ICH, MAXIMUS AUS GLOUCESTER, AN EUCH
aaaaaaaaaaDraußen auf See, von Inseln verborgen in
aaaaaBlut
aaaaaaaaaaEdelsteinen & Wundern, sage ich euch,
aaaaaMaximus,
aaaaaaaaaaein Skalpell heiß von siedendem Wasser,
aaaaaaaaaawas eine Lanze, wer den Figuren
aaaaaaaaaafolgt beim heutigen Tanze
1
was ihr sucht,
liegt wohl rings um die Rundung
des Nests (erschlagen Sekunde, Zeit, der Vogel! der Vogel!
Und da! (starker) Stoß, der Mast! Flug
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa(des Vogels
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaao kylix, o
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaAntonius von Padua,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaschweb herab, o segne
die Dächer, die alten, sanft steilen
auf deren Firsten die Möwen sitzen, von wo sie abheben
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaUnd die Trockengestelle
meiner Stadt!
2
Liebe ist Form und kann nicht sein ohne
wesentliche Substanz (das Gewicht
etwa 58 Karat jeder von uns, notgedrungen
nach der Waage unseres Goldschmieds
aaaaaaaaaaFeder zu Feder gefügt
aaaaaaaaaa(und was Mineral ist, was
aaaaaaaaaaLockenhaar, die Schnur
aaaaaaaaaain deinem nervösen Schnabel, dies
aaaaaaaaaaergibt Masse, dies, am Ende,
aaaaaaaaaaist die Summe
aaaaaaaaaa(o meine liebe Frau der Guten Fahrt
aaaaaaaaaain deren Arm, in deren linkem Arm kein Knabe
ruht, ein sorgsam geschnitztes Holz nur, ein bemaltes Gesicht, ein Schoner!
ein graziler Mast! ein Bugspriet für
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaden Transport
3
die Unterseite ist, trotz Steven, ungewiß
ist, wie Sex, wie Geld, ein Faktum!
Fakten, mit denen man umgehen muß, wie mit dem Meer, die Aufforderung
daß man sie spielt, daß man sie nur spielen kann, daß man sie
spielen muß, sagte er, kühl, nach dem
Gehör!
Nach dem Gehör, sagte er.
Aber was zählt, was beharrlich ist, was dauern wird,
das! o mein Volk, wo sollst du es finden, wie, wo, wo sollst du lauschen
wenn alles zu Reklametafeln wurde, wenn alles, sogar die Stille,
mit Spritzpistolen angegriffen wird?
wenn sogar unser Vogel, meine Dächer
nicht zu hören sind
wenn ihr sogar, wenn der Klang neonumzingelt ist?
wenn auf dem Hügel, überm Wasser
wo sie immer gesungen hat,
wenn das Wasser glomm,
schwarz, golden, die Flut
draußen, am Abend.
wenn Glocken wie Schiffe kamen
über Ölpfützen, Wolfsmilch-
kapseln
Und ein Mann schlidderte
aus Unachtsamkeit
über rosa Kies
o Meerstadt)
4
man liebt nur Form,
und nur wenn geboren
wird ein Ding
ins Dasein gesetzt
aaaaaaaaaageboren aus dir, geboren
aaaaaaaaaaaus Heu und Baumwoll-Lint,
aaaaaaaaaaaus Straßengepick, Werften, Gräsern
aaaaaaaaaadie du heimträgst, mein Vogel
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaus Fischgräten
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaus Stroh oder Streben
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaeiner Farbe, aus einer Glocke
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaus dir selbst, zerfetzt
5
nicht einfach ist Liebe,
aber wie sollst du es wissen,
New England, jetzt
wo der Abschaum regiert, jetzt
wo Straßenbahnen, o Oregon, zwitschernd
am Nachmittag, eine schwarz-goldene
Lende beleidigen?
aaaaaaaaaawie sollst du, o Fechter,
aaaaaaaaaaden blauroten Rumpf treffen,
aaaaaaaaaawenn dein Ziel letzte Nacht
aaaaaaaaaaMüllodien Müllodien Müllodien war
aaaaaaaaaaund nicht das Cribbagespiel?
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa(o Mann aus Gloucester, webe
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadeine Vögel und Finger
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaufs neue, deine Dachfirste,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaasauberen Mist auf den Gestellen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaasonnenbeschienen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaflechte
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaAmerikaner
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaamit deinesgleichen solch
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaentwirrbare Oberfläche
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaawie Faun und Orales
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaSatyr Lesbos Vase
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaao töte töte töte töte töte
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaall jene
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie dich mit Reklame
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaavertreiben)
6
hinein! hinein! den Bugspriet, Vogel, den Schnabel
hinein! die Rundung ist, drinnen, geht hinein, die Form
die du erschaffst, was hält, was das Gesetz des Gegenstands
ist, Strebe nach Strebe, was du bist, was du sein mußt, was Gewalt
aufwerfen kann, kann, jetzt sofort im folgenden, errichten
den Mast, den Mast, den zarten
Mast!
aaaaaaaaaaDas Nest, sag ich dir, ich, Maximus, sag es
aaaaaaaaaaunter der Hand, wie ich es sehe, über die Wasser
aaaaaaaaaaan diesem Ort wo ich bin, wo ich höre,
aaaaaaaaaanoch hören kann
aaaaaaaaaavon wo ich dir eine Feder mitbringe,
aaaaaaaaaaals hätte, spitz, ich am Nachmittag
aaaaaaaaaaaufgeklaubt, dir übergeben
aaaaaaaaaaeinen Edelstein,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaasie blitzt stärker als Schwinge,
aaaaaaaaaaals die alten romantischen Dinge,
aaaaaaaaaaals Gedächtnis, als Stätte,
aaaaaaaaaaals alles außer dem was du trägst,
aaaaaaaaaaals das was ist,
aaaaaaaaaawenn es Nest, um die Ecke der, nenn es
aaaaaaaaaanächsten Sekunde,
aaaaaaaaaaals das was du
aaaaaaaaaakannst tun!
BRIEF AN ELAINE FEINSTEIN (AUSZUG)
Die Grundidee für mich jedenfalls ist die, daß Form nie mehr ist als eine Ausdehnung von Inhalt – eine nicht-literarische Vorstellung, gewiß. Ich glaube an die „Wahrheit“! Meine Vorstellung ist, daß „Schönheit“ am besten im Ding selber bleibt: „das Ding – Ja! – macht ring“ (die Attacke, wie ich vermute, gegen den „vollständigen Gedanken“, oder, die Idee, ja? Daher die Syntax-Frage: was ist der Satz?)
Der einzige Vorzug des Sprechrhythmus ist, daß er illiterat ist: das Nicht-Literarische, ganz im Sinne Dantes, der von der Volkssprache spricht, die der Grammatik überlegen sei – daß gesprochene Sprache als Kommunikator vor dem Individuum da ist, und daß man sie mitkriegt sobald als und mit der Muttermilch… er sagte Ammenbrust. Mit andern Worten, Sprechrhythmus nur wie ihn jeder von uns hat, wenn wir ausgehen von dem Kraftstrom wie er uns eingeblasen wurde und wie wir ihn selber blasen, welch letzteres wir bis zur Stunde so sehr zurechtgemacht haben – wenn wir uns aus dieser „allgemeinen“, nicht grammatischen, Quelle nähren. Die Frage nach der „Quelle“ ist heute verflucht interessant – Shelley hat das gesehen, wie Dante, daß sie, wenn sie aus dieser Ecke auftaucht, primär, von der Mutter, daß es dann eine doppelte Linie des chromosomischen Gebens gibt: (A) die angeborene Rede (Gedanke, Macht), nämlich die „Gattung“; und (B) die etymologische: hier ist der Punkt, wo ich „Fremd“-Sprachen so toll finde, besonders die indo-europäische Linie, mit dem Vorteil jetzt, daß wir hethitisch zur Unterstützung haben. Bei der Frage des Sprechrhythmus kann ich nicht genug betonen, was an Durchgängigkeit dabei herausspringt, bei einer nicht-literarischen, nicht-geschäftsmäßigen, und nicht-historischen steten täglichen Erfahrung, praktisch jedes Wort, das man sich benutzen sieht, auf seiner Stoßrichtung zurückzuverfolgen zum Angelsächsischen, Lateinischen, Griechischen und hinaus zum Sanskrit, oder heute, wenn einer das machen würde, zu einem „Wurzel“-Wörterbuch, das mindestens hethitisch enthalten müßte.
Ich gebe gleich die Verbindung von dem Gesagten zur Form, falls erfaßbar, im Gedicht, das heißt, den üblichen „Poetik“-Kram, doch entschuldigen Sie, wenn ich kurz auf der ungeheuren Hilfe herumhacke, die die Archäologie leistet, und manche spezifische linguistische Forschung – meiner Erfahrung nach hauptsächlich solcher völlig anderen „Grammatiken“ wie die nordamerikanischen Indianer sie haben, in der augenblicklichen syntaktischen Sackgasse: wie Hopi. Doch auch trobriandische Raum-Zeit-Prämissen. Und ein paar nordkalifornische Dialekte, wie Yani. Doch es ist die Archäologie hinter unserer eigenen Geschichte im engeren Sinne, hethitisch, aus dem obigen Grund, und jetzt, wo kanaanitisch bekannt ist (ugaritisch) und sumerisch, und die direkte Verbindung der Kelten zu den Ariern und von da zu den achäisch-trojanischen Ahnen – was die Sache Rede/Sprache wie wir sie, jetzt, in unseren Händen haben, verlangsamt und offen gemacht hat, so daß sie mehr Form hergibt, im Unterschied dazu, wie Form von Sappho und Homer festgelegt war und sich seitdem nicht viel geändert hat.
Ich spreche von einer neuen „Doppelachse“ aus: von der Ablösung des Klassisch-Darstellenden durch das Primitiv-Abstrakte ((wenn das alles verflucht deutsch klingt, machen Sie’s Wetter verantwortlich, es kommt vom Osten heute, und ist naß)). Primitiv meine ich natürlich nicht in dem idiotischen Sinn von „ursprünglich“, im Sinn von wie man etwas findet, es aufliest wie etwas Neues – frisch / zuerst. So geht man quer durch die Geschichte vor und zurück, und es ist alles eben, wie die Gegenwart, doch so gesehen, konstatiert man… eine andere Raum-Zeit. Inhalt, mit anderen Worten, ist auch verschoben – wenigstens weg vom Humanismus, wie wir ihn hatten, seit die Indo-Europäer ihre Füße reingesteckt haben (um 1500 v. Chr.) Nebenbei: Ich bin für sie auf der Ebene der Muse, und gegen sie auf der Inhalts- oder „Psyche“-Seite. (…)
(1959)
Übersetzung Klaus Reichert
Charles Olson liest „Maximus to Gloucester, Letter 27 [withheld]“ (März 1966)
Mit Charles Olsons Umzug 1957 vom Black Mountain College nach Gloucester/Massachusetts endet eine Phase, die ihn zum Vordenker einer ganzen Generation machte. Der Wechsel von der Kunsthochschule in North Carolina, an deren Bedeutung er wesentlichen Anteil hatte, zum kleinen Fischerstädtchen am nordöstlichen Rand der Vereinigten Staaten könnte als Rückzug verstanden werden, wäre da nicht jener Anspruch, „es für sich selbst herauszufinden“, der diesen Schritt folgerichtig wirken läßt. Denn das 1623 von englischen Siedlern gegründete Gloucester, das nun zum Lebensmittelpunkt Olsons wird, ist bereits seit Jahren Epizentrum und Thema seines Großprojekts Maximus.
Seine Zeit empfand Olson als Schwelle, als liminalen Zustand, zu dessen Archäologe er sich berufen fühlte. „Er sprach darüber häufig wie über eine Zwischenstation. Und ich habe darin immer den Anspruch gesehen, daß man die Arbeit deutlich vorantreiben kann ohne weitere Einmischung von öffentlicher oder privater Seite“, so Ed Dorn im Interview. Ihm hatte Olson als Lehrer mit einer Bibliographie einen privaten Lehrplan gegeben, der, wie so viele andere seiner Briefe, eine Mischform poetischer Verfahren und essayistischer Volten ist. Nicht selten offenbaren sich darin Textstellen anderer Briefe, als hätte er ein Argument oder eine Idee auf verändertes Testgelände geschickt. Gedichte wie „Ich, Maximus aus Gloucester, an Euch“ oder „Für Sappho, zurück“ scheinen erst entstanden zu sein im Privatgespräch mit wechselnden Adressaten. In der Tat führte Olson lebenslange Dialoge, wie eine zehnbändige Auswahl der Briefkorrespondenz mit Robert Creeley oder der Briefwechsel mit Frances Boldereff beweisen. An Boldereff, deren Bedeutung für die Anfänge des Autors erst in den 90er Jahren publik wurde, sei an dieser Stelle besonders erinnert. Sie war es, die ihn mit dem Werk Sapphos vertraut machte, deren spätantikem Überlieferer, Maximus von Tyros, Olsons Langgedicht seinen Namen schuldet. Sie ist die geheime Adressatin des Olson-Gedichts zu Beginn.
Daß ein Dichter, dessen Vater Postbote war, seine Gedichte als Briefe ausgibt, kann kein Zufall sein. Olson scheint darin die perfekte Form des Ideenhandels gefunden zu haben, ein zugleich offenes wie geschlossenes Medium. Nie nur eines, so Klaus Reichert: weder welterklärender Dichter noch dichtender Philosoph, „sondern immer, untrennbar, beides zugleich“, knüpft Olson mit dem Brief unmittelbar an amerikanisches Erbe an. Wie für die Gründerväter der Staaten, so legt auch für Maximus die Frage nach dem politischen Zusammenleben den Grundstein und findet im Brief die kleinste Weltbühne für das Ausagieren in Poesie, die Alltägliches und Ideologisches mit beeindruckendem Wissen kombiniert zu einem Subjekt, das die Gesellschaft ist, der vielgesichtige Maximus selbst. „Wer ein langes Gedicht schreibt, schafft sich die Perspektive, die Welt freizügiger zu sehen, opponiert gegen vorhandene Festgelegtheit und Kurzatmigkeit“, wie es Walter Höllerer in seinen „Thesen zum langen Gedicht“, wahrscheinlich auch unter dem Eindruck Olsons, den er 1966 an das neu gegründete LCB einlud, formuliert:
Die Republik wird erkennbar, die sich befreit.
Olson, der der Republik ins Facettenauge blickt („polis is / eyes“ – „Sechster Brief“), sieht im Staat einen Körper, beständigen Prozessen ausgesetzt, unterworfen einem vielfältigen Wechselspiel. Trotz ihres privaten Anscheins richten sich seine Episteln also an einen Kreis, den man mit der athenischen Agora identifizieren kann, mit einem von Machtansprüchen freien Interesse an Fragen politischer und ökonomischer Moral fern des Zentrums. Maximus schreibt Historie, „die Geschichte des Stammes“.
Mit diesem Anspruch war Ezra Pound früh auf den alten Kontinent gekommen, auf dem er das weltkulturelle Zentrum verortet sah. In Patria Mia hatte er die Meinung vertreten, eine Nation könne erst historisch als solche betrachtet werden, „wenn sie in sich eine Stadt hervorgebracht hat, zu der alle Wege hinführen und von der prägende Kraft ausgeht“. Eine solche Generalisierung mußte auf einen Demokraten wie Olson, den ersten Besucher Pounds in dessen Haft im St. Elizabeths Hospital, als schiere Provokation wirken. In einem Beitrag 1954 zu Ernst Robert Curtius, auf den ihn Rainer Maria Gerhardt (Olsons wie Pounds erster deutscher Übersetzer) aufmerksam gemacht hatte, kritisiert er solchen „Unsinn eines Geschichtsbildes“, das den Menschen auf wenige herausragende Exemplare herunterkürze und einen Dominanzanspruch erhebe, „apostolisch und allgegenwärtig“, durch den Bildung und Staat zu einer Angelegenheit weniger würde, die über viele herrschten.
Olson begegnet dem mit der Formel von der Gegenwart als Prolog, die als frühes Zeugnis einer Post-Moderne verstanden werden darf. Entscheidend für dieses veränderte Bewußtsein ist eine Größe, deren Entdeckung die Frucht von Olsons wegweisender Melville-Studie ist, „Nennt mich Ismael“:
Ich sage, der RAUM ist die zentrale Tatsache für den in Amerika geborenen Menschen… Ich schreibe ihn groß, denn groß kommt er daher.
Im Raum löst sich die Statik des Begriffs auf, wird Geschichte zu Bewegung, lateral und prozessual wie das Denken. Nicht Analogie, sondern Gleichrangigkeit gibt dabei die Richtung vor. Mit Olson läßt sich der amerikanische Kontinent verstehen als geographische Zeitmaschine, ein von Küste zu Küste zu lesendes Koordinatensystem, mit dem Pazifik als einem „anderen, in den Ebenen antithetisch vorgebildeten Westen“. Historische Zeitpunkte werden so maßgeblich bestimmt vom Betrachterstandort, auch das kleine Städtchen Gloucester kann daher prägendes Zentrum werden, auf das alle Wege hinführen, wie Pound in Patria Mia meinte.
Die Grundlage dafür beschreibt Olson im „Siebenundzwanzigsten Brief“, der seine langjährige Beschäftigung mit der Philosophie Alfred North Whiteheads widerspiegelt. In Sätzen, die er direkt, jedoch zusammengekürzt, aus Whiteheads Prozeß und Realität zitiert, beschreibt Olson den Versuch, die lokale und historische Verfaßtheit umzukehren, um statt eines Machtinteressen ausgesetzen Objekts zu einem erkennenden Subjekt von Geschichte zu werden:
… die polis
zu ändern
besteht
in eben diesem Akt
Das setzt den Zugriff auf das Archiv des Ortes voraus, es komme auf die Einnahme eines Standpunkts an, so Ed Dorn mit Blick auf Maximus. Und Olson zeichnet den Weg vor in der Dorn gewidmeten „Bibliographie“. Die „Geschichte des Stammes“ wäre einer praktischen Wissenschaft vergleichbar, mit der Aufgabe, das Wissen von Raum und Zeit in Korrelation zu setzen, um das Weltbildende zu gewinnen, Olsons Muthologos (vgl. Stefan Ripplingers Aufsatz). Dieser Anspruch erinnert an Erkenntnisse des Anthropologen und Ritualforschers Victor Turner:
Wenn man die Geologie des menschlichen Gehirns betrachtet, sieht man, daß in ihren Schichten zahlreiche Vergangenheiten und Gegenwarten unseres Planeten gegenwärtig sind. Wie Walt Whitmann umfassen wir Massen.
So verstanden, könnte die Geschichte von Merry (im ersten Dogtown-Gedicht) gelesen werden als Schöpfungsmythos mit Parallelen bei Besiedlung und Stadtleben Gloucesters, dessen Bewohner als Gegenwartsbilder mit dem „armen Merry“ ihre symbolische Überhöhung zu Zivilisationsgründern erfahren, die der mythische Bulle in alle vier Himmelsrichtungen zerstreut.
Norbert Lange / Gerd Schäfer / Norbert Wehr, Juli 2011, Vorwort
Für seine Bemühungen um eine Erneuerung der Dichtung konnte sich Olson auf umfangreiche und weitgefächerte Kenntnisse außerabendländischer Kulturkreise stützen. Mag er die nordamerikanischen Indianer zunächst mit den Augen von Lawrence gesehen haben, so fand er dessen intuitive Deutungen z.T. durch die Untersuchungen B.L. Whorfs bestätigt, die er bekanntlich zusammen mit Fenollosas Chinese Written Character as a Medium for Poetry als einen Weg „from the Old Discourse to the New“ empfahl. Ab 1951 widmete sich Olson, der zuvor Literatur, Archäologie und Linguistik studiert hatte, in Yukatan der Erforschung der Maya-Sprachen. Vor allem in seinen letzten Lebensjahren kam dazu ein immer weiter ausholendes Studium der frühen Menschheitsgeschichte und der ersten Kulturvölker wie der Sumerer und der Hethiter.
In der abendländischen Kultur fand Olson dagegen nur wenige Anknüpfungspunkte. Melville, dem er seine erste bedeutende Schrift Call Me Ishmael (1947; Nennt mich Ismael) widmete, und Keats mit seinem Begriff der „Negative Capability“ sind neben Rimbaud, dem Entdecker John Smith oder dem späten Shakespeare die in diesem Zusammenhang am häufigsten beschworenen Namen. Die eigentliche Kultur des Westens beginnt für Olson erst mit der modernen Kunst, Philosophie und Wissenschaft. Die serielle Musik, die sich, wie er schreibt, aus den Formzwängen von Melodik, Harmonie und Kontrapunkt befreit hat, kannte der Dichter vor allem aus dem Schaffen Pierre Boulez’, dem er seine Dichtung In Cold Hell („Im kalten Inferno“) gewidmet hat. John Cage und Merce Cunningham, mit deren Ideen Olson durch die gemeinsame Tätigkeit im Black Mountain College vertraut war, scheinen ihn dagegen vor allem in seinen Ansichten über Tanz und Theater beeinflußt zu haben.
Was die moderne Philosophie betrifft, so hat sich Olson immer wieder auf A.N. Whitehead berufen, dessen Wirklichkeitsverständnis er wie dasjenige D.H. Lawrences als „prospective“ bezeichnete. 1957 widmete er Process and Reality eine Reihe von Vorlesungen vor dem Poetry Center in San Francisco. Dabei waren Olson die Erkenntnisse der modernen Geometrie, Mathematik und Physik, d.ie Whitehead zu einem neuen Weltbild zusammengefaßt hatte, auch aus erster Hand bekannt. Nach eigenen Aussagen sollen H.M.S. Coxeters Schriften über die nichteuklidische oder „projektive“ Geometrie, aus denen Olson seine Kenntnisse über die von ihm wiederholt beschworenen Geometer Riemann, Bolyai und Lobatschewski bezog, bei der Abfassung und Titelgebung seines Essays über den Projektiven Vers Pate gestanden haben. Was er darunter verstehe, meinte Olson 1968 während einer Diskussion, dürfe man nicht als freien oder nichtmetrischen Vers mißdeuten.
Ich mein’ einfach offen. Eine Art geometrischer Zustand.
Obwohl Olson immer wieder Einstein und dessen auf der nichteuklidischen Geometrie aufbauende Kenntnisse des Raum-Zeit-Kontinuums und der Gleichheit von schwerer und träger Masse erwähnt, konnte er der weltanschaulichen Einstellung des Physikers nur wenig abgewinnen. Denn seiner Meinung nach blieb Einstein wie die Denker des 19. Jahrhunderts einer veralteten Realismusvorstellung verhaftet, welche die Welt aus der statischen Subjekt-Objekt-Beziehung heraus zu begreifen sucht. Um so häufiger hat er sich dafür auf Heisenberg berufen, dessen immer wieder zitierte Unbestimmbarkeitsrelationen das europäische Denken nach Ansicht Olsons auf das vorsokratische Wirklichkeitsverständnis Heraklits zurückverweisen.
Erinnert solch polyhistorischer Eklektizismus an Coleridge, so scheint Olsons Entwicklungsgang dem seines romantischen Vorläufers genau entgegengesetzt verlaufen zu sein. So trat Olson erst nach Ausübung der verschiedensten Berufe (z.B. als Briefträger, als Angestellter des Foreign Language Information Service und des Office of War Information und als Literaturprofessor in Clark, Harvard und verschiedenen anderen amerikanischen Universitäten) als Dichter hervor, und auch in der Zeit seines intensivsten dichtungstheoretischen Wirkens seit der Veröffentlichung von Call Me Ishmael bekleidete er die verschiedensten Lehrpositionen: als Instruktor und später Rektor des berühmten Black Mountain College und nach dessen Schließung im Jahre 1956 als Professor an der Universität in Buffalo.
War Coleridge auf kreativem Wege zu jenen Einsichten gelangt, die er nach dem frühzeitigen Versiegen seiner dichterischen Schaffenskraft in mühseligen Studien theoretisch zu klären versuchte, so scheint bei Olson das theoretische Bemühen, gleichsam als ob ihm das Dichten erst nach Erarbeitung eines neuen Weltbilds möglich wurde, der schöpferischen Tätigkeit wenn nicht voraus, so doch parallel gelaufen zu sein. „Bis heute“, schreibt Olson noch im Mai 1957, „bin ich weit entfernt vom Leben in einer Welt jenseits der logisch-diskursiven Sprache.“
Erst als dieser Durchbruch gelungen war, schien sich sein Dichtertum voll entfalten zu können. Zumindest entstand ein Großteil seines im Maximus-Zyklus zusammengefaßten Hauptwerks erst in den letzten Lebensjahren, als sein aktives Wirken als Literaturtheoretiker bereits im Versiegen war. (…)
Egbert Faas, aus: „Charles Olson und die Ästhetik der ,primitiven Abstraktion‘“, in: Egbert Faas: Offene Formen in der modernen Kunst in Literatur (1975)
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaafür Charles Olson
aaaaaaaaaaaaaaaaaaadas wäre wenn du die
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaZwiebel
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahäutest
aaaaaaaaaaaaaaaaeine und eine und eine
aaaaaaaaaaaaaaaaaaMöglichkeit
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaajedenfalls
aaaaaaaaaaaaaaaaaaadas
aaaaaaaaaaaVergnügen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund das
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaWeinen
aaaaaaaaaaaaadaß
aaaaalle verstreuten Häute noch keine
aaaaaaaaaaaaaaaaaZwiebel
ergeben du mußt
aaaaaaawieder von vorn
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaanfangen
aaund nennst es und nennst es und
aaaaaaaaanennst es bist in Tätigkeit
Walter Höllerer
Charles Olson liest „The Librarian“ (März 1966)
Polis is This: Charles Olson and the Persistence of Place, Teil 1/6.
Polis is This: Charles Olson and the Persistence of Place, Teil 2/6.
Polis is This: Charles Olson and the Persistence of Place, Teil 3/6.
Polis is This: Charles Olson and the Persistence of Place, Teil 4/6.
Polis is This: Charles Olson and the Persistence of Place, Teil 5/6.
Polis is This: Charles Olson and the Persistence of Place, Teil 6/6.
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