leben
der in einem Bändchen Gedichte der Achmatowa liest.
In einer Zeit, wo das Geld als einziger Überlebenswert die Existenz beherrscht, ist die Poesie als gesellschaftlicher Wert apriori zum Scheitern verurteilt. Wenn sich doch eine Handvoll Interessierter bereitfinden, einer Lesung beizuwohnen, so handelt es sich um Menschen, die sich, wie die große polnische Lyrikerin Szymborska gesagt hat, verirrt haben. In der Werteskala der Zeitenwende verirrt sich andererseits die Poesie in den Bereich einer globalen Säkularisierung der sogenannten inneren Werte… Wer kann, so meine ich, sollte der Poesie absagen. Es gibt, indeed, Nützlicheres zu tun, als Gedichte zu schreiben… Wer aber einmal das Los gezogen hat, dem bürgerlichen utilitaristischen Wertesystem zu entsagen, und es auf sich genommen hat, sein Leben im Leerraum gesellschaftlicher Unnützlichkeit zu verbringen, ist dazu verurteilt, die Zeit seiner Freiheit unter dem Zwang der Tatsachen zu verbüßen.
Was bleibt, ist allein das Faktum, das zu Ende zu bringen, das damit begann, daß man sich einmal im Besitz einer Wahrheit wähnte, die eine Alternative zu der unserer Eltern war. Als wir die Brosamen einer Poesie kauten, die uns zugewiesen wurde, war die Erkenntnis, auf ein Nichts zuzugehen, noch nicht auf unserer Seite.
In meinem Fall bedeutet das, in der Einseitigkeit einer Ideologie befangen gewesen zu sein, die ihren Widerspruch in sich trug. Gedichte zu schreiben hieß nichts anderes, als diesen Widerspruch herauszuarbeiten. Wie unzulänglich mir das auch immer gelungen sein mag – ich sehe mich inmitten der grenzenlosen Freiheit unter die Kuratel gestellt, mir selber folgen zu müssen.
Das klingt, zugegeben, freilich sehr pathetisch, und man könnte es zurückübersetzen in die Sprache der Tatsachen, in der es hieße, daß der Wert oder Unwert all meiner Erfahrungen das einzige Kapital ist, das mir zur Verfügung steht. Um mich aus dem Kontext der Geschichte auszublenden, um den Sprung über den eigenen Schatten zu wagen, wie es der Atheist Brecht getan hat, als er den Vers „Wenn mein Glück aussetzt, bin ich verloren“ aufs Papier brachte, habe ich weder die Grundlage einer gesicherten Existenz zur Verfügung noch eine Zukunft in Aussicht, die meine Angst vor der Unsicherheit mildern könnte. Ich erinnere an eine Bemerkung T.S. Eliots:
Eine der unglücklichen Notwendigkeiten des menschlichen Daseins liegt darin, daß wir alles selbst herausfinden müssen.
Nach Jahrzehnten der Regentschaft von terrible simplificateurs und deren Versprechungen von einer „Zeit ohne Angst“ (Bobrowski) sind wir jetzt dort angekommen, wo wir tatsächlich angehalten sind herauszufinden, ob wir der Selbstbestimmung fähig sind oder nicht. Das gilt sowohl für das Schicksal der Menschheit wie für das Individuum. Der Produktionsausstoß der Literaten ist weltweit ins Unermeßliche gestiegen. Bücher, die eine Zeitlang Aufsehen erregen, wandern nach kurzer Zeit auf die Deponien. Die Aliens bedeutender Romane schickt uns die Filmindustrie per TV ins Haus. Lediglich das Gedicht, verkümmernd unter der Interesselosigkeit des sogenannten breiten Publikums, scheint seine Souveränität zu behaupten.
Es ist möglich, daß die Gedichte einer Handvoll Autoren die Entwicklung in der DDR beschleunigen halfen. Das gilt sowohl für öffentliche Lesungen wie auch für die Untergrundzeitschriften, die in den großen Städten im Umlauf waren. Aber auch wenn man der Vergangenheit Gerechtigkeit widerfahren lassen will, muß man seinen Blick auf die Gegenwart richten.
Heute wirkt der Bonus, den die DDR-Lyrik auch im Westen hatte, noch fort. Das verschafft ihr auch noch immer ein Publikum. Ich würde mich ins eigene Fleisch schneiden, versagte ich diesem Status quo meine Zustimmung. Aber die Schicksalswende hat anderes auf die Tagesordnung gesetzt.
Hinter den Fragen, die ich mir zu stellen habe, steht das Problem der Identität des Subjekts mit sich selbst und mit der Gesellschaft, in der es lebt. Daß jede Identität nur eine Fiktion ist, die einen erstrebenswerten Zustand als Utopie wahrnimmt, erlebe ich immer wieder. Rückblickend sehe ich mich in einem Zustand aufgehoben, der ebenso wirklich wie unwirklich ist. Ich verstehe Wolfgang Hilbig in diesem Zusammenhang gut, wenn er sagt, die neuen Verhältnisse im vereinigten Deutschland hätten viele erst jetzt zu wirklichen DDR-Bürgern gemacht. Auch ich empfinde den Verlust eines Lebens, das mir genügend Schreibanlässe bot, um meine Widersprüche aus innerem Antrieb und von innen heraus zu formulieren, schmerzhaft. Zeitweilig versuchte ich, diesen Schmerz, der mir unbewußt war, durch eine forcierte Polemik gegen die alten Verhältnisse zu betäuben – man kann es in meinem 1993 erschienen Buch Nachtspur nachlesen. Doch als ich am Abend des 3. Oktober 1990 im Fernsehen sah, wie Offiziere der Nationalen Volksarmee Standarten und Degen symbolisch an Offiziere der Bundeswehr übergaben, empfand ich für einen Moment den Zusammenbruch der DDR plötzlich auch als meine Niederlage.
Es fällt mir schwer, diese Emotion zu erklären, zumal ich mich als unverdächtig bezeichnen darf, je mit der Armee des Arbeiter-und-Bauern-Staates sympathisiert zu haben. Ich verspüre in diesem Zusammenhang weder die Fähigkeit noch die Lust, mich zu rechtfertigen. Der mit der Wende in Erscheinung getretenen Selbstgerechtigkeit, der auch ich zeitweilig erlegen bin, man habe in der DDR ausschließlich im Widerstand gelebt, setze ich heute entgegen, daß niemand nur im Widerstand gelebt hat. Die in zwei ungleichmäßige Stücke zerbrochenen Biographien von Schriftstellern meiner Generation, die ihr Leben bis 1989 in der DDR verbrachten, beginnen sich allmählich zu klären oder sich unter dem Zeichen des Gedächtnisverlustes aufzulösen. Die Flut der mehr oder weniger schnell hingeworfenen Autobiographien kann wohl durch ein Bedürfnis nach Selbstrechtfertigung erklärt werden. Wer seine Wunden sorgsam leckt, kann damit rechnen, eine kurz aufflackernde Aufmerksamkeit zu erregen.
Daß auch in Gedichten die Vergangenheit fortgeschrieben wird, steht außer Zweifel. Aber der Lyriker reagiert anders als der Prosaautor auf die erfahrene Wirklichkeit. Er setzt die platte Misere, die Thema so vieler DDR-Erinnerungen ist, außer Kraft und rechtfertigt sich allein aus der Ambivalenz, seinen Gegenstand gleichzeitig zu benennen wie zu verschweigen. In dieser Hinsicht ist die Kontinuität eines Dichters als Zeitzeuge und Chronist seiner eigenen Existenz gewahrt. Die engen inneren und äußeren Grenzen der DDR, in denen ich zu leben angehalten war, zeitigten so etwas wie eine Konzentration auf Themen und Gegenstände, deren ich mir in Übereinstimmung mit meiner Biographie sicher sein konnte.
Wenn ich die Orte und Landschaften, in denen ich gelebt habe, als mit mir identisch empfand, so signalisiert das Weltverlust und Weltgewinn im gleichen Maße. Die „Evokation der Provinz“ (Kunert) – ein „Markenzeichen“ der von Adolf Endler so benannten Sächsischen Dichterschule – war vielleicht der letzte Versuch einer Handvoll Lyriker, sich unter- und miteinander zu verständigen. Das mißverständliche Fahnenwort Heimat erfuhr seine letzte Bestätigung nicht nur aus Büchern, sondern vor allem aus einer Erfahrung, die mir abhanden gekommen ist. Heute versuche ich, mir meinen Westfälischen Frieden zu erschreiben: ein kleiner Ort im Münsterland, stigmatisiert durch die „Idiotie des Landlebens“, muß mir vorläufig ersetzen, was ich durch bestimmte Fügungen meiner Biographie verloren habe. Daß sich das an der Schwelle des Alters vollzieht, eine neue „Landnahme“ daher nur noch bedingt möglich erscheint, gibt meinen Versuchen mitunter den Anstrich der Vergeblichkeit. Das, was mir durch den Kopf schießt, ist an dieser Stelle noch kein Thema: Einsamkeit, Alter, Krankheit, Tod, Selbstmitleid sind nur Wörter, zwischen und hinter denen sich eine Existenz verbirgt, die von Aussichtslosigkeit gekennzeichnet ist.
Aber es ist, anders gesagt, nicht die Aussichtslosigkeit meines lyrischen Ichs, sondern die, hinter der noch immer Schopenhauers Verneinung des Lebens steht.
Benns Gedanke, der Lyriker müsse sich orientieren, „welche Stunde an diesem Mittag über der Erde steht“, treten die Tatsachen entgegen, von denen man in einer Gesellschaft, in der Geld und Gesundheit die herrschenden Werte sind, nicht oder zuviel spricht, was im Grunde dasselbe ist…
Unsere christliche Zivilisation will es, daß wir in wenigen Jahren ein neues Jahrtausend beginnen. Auch das Zeitenwende. Doch für die Poesie mag das weniger bedeuten als die Wende von 1989/90. Der Abschied von der heroischen Illusion, die Welt sei zum besseren veränderbar, indem die sozialen und politischen Widersprüche weltweit lösbar seien – ein Glaube, mit dem nicht nur die klangvollen Namen Majakowski, Neruda oder Brecht verbunden sind –, liegt hinter uns. Dem Leben an sich ist kein Sinn mehr in Hinsicht auf eine wie auch immer geartete Utopie abzugewinnen. Ob Vormoderne, Moderne, Postmoderne oder Post-Postmoderne – Gedichte entstehen noch immer aus dem Zusammenstoß des Ichs mit den Tatsachen.
Daß sich durch die Biographien der Poeten meiner Generation ein Riß zieht, der unser Leben in zwei ungleichmäßige Teile teilt, und daß, wer in unserem Alter kein Haus hat, sich vermutlich auch keins mehr baut, steht dahin. Zu den Tatsachen gehört auch das, was mitunter unerträglich erscheint: die Vollmundigkeit der Politiker, ihre Erklärungen des Unerklärbaren, das Unrecht, das gerade in einem Rechtsstaat besonders auffällig wird.
Die Poesie, will sie nicht in einem sinnlosen Aktionismus verkommen, hat all dem jetzt nichts mehr entgegenzusetzen. Ihre selbstzerstörerische Rolle, die sie auf die Gefahr von Seele, Leib und Leben ihrer Protagonisten hin spielt, ist nicht mehr durch die Zensur bedroht. Dafür ist ihr Marktanteil im Literaturgeschäft, abgesehen vielleicht von zwei, drei Ausnahmen, unerheblich. Dennoch: Das Gedicht vermag nicht mehr und nicht weniger, als die unaufhebbaren Widersprüche der Welt, in der wir zu leben und die wir zu ertragen haben, zu benennen. Das ist ein hoher Anspruch, und wir wissen auch, daß ihn nur wenige Gedichte erfüllen.
Im schalltoten Raum, von dem ich sprach und in dem wir uns befinden, rufen Gedichte keinen Widerspruch mehr hervor. Während sich ein russischer Dichter wie Wjatscheslaw Kuprijanow noch mit der Frage auseinandersetzen muß, ob der Vers libre in der russischen Dichtung eine Existenzberechtigung habe, hat unsere Lyrik alle Formfragen längst hinter sich gelassen. Die DDR, deren Anfang, verglichen mit den übrigen sozialistischen Ländern, nicht zuletzt aufgrund ihrer Nachbarschaft zum anderen deutschen Staat, ein besonderes Versprechen für eine bessere Zukunft schien, hat literarisch das hervorgebracht, was ihr angemessen war: eine Literatur des Geteilten Himmels. Die ideologisch unerwünschte Metaphysik wurde ersetzt durch eine Schizophrenie, in der der einzelne mit einem Bein im Sozialismus, mit dem anderen im kapitalistischen Westen stand. Der abhanden gekommenen Utopie, die sich unentwegt selbst vernichtete, stellte die „bessere“ Lyrik, die in der DDR geschrieben wurde, von Anfang an eine Realität gegenüber, welche, um an Peter Huchel zu erinnern, in der Mitte der Dinge die Trauer sah, welche die Realität der Ruinen und Halbruinen, in denen die Dichter lebten, markierte.
Heute, wo die Wirtschaftskraft des Kapitals die ehemalige DDR wie ein Tornado überzieht und mit den Resten der wirtschaftlichen Impotenz der DDR auch das Gedächtnis des Furchtbaren auszulöschen droht, wird es eine Handvoll Gedichte sein, welche die Erinnerung an jene Zeit bewahren, deren Selbstaufhebung mit dem Einigungsvertrag zur beschlossenen Sache wurde.
Doch wer wird sie noch lesen? Was zu erinnern wäre, schrumpft in Textspeicher zu elektronischen Daten zusammen. Das, was aus dem Off kommt, ist ein „Abrakadabra aus sehr ferner Zeit, das bald keiner mehr versteht“ (Jan Koneffke).
Heinz Czechowski
Die Poetik-Dozentur der Akademie der Wissenschaften und der Literatur an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz besteht seit zwanzig Jahren. Grund genug, dieser erfolgreichen Einrichtung ein kleines Denkmal zu setzen. In mehr als vierzig Semestern haben Schriftstellerinnen und Schriftsteller in den Autoren-Seminaren mit den Studenten zusammen gearbeitet. Die Seminare hatten und haben auch weiterhin Werkstattcharakter, die Dichter sprachen und sprechen über ihre eigenen Werke, über produktionsästhetische Probleme, über poetische Erfahrungen ganz allgemein. Die Veranstaltungen waren von großer Intensität und Produktivität – die Autoren offen für Fragen – und das Publikum hörte gespannt, manchmal auch gebannt den oft ausführlichen Antworten zu. Ich sage das mit aller gebotenen Objektivität, gleichsam als Zusammenfassung dessen, was ich während der Sitzungen beobachtete und hörte. Naturgemäß als stiller Beobachter und Zuhörer – was mir in all den Jahren viel Gewinn gebracht hat. Freude hat es natürlich auch gemacht – und Freunde. Wie erholsam jener subtile Umgang mit Literatur, der dem Leben nahe ist und damit dem Leben der Texte, fernab von aller philologischen Trockenheit – was ich in meinen eigenen Seminaren immer als oberstes Ziel im Auge hatte. Die Autoren-Seminare waren und sind eine kostbare Erweiterung der akademischen Lehrveranstaltungen. Die Studentinnen und Studenten, die zu den Autoren-Seminaren kamen, bildeten einen selbsterwählten Kreis von Literatur-Begeisterten. So hatte ich es mir gewünscht, als ich 1978 nach meiner Aufnahme in die Akademie – als Literat und Literaturwissenschaftler – die Dozentur plante.
Mit Absicht hatte ich von Anfang an diese Gesprächsrunden als Mittelpunkt der Begegnungen ins Auge gefaßt. Große Medienveranstaltungen verfolgen ein anderes Interesse. Dennoch wurde den Gästen die Möglichkeit gegeben, vor großem Auditorium zu sprechen. Zur Poetik-Dozentur gehörte jeweils ein öffentlicher Vortrag über poetologische Grundsatzfragen aus eigener Sicht. Dieser Vortrag fand weitgehend im Rahmen meiner Vorlesungen statt, so daß die poetischen Botschaften auch jene Menschen erreichten, die – gemäß der historischen Ausrichtung der Geisteswissenschaften – nicht unbedingt und primär mit neuester Literatur Umgang haben, vor allem, wenn sie aus anderen Fachrichtungen kommen. Einige dieser Vorträge sind im vorliegenden Band abgedruckt, zum Teil, weil die Autoren nicht mehr leben, so Helmut Heißenbüttel und Hans Jürgen Fröhlich, andere Vorträge, wie die von Ulrich Woelk und Durs Grünbein, schienen mir so symptomatisch in ihrer Thematik, daß sie an Stelle eines Originalbeitrags eingerückt wurden. Anderweitig schon publizierte Beiträge, wie der von Hilde Domin oder Heinz Czechowski, wurden auf Wunsch der Verfasser übernommen. Im Falle des verstorbenen Freundes Herbert Heckmann bot sich der schöne Vortrag an, den er auf einem der Industriellen-Symposien der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1995 gehalten hatte. Thema des Symposions: „Über die Phantasie“. In allen diesen Fällen erklärt das die zurückliegenden Daten. Ansonsten war es das Ziel, neue Statements zum Abdruck zu bringen. Das ist auch gelungen, überwiegend handelt es sich um Beiträge, die auf meine generelle Themenstellung antworten: „Wo steht die Dichtung heute? Oder: Anmerkungen zu meiner poetischen Position.“ Dies war im weitesten Sinne gemeint und brachte in dieser unbegrenzten Weite auch die erfrischendsten Niederschläge. Nahezu alle Teilnehmer haben sich an diesem Jubiläumsband beteiligt. Einen vollständigen Überblick über die Inhaber der Dozentur von 1980 bis 2001 gibt das chronologische Verzeichnis am Ende dieses Bandes.
Mein herzlicher Dank gilt dem damaligen Landtagspräsidenten von Rheinland-Pfalz, Herrn Minister a.D. Dr. Albrecht Martin, der mich bei der Verwirklichung meiner Pläne zur Gründung der Poetik-Dozentur seinerzeit tatkräftig unterstützt hat.
Bruno Hillebrand, Vorwort
Schreibe einen Kommentar