WIDERSTAND UND WIDERSPRUCH
– Moderne Lyrik in der Universität. –
Gehen wir davon aus, daß moderne Lyrik ein lakonisch gesprochener Text ist. Die Sprache des einzelnen, dem die Welt entgegensteht. Bis an die Grenze der Sprachlosigkeit, bis zum Verstummen. Gehen wir davon aus, daß diese Sprachnot, dieser Widerstand für die Orientierung mancher Leser mehr Information hergab oder hergibt als die flinke Sprache öffentlicher Anpassung. Gehen wir weiter davon aus, daß auch die Geistes- und Sozialwissenschaften sich sprachlich und methodisch verantworten können, daß sie analytisch und empirisch vorgehen und sich freihalten von den Überredungskünsten der Werbung, gehen wir von diesen Ideal-Prämissen aus, dann sehen wir zunächst nur einen äußerlichen Unterschied, noch keinen Widerspruch. Wir sehen quantitativ die Kürze der Evokation und die Länge der Deskription und wissen zugleich, daß der Unterschied ein qualitativer ist. Kunst und Wissenschaft lassen sich nicht auf einen Nenner bringen, auch dann nicht, wenn von Stoff und Umfang her eine Annäherung leichter zustande kommt als bei der Lyrik, etwa beim Roman. Nach wie vor gilt die alte Unterscheidung im Hinblick auf die Mittel: Dichtung bringt bildhaft zur Darstellung, was Wissenschaft begrifflich rationalisiert. Auf die Lyrik angewandt, gilt das extrem.
Gedankliche Explikationen mindern die lyrische Qualität. Das bedeutet selbstverständlich kein Denkverbot für Lyriker, ich glaube, daß in diesem Punkte Konsens besteht. Aber es deutet auf die Unverhältnismäßigkeit der Mittel hin, die jedes wissenschaftliche Gespräch über Lyrik bestimmt. Die qualitative Differenz der Sprachebenen tritt bei der Behandlung von Lyrik in besonderer Weise zutage. Die Definition des Undefinierbaren ist um so mehr der Fragwürdigkeit anheimgestellt, als sich moderne Lyrik aus den streng formalisierbaren Klammern von Metrik und Reim, Strophen- und Gedichtformen befreit hat. Da sich die Lyrik heute aus solcher Bindung endgültig gelöst hat, tritt ihr irrationaler Kern unverhüllter hervor als je in der Geschichte dieser Gattung. Die Konsequenz dieser Entwicklung zeigt sich als Hilflosigkeit der Wissenschaft und der Kritik, die Unangemessenheit rationalen Sprechens ist ins Bewußtsein getreten; nicht nur in der Universität, auch in den Zeitungen überwiegt die Besprechung epischer Literatur, obwohl doch im Augenblick eine lyrische Hausse verzeichnet wird. Das Interesse an Lyrik, das läßt sich allgemein verfolgen, ist in den letzten Jahren gestiegen.
Ich selbst habe in den vergangenen Semestern Vorlesungen über Lyrik gehalten, auf ausdrücklichen Wunsch der Studenten auch ein Semester lang über neueste Lyrik. Ich habe dabei an mir selbst die genannten Schwierigkeiten der Vermittlung festgestellt, mehr jedenfalls, als wenn ich über eine andere Gattung gelesen und gearbeitet habe. Der Roman beispielsweise enthält soviel faktische Weltfülle, soviel formalen Problemstoff, daß eine Strukturuntersuchung möglich ist, ohne dem dahinter stehenden Subjekt zu nahe zu treten, sowohl produktiv wie rezeptiv gesehen. Der Autor schützt sich durch den vorgeschobenen Erzähler, und der Leser ist selbst bei starker Identifikation durch den Mantel komplexer Vorgänge und Fakten abgesichert. Der Autor eines Romans vermittelt sich per Distanz, oft durch ironischen Abstand, in jedem Falle durch eine Erzählhaltung, die perspektivisch sich entfaltet und als eigenständiger Seinsmodus in Erscheinung tritt. Der Autor des Gedichtes ist durchweg ungeschützter in seinem Werk zugegen. Ihn trennt nur die dünne Haut seiner Bilder von der pragmatischen Welt, sie schützt ihn nur notdürftig vor dem Zugriff der Umwelt. Ein Außenstehender könnte daraus folgern, es sei leichter, an Lyrik, an den lyrischen Sprecher, das lyrische Ich heranzukommen als an das Erzählwerk und seinen Erzähler. Das mag auf der Ebene privater Lektüre zutreffen, die Möglichkeit spontaner Perzeption ist bei der Lyrik in starkem Maße gegeben, öffentlich dagegen, auf der Ebene diskursiver Vermittlung ist Lyrik ganz sicher der schwierigste, weil hermetischste Gegenstand. Damit ist nur zum Teil die hermetische Struktur moderner Lyrik seit dem Symbolismus angesprochen.
Immer stehen wir vor dem Graben, wo sich die Erklärbarkeit der Welt durch Ratio von den unerklärbaren Versuchen bildhafter Vermittlung von Welt trennt. Daß Wissenschaft von Kunst und Mythos zu trennen ist, wissen wir seit langem, aber je genauer wir das wissen, um so tiefer ist auch die Kluft geworden, um so hoffnungsloser ist uns die Möglichkeit der Vermittlung aus den Händen geglitten. Die Romantik hatte noch einmal den Versuch einer großen Synthesis angestrebt, aber die angestrengten Bemühungen des Idealismus zeigen im Grunde schon das Heillose der Antithetik. Der Graben erweiterte sich zunehmend mit der Entwicklung unseres Wissenschaftsbegriffes im 19. Jahrhundert. Auch die spätere Einschaltung von Phänomenologie und Existentialontologie in Kombination mit einem restaurierten Platonismus konnte die Einigung nicht erreichen, die als Erwartung immer noch am Horizont stand. Daß etwas aufscheine im Kunstwerk von der Wesensstruktur der Welt, hörte sich tröstlich an, aber je mehr man diesen Schein beschwor, um so ungreifbarer wurde die Faszination seiner Leuchtkraft. Hegel grüßte immer noch von ferne, aber die Aura des Kunstwerks war endgültig im Bombardement der Desillusionierung zerstört worden. Der Wiederaufbau nach dem letzten Krieg hat die Trümmer solcher Idealität nicht berücksichtigen können. Wohl zu Recht – der Materialismus hatte historisch eine endgültige Stufe von Herrschaft angetreten. Wenn es noch Träume gab, so wurden sie in poetischen Tresoren streng gehütet. Die Vorstellung von einer metaphysischen Wahrheit war zu einem Wertpapier geworden, für das nur die Bank von Utopia noch verbindlich zeichnete. Hölderlin reimte sich jetzt auf Urin (Eich), die kurante Währung war hart geworden. Wenn es noch Hoffnung gab, dann war es diejenige auf Überwindung der Hoffnungslosigkeit.
Das also war der Stand der Lyrik nach 1945, und der Standort der Wissenschaft, die sie vermitteln sollte, wurde zunehmend ein formalistischer. Ganz folgerichtig nach dem Irrationalismusgetöse des Faschismus. Es hielten sich noch vereinzelt die Inseln des guten Willens, die Kunst der Interpretation wurde bemüht, aber dieses umfangreiche Bemühen ist rückblickend auch nur als Zeichen der Krise zu deuten. Die Bewahrung von Tradition stellte nur um so deutlicher den Traditionsbruch vor Augen. Kunst und Koma waren für die weitsichtigen Poeten zu einem synonymen Erfahrungsbereich geworden. Kein Wunder, daß man ihnen zunächst die Gefolgschaft versagte, daß man auf freundlichere Bilder von Weltdeutung zurückgriff. Man bevorzugte jene Lyrik, die metaphorisch wie musikalisch-rhythmisch ihren subjektiven Erfahrungshorizont noch vermittelte, und die scheinbar auch die sekundäre Vermittlung erleichterte. Aber man bezog sich auch damit auf Erlebnisformen, die sich der öffentlichen Vermittlung bereits entzogen hatten. Man glaubte zwar, daß sich von Subjekt zu Subjekt noch eine Brücke herstellen ließ, aber die Subjekte waren eingesunken in ihre Vereinzelung, in die private Isolation. Die letzten Versuche, seelische Kommunikation schwärmerisch zu verbreiten, desavouierten nur in absurder Konsequenz die Möglichkeit des universitären Gesprächs über Lyrik. Die Institution dekuvrierte sich hier ebenso wie in der formalistischen Gegenposition. Die Ohnmacht trat gleichermaßen hervor. Lyrik als die subjektivste Ausdrucksform brachte die Probleme des Subjektiven in einer subjektfeindlichen Welt mit besonderer Schärfe zutage. Da konnten auch die Dichter nicht helfen, wenn sie, der Wahrheit der Situation gemäß, die subjektive Chiffre eliminierten.
Ich schildere damit in etwa die fünfziger Jahre. Die damalige Begeisterung für Gottfried Benn gibt zu denken. Dessen Abgesang des Individuellen klang um so betörender, als der politische Aktivismus der kommenden Jahre schon in der Luft lag. Ob der latente Pessimismus der Nachkriegszeit damit aus der Welt geschafft wurde, bezweifele ich – vielleicht als Attitüde, nicht aber in seinen Voraussetzungen. Betrachten wir die Szene von heute, so zeigt sich als Continuo die ideologisch ausgerufene Botschaft von der Ausschaltung des Individuums. Der Untergang, der sich zunächst noch selbst bespiegelte, ging über in die Phase einer Siegesfeier, in die Provokation des antisubjektiven Fanals. In der Lyrik scheint das hinter uns zu liegen, die vielbesprochene Neue Subjektivität setzt Zeichen der Veränderung, bringt mit der Neuen Sensibilität einen neuen Realismus ins Gedicht, bringt das erlebende Ich wieder zur Sprache, allerdings begrenzt im Rahmen der empirischen Alltagswelt. Dieser Trend ist nicht ganz neu, er kommt aus Amerika, Charles Bukowski oder Frank O’Hara seien hier nur genannt, oder die Underground-Lyrik, das alles schlug sich nieder im deutschen Gedicht etwa bei Brinkmann oder bei Wondratschek, dieses lockere, unverbindliche Sprechen mit seiner kalkulierten Unverbindlichkeit, mit der scheinbaren Authentizität von Uhrzeit und Ortsangaben, mit der lässigen Bildlichkeit als Protest gegen hermetische Strukturen, mit dem absichtlich trivialisierten Erlebnishorizont des Sprechens.
Der Autor also ist wieder anwesend im Gedicht, der lyrische Sprecher verbirgt ihn kaum. Das Subjektive, wir wollen das festhalten, ist wieder da. Und zwar in einer Form, die der Vermittlung nicht bedarf. Jeder kennt die Vollzüge des Alltags, die hier angesprochen werden. Die sogenannte Bildung wurde ausgeräumt, die tabula rasa atavistisch besetzt mit Primitivfunktionen. Der Widerspruch zu allem Universitären ist manifest. Der Anti-Anspruch ist provokativ, das hat sich als Erbe der politischen Lyrik erhalten, ebenso die programmatische Transparenz des Sprechens. Solche Verständlichkeit steht im Gegensatz zu wissenschaftlicher Theorie, sie steht in ungewolltem Widerspruch gerade zu sozialpolitischer Theorie, die in der Kunst die Abschaffung jener Kompliziertheit fordert, die sie selbst reflektierend produziert. Betrachten wir es kritisch: man forderte die Abschaffung des Individuums, die Ausräumung seiner metaphysischen Fragestellung. Auch hierauf hat die Lyrik geantwortet, sie lieferte zugleich mit der Vereinfachung der Thematik das vereinfachte Subjekt.
Es hat den Anschein, als sei im Hinblick auf die neueste Lyrik die intersubjektive Kommunikation wieder hergestellt. Als seien die Probleme der Vermittlung historisch geworden wie die hermetische Lyrik der fünfziger Jahre, die ihre Wurzel im französischen Symbolismus hatte und die mit dem Tode Paul Celans 1970 endete. So Jürgen Theobaldy (Veränderung der Lyrik), der im Hinblick auf die fünfziger und sechziger Jahre von einer historisch abgeschlossenen Phase spricht, in der „das Einverständnis mit dem Leser aufgekündigt“ war. Ich bezweifele allerdings, ob die Literaten die Verständigung aufgekündigt hatten, ob dieser Kündigungsbrief nicht in langer Vorbereitung von der Geschichte geschrieben wurde. Und ich zweifele weiterhin daran, daß diese Kündigung rückgängig gemacht wurde im letzten Jahrzehnt. Hat die lockere Alltagspragmatik des lyrischen Sprechens heute die Subjekte wieder zueinander geführt, ist die Kluft aufgehoben, die das Einzelsubjekt trennt von der objektiv entgegenstehenden Welt, geht der Anspruch des Geistes auf im Spannungsfeld oder in der Spannungslosigkeit einer neu entdeckten Innerlichkeit? Bleibt nicht ein Rest, steht nicht immer noch dasjenige aus, das die Hermetiker aussparten, um es als Leerstelle in unserer Welt zu kennzeichnen? Sind die Träume denn ausgeträumt – zu Ende geträumt sind sie ganz sicher nicht – sind sie nicht nötig im Sinne eines offenen Horizonts? Die Frage ist doch: Erleben wir heute die Endphase der Reduktion existentiell-geistiger Ansprüche, ist mit der Akzeptation der Alltagsszene die Resignation nicht fester verkoppelt als mit dem erstickten Aufschrei eines unmöglich gewordenen Gesangs?
Eines ist sicher: Die Abschreckungsmechanismen hatten Methode. Die Konkrete Poesie hatte gründliche Vorarbeit geleistet, diese total entkernte Lyrik war der Traumkiller par excellence. Das einerseits. Die politische Revolte andererseits war Protest gegen den korrumpierten Zustand der Gesellschaft, sie war auch Protest gegen politische Abstinenz. Sie ließ die esoterischen Minen der Poesie hochgehen, um aufmerksam zu machen auf dasjenige, was praktisch zu tun ist. Sie verlagerte die Träume in den konkreten Wirkungsbereich, setzte sie ein zur Veränderung der Gesellschaft. Lassen sich Träume aber transportieren, kann man sie transferieren in Theorien? Die Frage stellt sich heute fast zwangsläufig, nachdem man einige Jahre versucht hatte, die utopische Stoßkraft ausschließlich in Richtung einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu lenken. Wurden dadurch nicht Kräfte abgezogen an einer Stelle, für die es heute keinen rechten Namen mehr gibt? Zur Zeit der Entdeckung des poetischen Individuums im 18. Jahrhundert kam die Vokabel Herz in Mode, und bürgerte sich das Wort Brust als Sitz der Seele oder des Gemütes ein. Es traf sich gut, daß Schmerz und Lust sich drauf reimten. Man wollte wohl einen Ort ansprechen, der dem Gefühl verbunden ist – die Resonanz der Leser damals zeigt, daß hier das Zentrum des Erlebens und Empfindens getroffen war. Die Trivialisierung mittels postromantischer Klänge quer durch das 19. Jahrhundert stellte dieses Ausdrucksverfahren dann gründlich in Frage. So sehr, daß am Ende dem Lord Chandos Worte wie Geist oder Seele im Munde zerfielen. Die vielzitierten modrigen Pilze signalisierten nur das Ende einer üppigen metaphysischen Kultur. Das also war um 1900 schon manifest – die Konsequenz erleben wir heute. Reflektiv wie poetisch ist sprachlich dort ein Vakuum entstanden, wo die Gefühle sitzen, die zwischenmenschlichen sowohl als auch diejenigen, die ich kurz die kosmischen nennen möchte, die also früher auf Gott, auf Tod und Leben als Gesamtphänomen gerichtet waren. Es wäre vermessen, zu glauben, diese Gefühle seien in ihrer Substanz verschwunden, in welcher Virulenz sie tätig sind, zeigt nicht nur das Sektenwesen. Allenthalben regt sich der Trend neuer Gefühlserfahrung.
Wo liegt für uns das angesprochene Problem? Es ist die Wissenschaft, die das Subjekt, den einzelnen, die private Erlebnisform ausklammert im System ihres Vorgehens. Dem poetischen Vakuum entspricht ein Wissenschafts-Vakuum, dessen Leere in den Geisteswissenschaften sich um so demoralisierender auswirkt, als der Erwartungshorizont des Novizen oder der Novizin besetzt ist mit den letzten Hoffnungen der Frühenttäuschten. So spüren sie schon bald, daß die Bereiche des Subjektes der angespannten Bemühung des Methodologischen und Systematologischen entglitten sind. Diese Enttäuschung hat oft tiefgreifende Folgen. Die Metatheorie schwebt über der Summe der Subjekte, ohne diese in ihrer Vereinzelung überhaupt noch wahrnehmen zu können. Ist diese Übertheorie der Reflex zerbrochener Erlebnisformen? Der Student fragt sich doch mit Recht, warum ihm das als Bürde auferlegt wird, was andere nicht leisten oder nicht lösen können.
Ich will das Thema näher lokalisieren, Widerstand und Widerspruch, wie sie der Student konkret erfährt. Er hat vielleicht Lyrik gelesen, die ihn anspricht, er weiß aber zugleich, daß es auf dieses Angesprochensein nicht ankommt im Drucksystem der Punkte, Noten und Examina. Er erlebt privat die Dinge, die in der Literatur zur Sprache kommen, und er erfährt öffentlich das Institutionalisierte des Betriebs. Nach verbindenden Brücken sucht er, findet sie aber nicht. Ein riesiger Apparat von wissenschaftlicher Literatur steht zwischen ihm und den Texten. Der Bücherberg wird zum zinslastigen Schuldberg, der sich nicht abarbeiten läßt, beim besten Willen nicht in der gebotenen Zeit. Das Neue von gestern steht heute schon wieder im Schatten der neuesten Publikation. Die Angst, den Anschluß zu verpassen, begleitet ständig die Reise, die durch unbekanntes Gelände in eine noch unbestimmtere Zukunft geht. Mutlosigkeit belastet ohnehin das Gemüt der heutigen Zeit, und es fragt sich, ob Hoffnung dort zu finden ist, wo dieser Zustand sich im Kunstwerk verdichtet. Auch das ist ein Problem im Umgang mit moderner Literatur. Die Negativität des Textes bedarf der Reflexionsleistung, um das kritisch-implizierte Potential freizusetzen. Das Angesprochensein vom Intentionscharakter des Kunstwerks verbleibt im Bereich der Bestätigung, der Selbstbestätigung, der Mutlosigkeit also, wenn der erhöhte Standort der Kritik nicht eingenommen wird. Ein solcher Standort fordert Freiheit als Distanz, Identifikation als Abstand von der eigenen Betroffenheit. Wer kann das leisten? Der Schein des allgemeinen Verblendungszusammenhangs kann doch nur zerschlagen werden, wenn rezeptiv ein Zustand ohne Zwang geschaffen ist, wenn Rezeption vom Geist der Nützlichkeit befreit wird. Die von außen und innen verwaltete Universität ist nicht der Ort solcher Freiheit.
Auch bietet Wissenschaft, selbst in idealer Ausprägung, nicht die Distanz, die hier gefordert ist. Methodische Distanz ist im Prinzip anders strukturiert als rezeptive Dialektik, die nur zum Teil mit dem Verstande operiert. Ich wage die Behauptung, daß beim Lesen von Lyrik Reflexion erst im nachhinein geschieht, primär ist die spontane Bildbegegnung, ist die sensuelle Antwort im Bereich meditativer Wahrnehmung. Brecht nennt das die „gewisse Beschwingtheit und Erregtheit“, der die Nüchternheit gedanklicher Kriterien keineswegs entgegensteht.
Ist das lyrische Vorhaben ein glückliches, dann arbeiten Gefühl und Verstand völlig im Einklang. („Der Lyriker braucht die Vernunft nicht zu fürchten.“)
Rezeptiv setzt die Erfahrung solchen Einklangs einen offenen Erlebnisraum voraus. Offenheit ist dann gegeben, wenn Lebenspraxis unverstellt im Blickfeld ist. Wenn Gefühl und Verstand in ungehinderter Entfaltung Antwort geben können. Gerade der Verdichtungsgrad von Lyrik fordert ein hohes Maß an Freiheit, an Umraum, der gedanklich nicht verstellt ist. Nur so kommt jene Schwingungszahl zum Tragen, die vom Vers ausgeht, und die korrespondierend im Leser sich erfüllt. In jener inneren Erlebnisschicht, die letztlich inkommensurabel ist. Darüber läßt sich im Hörsaal nicht reflektieren und dozieren, die Erlebnisschwingung läßt sich nicht analysieren (zum Glück nicht) – der Erlebnisfaktor vaporisiert im Perspektivenkegel jeglicher Analyse. Das betrifft nicht nur die Lyrik, aber diese doch besonders nach Maßgabe der genannten Kriterien.
Der Widerspruch ist nicht zu lösen, die Universität ist keine Lesegemeinde, Wissenschaft muß kritisch sein im Sinne des Vergleichens, nur das Vergleichbare ist ansprechbar, nur Rationalisiertes ist vergleichbar, ist bestimmbar, läßt sich einordnen. Ästhetische Faktoren entziehen sich dem Verfahren ebenso wie Komponenten des Gefühls. Seit Baumgarten, also seit zweihundert Jahren etwa, ist Ästhetik ein Disziplin, aber das Ästhetische läßt sich nicht disziplinieren. Über die ästhetische Qualität des Gedichts entscheidet letztlich immer nur das Urteil des einzelnen. Der Subjektivität sind Tür und Tor geöffnet bei der Beurteilung von Versen, Bildern und Metaphern. Nur die inhaltliche Konkretion ist vergleichbar im Sinne von Wissenschaft, eröffnet entweder den sozialhistorischen Aspekt oder die formale Katalogisierbarkeit des Stoffes. Aber solche Quantifizierung trifft nicht die ästhetische Tatsache, die im Subjekt sich niederschlägt als ganzheitliche Affiziertheit. Was Nietzsche meinte, wenn er von der Physiologie der Kunst sprach. Wissenschaft muß dem Ideal der Rationalisierbarkeit näher stehen als der emotionalen Urteilskraft. Wenn wir davon ausgehen, wird eine Brücke nicht zu finden sein. Wir können die Kluft nur konstatieren und die emotionale Antwort dem Bereich des Privaten überlassen. Die empirischen Fächer haben es da leichter, sie kennen diese Probleme nicht.
Der Widerspruch von Lyrik und Wissenschaft scheint mir von allen Widersprüchen in der Universität der am meisten systembedingte zu sein. Das Individuell-Private auf der einen Seite steht völlig unverbunden dem Kollektiv-Öffentlichen auf der anderen Seite gegenüber. Hier der Wissenschaftsbetrieb mit seiner verwalteten Normensprache, dort die sprachlich transformierte Sensibilität personaler Erfahrung. Äußerlichkeit als Notwendigkeit kommuner Verständigung auf der einen Seite, auf der anderen Innerlichkeit als Not des einzelnen, als Ausdruck der Isolation, als Phänomen neuzeitlichen Bewußtseins, das letztlich ein Wissen von der Ungeborgenheit des Menschen ist. Hegel führte das Wort Innerlichkeit in diesem Zusammenhang in die lyrische Theorie ein. Ästhetisch sah er im Einholen der Objekte in das Subjekt ein Versöhnungsmoment. Privat und für Augenblicke mag das Gültigkeit haben, aber öffentlich ist der Riß heute voll ins Bewußtsein getreten. Die angesprochenen Vermittlungsprobleme sind nur ein Resultat unter anderen, die Universität ist nur der Ort, wo die Probleme unserer Zeit greifbar zutage treten. Indem wir das Kondensat poetischer Existenzverdichtung nicht greifen können, wird uns paradoxerweise unser desolater Zustand greifbar, wird die Gespaltenheit unserer Existenz zum Begriff. Neue Innerlichkeit und Neue Subjektivität werden zu Schlagworten angesichts der Aussparung des existentiellen Lebenshorizontes. Das moderne Gedicht als lakonisches Gedicht hat diese Problematik generell zum Ausdruck gebracht, indem es auf direkte Nennung der Probleme verzichtete. Es besteht zur Hauptsache aus dem, was nicht genannt ist, aus Ingredienzien, die der Dichter fortgelassen hat.
Das moderne Gedicht spricht eine Gegensprache. Das Verschweigen des Vokabulars der Innerlichkeit spricht von der verschwiegenen Betroffenheit des lyrischen Sprechers. Das moderne Gedicht fordert vom Leser entsprechende Verhaltensformen. Er wird einbezogen in den Kreis der Verschwiegenen und Diskreten. Beide Arten von Betroffensein müssen folgerichtig ausgeklammert werden im öffentlichen Diskurs, soll nicht Geschwätzigkeit um sich greifen. Die lakonische Kürze wortreich verlängern ist unstatthaft. Dennoch steht das Problem des Vermittelns und Begreifens an. Nicht nur in Lehrveranstaltungen, auch in Publikationen, etwa Dissertationen zu neuer Lyrik, zeigt sich die Schwierigkeit. Über das Problem der Vermittlung läßt sich leichter reden als über die Sache selbst. Auch hier ein Widerspruch, den ich zum Schluß noch nennen möchte. Die methodologischen und systematologischen Arbeitsbedingungen, die angewandt werden müssen, wenn das Fach legitim vertreten werden soll, zeigen gerade hier, im Kontrast zum behandelten Stoff, ihre Hilflosigkeit. Autarkie und Ohnmacht von Theorie werden offenkundig angesichts von lebensbezogener Phänomenalität. Im Bereich historischer Sichtung verliert der Kontrast möglicherweise an Schärfe. Aber hier das moderne Gedicht, nehmen wir einmal kein Kampflied, sondern eines jener zarten Gebilde mit seinem vegetativ atmenden Bildbestand, mit dem stockenden Rhythmus, dem scheuen Verschweigen, dem verschenkten Rat, wie Ilse Aichinger ihren jüngsten Band betitelte, nehmen wir ein solches Stück hochempfindlicher Sprachmaterie, darüber also soll nun das stramme Netz der Begrifflichkeit gezogen werden. Wir scheuen uns doch zu Recht, wir sind uns der Hilflosigkeit bewußt.
Meine Rede sollte nicht die Resignation fördern. Ich bin mir darüber im klaren, daß der einzelne, auch als Wissenschaftler, mehr zu leisten imstande ist, als das Kollektiv ihm vorschreibt. Ich wollte nur meine Erfahrungen vermitteln und habe daran einige Gedanken geknüpft. Ich halte die Universität für veränderbar, im besonderen die Geisteswissenschaften, ganz besonders die Literaturwissenschaft. Sollte es uns gelingen, den subjektiven Dialog zu objektivieren, dann wäre auch neueste Lyrik in der Universität nicht fehl am Platze wie das berühmte Huhn des Christian Morgenstern in der Bahnhofshalle. Die Paradoxie der Situation muß nicht festgemacht sein für alle Zeiten. Die objektive Chiffre des Kunstwerks kann das verborgene Subjekt nur freigeben, wenn wir ihm Freiraum verschaffen, wenn es gelingt, das Subjektive zu objektivieren, wenn der ästhetische Dialog in Gang kommt. Vielleicht hat Friedrich Schlegel das gemeint, als er sagte, moderne Kunstkritik sei nur durch Kunst zu leisten.
Das bedeutet nicht, Gedichte über Gedichte zu schreiben, das bedeutet im ursprünglichen Sinne von Aisthesis Wahrnehmung. Ästhetische Kommunikation wird in dem Maße blockiert, wie Wahrnehmung reglementiert und ausgerichtet ist. Die Grenzen, die die Aufklärung uns verordnet hat, könnten gesprengt werden durch die Entgrenzung der Subjekte zu neuer Objektivität. Moderne Kunst ruft auf zu solcher Entgrenzung, indem sie sich dem Diktat instrumenteller Vernunft widersetzt.
(Rede im Rathaus Münster 1979)
Bruno Hillebrand: Was denn ist Kunst? in der Digi20 der Bayrischen Staatsbibliothek.
Christian Schärf: Vorwort
Die Kunst und das Leben: Blick zurück in die Geschichte
– Goethes Werther – ein deutsches Thema (1982)
– Der Augenblick ist Ewigkeit. Goethes wohltemperiertes Verhältnis zur Zeit (1997)
– Die Hoffnung des alten Goethe (1983)
– Immermann und die Geschichte (1971)
– Der Garten des Grünen Heinrich (1971)
– Die Kunst und das Leben oder ein Hauch von Realität (1987)
– In Wien mit deutschen Dichtern. Ein Spaziergang (1988)
– Romantheorie in Deutschland. Die Dichter deuten die Welt (1983)
Der Nihilismus als ästhetisches Ereignis
– Kunst-Form und Theorie – Für eine Ästhetik des Sensuellen (1990)
– Apotheose der Kunst – Gottfried Benn und Friedrich Nietzsche (1978)
– Literarische Aspekte des Nihilismus (1982)
– Die ,schöpferische Lust‘ und das Nichts. Benns Umdeutung des Nihilismus (1989)
– Ästhetik des Nihilismus. Geschichte einer Aufheiterung (1994)
Diese aus gesungene Welt
– Beckett und die Konsequenzen (1970)
– Protokolle der Verödung? Notizen zur heutigen Literatur (1981)
– Diese ausgesungene Welt. Zur Tonlosigkeit der Nachkriegslyrik (1985)
– Widerstand und Widerspruch. Moderne Lyrik in der Universität (1979)
– Die verbrauchte Reduktion. Artistische Prosa seit 1970 (1983)
– Ästhetik des Modernismus – als europäischer Export (1996)
– Nietzsche, Benn und die Postmoderne. Verbindlich oder unverbindlich – ist das die Frage? (1990)
Porträts
– Adalbert Stifter – heute noch erreichbar? (1968)
– Zum 100. Todesjahr. Porträt von Lou Andreas-Salomé (1987). Zu ihrem 50. Todestag am 5.2.1987
– Gottfried Benn – zehn Jahre nach seinem Tod (1966)
– Hans Erich Nossack. Rede zum ersten Todestag (1980)
– Vernunft ist etwas Sicheres. Karl Krolow: Poesie und Person (1985)
– Gottfried Benn heute. Abschied von Melancholie und Trauer (1982)
Quellen
Die Frage scheint aus der Mode gekommen zu sein, noch mehr aber die Versuche, sie auf einer theoretisch-begrifflichen Ebene zu beantworten. Was Kunst sei, hat hunderte von Definitionen erfahren, die jeweils nur perspektivische Gültigkeit beanspruchen können. Daraus zu schließen, das sei dann wohl die falsche Frage gewesen, führt allerdings auf einen Holzweg. Denn die Vielzahl der Antwortversuche rührt daher, daß jedes Werk den Betrachter immer erneut vor diese Frage stellt: Was denn ist Kunst? Das Werk transzendiert jede eindeutige Referenz auf ein außer ihm Liegendes durch die multiplen Perspektiven, die es im Betrachter, im Zuhörer oder Leser aufruft. Das gilt auch und gerade für das Werk, das keines sein will, für die Produktionen der Anti-Kunst. Diese haben den Mythos Kunst noch ein Jahrhundert lang am Leben erhalten, haben seine Hinfälligkeit zu einem utopischen Faktor hypertrophiert. Die Moderne hat den Perspektivismus zur prima causa des ästhetischen Werkes erklärt, intellektuell gestützt auf Nietzsche, jedoch weit ausgreifend durch eine unvergleichliche Revolution der Wahrnehmung und der Techniken in allen Künsten. Perspektivismus ist kein Konzept neben anderen, diese Einsicht hat uns die Moderne zweifellos hinterlassen. Der Begriff bezeichnet die Befindlichkeit des Menschen angesichts eines Kunstwerkes schlechthin. Es ist dies die Situation der Aisthesis, der sinnlich-geistigen Wahrnehmung eines Dinges vor seiner semiologischen Instrumentalisierung. Auch wenn diese Situation immer aufgrund einer Vorentscheidung und eines Vorverständnisses zustande kommt, ereignet sich in ihr doch die Selbsterfahrung des Betrachters im Horizont der Weltwahrnehmung. Interpretation und Theorie kommen erst danach. Sie wollen erklären, was stattgefunden hat und müssen konstatieren, daß ihnen dabei die Situation des Ästhetischen entgleitet.
Was sich so entzieht, bekundet in der Inkommensurabilität des Perspektivischen seine Provenienz aus einem kultischen Ursprung und aus einer mythisch-metaphysischen Ordnung. Eine Dimension, die frühere Zeiten als orgiastisch oder dionysisch apostrophiert haben und die einer Erfahrung psychophysischer Überhöhung entsprochen hat, die keiner kognitiven Kontrolle unterliegt. Wie auch immer man solche Erfahrungen heute ausdrücken mag, es klingt stets fremd und unseren Lebensvollzügen unangemessen: Hingabe an den Kosmos, Feier der Existenz, rauschhafter Selbstverlust. Wie alles, so werden auch diese Vorstellungsfelder von einem spezifischen Markt usurpiert; sei es nun die Tourismus- oder die Esoterik-Industrie. Das Erlebnispotential der Kunst, das seine Spannung bis in die Moderne hinein aufrechterhalten konnte, scheint erschöpft und aufgespalten in die unterschiedlichsten Subsysteme der Gesellschaft. Es scheint tatsächlich keinen Raum mehr zu geben für die Erfahrung des Ästhetischen jenseits akademischer Nischen auf der einen Seite und massenmedialer Verramschung auf der anderen. Was treibt heute die Menschen in die Museen, in die Theater und Kinos, das nicht auf ein unreflektiertes Konsumbedürfnis zurückzuführen wäre? Was macht uns neugierig auf Romane und Gedichte jenseits der holzschnittartigen Kriterien des Betriebs? Gibt es solche Neugier denn überhaupt noch?
Wenn Bruno Hillebrand von einer Ästhetik des Sensuellen spricht, so nimmt er diese und ähnlich gelagerte Probleme in den Blick. Die Frage, was Kunst sei, kann nur über den Umweg der Frage, was Kunst gewesen ist, beantwortet werden. Diese Auseinandersetzung erstreckt sich in Hillebrands Essays über vier Jahrzehnte, ein Reflexionsprozeß, den die vorliegende Sammlung in allen Facetten dokumentiert.
Kunst ist Form. Das könnte seine Gültigkeit behalten, aber alles ist abgefallen von dieser Formel, was einmal angesiedelt war im Bereich des Hieratischen, des Dogmatischen, des Fanatischen. („Kunst ist Form“).
Das ist ein Statement aus einem der neueren Essays. Es faßt die Situation der tabula rasa zusammen, nicht ohne auch hierin noch die Erfahrung des Ästhetischen zu behaupten. Die Ästhetik des Sensuellen schlägt ein neues Sehen vor, eine neue Wahrnehmung, und zwar einfach dadurch, daß man in die direkte Auseinandersetzung mit den Werken tritt. Das soll nicht den Kult der Unmittelbarkeit restituieren. Es geht um etwas anderes. Es geht um die Realität des Kognitiv-Affektiven als Erlebnismoment, nicht als System oder als Struktur, nicht als Theorieakte, die abzuheften wäre. Es geht darum, daß der Mensch immer noch da ist, jetzt, im Jahr 2000 eine erstaunliche Feststellung. Daß sich die Kultur auch nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts erneuert hat, daß es weitergegangen ist, wo es eigentlich nicht hätte weitergehen dürfen, ist eine Tatsache. Und auch jetzt gibt es ihn noch, den einzelnen Menschen mit seiner Wahrnehmung und seinen Fragen, wenn wir auch nicht mehr von einem Subjekt oder einem Individuum oder irgendeinem anderen historischen Konstrukt sprechen wollen. Und für wen denn soll Kunst gedacht sein als für ihn? Wie soll sich heute Kunst rechtfertigen gegenüber den Systemen und Netzwerken, die das gesamte Leben bestimmen, als in dieser Auseinandersetzung, dieser Begegnung des Einzelnen mit den Werken?
Bruno Hillebrands Essays zeichnen den Weg nach, der zu diesem Punkt führt, führen muß nach den großen Themen des Jahrhunderts, der Moderne, ihrer Radikalisierung und ihrer Manierismen. Hillebrands Auseinandersetzung mit Literatur, Philosophie und Kunst ist weder primär theoretisch noch theoriefern. Hillebrand bewegt sich auf einem dritten Weg. Denken, Schreiben und Betrachten gehören zum Leben so dazu wie unabdingbare Körperfunktionen. Sie bilden das Signum des Menschen als eines Wesens, das einem bestimmten Selbstverständnis unterliegt. Dessen wesentlichste Faktoren sind historisches Bewußtsein und Produktivität. Beide Momente spielen in entscheidender Weise ineinander. Sie eröffnen so den Horizont einer geschichtlichen Linie, die von der Goethezeit bis heute führt. Das ist die Epoche des Individuums, betrachtet vom Standpunkt seiner Abdankung her. Aber auch dieses Verschwinden ist eine Metamorphose, die begriffen werden will. Was wird aus den Energien des Individualismus nach dem historischen Verschwinden des Individuums?
Der archimedische Punkt dieser Reflexionsräume liegt bei Goethe selbst. Er ist der eigentliche Dichter und Vollender des Individualismus. Hillebrand umkreist diesen Komplex von vielen Blickpunkten her. Der Essay „Die Hoffnung des alten Goethe“ zeigt Goethes Transzendenzideen in ihrem terrestrischen Beharren und in ihrer christlichen Abkunft. Bei Goethe kommt beides zusammen, er konzipiert eine kunstbedingte Transzendenz in der Immanenz, vor allem im zweiten Teil des Faust, aber auch in der späten Lyrik und vor dem Hintergrund einer unvergleichlichen produktiven Lebensleistung. Tätigkeit und damit Produktivität, das ist Goethes Credo, Tun und Denken, Denken und Tun, wie es in den Wandeljahren heißt. Damit ist die historische Linie angerissen, die von Goethe über Nietzsche bis zu Benn reicht und die Hillebrand in ihrer Kontinuität wie in ihrer Diskontinuität nachzeichnet.
Während aber Goethe die transzendenten Energien noch in die Immanenz einholen konnte, ohne sich wie die Romantiker spirituell von der Erde zu verabschieden, zeigt sich im Verlauf des 19. und des 20. Jahrhunderts der Zerfall dieser einmaligen und deshalb prägenden Möglichkeit. Goethes Ausspruch „Der Augenblick ist Ewigkeit“, in dem sich diese Kontamination von Diesseitigem und Jenseitigem verdichtet, wird zum Inbegriff eines neuen Glaubens an die produktive Kraft der Kunst und des Individuums, das sich in ihr und durch sie konstituiert. In „Goethes wohltemperiertem Verhältnis zur Zeit“ erblickt Hillebrand eine Art Urmodell dieses Glaubens in seiner gelungensten Art und Weise. Solches Gelingen sollte den nachfolgenden Generationen nicht mehr beschieden sein. Sie erfuhren sich auf schmerzliche Weise als Epigonen. Hillebrands Goethe-Bild ist das des Initiators der wesentlichen Themen und Probleme der deutschen Literatur. Mithin des Angelpunktes einer bestimmten literarischen Mentalität. Das Monument des Olympiers ist darin abgebaut. Umso erstaunlicher, daß uns dieser Klassiker gerade durch diese Essays hindurch noch einmal als unikate Figur vor Augen tritt, als genialer Schöpfer eines produktiven Ingeniums, das für die nachfolgenden zweihundert Jahre zum Maßstab werden sollte. Goethe – das ist für Hillebrand ein deutsches Thema, was nicht zuletzt an Goethes erfolgreichstem Buch, dem Werther, demonstriert werden kann.
In Goethes letzten Lebensjahren vollzieht Immermann den irreversiblen Übergang aus den Traumwelten der Romantik in die Sphäre der Tatsachen. Dafür steht sein Roman Münchhausen. Immermann, der Epigone, der in seinem gleichnamigen Roman das Lebensgefühl seiner Generation brillant zum Ausdruck gebracht hat, stellt ein wichtiges und gern übersehenes Verbindungsglied zwischen Goethezeit und Realismus dar. Deutscher Realismus, wie man betonen muß, also verklärungssüchtig und immer noch symbolträchtig, wenn es sich auch nicht mehr um den Symbolbegriff Goethes handelt. Hillebrands Auseinandersetzung mit Immermann, Keller und Stifter nimmt genau diesen Komplex ins Visier. Die Grundfrage ist, ob diese Autoren und die von ihnen beschriebenen Welten noch erreichbar sind, wie sich Hillebrand im Hinblick auf Stifter ausdrückt. Damit berührt er zentral den Aspekt des Epigonentums, der bis Nietzsche wirksam bleiben sollte. Die Flucht in eine Welt, wie sie sein sollte, auch wenn es sich, wie bei Keller, um eine Welt handelt, die vordergründig keine andere als die der Tatsachen zu sein scheint. „Der Garten des Grünen Heinrich“ ist eine einfühlsame Studie über eine historisch singuläre Situation in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Essay führt uns das Wunderbare an Kellers Text vor Augen, ohne an dessen Geheimnis rühren zu wollen. Ein frühes Beispiel für eine sensuelle Ästhetik, die sich auf den eigenen Blick verläßt und verlassen kann.
Hillebrands Frage lautet hier: was haben uns diese Autoren des 19. Jahrhunderts noch zu sagen. Die soziale Realität bricht im Münchhausen geradezu brachial ins Erzählgefüge ein und wird doch auch abgebremst durch den arabeskenhaften Aufbau des Romans, der letztlich ein romantisch-realistisches Zwitterwesen bildet. Was herüberscheint aus der Goethezeit in die Sphäre der Epigonen, das ist das Gespür für die Form und der immer noch nachwirkende Maßstab der Humanität, den Goethe und Schiller in ihren Werken etabliert haben. Und gleichzeitig war noch nicht entschieden darüber, welcher Weg einzuschlagen ist, „welcher Wirklichkeit sich der Mensch zuzuwenden habe, der irdischen oder der imaginativen“ („Der Garten des ,Grünen Heinrich‘“).
Darin wurzelt die historische Positionierung dieser Epoche. Während in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz Immermann, Stifter und Keller an ihren nachsommerlichen Gärten arbeiteten, konstituierte sich im Pariser Exil ein anderes intellektuelles Milieu, dem Figuren wie Karl Marx und Heinrich Heine angehörten und die einen weitaus illusionsloseren Realitätsbegriff proklamierten. Heine beansprucht hier sicherlich eine historische Sonderrolle, da er sich keineswegs von der Idealgestalt Goethe und den damit verbundenen Implikationen radikal abwendet. Dennoch wird gerade in diesem thematischen und imaginativen Bruch zwischen den Epigonen und den Exilanten deutlich, daß die deutschsprachige Literatur über die Schiene des Realismus einen illusionären Provinzialismus pflegte, der stilbildend werden sollte. Wer im 19. Jahrhundert aus dem Schatten des Epigonalen heraustreten wollte, mußte offensichtlich den deutschen Sprachraum verlassen. Nietzsche ist das nächste und schlagendste Beispiel dafür. Doch hat hier das Denken schon eine weitaus dramatischere Qualität erreicht als noch bei Heine. Nietzsches Exil ist ein durch Denken selbst geschaffenes, und in Hillebrands Essays zu dem Philosophen der Ewigen Wiederkehr erfahren wir sehr genau wie sich dies vollzogen hat und was daraus folgen sollte.
Hillebrands Blick in die Geschichte – und das heißt in den Teil der Geschichte, der uns als vollkommen historisch erscheint, der also von Grund auf rekonstruiert werden muß – streift immer wieder die Frage, wie es sich mit der Kunst und der Wirklichkeit denn verhalte, die Frage, die seit Immermann und Keller im Raum steht. Es ist eine Entscheidungsfrage der deutschen Literatur, die seit der Romantik die Fluchten des schönen Scheins als Spezifikum kultivierte. Auch der Essay „In Wien mit deutschen Dichtern“ handelt davon. Was wie ein Spaziergang über Zeiten und Räume hinweg anmutet, ist ein Gleiten durch ein Traumreich, jenes Traumreich, das Wien für die Dichter gewesen ist, bis hin zu Hofmannsthal und darüber hinaus. Das Wien der Dichter, das war eine Stadt, die als Stadt ein Traum geworden und geblieben ist, ein Ort, an dem sich die Auseinandersetzung mit der Realität wie durch einen Filter von Schönheit vollziehen mußte. Ein Ort, könnte man hinzufügen, den die Realität unfaßbar lange gar nicht erreichen konnte, und damit zugleich ein Fluchtpunkt der Illusionen.
Nicht zuletzt um solche Fluchtpunkte ist es Hillebrand zu tun. Denn Literatur kann nicht entstehen ohne die Kräfte des Illusionären und der beglückenden Imagination. Welchen Wert haben sie gehabt, welchen Wert haben sie als historische Phänomene bis heute? Der Blick dieses Essayisten in die Geschichte des Geistes, vor allem in die deutsche Geschichte, spürt jener eigentümlichen Mentalität nach, die die deutsche Literatur von anderen Nationalliteraturen unterscheidet. Und zwar nicht im Sinne eines Merkmalkatalogs. Vielmehr im Sinne von Dispositionen, die historisch bedingt waren und deren Auswirkungen bis in die jüngste Vergangenheit zu bemerken gewesen sind. Dazu gehört zentral die Auseinandersetzung um den Roman, die Hillebrand als Literaturhistoriker an anderer Stelle ausführlich dokumentiert hat. Die Romantheorie in Deutschland beinhaltet den Kampf um die Frage, wie Realität erzählerisch eine Form bekommen soll. Auch das ist kennzeichnend. Gerade im Roman ereignet sich der Zusammenprall des Ästhetischen mit der Welt der Tatsachen und löst eine Kettenreaktion aus. Es handelt sich erneut um das Problem der Form, diesmal aber auf dem weitgespannten Terrain einer Konzeption, die prinzipiell in der Lage ist, jegliche formale Variante in sich aufzunehmen. Die Diskussion um die Formen aber – das zeigen Hillebrands Essays durchgehend auf – ist immer zugleich die Diskussion um das Verhältnis von Kunst und Leben. Wie kommt Leben in den Roman? Eine Frage, die die deutsche Literatur aufgewühlt hat und die sie bis heute beschäftigt.
Bei alldem erweist sich der Essay als einzig adäquate Schreibweise. In ihr läßt der Autor den Jargon der Humanwissenschaften, der zumeist aus einem imaginären Jenseits szientistischer Neutralität tönt, ebenso hinter sich wie die affirmative Nachempfindung der dichterischen Sprache, die ein Teil der werkimmanenten Forschung kreiert hatte. Hillebrands essayistischer Stil zeugt von beidem, vom unweigerlichen Partizipieren an einer hochproblematischen Tradition und von der Fähigkeit, sich gedanklich über diese Tradition zu erheben und nüchtern über sie zu urteilen. Das ist der Kern der Authentizität dieser Sprache. Auch hierin geht es um die Beziehung von sprachlicher Form und Realität, ein Problem, das sich immer wieder eröffnet und ebenso künstlerisch wie intellektuell gelöst werden muß. Der Essay war seit dem 16. Jahrhundert, seit Montaigne, das Medium, in dem sich Denker aller Jahrhunderte diesem Problem gestellt haben. Hillebrands Essays zeigen, daß dieses Medium bis heute aktuell ist, und vielleicht sogar ein neues, gesteigertes Interesse auf sich zieht. Das Entscheidende dabei ist, daß sich die Stimme des schreibenden Ich nicht vereinnahmen läßt durch die formalisierten Diskurse der Öffentlichkeit, sondern jederzeit identifizierbar und mithin angreifbar bleibt. Nie kann es darum gehen, fertige Ansichten zu referieren, vielmehr werden Reflexionen auf die Probe gestellt und auf ihr Ursprungsmoment, das Ich, zurückgeführt.
Beim Lesen dieser Essays drängt sich daher die Frage auf, wie es um die Instanz des reflektierenden Ich eigentlich bestellt sei. Denn es handelt sich dabei um ein geistiges Phänomen jenseits aller religiöser und ideologischer Generalisierung. Wenn Hillebrand vom Nihilismus spricht, so zitiert er den letzten Großkomplex heran, in dem sich religiöse und ideologische Ausrichtungen noch einmal verdichten konnten. Nihilismus als ein geschichtliches Faktum, das allen Ideologien des 20. Jahrhunderts bereits eingeschrieben war, als Zerfallsmoment ihrer Haltbarkeit. Ein Faktum mithin, das die Philosophen schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts haben heraufziehen sehen, bezeichnenderweise angesichts des Fichteschen Idealismus, der wohl als erste philosophische Schule das Systemdenken als im modernen Sinne ideologisches Problem hat durchsichtig werden lassen. Der Nihilismus, wie ihn Hillebrand beobachtet, ist die allen Ismen seit der Romantik innewohnende Dimension des Fingierten, Präparierten und Angemaßten. Es ist die Feststellung, daß alle Werte entwertet sind, eine Einsicht, die Nietzsche seinem Denken auf fundamentale Weise zugrunde legt. Und im Nihilismus zeigt sich die Überlappung religiöser und ideologischer Energien vor dem Hintergrund der Sinnlosigkeit. Daß dies wiederum selbst noch ein religiöser Impuls gewesen ist, bildet die entscheidende Tatsache, die den Blick des Essayisten auf dieses Syndrom lenkt. Denn auch noch der Nihilismus mußte hinterfragt werden und wurde hinterfragt, auch noch der Nihilismus war letztlich entwertet und wurde nicht mehr verstanden.
Damit packt Hillebrand das treibende Moment in den Denkprozessen der Moderne an der Wurzel. Das Nihilismus-Phänomen nicht nur als philosophisch-literarische Erscheinung, sondern darüber hinaus als gesellschaftlicher Zustand der Gegenwart, die ihre Perspektiven aus der Negativität heraus bezieht. Niemand weiß, wohin die Reise geht, wie lange das Flugzeug eigentlich noch in der Luft bleiben kann und ob die Leute im Cockpit es auch wirklich bedienen können. Man steht vor der unmittelbaren Möglichkeit des Absturzes und bestellt – gerade deswegen – noch eine Flasche Champagner.
Niemand spricht mehr von der Überwindung des Nihilismus, wie noch Friedrich Nietzsche, wie noch Gottfried Benn, man hat sich an die Faktizität und an die umfassende Wirkung dieses Zustandes gewöhnt. Auch der Begriff ist außer Gebrauch geraten in den Hochglanzdiskursen der achtziger Jahre – Nihilismus. Das klänge dann doch zu pastoral, um etwas zu bezeichnen, das den Alltag in der Form der zynischen Vernunft und in der Bejahung der Simulation alles Authentischen bereits ganz und gar durchdrungen hat. Für die Dekonstruktionisten und die Systemtheoretiker spielten zudem solche Emotionen keine Rolle mehr. Auch das Pathos, das den Begriff erfüllt hatte, war verbraucht. Nicht zufällig waren es die Pastorensöhne Nietzsche und Benn, die den Begriff zur Zentrifugalkraft der Moderne erklärt haben und an seiner Überwindung arbeiteten. Und es ist auch kein Zufall, daß sich gerade Nietzsche und Benn eine Aktualität bewahren konnten, die auch nach dem Abebben der postmodernen Theoriewelle anhielt.
Bevor der Nihilismus zu einem primären Bezugspunkt der Kunsttheorie dieser beiden Autoren werden konnte, hatten die Literaten und Dichter des 19. Jahrhunderts das Phänomen schon durchleuchtet. Der Essay „Literarische Aspekte des Nihilismus“ führt das aus. Anfangs zerbrachen die Poeten daran, denken wir an Kleist oder Hölderlin. Andere spielten mit dem Phänomen, wie Jean Paul in seinem großen Roman Titan oder in der fiktiven „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“. Als Kulmination dieser frühen Symptomatik des Nihilismus können die Nachtwachen des Bonaventura gelten, ein Pseudonym, hinter dem die Zeitgenossen alle möglichen Autoren glaubten vermuten zu müssen, von Jean Paul bis zu dem Philosophen Schelling. Danach kam das Rätsel des Genies Georg Büchner, der in den wenigen Texten, die er verfassen konnte, den geistigen Horizont der Moderne auf den Punkt gebracht hat, um dann sofort wieder diese Welt zu verlassen. Zugleich mit der Genealogie des Nihilismus aus dem Geiste der Romantik stellt Hillebrand fest:
Wie weit liegt das zurück, wie unerreichbar ist uns dieser Zustand geworden, diese Erfahrung, dieses Erlebnis. Die hundert Jahre sind zu einer Mauer geworden. Eine Klagemauer von der Rückseite, von uns her eine Abschottung. Wir stehen diesseits, während Nietzsche noch jenseits stand.
Ein Bild, das die Verhältnisse klarstellt. Es geht um einen historischen Komplex, in den die Kräfte des Metaphysischen, der großen abendländischen Sinnsuche eingeflossen sind und sich zum letzten Mal zu behaupten suchten. Was Religion und Denken nicht mehr zu leisten in der Lage waren, sollte jetzt die Kunst erreichen. Vor dem Hintergrund eines durch Nietzsche unvergleichlich exponierten Phantasmas, dem Mythos Kunst, konstituierte sich das alles beherrschende Thema der Moderne, die Überwindung des Nihilismus durch künstlerische Produktivität. Fast ohne Ausnahme – alle Künstler und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts haben sich mit Nietzsche im Hinblick auf die Bedeutung der Kunst auseinandergesetzt, insbesondere die sogenannte expressionistische Generation, deren Impetus Gottfried Benn weit in das Jahrhundert hineingetragen hat. „Gottfried Benn und Friedrich Nietzsche“, das ist eines der Zentralthemen Hillebrands und es ist die alles beherrschende Konstellation am philosophisch-literarischen Kreuzpunkt der Moderne. Entsprechend hat der Aufsatz dieses Titels eine fokussierende Funktion im Gesamtrahmen der Essays.
Benns Nietzsche-Rezeption ist beinahe eindimensional auf das Thema Artistik ausgerichtet.
Die zentrale Lehre Nietzsches, die Umwertung aller Werte, hat Benn kaum beachtet, er sah in Nietzsche fast ausschließlich den Verkünder einer neuen Kunstlehre, den Theoretiker und Praktiker eines für Deutschland neuen, artistischen Stils. („Gottfried Benn und Friedrich Nietzsche“)
Benns Glaube an die formfordernde Gewalt des Nichts, an eine anthropologische Erlösung im Formalen nimmt eine einseitige Deutung Nietzsches vor und begreift dessen Artistenevangelium strikt im Sinne einer Überhöhung des Formaspekts am Kunstwerk. Das ist der entscheidende Glaubensartikel für Benn. Damit steuert er auf eine Erneuerung eben jenes metaphysischen Horizontes zu, den Nietzsche im Medium des Dionysischen hinter sich zu lassen versuchte. Benns Wille zu einer neuen Transzendenz der Kunst schießt geradewegs an Nietzsches Einholung metaphysischer Potentiale in der Immanenz des irdisch und physisch Erlebbaren vorbei.
Doch geht es Hillebrand nicht darum, ein rezeptives Mißverständnis herauszustellen. Künstlerische Rezeption ist meist eine Fehldeutung, legt man streng philologische Maßstäbe an. Die Frage ist, wie sich das Syndrom Kunst nach Nietzsche überhaupt in Szene setzen konnte und wo seine Gewichtungen lagen. Nietzsche läßt ja überhaupt die Idee einer adäquaten Interpretation hinter sich und wird dadurch zu dem epochalen Ausstrahlungsphänomen, als das ihn Benn bezeichnet hat. An diesem Punkt nun stellt Hillebrand die grundlegende Frage erneut: Was denn ist Kunst? Was bedeutet Kunst für die Generationen, die nach Nietzsche kamen? Kunst als der letzte Mythos, in einer Welt, die die Götter und die zuletzt auch Gott hinter sich gelassen hat. Es geht darin um eine Ästhetik des Nihilismus, und Hillebrand bezeichnet deren Verlauf als die Geschichte einer Aufheiterung.
Die gleichnamige Rede von 1994 faßt zusammen, was der Autor in einem grundlegenden Werk mit dem Titel Ästhetik des Nihilismus (Stuttgart 1991) in allen Aspekten ausgeführt hat. Über die Kunst löst sich das Syndrom des Nihilismus allmählich auf, durch Abnutzung seiner Instrumente wie der Provokation, des Aktionismus, der Negativität. Aber auch durch einen Gewöhnungseffekt. Das Nichts wird zum Inventar modernistischer Selbstinszenierung, nichts geht mehr ohne das Nichts. Dadurch aber zerstäuben die schwarzen Wolken, die seit der Romantik am geistigen Horizont gestanden haben, immer mehr. Bis heute geht der Substanzverlust aller geistiger Themen weiter, bedingt durch die Geschwindigkeit der medialen Aufbereitung und durch einen umfassenden Vermarktungszwang. Es ist kaum noch möglich, sich einer bestimmten Frage im Sinne eines zentralen Themas zu widmen, weil es kein Zentrum mehr geben kann. Dadurch wird alles beliebig aufgreifbar und letztlich irrelevant. Der Modernismus hatte an dieser Entwicklung bereits intensiv gearbeitet. Das performative Durchspielen aller Fragen und ihrer Antworten ließ diese ausnahmslos ins Fahrwasser eines umfassenden Zynismus geraten, in dem sich jegliche Idealität auflösen mußte. Das ist eigentlich die Überwindung des Nihilismus, nur hatten weder Nietzsche noch Benn das so gemeint. Hillebrand führt uns gerade auf diesen Punkt zu. Ein Punkt, an dem die Diagnose unserer geistigen Situation gesehen werden könnte, wenn es so etwas noch gäbe.
Das Schockerlebnis der Anti-Kunst setzt gesamtheitlich die Einsicht durch: die Sinnfrage ist sinnlos geworden. („Ästhetik des Nihilismus“)
Freigesetzt wurde der Spieltrieb, nicht im Sinne Schillers, sondern postmodern gewendet, also die Bejahung der Unverbindlichkeit. Auch daran hatte man nur wenige Jahre seine Freude. Die Postmoderne ist einfach an ihrer selbsterzeugten Langeweile eingegangen. Ohnehin bestand sie fast nur aus Theorieversatzstücken, die ihre Autoren ständig wiederholten und nach und nach abnutzten. Von heute aus können wir sagen, daß die Postmoderne ein marginales Intermezzo war, der Wurmfortsatz einer Moderne, die in ihrer Potentialität sicher noch nicht annähernd erfaßt worden ist. Hillebrands Essays leisten hier seit mehr als dreißig Jahren Pionierarbeit.
Sie beleuchten die Historizität des Nihilismus als einer Initialzündung für die Genealogie der Moderne. Damit aber nähern sie sich dem Ort, an dem wir heute stehen. Jenseits eines Zustandes, für den es eigentlich kein Jenseits geben kann. Denn auch die Überwindung der Moderne müßte noch deren Dynamik gehorchen, dem Zwang zur Selbstüberbietung des Status quo. Deshalb folgt auf die eruptiven Schübe des Innovationswahns das Einfrieren seiner Energien in der ewigen Wiederkehr des Neuen.
Der Nihilismus wirkte dynamisch und das bedeutet im Hinblick auf die künstlerischen Formen ruinös. Was einmal durchgespielt war, ließ sich nicht mehr wiederholen. Hillebrand demonstriert das in einem frühen Aufsatz an Samuel Beckett. Mit Becketts radikalem Reduktionismus war ein Ende erreicht. Die Wiederholung dieses Stilmittels mußte, schon bei Beckett selbst, zur Parodie führen. Und Parodie bedeutet Entwertung, Zersetzung des tragischen Gehalts, Vernichtung von Pathos. Es zeigt sich, daß der Modernist Beckett eben noch dies zu verteidigen hatte, die Reduktion als letzten Glaubensinhalt. Auch das ist eine Stilisierung des Formalen, wie sie sich bei Benn und vielen anderen Dichtern der Moderne findet. Die Abnutzung dieser Potentiale führte in die Enge. Das zeigt Hillebrand anhand verschiedenster Beispiele.
Für die Lyrik prägt er dabei den Begriff der ausgesungenen Welt. Ein Wort aus den achtziger Jahren, das resümierenden Charakter besitzt, wendet man es auf die vorangegangenen zweitausend Jahre lyrischer Produktion an. Mit der Alltagslyrik war die poetische Sprache endgültig ins Gefilde der Tonlosigkeit eingetreten. Alles Feiernde, Überhöhende oder, mit Rilke zu sprechen: Preisende mußte aus dem Gedicht verbannt werden, um nicht den Anschein der Lächerlichkeit oder der Weltfremdheit zu erwecken. Der transzendierende Faktor war aus dem lyrischen Gedicht gewichen. Blieb die Provokation, die Parodie, der Abgesang vielleicht noch, und der Rückzug auf die Selbstbeobachtung, die Privatheit des eigenen Ich. Das war der Tod des Gedichts. Bei gleichzeitiger Explosion der Idee, jeder könne mit etwas Übung kreativ schreiben. Beide Momente gehören zusammen. In ihrer Kontamination lagert die Unfähigkeit zur Erinnerung an den einstmaligen Wert des Gedichts. Die Demokratisierung des Kreativen und die Entwertung des Gedichts gehen Hand in Hand. Das muß man konstatieren, auch wenn man aus Überzeugung demokratisch denkt. Es scheint, als sei die Entwertung des Gedichts ein irreversibles Resultat der ästhetischen Moderne. Und dennoch hat diese Diagnose keinen Endgültigkeitsanspruch. Darauf weist Hillebrand in seinem Essay hin. Die Frage nach den literarischen Formen der Zukunft ist ganz offen, offener als sie jemals war.
Daß die Stilmittel des Modernismus unbrauchbar geworden sind, zeigt sich in besonderem Maß in der deutschen Literatur seit 1970. Davon handelt „Die verbrauchte Reduktion“. Handkes Versuche, den stereotypen Beschreibungsrealismus der Gruppe 47 zu überwinden, mündete im Privatmystizismus. Diesen zwei Extremen stehen wir gegenüber. Der deutsche Versuch, den Modernismus einzuholen und zugleich eine Gesinnung zu demonstrieren, die das Gegenteil der katastrophalen Blut- und Boden-Mentalität des Dritten Reiches wäre, führte zu einer fatalen Vereinseitigung der literarischen Landschaft. Die Frage nach der Formdimension in der Kunst wird einerseits fallengelassen und andererseits spirituell hypertrophiert. Das hängt damit zusammen, daß der Glaube an die Form verloren gegangen ist. Kein Wunder, nach den politischen und humanitären Schockerlebnissen des Jahrhunderts. Und nach den weitreichenden Einblicken in die Unendlichkeit der Galaxien und in die Selbstorganisation des Chaos. Form ist nur noch eine Kategorie neben anderen. Und dennoch: Kunst ist Form. Was aber wäre nun darunter zu verstehen? Hätte Form nicht gerade das Chaos einzubeziehen, hätte sie nicht alle Harmonievorstellungen angesichts der fraktalen Strukturen der physikalischen Welt zu überdenken? In jedem Falle ist der Begriff der Form nach dem Modernismus ein anderer als zuvor.
Der Modernismus war ein Exportschlager. Dadurch konnten sich seine gestalterischen und ideellen Momente verselbständigen und zur Selbstverständlichkeit werden. Was jedoch hervorzuheben wäre, ist die Tatsache, daß wir es mit dieser Entwicklung der Künste seit etwa dem Jahre 1910 keineswegs mit einer Selbstverständlichkeit zu tun haben. Es vollzieht sich darin eine Umstrukturierung der Wahrnehmung, die einem anthropologischen Sprung gleicht. Benns Ausspruch, von Homer bis Goethe sei eine Stunde vergangen, von Goethe bis heute ein ganzer Tag, erscheint angesichts dessen nach wie vor gültig. Wie hat sich dieses Phänomen entwickelt? Auf welchen Grundlagen ruht es? Hillebrand macht seine Interessenlage angesichts dieser Fragen deutlich, wenn er schreibt:
Es geht mir um die Entwicklung des konstruktiven Widerstandes im Bereich der Künste seit der Romantik. („Verschlossene Türen“)
Widerstand, gerichtet gegen eine überkommene Auffassung von Kultur, ausgelöst durch die Aufklärung und ihre romantische Wendung bei Rousseau und danach als Syndrom nicht mehr zu stoppen. Die Notwendigkeit dieser Dynamik zu begreifen, hieße die Dramatik der Moderne in einem umfassenden kulturellen Sinne zu verstehen. Auf solches Verstehen zielt Hillebrand in seiner Auseinandersetzung mit dem Modernismus ab. Denn das Phänomen ist ebenso irreversibel wie unverstanden. Man war schon bei der Postmoderne als man die Auseinandersetzung mit der Moderne noch gar nicht richtig begonnen hatte.
Entsprechend reichen bei Hillebrand die historischen Phänomene über die wohlfeil gesetzten Epochenschwellen hinweg: „Nietzsche, Benn und die Postmoderne“. Es ist immer noch die Frage nach der Verbindlichkeit, die den Autor bewegt. Denn Verbindlichkeit ist die Grundlage der intellektuellen Redlichkeit über die Moden und über die vom Kulturbetrieb selbsterzeugten Ereignisse hinweg. Wie überhaupt in diesen Essays eines zu spüren ist, an das man sich fast nicht mehr erinnern konnte. Es gibt ihn offenbar noch, den unanhängigen Standpunkt im Denken und im Schreiben, die Korrumpierung der Intellektualität durch den Markt und durch die Moden ist noch nicht allumfassend. Die vorliegenden Essays glänzen dadurch, daß sie ein Denken transportieren, das seine Qualität in der Unbestechlichkeit und Permanenz des Blicks hat. Mehr als dreißig Jahre Denken dokumentieren sie, eine Entwicklung, die es nachzuvollziehen lohnt.
Ein Denken auch, das seine Gewährsleute immer in der Nähe behält, heißen sie nun Goethe, Nietzsche oder Benn. Mit Bruno Hillebrands Schreiben findet eine Tradition deutscher Literatur ihre Fortsetzung, die deutlich als poetisch-intellektualistische Tradition zu kennzeichnen ist. Ein Intellektualismus, der sich immer in der Auseinandersetzung mit dem Spiritualismus und mit den Fragen des Metaphysischen konstituiert hat. Insofern ist die Genealogie, in der sich Hillebrand als Essayist ebenso verankert wie als Lyriker die spezifisch deutsche Linie von den letzten poetischmetaphysischen Positionen in den Modernismus und darüber hinaus. Hinzuzufügen wäre: es ist dies auch die Linie eines antiideologischen Geschichtsbegriffs, der nach Goethe, aber eben auf der Basis seiner Leistung einen Typus kreieren konnte, der das kontemplative Moment vor den Impetus des Handelns und schon gar vor den Aktionismus stellt.
Der letzte Teil der Essays, die Porträts, demonstriert die Meisterschaft des Essayisten Hillebrand zur kritischen Einfühlung in unterschiedliche Gestalten des geistigen Lebens und ihre geschichtliche Stellung. Wieder geht es um Gottfried Benn, diesmal aber in Form eines Porträts, das den Typus des letzten Transzendenzfanatikers mit der Gegenwart kontrastiert – Gottfried Benn heute. Daraus ergeben sich neue Blickpunkte nicht nur auf Benn, sondern auch auf die Situation nach Benn. Liest man diesen Essay zusammen mit der bereits 1966 geschriebenen Darstellung „Gottfried Benn zehn Jahre nach seinem Tod“, so läßt sich nachvollziehen, was die Auseinandersetzung mit Benn für den Essayisten Hillebrand über die Jahrzehnte hinweg bedeutet hat. Hillebrand führt diese Auseinandersetzung über die Phase der Benn-Verehrung in den fünfziger und frühen sechziger Jahren hinaus, um zu zeigen, in welcher Weise dieser Dichter in der Lyrik, aber auch in seiner Prosa und hier nicht zuletzt auf dem Gebiet des Essays impulsgebend für die Gegenwart sein kann und es nachweislich auch ist.
Auch die Porträts greifen zurück ins 19. Jahrhundert, beispielhaft in der kritischen Darstellung Stifters. Sie gehen aber auch auf Zeitgenossen wie auf Karl Krolow oder auf Gestalten, die gerade eben noch Zeitgenossen gewesen sind, wie Hans Erich Nossack ein. Aufschlußreich das Porträt von Lou Andreas-Salomé, das zu ihrem fünfzigsten Todestag im Jahre 1987 entstanden ist. Hillebrand zeichnet das Bild einer Frau, die sich wie keine andere ihrer Generation in den geistigen Horizonten ihrer Zeit bewegte, deren Bekanntenkreis von Nietzsche über Rilke bis zu Freud reichte, um nur die berühmtesten zu nennen. Das Bild einer Frau mithin, die keine Muse sein wollte und konnte, die vielmehr selbst die Fragen als ihre eigenen begriff, die eigentlich für die Männer reserviert waren. Fragen nämlich, die sich um das Syndrom der Wahrheit und ihrer Suche drehen. Auch das ist ein Phänomen im Ablauf dieser Geschichte – Metaphysik als Domäne der Männer und das Aufbrechen dieser Domäne.
Seit Francis Bacon war das Porträt Inbegriff des essayistischen Schreibens, und bis heute zeigen sich im Porträt die Möglichkeiten, aber auch die Schwierigkeiten dieser Schreibweise. Hillebrand demonstriert hier noch einmal seine Virtuosität auf dem Terrain des Essays, wie er überhaupt in den hier vorliegenden Texten den Kosmos eines Denkens eröffnet, den man durch viele Türen betreten und in dem man die unterschiedlichsten Wege einschlagen kann. Die oftmals totgesagte Schreibweise Essay beweist darin ihre neu zu bewertende Stellung im literarischen Leben der Gegenwart. In Bruno Hillebrand begegnet dem Leser ein Essayist, der das historische Panorama als unabdingbare Voraussetzung des kritischen Urteilens im Medium literarischer Produktivität wie kein zweiter ausbreitet und darzustellen weiß. Ein medialer Raum, an dem die Literatur- und Kunstkritik in ihrer Schnellebigkeit vorbeischießt und den die Literaturwissenschaft in den oft mühsamen Exerzitien ihrer Selbstrechtfertigung nicht erreichen kann. Es ist der Schnittpunkt historischer, ästhetischer und kulturkritischer Ebenen, an dem Hillebrands Essays ihre ganze Ausstrahlung entfalten. Der Blick auf die Kulturgeschichte entwickelt darin eine eigene artistische Note. Ist es denn nicht die Kunst, die das Denken in Bewegung setzt? Und zeigt sich nicht eben daran, daß das Denken selbst niemals die Kunst als erledigt deklarieren kann? Erwächst doch aus ihren Impulsen der genuine Faktor, der uns überhaupt zu kritischen Urteilen zu bringen vermag.
Bruno Hillebrands Essays demonstrieren dieses Wirkungsverhältnis von der Wurzel her. Ein Phänomen von bemerkenswerter Seltenheit in Deutschland.
Christian Schärf, Vorwort
hervorgegangen aus über dreißigjähriger Forschungstätigkeit, zeichnen die von Wechselhaftigkeit geprägte Positionierung der Kunst von der Goethezeit bis in unser Jahrhundert nach. Auf der Suche nach einer Standortbestimmung gehen die Aufsätze zuallererst der Frage nach, was denn Kunst eigentlich sei.
Steht die Ära des Realismus im Zeichen des Epigonentums und resignativer Versöhnung, so eröffnet der durch Nietzsche philosophisch fokussierte Nihilismus – paradoxerweise – eine neue Perspektive für die Kunst. Nachvollziehbar ist dieses Entwicklungsstadium etwa anhand des literarischen Schaffens von Gottfried Benn, den Hillebrand nach Goethe und Nietzsche in die historische Linie des Individualismus einreiht. Mit Blick auf die Postmoderne zeigt der Autor eine Abnutzung der ästhetischen Potentiale auf und beklagt die oft vergebliche Jagd nach innovativen literarischen Formen.
Den Abschluß bilden „Porträts“, die sich meisterhaft einfühlen in unterschiedliche Gestalten des geistigen Lebens und ihre geschichtliche Stellung.
Vandenhoeck & Ruprecht, Klappentext, 2001
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