Charles Bernstein: Angriff der Schwierigen Gedichte

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Charles Bernstein: Angriff der Schwierigen Gedichte

Bernstein-Angriff der Schwierigen Gedichte

EIN TEST DER POESIE

Was meinen Sie mit Ausschlägen aus Asche? Ist
aaaaaIndustrie
ein Wirtschaftszweig, Massenfabrikation oder
aaaaaEigentum
von Fabriken? Ist Kräuseln leicht schütteln? Sind
wir Dichter dann in Harmonie geschleudert? Und
wer oder was trägt Lackinsignien aus Luft?

Und der Stoff, über den Sie im Motto Ihres Gedichts
aaaaaschreiben,
ist er eingebildet, ein Symbol des Himmels?

Bezieht sich Fracht auf Frachtbriefe oder die Spedition
von Ladung zu Lande, zu Wasser und in der Luft? Oder meint es
die Bezahlung für diese Logistik? Oder einen
Frachtzug? Wenn Sie sagen eine kommode Reise,
ist die Reise komfortabel oder ist der Waggon
mit den bequemsten Möbeln ausgestattet? Aber dann, warum
löschen Sie vor verschlafende Freund den Artikel? Und
wenn Sie in „Warum ich kein Christ bin“ schreiben
Du schmeißt es immer hin / Aber Du kannst nie
etwas aufheben
– was heißt etwas?

In „Die Bucht der Illusion“: meint Vene
die Blutvene unter der Haut des Menschen, oder
ist das eine Metapher für den Fluss? Meint Los
ein Schicksal oder den Anfang eines Spiels?
Und bezieht sich Kampfer auf Kampferbäume?
Und weiter: wer oder was nähert sich?Wer oder was
hat Balg? Oder bedeutet der Ausdruck Balg das
Leder bzw. das Fell eines Tieres? Und wer oder was hat
abgewürgt? Und weiter, ist die Durchgangsstraße des
Atolls am Mittag
ein Äquivalent für die Vorlage?

In dem Gedicht „Verfluchte Angst“, bedeutet Verflucht
verrückt?

Wie steht es mit Spannung, meint es
eine intensive Anstrengung oder abstumpfenden Druck oder
aggressiven Effekt (als Momentum, hart zu arbeiten),
oder ein Crescendo wie in der Musik?
Bezieht sich Mercury auf eine bestimmte Ölmarke?

In den Versen
Fragmente aus Gebäck, bukolisch verankert
gegen Kaktusgehause, Nantucketkübel
dürfen wir uns vorstellen: diese Kuchenstücke
oder Pastetchen werden in Kübeln plaziert (die
aus dem Holz Nantuckets geschnitzt sind),
oder in Kabinette (kleine
Zimmer oder Möbel?) aus Kaktus gesteckt?

Was ist Kopfnuss?

Ich nehme an, der Kaukasus-Ausschuss
bezieht sich auf ein Treffen der Weißen
einer politischen Partei, um Kandidaten aufzustellen.
Aber wer ist Onkel Kuddelmuddel?
Und was mag vertraute Fracht
zur heimkehrenden Antilope sagen?

Sie schreiben, die Wände sind unsere Böden.
Wie können Wände Böden sein, sofern sich die Böden
auf den Teil des Raumes beziehen, der die
ganze Wohnfläche umfasst, auf der man
läuft? In und die Böden, wie ein Sack,
wehren alle Stürze ab
– ist Sack ein Verweis
auf Nonsense oder allgemein auf den Sack wie ein Sandsack
oder den der Männer? Oder auf eine Erweiterung der Haut unterhalb
des Auges? Heißt Stürze Absteigen
vom höheren zu einem tieferen
Punkt oder Fallen, verwundet oder tot?
Aber was ist die sogenannte Masche
im Allgemeinen
?

Ist der Müllhaufen der Müllhaufen
im üblichen Sinne? Warum
steht Müllhaufen für sogenannte
Masche im Allgemeinen
? Da ein Fälscher einer ist
der fälscht, wie kann willkürlich
auf Fälscher zurückführen?

Wer oder was sind enttäuscht
nicht gewesen zu sein?

Verweist Verfassung auf etwas Eingefasstes, oder das
Grundgesetz, oder allgemein auf etwas Strukturiertes? Oder einen
Gemütszustand, beispielsweise des Geistes?

In dem Satz
Wenn Sie es nicht mögen
in Farbe, können Sie es immerhin kopieren
und alles Grau in Grau betrachten
– was ist es? Was heißt
hier in Farbe?

Ein paar Zeilen weiter schreiben Sie:
Du meinst, Bilder-Farm wo man Dir Hot Dog gegeben
Verweist Hot Dog auf heiße Würstchen?
Meint die Zeile: das Würstchen
zu sehen ließ Sie an eine Farm Ihrer Vorstellung zurückdenken?

Verweist fettärschige Boote auf Boote mit einem dicken Hinterteil?
Ist gering dann gekrümmt die Beschreibung der Handgriffe von jemand
der Golf spielt? In der Formulierung ein Jahrmarkts-Freak
ist der Freak ein Hippie? Bezieht sich Jahrmarkt auf eine nebensächliche
Bedeutung? Oder einen abnormen Schauspieler auf dem Jahrmarkt?
Wer oder was ist mit Pinken-Dampf verknüpft? Und was
ist mit dem zungengeknoteten Drahtseilakt-Stalker –
bezieht der Stalker sich auf einen, der sich auf der Jagd
befindet, im Verborgenen auf Beute lauert? Der Stalker
ist zunächst ein Mitwisser, dann ein witzloser Nixwisser?

Sie schreiben, die Spelzen sind gesalzen:
welche Art Nussschalen werden salzig gegessen?
Was soll Krümmung bedeuten – gebogen zu werden,
verzogen oder verdreht? Oder eine Geste der Unterwerfung,
oder von Respekt, Hingabe, sich fügen?Verweist Glocken
auf metallisch klingende Instrumente oder
eine Art von Hosen?

Gleich ein paar Zeilen weiter kommt die Wendung
Kam sich sehr überhäuft vor. Wer kam sich überhäuft vor? Spielsachen?
Ist Summen als das Summen eines Songs gedacht?
Stecken in was? Nicht der Teil von was?

In „Keine Pastrami“ (Walt, ich bin bei dir in Sydney / Dort
wo Mamaronecks Echos hallen / in den stockenden Fluren
des Busches
) – bezieht sich Pastrami
auf das geräucherte und gewürzte Schulterstück vom Rind? Ist
Mamaroneck ein Ort in den USA, wo wilde Ochsen schreien?
Verstehe ich es richtig, dass die Flure sich auf Gänge
im Supermarkt beziehen? Könnte ich das Gedicht folgendermaßen lesen:
Der Sprecher geht einkaufen in einem Laden
in Sydney; er folgt dem exzentrischen
Treiben zwischen den Regalen, auf denen Produkte
angeboten werden; er will die Pastrami nicht kaufen,
denn anscheinend hörte er das Echo wilder Ochsen
in den USA schreien, dabei spricht er Walt Whitman an?

In Neid ohne Ende weist Neid auf Bewunderung hin oder
hat einen abwertenden Sinn?

 

 

 

Ein Nachwort

Nichts ramponiert eine Vorstellung mehr als diverse Angriffe
in abgrenzender Form.

Dieser Angriff der Schwierigen Gedichte des US-amerikanischen Dichters und Literaturtheoretikers Charles Bernstein schlägt eine wichtige transatlantische Brücke für die deutschsprachige Gegenwartslyrik und ihre Leser. Charles Bernstein ist ein zeitgenössischer Autor im besten Sinne: er leidet am Zeitgeist wie am Begriff, ohne zu resignieren. Seine hellwachen und formal-ästhetisch avancierten Gedichte sind immer auch Diskursanalyse und poetologische Ressourcen. „Es ist notwendig, absolut modern zu sein“,1 schreibt Rimbaud 1873, aber nur allzu selten – wenn es nicht ohnehin als anachronistisch abgetan wird – rückt der Begriff der Notwendigkeit ins Interesse der Kritiker. Dieses Buch gibt den Blick frei auf Bernstein als notwendig radikalen Modernisten, der zugleich unverschämt traditionell ist, Ikonoklast und Ikone, Vollblut-New-Yorker und „wurzelloser Kosmopolit“ – und zwar exakt im Sinne dessen, was der Stalinismus verachtet und erfolgreich bekämpft hat: der Differenz, des Nichtidentischen, der transnationalen Solidarität, der Utopie. Seine Gedichte insistieren mit Blake, dessen von Allen Ginsberg gesungene Songs of Innocence and Experience (1970) Bernstein 2006 bei PennSound neu veröffentlichte, immer auch darauf, „die Welt in einem Sandkorn zu sehen.2 Das Erbe der Frühromantiker, der historischen Avantgarde und radikaler jüdisch-amerikanischer Modernisten wie Stein, Williams oder Zukofsky wiegt nicht schwer auf Bernsteins Lyrik, sondern macht sie notwendig schwierig: vor allem zu ignorieren.
Wenngleich Bernsteins Œuvre nicht auf seine Arbeit als Redakteur und Mitherausgeber des paradigmatisch betitelten poetologischen Magazins L=A=N=G=U=A=G=E reduziert werden kann, so bleibt dieses doch Eckpfeiler und Sprungbrett seines Schreibens. Die gemeinsam mit Bruce Andrews veröffentlichte Zeitschrift ist untrennbar mit seinem Namen verbunden und hat seinen Bekanntheitsgrad auch international entscheidend befördert. Wichtiger zu erwähnen ist aber, dass L=A=N=G=U=A=G=E zu einem der wichtigsten Foren einer kritisch-theoretisch reflektierten Poetologie und Schreibpraxis wurde, das kollektive avantgardistische und experimentelle Aktivitäten auf beiden Seiten des Atlantiks zu katalysieren vermochte. Während eine dezidiert materialistische und neostrukturalistische Theoretisierung von Lyrik und Poetik in der „official verse culture“,3 wie Bernstein das Feld der Lyrik im Hochschul- und Literaturbetrieb nennt, über lange Zeit als Todsünde galt, frönte Bernstein gemeinsam mit weiteren sogenannten Language Poets wie Bruce Andrews, Ron Silliman, Lyn Hejinian, Bob Perelman, Steve McCaffery, Rae Armantrout, Barrett Watten oder Carla Harryman ebendieser gegenhegemonialen Praxis. Es war, wie Paul Quinn es ausdrückt, „als hätten die Beats in Frankfurt [und Nanterre] statt an der Columbia studiert.“4 Zwischen 1978 und 1981 haben Bernstein und Andrews zwölf Ausgaben und zwei umfangreiche Supplemente veröffentlicht, die ein historisches und dabei unvermindert aktuelles Archiv kritisch-poetologischen Denkens und experimentellen Schreibens darstellen.
Bernsteins eigene poetologische Aufsätze, von denen Übersetzungen in den Zeitschriften karawa.net, randnummer und Schreibheft erschienen sind, haben deutlichen Manifestcharakter und sind im besten Sinne „romantische Fragmente“ einer spürbar vom französischen Neostrukturalismus, Wittgensteins Sprachphilosophie und der Kritischen Theorie „beseelten“ Intervention in den Literaturbetrieb, die Akademie, die bürgerlich-kapitalistische Ordnung. Mit anderen Worten: Fetischkritik, Kritik der Kulturindustrie, des phallogozentrischen Diskurses, der Neuen=Alten Weltordnung des Kapitals. Ich denke dabei insbesondere an The Dollar Value of Poetry (1979) und die Politics of Poetry Doppelausgabe von L=A=N=G=U=A=G=E (9/10) sowie Comedy and the Poetics of Political Form (1989) – ein Vortrag, den Bernstein zuerst im Rahmen einer von ihm selbst organisierten Vortragsreihe zum Thema Poetry and Public Policy an der New School of Social Research gehalten hat, bevor er 1990 von Roof Books veröffentlicht wurde und 1992 in A Poetics (Harvard UP) erschien. Letzteres enthält auch den Aufsatz „Pounding Facism“, der in erweiterter Fassung als „Pound and the Poetry of Today“ in Bernsteins My Way: Speeches and Poems (Chicago UP, 1999) sowie im Schreibheft 80 zu finden ist, und der die Bedeutung Pounds für die Gegenwartslyrik diskutiert und ästhetisch-politisch verortet. Besonders erwähnenswert ist auch sein Aufsatz „Artifice of Absorption“ (1987), der in Form eines kritisch-theoretisch avancierten und hochgradig selbstreflexiven Prosagedichts daherkommt und einer der wichtigsten poetologischen Texte der jüngeren englischsprachigen Literatur sein dürfte. Neben kanonischen Stimmen aus Literatur und Theorie diskutiert Bernstein hier äußerst produktiv zentrale Begriffe weniger bekannter Denker wie Valentin N. Voloshinov und Veronica Forrest-Thomson.
Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass es praktisch unmöglich ist, alle wichtigen Projekte und Publikationen Bernsteins seit den späten 1960er Jahren in einem Nachwort aufzuzählen: Von seinen frühen Tonbandgedichten, Performances und Textkollaborationen (z.B. in LEGEND) über so „schwerwiegende“ Gedichtbände wie Controlling Interests (1980), The Sophist (1984), Dark City (1994), With Strings (2001), Girly Man (2006) oder Recalculating (2013), die Anthologien Republics of Reality: 1975–1995 (2000) und All the Whiskey in Heaven (2010) zu den überwiegend poetologischen Aufsätzen und Diskursinterventionen in Content’s Dream: Essays 1975–1984 (1986) und dem für das vorliegende Buch namengebenden Attack of the Difficult Poems (2011). Unbedingt erwähnenswert sind aber auch Bernsteins Inter- und Multimedia-Kollaborationen, literaturwissenschaftliche Sammelbände und umfangreiche archivarische Online-Projekte wie PennSound und das Electronic Poetry Center (EPC) sowie sein erstaunliches Libretto für die Ferneyhough-Oper Shadowtime (2004) über das Leben und Denken Walter Benjamins, das so ungeniert spätmodernistisch und dezidiert atonal daherkommt, dass man sich neben der Wiener Schule und „literarischen“ Avantgarden von Dada bis Oulipo auch an Adornos Philosophie der Neuen Musik erinnert fühlt. Bernsteins eigener Begriff einer „non-Euclidean (or complex) prosody“, wie er ihn in der Einleitung zu Close Listening: Poetry and the Performed Word (1998) entfaltet, wird hier quasi ästhetisch greifbar.
Bernstein versteht moderne Lyrik ideologiekritisch und als gegenhegemoniales Arbeiten im Überbau. Ausgehend von „kulturmarxistischer“ Dialektik und Postmarxistischer Diskurstheorie nimmt seine Poetik ein Spektrum des Schreibens in den Blick, das sich primär auf (das System der) Sprache und gesellschaftliche Formen der Bedeutungsproduktion und Vermittlung konzentriert und dabei „weder Vokabular noch Grammatik, Prozessualität, Form, Syntax, Programmatik oder Inhalt als selbstverständlich begreift.“5 Dabei vermitteln seine eigenen Texte eindrucksvoll die Stärken kollektiver Auseinandersetzung damit, wie das Schreiben Bedeutungen und Werte erkennen, sichtbar machen und generieren kann. Angesichts des wiederholten Vorwurfs, dass „language-centered writing“ die Verdinglichung der Sprache und ihre manipulative Verwendung in der (medialen) Öffentlichkeit – ihre zentrale Rolle im Hinblick auf Macht, Herrschaft und Klasseninteressen – zwar kritisiere, hierbei aber in einer Art „nihilistischer Sinnzertrümmerung“ oder „Bedeutungsverweigerung“ gefangen bleibt, erklärte Bernstein bereits 1984:

Die Idee, dass das Schreiben von [sprachlicher] Referenz befreit werden sollte (oder könnte), ist nicht weniger problematisch und irreführend als die Annahme, dass die primäre Funktion von Wörtern darin besteht, eins zu eins auf eine bereits konstruierte Welt von ,Dingen‘ zu verweisen. Vielmehr ist Referenz, wie der Körper selbst, einer der Horizonte von Sprache, dessen Wert sich in dem Schreiben (der Welt) findet, vor dem wir uns in einem bestimmten Moment wiederfinden. Was diese Aufsätze [in L=A=N=G=U=A=G=E] miteinander verbindet, sind nicht Bedeutungsverweigerung oder Referenzangst der Autoren, sondern die Auseinandersetzung mit den mannigfachen Stärken, mit dem Spielraum und Ausmaß von Referenz (denotativ, konnotativ, assoziativ).6

Letztere zeichnet gewiss auch Angriff der Schwierigen Gedichte aus.

Der ohnehin verfehlte Vorwurf der „Sinnverweigerung“ bleibt in der Regel ebenso wenig auf Language Poetry beschränkt wie Bernstein selbst, den man heute als integralen Bestandteil dessen bezeichnen darf, was man das „lange Jahrhundert“ eines radikalen Modernismus in der Kunst nennen könnte. Bernsteins Texte und Performances sind weit davon entfernt, sich Bedeutung zu „verweigern“. Vielmehr sind sie dezidiert konstruktivistisch (Syntax), parataktisch, verspielt und polyvalent, was in den Mehrfachübertragungen der vorliegenden Texte – exemplarisch sei auf „Catabolism“ und „Dodgem“ verwiesen – besonders gut zum Tragen kommt. Sie sind aber auch schräg, atonal, zum Brüllen komisch und zugleich todernst. Das gilt auch für „Asylum“ und „Dysraphism“, die als Erneuerung des modernen amerikanischen Langgedichts verstanden werden dürfen. Gemein ist diesen Texten auch, dass sie (jenseits ästhetizistischer oder postmoderner Selbstreferenzialität) bestrebt sind, mittels reflexiver Schreibpraxen den Leser zu kontextualisieren und eine ästhetisch-politische Rezeptionshaltung zu sollizitieren. Neben zahlreichen intertextuellen Montagen und anderen Arten der Textcollage, die es Bernstein erlauben, sehr heterogene Elemente scheinbar unvermittelt gegenüberzustellen und doch zu vereinen, wartet Angriff der Schwierigen Gedichte sowohl mit dadaistischen Lautgedichten und Ausflügen in die Aleatorik als auch mit lyrischen Stimmen und explizit sozialkritischer Haltung auf, wie etwa in der „Ballade vom Girly Man“.
Der Autor Bernstein, der unlängst die kritische Aufmerksamkeit so verdienter Literaturwissenschaftler wie Marjorie Perloff und Jerome McGann auf sich gezogen hat, ist selbst Literaturwissenschaftler und lehrt heute vornehmlich an der University of Pennsylvania. Dabei haben Bernsteins Aufsätze und kritische Interventionen – egal, ob er über Louis Zukofsky, Laura Riding Jackson, Pac-Man oder Thelonius Monk schreibt – immer wieder engagiert und präzise artikuliert, worin das politisierte Schreiben durch seine Form, im Sinne eines kritischen Modernismus, an das rührt, was Jacques Ranciere die „Aufteilung des Sinnlichen“ genannt hat: „jenes System sinnlicher Evidenzen, das zugleich die Existenz eines Gemeinsamen aufzeigt wie auch die Unterteilungen, durch die innerhalb dieses Gemeinsamen die jeweiligen Orte und Anteile bestimmt werden.“7 Dabei bezeichnet „das Sinnliche“ hier zweierlei: Das, was den „Sinnen“ zugänglich und damit wahrnehmbar ist, und das, was innerhalb eines hegemonialen Regimes (von Bedeutung) und etablierter Arten & Weisen der Bedeutungsproduktion „Sinn“ macht, „sinnhaft“ ist. Der Begriff verweist zugleich auf die Bedingungen für ein Aufteilen des Sinnlichen, das die Konturen einer Kollektivität etabliert und auf die Quellen eines dissensuellen Bruchs mit ebendieser Ordnung.8
Moderne Lyrik macht keine emanzipatorische Politik (für uns), sie kann aber die Nahtstellen des gesellschaftlichen Quilts auftrennen helfen, den die Nähmaschine ideologisch funktionaler Diskurse permanent zu steppen versucht. Angesichts des gegenwärtigen (Zwangs-)Konsenses der Postpolitik kann Bernsteins uneigentlicher Umgang mit literarischen Formen und Genres, das Bespielen der sinnlichen Grenze von Lesbarkeit und durch Verfremdung erzeugter ästhetischer Distanz zur Sprache, oder anders: die konstruierte Unbestimmtheit seiner Texte, die unaufgelösten Widersprüche und das Sollizitieren von Kontingenzerfahrungen als gelungener Versuch verstanden werden, durch das Aufbrechen hegemonialisierter Verknüpfungen von sinnlicher Wahrnehmung und gesellschaftlich vermittelter Bedeutung etwas zu dem Prozess der Desidentifizierung mit allen bereits gesellschaftlich sanktionierten und kontrollierten Subjektpositionen beizutragen, der für ein genuin politisches Subjekt konstitutiv ist. In diesem Sinne bleibt Bernstein ungeachtet seiner zunehmenden Kanonisierung und Institutionalisierung ein politischer Autor und linker Kulturarbeiter – und seine Gedichte notwendig schwierig. Bernstein bleibt zeitgenössisch, oder wie bereits der Titel seines Vortrags auf der Socialist Scholars Conference am Manhattan Community College im April 1987 betonte:

In the Middle of Modernism in the Middle of Capitalism on the Outskirts of New York…

Dennis Büscher-Ulbrich, März 2014, Nachwort

 

Die erste,

umfassende Auswahl aus dem Werk des streitbarsten, intelligentesten, heitersten und einflussreichsten Vertreters der L=A=N=G=U=A=G=E School, die aus dem literarischen Leben der USA seit den 70er Jahren nicht mehr wegzudenken ist und zu der auch die Luxbooks-Autorin Rae Armantrout gehört. Jede Starrheit sprachlicher (und damit auch: politischer) Identität wird in Bernsteins vielstimmigen Gedichten aufgelöst und in Bewegung gesetzt. Die Texte fahren Autoscooter, in ihnen knallt die internationale Tradition auf die Gegenwart, Hoch- auf Populärkultur. Bernstein ist homme de lettres und Scherzbold in einem, Theoretiker und Praktiker, Sprachaktivist und Melancholiker. Er ist Performance-Künstler und Opern-Librettist, Hollywood-Darsteller (Finding Forrester) und bei allem: Verfechter des schwierigen Gedichts. „Kaut nicht in dürftiger Prosa wieder, was schon in guter Dichtung gesagt worden ist“, fordert er in Umkehrung eines Satzes von Ezra Pound. Bernstein ist Professor, der in 60-sekündiger Vorlesung auf den Punkt bringen kann, worum es beim Gedichteschreiben geht: ums Timing.
Der Band erscheint in mehrfacher Hinsicht zweisprachig: Die Dichter Tobias Amslinger, Norbert Lange, Léonce W. Lupette und Mathias Traxler stoßen, hüpfen, singen mit. Sie haben Bernsteins Gedichte als erste ins Deutsche übersetzt. Mit einem Nachwort von Dennis Büscher-Ulbrich.

Luxbooks, Klappentext, 2014

 

Was wird denn da nun wie missbraucht?

– Charles Bernstein ist ein Protagonist der Language Poetry, der seine Übersetzer vor gravierende Probleme stellt. –

Die poetische Avantgarde hat es schwer in den Zeiten der Postmoderne – die ja schon mit ihrer Vorsilbe bezeugt, dass sie eine Nachhut ist. Die Provokationen sind ausgereizt, die Programme abgearbeitet, alles ist ohnehin erlaubt, und die Welt hat andere Sorgen. Umso bewundernswerter ist eine verschworene Dichtergruppe, die in den Vereinigten Staaten seit den siebziger Jahren unverdrossen die Fahne des lyrischen Fortschritts hochhält.
Sie tut dies unter dem so selbstverständlichen wie befremdlichen Markenzeichen „language poetry“ und mit allem, was dazugehört: viel Chuzpe zu Profilierungszwecken, Manifesten in rauhen Mengen, theoretischem Überbau, „antihegemonialem“ Pathos, elitärem Habitus bei eingefleischtem Spieltrieb und einer eigenen Plattform zur Verbreitung der Botschaft. Es ist dies eine Zeitschrift namens L=A=N=G=U=A=G=E, und dieser Titel dient zugleich auch als Logo der Bewegung. Denn es geht um die Materialität der sprachlichen Zeichen, unbelastet vom ewigen Bedeutenwollen, um das Aufhaken des Sprachkorsetts oder, nach der Aussage eines Aktivisten, um autochthonen Widerstand gegen die imperialen Streitkräfte des Englischen.
Dank einer zweisprachigen Anthologie mit dem einladenden Titel Angriff der schwierigen Gedichte kann man sich nun auch bei uns einen Eindruck von dieser widerständigen Dichtung machen. Es handelt sich um eine großzügige Auswahl aus dem Werk von Charles Bernstein, der als führender Kopf der language poets gilt. Paradox ist die Vielgestalt des Formlosen: Lang- und Kurzgedichte, Lautpoesie, Politisches, Nonsens, Parodien, Collagen, Wortspielerei, Songs, Epigrammatisches, Klischee-Montage, echte und zu Versen zerschnippelte Prosa, Balladen, sogar ein Liebesgedicht – you name it.
Dabei versteht sich, dass in diesem ebenso heroischen wie witzigen Kampf gegen die Front der Phallo- und Logozentriker fast jede Form linearer Gedanken- und Satzführung aufgekündigt wird. Dass die neue Freiheit keine völlige Sinnfreiheit bedeutet, zeigt freilich schon das erste Gedicht „Asylum“, also „(Geschlossene) Anstalt“. Sechzehn Seiten lang spiegeln ein grotesk zerfasertes Druckbild und eine maßlos zerhackte Syntax den Geisteszustand der Insassen und den Terror der Aufseher: totale Entmündigung des Individuums, die Irrenanstalt als KZ.
Eindrucksvoll auch der „Bericht aus der Liberty Street“, ein Prosagedicht des New Yorker Poeten über den 11. September 2001 mit dem Refrain „Sie dachten, dass sie in den Himmel kommen.“ Aber er kann es auch plumper, zum Beispiel in der „Ballade vom Girlie Man“ (so hatte Arnold Schwarzenegger die angeblich windelweichen Gegner der Republikanischen Partei genannt):

Die Reichen scheffeln, die Armen röcheln
& der Herrgott, der um all das weiß
Ist überhaupt nicht Gott, ist rhetorischer Scheiß.

„Macht Mayonnaise, nicht Munition“, rät uns Bernsteins Antirhetorik. Nie um Selbstironie verlegen, fragt er am Ende des endlosen, fast unlesbar vor sich hin orakelnden Textes „Amblyopia / Stumpfsichtigkeit“: „Was soll das sein, ein Marathon?“ Aber nein, es ist nur die Wiedergeburt des amerikanischen Langgedichts.
Der humorlose Einwand, dass die Nonsensdichter, die Futuristen („Le parole in libertà“), Dada, die Surrealisten, Gertrude Stein, Finnegans Wake oder Pounds Cantos das alles schon früher und besser gemacht haben, wird an Bernsteins Inklusivität zuschanden. „Das Neue beginnt von vorne, rutscht hintan“, sagt er vielsagend, und, als Teil einer langen Litanei:

Ich bin ein serieller Dichter, ein parataktischer Dichter, ein
diskordischer Dichter, ein Disko-dichter…
ein modernistischer Dichter für die Postmodernisten, ein Postmodernist
für die Modernisten…
ein vagabundierender Dichter, ein spießiger Dichter,
ein Dichter mit dichtem Haar…

Letzteres ist, wie so vieles in diesem Band, eine Zutat des Übersetzers, denn im Original outet Bernstein sich ausdrücklich als Kahlkopf.
Eigentlich sind es ja vier Übersetzer, vier Dichter der jüngeren Generation, doch hier pflegen sie einen Gruppenstil, der das Recht auf verbale Anarchie auch für die Nachbildung beansprucht. Dabei gibt es hübsche Einfälle wie Mehrfachübertragungen (die einen enger an der Vorlage, die anderen irgendwo weit jenseits), eine „Version“ als deutsche Zitatenanhäufung oder als Reflex des Originals in Spiegelschrift. Für den Rätseltitel „The Klupzy Girl“ erscheint als Äquivalent die ebenso rätselhafte „Fee mit P“, für die vielversprechende Überschrift „AZOOT D’PUUND“ genialerweise „AZUUI V’RUNV“ und für das Gedicht „This Line“ – „This line refuses reality“ – die genaue Reproduktion des Druckbildes in einem unauflösbaren Code.
Und die Fehlübersetzungen, von denen der Text geradezu wimmelt? Die Titel „Asylum“ als „Asyl“ und „Substance Abuse“ als „Substanz-“ statt „Drogenmissbrauch“ wiederzugeben, könnte sich schlicht einem etymologischen Drang zur Wortwurzel verdanken, anderes dem ansteckenden Wortspielrausch der Vorlage, vieles weitere der Unkenntnis amerikanischer Idiomatik. Das Hin und Her zwischen den Sprachen ist, je nachdem, ein erheiternder oder frustrierender Wettbewerb mit den semantischen Kapriolen des Meisters.
Das Nachwort bringt zu guter Letzt noch ein wenig akademische Ordnung in das verbale Chaos. Wie es uns verrät, soll „das Sollizitieren von Kontingenzerfahrungen als gelungener Versuch verstanden werden, durch das Aufbrechen hegemonialisierter Verknüpfungen etwas zu dem Prozess der Desidentifizierung mit allen bereits gesellschaftlich sanktionierten und kontrollierten Subjektpositionen beizutragen…“ Sind noch Fragen offen?

Werner von Koppenfels, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.2.2015

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Jan Kuhlbrodt: Zu Charles Bernstein: Angriff der schwierigen Gedichte
signaturen-magazin.de

Franz Hofer: Attack of the difficult poems
fixpoetry.com, 23.4.2015

Poesiegespräch: Charles Bernstein „In Lied getunktes Licht, wiegende Vielfalt“
haus-fuer-poesie.org, 26.5.2018

 

Lob dem Angriff

– Laudatio zum Preis der Stadt Münster für Internationale Poesie 2015 auf Charles Bernstein und die beiden Übersetzerkollektive. –

„Attack of the difficult poems.“ – „Angriff der schwierigen Gedichte.“ Wie soll man, meine Damen und Herren, in den heutigen, so friedensbedürftigen Zeiten und in dieser Stadt des Westfälischen Friedens einen „Angriff“ loben? – einen Angriff zumal, der Buchstaben, Silben, Klänge und Worte durch präzis gesetzte Experimente aus ihren angestammten Gefilden vertreibt – in die Fremde, in die Diaspora. Ein Angriff, der Worte und Klänge isoliert und sie ausschickt, tote Buchstaben-Gebiete, unser eingefahrenes Sprechen und Denken, neu zu besiedeln und beleben? Der Angriff, um den es hier und heute geht, soviel vorweg, ist en experimenteller und poetologischer.
Dass es experimenteller Lyrik, die einmal als Jubel und Aufbruch begann, auch heute, im fortgeschrittenen Alter, gelingt, ihr anfängliches Glücksversprechen einzulösen, das erfährt, wer sich dem vielfältigen und vielstimmigen Werk von Charles Bernstein zuwendet. Dabei gibt es unter seinen „schwierigen Gedichten“ Zeilen von verführerischer, ja: schlagender Einfachheit, wie: „From talk alone you don’t get a poem“, oder: „Won’t someone please get me a drink.”
Die Reihe der scheinbar „einfach“ verständlichen Sätze ließe sich fortsetzen, denn Bernsteins Werk – ca. 30 Gedicht- und Essaybände – spielt nach allen Regeln seiner Kunst neben dem Experiment immer auch mit dem Uralten und: mit dem ganz Alltäglichen. Je länger man in sein Werk hineinschaut, desto deutlicher wird: Wo es konventionell zugeht, schlittert man unvermittelt (mit ihm) übers Glatteis der Gewohnheit, und schon beginnen die schönsten Verrenkungen. So kommt es, dass im Versatorium-Band eine Gruppe Übersetzer den bereits genannten Titel „From talk alone you don’t get a poem“, der ja die Spannung von alltäglichem Reden und Dichten aufruft, übersetzt als „Vom Torkeln nicht gibt’s kein Gedicht“ und damit im Deutschen das Bild des „Vers-Fußes“ mit hineindenkt.
„Time wounds all heals“ heißt die erste Zeile des Gedichtes „You“. Drei verschiedene Übertragungen ins Deutsche finden sich: die erste, klangaffin, „Fein tuns alle Hügel“, die zweite, sinnsuchend, „Zeit krümmt das Gerade“; die dritte greift Bernsteins Sprachspiel auf: „Zeit wundet alles Heile.“ In der Kindheit, meine Damen und Herren, erfuhren wir die Sprache als Klangreich und ließen uns wie Bernstein mit immer neuen Wortverwechslungen und Silbenversprechern ins Land des Unsinns treiben. Oder wir rotteten uns zusammen in der Räubersprachenwelt – ichhichlefich gehelefe jetzhetzlefetz. Sinn und Verstand verjagen uns später aus diesem Reich, doch glücklicherweise gelingt ihnen dies nie ganz. Die Klangdimension der Sprache lebt fort, im Witz, im Schmerzlaut, in der Liebesbekundung – und: im Gedicht.
Viele Bernsteinsche Verse sind ähnlich befallen von „einer Buchstaben- und Silbenseuche“, wie er sein Tun einmal ironisch umschrieb. Die Buchstaben schreien, hier und da auch nach Hilfe. Sie tun es regel-, und klanggeleitet, sie spielen mit intertextueller Montage, halten sich manchmal gewitzt selbst zum Narren; und sie schlagen dabei die unterschiedlichsten Töne an. Denn es steht auch bei Bernstein nichts Geringeres auf dem Spiel als das Vorhaben, Sprache und Welt dem Konsumismus und dem Konformismus abzugewinnen, „die im Begriff sind, uns zu überwältigen“ wie es bei Walter Benjamin hieß. Gegen die Gewalt der Gewohnheit und die drohende Konfiszierung der Sprache nicht nur durch Medien und Politik suchen wir Bilder und Stimmen, die uns helfen, unsere Selbstgespräche zu führen.

Das Alphabet sei gefrorener Klang, hat Bernstein einmal gesagt. Ist poetisches Tun dann die berühmte Axt? Charles Bernstein bedient sich, wo er kann. Mit Gertrud Stein etwa teilt er die Idee der Enthierarchisierung von Silben, Worten und Sätzen; mit Ludwig Wittgenstein teilt er die Hoffnung, dass Sprache Grenzen erweitert und sich so ein Tor zum Anderen, zu einer anderen Welt auftut. Durch Überschreitung der syntaktischen und klanglichen Gewohnheiten sucht Bernstein die Grenzen des Sagbaren zu überrennen, und seine Übersetzer folgen ihm hierbei aufs Herrlichste.
Manchmal — lassen Sie mich diese Beobachtung noch weiterführen, meine Damen und Herren – manchmal wenn wir bei einem Gedicht keinerlei semantischen Zugang zum Geäußerten bekommen, bindet uns die Aufrechterhaltung des sprachlichen Gestus umso mehr. Satzzeichen, Zeilenbrüche, Überschriften und Rhythmus versichern uns, dass auch oder gerade eine aus der Norm gesprungene Sprache Grund besitzt. Hier eines der fast verständlichen Gedichte:

Abendsegeln mit Hummerkrabben
Fond außerordentlich gebunden
Die Milchmänner beblinzelnd
Kühl noch die Nacht
Als Entlohnung von Morgen

Auch das Sich-nach-nichts-Sehnen ist schließlich ein Weg, vielleicht, sagt Bernstein, „der einzige Weg, um überhaupt irgendwo hin zu gelangen“. In jedem Nirgendwo steckt schließlich das Irgendwo. „As the talk goes on we are getting nowhere and that is a pleasure“, hieß es bei John Cage.

Charles Bernstein, geboren 1950 in New York, ist Professor, Verleger, Übersetzer und großartiger Inspirator. Vor allem aber ist er Dichter. Zu seinen bedeutenden „Angriffen“ gehörte in den 1960er Jahren, das haben wir gehört, die Gründung der Zeitschrift L=a=n=g=u=a=g=e, die – durchaus programmatisch gemeint – zwischen jedem Buchstaben ein trennendes und zugleich verbindendes Gleichheitszeichen setzte. Die Sprache – language – zeigt ihre Lettern. Alles wird gleich gültig. Wort, Klang, Sinnspur. Die von Bernstein Anfang der 1970er Jahre mitbegründete dichterische Bewegung „Language Poetry“, setzt darauf, um es einmal anders zu formulieren, dass es die Sprache, dieser Hybrid-Generator, ist, die auszieht, ihren eigenen Inhalt zu suchen. Mit jedem Wort und jedem Satz steht Sinn und Wesen der Sprache neu auf dem Spiel, und nicht nur das! Und es ist der Leser (und natürlich der Übersetzer) der, so Bernstein, im Lesen und Wiederlesen eines Gedichtes dessen Sinn und dessen Aufnahme erst stiftet.

II.
Nun ist Bernsteins „language package“ über den Atlantik in Deutschland angelandet und hat hier zwei Übersetzerkollektive mit zwei Buchveröffentlichungen und insg. 28 Übersetzern aufs Feld gelockt, also das Personal zweier nachdichtender Fußballmannschaften, wenn man so will, samt der sechs Einwechselspieler. Und immer wieder kommt es vor, – um im Bild zu bleiben –, dass nicht einer, sondern gleich drei oder vier der Spieler gleichzeitig und gemeinsam im Ballbesitz sind, oder – bei manchen Gedichten – drei Bälle gleichzeitig auf dem einen Feld geschossen werden. Ein Tohuwabohu sollte man meinen. Aber seien Sie versichert: es wird kein bisschen eng auf dem Platz! Denn das Vorhaben widerspricht zwar landläufigen Vorstellungen vom Übersetzen, kommt aber der Tatsache, dass Gedichte Kompositionen sind, also gerade auch Tonereignisse und Bildereignisse, extrem entgegen.

1995 hatten Joachim Sartorius und Christoph Buchwald im Jahrbuch der Lyrik dichterische Selbstauskünfte über das poetische Tun versammelt. Neben Inger Christensens „Glück der Veränderung“, Ooko Makotos „züngelnden Flammen“ und Oskar Pastiors Bekenntnis: „das gedicht gibt es nicht“, fand sich damals ein einziges Gedicht, das nicht ins Deutsche übertragen worden war: A Defence of Poetry von Charles Bernstein. Ein programmatischer Titel, von Shelley geborgt. Das Gedicht fußt auf einem Buchstaben-Wechsel-Dich. Aus classical wird calssical, aus actually wird „acutually“, aus ideological wird „ideopigical“. Durch Vertippen, Verhören und Verstoffwechseln – durch das Ersetzen der Silbe lo durch die Silbe pi zum Beispiel – hatte Bernstein den Worten ihren angestammten Sinn aus- und woandershin getrieben. „Ratio ist nicht gleich Sinn“, lautet der vielleicht verständlichste Halbsatz des Gedichtes, in dem Bernstein Variationen auf das Wort nonsense / Unsinn sprachlaboriert. Wie kann man solche Verschiebungen, Entstellungen, Verrückungen ins hiesige Anderland transportieren, ohne in den Abgrund zwischen den Sprachen zu fallen? Leonce W. Lupette hat nun, 20 Jahre nach Erscheinen des Jahrbuchs, dieses schwierige Gedicht in Angriff genommen. Aus acutually macht er „eigendringlich“ und aus dem durch das Gedicht geisternde Wort „nonesens“ hat Lupette uns „Unesine“ erfunden, und diese Unesine zieht im Laufe der Zeilen ungekannte nahe Verwandte in den Gedichtraum, wie Uknsin, Unnelin, On-sinn, Unsilnn, aber schlussendlich auch das Wörtlein: „Umsinn“. Macht genügend Unsinn einen womöglich zum Umsinnen bereit? Sie sehen, nicht gerade ungefährlich, diese Bernstein-Übersetzerei.

Nehmen wir ein anderes, kurzes Gedicht. Das Original „Two stones with one bird“ lautet „Redemption comes, redemptions goes, but transience is here forever.“ „Zwei Klappen mit einer Fliege“ so der deutsche Titel. „Erlösung kommt und Erlösung geht, das Übersetzen übersteht.“ So steht es da. Doch das Gedicht steht nicht Wort an Wort, wie in der Bibel, wo es heißt: ein Geschlecht kommt und ein Geschlecht geht, doch die Erde bleibet ewiglich. Vielmehr hat Bernstein alle biblische Gewissheit ausgesetzt und die 8 Worte auf 14 Zeilen zersprengt und auf Mittelachse gesetzt. Die Übersetzung ist linksbündig.

Er-
Lösung
Kommt
&
Erlös-
Ung
Geht
Das
Ü-
Ber-
Setzen
Ü-
Ber-
Steht

Beim ersten Versuch, mir diese Zeilen überhaupt anzuverwandeln, muss ich mir die Gewohnheit, beim Lesen mehr oder minder rasch über die Wörter zu streifen, aussetzen. – Lösung / Kommt / Geht / Setzen / Steht? Bernsteins englischer Vers buchstabiert uns, die biblische Aussage verkehrend: Erlösung ist nicht. Wenn überhaupt ist es das Vergängliche, das Flüchtige, das ewig währt. „transience is here forever“. Ein ontologisches Paradoxon. Fürs Deutsche hat sich „transience“ via „translation“ verwandelt: was überdauert, ist „die Übersetzung“. Man sieht, das Versatorium ist ein Purgatorium: Jedes Gedicht kehrt anders daraus zurück, als es hineingegangen ist.
Und: beim Hinübertragen der Erlösungsverse hat Peter Waterhouse mit einer Fliege gleich zwei Klappen geschlagen: Denn in der Übersetzung, so vergänglich sie ist, „übersteht“ das Gedicht die Grenzpassage und erhält Bernsteins Werk Aufenthalt in der Fremde.

III.
Wer wie Bernstein vom „Angriff der schwierigen Gedichte“ redet, meine Damen und Herren, spielt lachenden wie weinenden Auges mit dem Vorurteil, Gedichte seien per se, qua Verdichtung, schwere Kost, spätestens seit sie sich vom Volkslied geschieden haben. Und tatsächlich: viele moderne Gedichte haben etwas Unzugängliches, etwas, was sie uns verschließen, und was gerade in diesem Rätselhaften, Fremden uns angeht und uns „ergreift“. Wir nehmen sie „in Angriff“: Ein Hören, Hinhören, Hinein- und Heraushören beginnt. Wir beginnen, etwas über das Verstehen zu verstehen. Von den eigenen als „Schwierigen Gedichten“ zu sprechen, ist zudem eine paradoxe Intervention – ein „fishing for compliance“, wie Bernstein das nennt. Ein Auftrag zur Mittäterschaft. Und diesen Auftrag zur Mittäterschaft haben die Übersetzer-Dichter angenommen; er ist ein Balanceakt, aber er muss ihnen entgegengekommen sein.
Wenn es stimmt, wie Oskar Pastior sagt, dass Übersetzungen Bälle sind, die einem zufliegen und die man zurückgibt – wer möchte da noch Original und Übersetzung scheiden? Kein Wunder, dass Bernstein ganze Dichter-Mannschaften anstachelt. Ein Graus für alle Verleger. Bei Bernstein ist offensichtlich vieles anders als gewöhnlich. In einem Essay mit dem Titel: „Den Übersetzungsvorhang niederreißen“ sagt er, wer übersetzt, solle ungehindert die eigene „dichterische Präsenz“ behaupten:

Der maßgebliche Wert einer Übersetzung besteht für mich darin, dass das neue geschriebene Gedicht in seiner „eigenen“ neuen Sprache wie ein Gedicht auftritt und nicht wie eine sekundäre Repräsentation von etwas, das hauptsächlich anderswo zu Hause ist. Genauigkeit ist das Schreckgespenst des Übersetzens: denn was genau so gut mit anderen Worten wiedergegeben werden kann, macht nicht den poetischen Gehalt eines Werkes aus.

Wo es die eine korrekte Lesart eines Gedichtes und dementsprechend auch die eine korrekte Übersetzung eines Gedichtes in Bernsteins Auffassung und Praxis nicht gibt, stiftet sein Tun an zu verschiedenen Übertragungen eines und desselben „Originals“, die dann ihrerseits dazu tendieren, Originale zu werden, weshalb das Gedicht „Dodgem“ beispielsweise in den verschiedenen deutschen Übertragungen einmal „Autoscooter“, ein andermal „Selbstfahrer“, aber auch „Botschi“ oder „Putscher“ betitelt ist. Und aus „I am a Jewish Poet“ wird, man darf sich doch sehr wundern, in der Übersetzung „Ich bin ein protestantischer Dichter“.

Auf Immanuel Kant anspielend schreibt Bernstein einmal „Immanuel ca’nt, but Sammy can“, was halb-homophon als „Immanuel gähnt, das Sämmy döst“ übersetzt ist. Das Wissen der Homophonie, meine Damen und Herren, hat heute längst unseren Alltag erobert. Sie kennen vielleicht den Film Das Leben des Brian. Eine Menschengruppe steht darin in der Wüste und lauscht den Worten Jesu aus der Ferne; sie können ihn kaum verstehen. Als Jesus sagt „blessed are the peacemakers“, also: „selig sind die Friedfertigen“, versteht einer der Zuhörer stille-Post-artig „blessed are the cheesemakers“, was in der Synchronfassung dem Klang und den Lippen folgend übersetzt wird als „Gesegnet seien die Skifahrer.“ Peacemakers, cheesemakers. Skifahrer, mitten in der Wüste! Wir sehen: Als die Filmindustrie das Synchronisieren lernte, hat sie den Techniken der Lautpoeten genauestens auf Mund und Ohr geschaut!

IV.
Das Experiment, meine Damen und Herren, einzelne Gedichte vielfach zu bedichten, hat Tradition, ich denke etwa an die legendäre von Peter Urban herausgegebene Rowohlt-Ausgabe von Chlebnikows Ohrfeigen. Doch das vielfach Übersetzen ist in den heutigen eigentumfetischisierenden Zeiten – immer auch – eine Zumutung, nicht zuletzt weil jeder Übersetzer seine Lesart öffentlich teilen muss. Bernstein selber hat in ein Gedicht über Urheberschaft ironisch das Copyright C als Buchstabe ins Alphabet hineingeschmuggelt. Ihm ist Teilen Teil seines Experimentes. Der Übersetzer nimmt ein „Originalgedicht“, das womöglich von sich aus die Frage nach der Originalität allen Redens in den Raum stellt, und behauptet im Grenztransport die eigene dichterische Originalität. Welchen inneren Gesetzen und Grenzen verpflichtet er sich dabei? Wo Charles Bernstein drauf steht, muss schließlich Charles Bernstein drin sein, oder nicht? „Wir sind alle ein wenig Bernstein geworden“, sagte Michael Traxler kürzlich bei einer Buchvorstellung, und natürlich ist Bernstein auch ein wenig Traxler, Waterhouse, Paninski, oder Amslinger geworden, um nur einige zu nennen. Charles Bernstein beharrt darauf, das ist sein Angriff, dass jedes Handeln, und auch das poetische Handeln ist ja ein Handeln, im Mit- und Füreinander stattfindet. Nur im Aufbruch aller Buchstaben, die tatsächlich füreinander anwesend sind und ihre Existenz zu Gehör bringen können, realisiert sich für den Autor vielleicht, was die Griechen einst „demos“ nannten.

Bevor ich schließe, noch ein paar Worte zu dem Langgedicht auf den elften September 2001 „Report from Liberty Street“. Das lyrische Ich läuft darin durch die Straßen im südlichen Manhattan, beschreibt in langen Wendungen die Schreckensbilder der Zerstörung und wiederholt, was die Täter anbetrifft, wiederkehrend die eine Zeile: „they thought, they were going to heaven“ – „sie dachten, dass sie in den Himmel kommen“. Bernstein bohrt den Satz so oft in Schock und Trauer hinein, bis nichts mehr von der Paradieshoffnung übrig ist. Man spürt: Fundamentalismus ist eine Höllenfahrt. In das Gedicht hineingestreut hat Bernstein Worte und Zeilen aus Shelleys Sonett „Ozymandias“. Doch wer kennt und erkennt hierzulande schon dieses Klagelied auf das spurlos untergegangene Reich Ramses II. mit der Schlußzeile „The lown and level sands stretch far away“ – „Einsam und eben dehnt sich Sand in Fernen weit “. Ob das US-Imperium, das den Bedrohten dieser Erde und auch Bernsteins Großeltern einmal Zufluchtsort, also Himmel auf Erden gewesen ist — ob dieses Reich dazu verdammt ist, so spurlos zu verschwinden wie ehedem das Reich Ramses II? Man muß in diesem Bernsteinschen „Report“ nicht Shelleys Verse wiedererkennen, um sich zu fragen: Was ist geschehen, dass in diesem Tor zum Himmel ein Tor zur Hölle sich auftat. Am Ende des Gedichtes heißt es lapidar:

Die Frage ist nicht: Kann Kunst darauf antworten, sondern: Wozu sonst ist sie da?

Sie sehen: Bernstein hat die Sprache und das Heute in Angriff genommen. Seine „schwierigen Gedichte“ verschmähen Lager und „Lösungen“, sie gehen unmarkierte Wege und begünstigen Un- und „Umsinn“. Ich beglückwünsche uns und die Jury auch deshalb zu ihrer Entscheidung und gratuliere Charles Bernstein und allen Übersetzerinnen und Übersetzern ganz herzlich zu dem Preis.

Das sind für das Buch Angriff der schwierigen Gedichte: Tobias Amslinger, Norbert Lange, Leonce W. Lupette und Michael Traxler. Für das Versatorium sind es Judith Aistleitner, Katharine Apostle, Gabriela Attems, Aida Besirevic, Regis Bonvicino, Julia Dengg, Helmut Ege, Monique Ehmann, Nino Idoidze, Katharina Lehner, Natalie Neumaier, Astrid Nischkauer, Miriam Paninski, Marlies Peter, Miriam Rainer, Julia Rosenkranz, Anja Sander, Katharina Schindl, Nina-Victoria Truskawetz, Peter Waterhouse, Jennifer Weiss, Katharina Widholm, Franz Vala und Anna Zalesko,
Herzlichen Glückwunsch!

Marie Luise Knott

 

WESSEN ZUNGE?

Wer steht lichterloh? Während
die Bläue einkracht, der Staub sich senkt:
die Tür schließt sich vor weder besonderen
noch verräterischen Träumen Los, schnappt
Euch die Straßen, die Plätze die in angenehmer Lage
sprießen. Zuschnappen Türen, Freiheitsglocken

bimmeln ein letztes Mal vor Staub, Nuancen
bieten sich für Schlaglichter an, dazwischen
Nacktbilder sich zu schwarzen Balken legen.
Was echt ist, ist echt: das kleine,
„Baby, Baby!“ schreiende Mädchen,
das vergisst in den Spiegel zu sehen, wo…

Macht nichts, wen es trifft, es sei denn
die Verabredung wird nicht eingehalten.
Eine Parade von vielen Zerstreuten,
wie Fundstücke Umherirrenden.
Schließlich findet auch ihr
mein zu Glas gewordenes Gesicht.

nach Charles Bernstein

Norbert Lange

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram + Pennsound +
IMDbPIA
Porträtgalerie: Dirk Skiba Autorenporträts + Galerie Foto Gezett
shi 詩 yan 言 kou 口

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00