TELEFONZELLE
1
Die Zahlen
in meinem Gedächtnis,
der verborgene Schlüssel
für die Türen
in der Ferne zu dir.
Ich stehe im Glashaus
von draußen wirft Lärm
wie mit Steinen nach mir.
Manchmal schrei ich
die Kehle mir wund,
spreche ins Leere.
Vor mir die Glaswand,
die kein Geheimnis verschließt –
wir müssen uns beiden
eine Sprache erfinden,
die niemand dort draußen versteht.
Wenn der erste
gegen die Scheiben klopft,
hätte ich noch
so vieles zu sagen.
Ich stelle mich
blind und taub,
drehe mich
aus fremden Blicken.
2
Ein kleines schwarzes Rad
bringt mich zu dir –
zwischen den Speichen
leuchten Zahlen,
es rollt mich
aus dem Alltag
in die Landschaft deiner Stimme –
Durch das Nadelöhr
eines dünnen Kabels
habe ich dich
unversehrt erreicht –
Solange du sprichst,
ist mir dein fernes Ufer vertraut,
ist deine Stimme mein Haus.
3
Erwartungsstille –
Besetztzeichen: rote Ampel,
daß wir mit Worten
nicht aufeinander zugehen können.
Zweifel kommen –
mit wem sprichst du so lange?
Wieder das schwarze Rad
wie ein Glücksrad drehen –
mit wem sprichst du so lange?
Wenn ich das Freizeichen höre,
schweigt die Nacht
schwarz und antwortlos –
wohin bist du gegangen?
Charlotte Grasnick
XX
Wieder ist Winter
geworden –
unter den Bäumen
vorm Haus
ist das Licht eingezogen
Besucher durchqueren
seltner den Schnee
Die Ruhe wird weltbewegend
für uns –
bewegt unsre Welt
Ulrich Grasnick
1
Nichts ist ganz sagbar. Schon das geringste
Ding ist mehr als sein Name. Immer bleibt
ein Rest. Am spürbarsten dort, wo am schlüs-
sigsten formuliert und benannt wird. Ein Rest,
der alles Lautende schweigend in Frage stellt.
„Der Rest“, wußte Hamlet, „ist Schweigen.“
aaaNichts ist ganz verschweigbar. Schon das
geringste Ding sagt mehr, als sich verschwei-
gen läßt. Immer bleibt ein Rest. Am spür-
barsten dort, wo nahezu alles verschwiegen wird.
Ein Rest, der das Schweigen lauthals in Frage
stellt. „Das Schweigen“, wußte Hamlet, „ist
der Rest.“
aaaSchon das geringste Ding sperrt sich, macht
Schwierigkeiten. Und Liebe ist ein Unding…
aaaDennoch sagen? Dennoch wagen? Dennoch
Dichtung? Dennoch und trotzdem und gerade
deshalb. Aufs Unsagbare hin spitzt sich der
blinde Mund des Dichters, ins Ungesagte
blickt sein stummes Ohr, lauscht das beredte
Auge. Als Ergebnis dieser ungeheuer brot-
losen, also wahrhaft ungeheuren Anstrengung
im nahezu Absurden zeigt sich – wenn es
gelingt – das Gedicht: die Übersetzung des
Simplen ins Einfache, die Rückverwandlung
des Klischees ins Bild, die Entmythologisie-
rung sich glorios verherrlichender Alltäglich-
keit, die Entdeckung des einzelnen unter der
Decke der Allgemeinheit, der Transport des
bislang Unerhörten ins Hörbare.
aaaSoweit zu den Schwierigkeiten und Maß-
gaben des Dichtens unter allenfalls für Dichter
normalen Umständen. Man ließe es, wenn
man noch könnte. Aber niemand kann zu-
rück, dem einmal – aus welchen Motiven und
unter welchen Umständen auch immer – die
Flucht ins Grenzgebiet des Sagbaren gelang.
Wenige von dort herübergeholte Zeilen
genügen – und die Seele macht lebenslang
den Fährmann auf dem dunklen Strom, der
strudelnd zwischen dem Sag- und dem Unsag-
baren dahinschießt. „Die Zeit wird kommen“,
heißt es in einem Gedicht von Charlotte Gras-
nick, „wo wir Geborgenheit / im Dunkleren
erwarten / und Helle / abfällt wie die Blüte /
vom schmalen Stamm / der Pirouette… “
aaaNichts spricht mir mehr für die Dichtung
von Charlotte und Ulrich Grasnick als jene
sich zwischen den Zeilen ihrer dichtesten
Gedichte verzweifelt hörbar machende Be-
stimmtheit.
II
Malerisch, musisch, musikalisch, musikantisch.
Die Grasnicks. Konträr und kongruent. Immer
ziemlich ohnhäutig.
aaaNeben aller Lebenskunst, auf die sich jeder
von ihnen mehr oder minder durchschaubar
versteht, besticht mich am stärksten jenes
(lebens-)künstlerische Moment, das ihnen
offensichtlich ermöglicht, einander immer
noch zu ertragen.
aaaWas Brecht über das Gedicht sagt, daß ein
jedes der Feind jedes anderen sei, gilt – mit
einem Körnchen Wahrheit! – erst recht für
den Dichter, die Dichterin. Toleranz läßt sich
bewahren, solange sie nicht ernsthaft strapa-
ziert wird. Die Grasnicks jedoch, der aufmerk-
same Leser wird es spüren, strapazieren sich
und ihre Duldsamkeit auf eine zumindest
nach außen hin reichlich riskant erscheinende
Weise. Aber genau das verifiziert ihre Part-
nerschaft und macht sie unzähligen anderen
vergleichbar. Unvergleichbar macht sie erst
wieder das, was beide für sich – elementar
getrieben und genötigt – daraus machen:
Gedichte. Die öffentlichsten unter ihnen
reflektieren das Privateste, Intimste, sind Lie-
besgedichte. Entschlüsselbar bis auf den
Grund des Hirns, des Herzens, des Ge-
schlechts. Verräterisch im Detail, üben sie
dennoch keinen Verrat, verraten sie nichts an
der Liebe und ihrer Jeweiligkeit.
aaaDer vorliegende Band ist, wie mir scheint,
ein wirklich mutiges Unterfangen. Veranlaßt
durch den emanzipierten männlichen Teil der
Autoren-Zweiergemeinschaft, welcher be-
kennt: „… Wir bleiben unberechenbar / so-
lange wir lieben.“
aaaUnerbeten wird ihm Antwort, wahrhaft
emanzipiert und weiblich: „Don Juan, / da ich
dich einsam / jetzt deinen Weg gehen sehe, /
rührt mich dein schmal gewordener / Schatten
an – / war ich nicht / ein Teil auch von dir?“
III
Der Dichter Grasnick, die Malerei und die
Maler. Das ist ein Kapitel für sich. Abenteuer-
lich, vagantenhaft und phantastisch. Irgend-
wann wird es aufgeschrieben werden. Es
schreibt sich schon lange: Albert Ebert, Karl
Schmidt-Rottluff und Marc Chagall haben
Ulrich Grasnick ihre Bilder und Grafiken für
seine Gedichtbände überlassen. Chagall hat
ihm den letzten, nun schon vorletzten Band
signiert.
aaaMit Wilhelm Lachnit (1899-1962), dessen
Zeichnungen und Druckgrafiken dem vorlie-
genden Band zu bibliophiler Kostbarkeit ver-
helfen, verband die Grasnicks eine längere,
intensive Freundschaft. Einiges von dem, was
Hans Grundig seinerzeit über Lachnit
notierte, scheint mir ohne Verlust auch auf
das lyrische Werk Ulrich Grasnicks über-
tragbar zu sein: „Hier war die Zwielichtigkeit
der Zeitverhältnisse ohne einen bestimmten
Inhalt wunderbar wiedergegeben. So fein war
sein Instrument gestimmt, daß der Ton der
Straße in einer höheren Oktave zart wider-
klang.“
Jürgen Rennert, Vorwort, Mai 1983
Von alters her und in vielen Sprachen findet die Liebe ihre Worte. Und was Liebende sagen, empfinden sie immer als neu, noch niemals ausgesprochen. Wie könnten sie anders fühlen? Selbst Worte, die schon wie abgegriffene Münzen im Umlauf sind, scheinen ihnen wie im Augenblick geprägt.
Soll dieser Zauber über das Du und Ich hinaus wirken, muß schon ein Stück vom Unwiederholbaren und auch von dem, was nicht nur zwei allein angeht, in die poetische Mitteilung einfließen. So sind Liebesgedichte eine besondere Herausforderung: auf ausgetretenen Pfaden zu unentdecktem Land zu gelangen.
Eine Frau und ein Mann, eine Debütantin und ein bekannter Lyriker, haben ein interessantes literarisches Experiment gewagt. Charlotte und Ulrich Grasnick, ein Paar seit langem, legen gemeinsam einen Band mit Liebesgedichten vor, der aufmerken läßt. Ungewohnt bereits, daß zwei Liebende auf diese Weise in einen öffentlichen Dialog treten, in dem Intimstes, Verborgenes vor anderen und für andere ausgesprochen wird.
Wir lernen zwei Menschen kennen, die miteinander, füreinander leben, ohne ihren eigenen Lebensanspruch hintan zu stellen. Ihre Gemeinsamkeit bedeutet nicht, einander selbst zu genügen, sondern den eigenen Lebenskreis um die Erfahrung des Partners auszuweiten.
Viel ist in diesen Gedichten von Träumen die Rede. Aber dies sind keine realitätsfernen, körperlosen Phantome. Sie tragen Wirklichkeit, und der Morgen, das Wachsein, das Aufbrechen zu den Forderungen des Tages ist ihr „Flugfeld“. So sagt es Ulrich Grasnick in dem schönen Gedicht das dem Band seinen bekenntnishaften Titel gab.
Liebe – das heißt für Charlotte Grasnick auch, sich selbst genauer zu betrachten. Sie sieht ihr Herz als „ein Nest voller Vögel“, die in allen Richtungen ausschwärmen, und fragt danach, was sich außerhalb von ihr befindet.
Liebe und Alltag, Sehnsucht und Erwartung — das vor allem sind Charlotte Grasnicks Themen — Ausdruck eines Lebensgefühls, das ganz von heute ist. Es schließt Selbstwert und Selbstbewußtsein ein und setzt beides in Beziehung zum Partner.
Neubestimmung der Möglichkeiten ihres Gefühls sucht Charlotte Grasnick nicht zuletzt im Rückblick auf liebende Frauen aus Mythos und Geschichte: Daphne, Undine, Salome, Leda mit dem Schwan oder die antike Dichterin Sappho bieten ihr Anlässe, historische Dimensionen von Zweierbeziehungen auszuleuchten und gegenwärtige Ansprüche sichtbar zu machen. Man spürt in diesen Versen, wie die Autorin aus der Sicherheit, die das Fundament unserer sozialistischen Gesellschaft der Liebe bietet die Verantwortung des einzelnen für Dauer und Erfüllung menschlicher Bindungen folgert.
Nicht tatenlos hinzunehmen, sondern zu handeln — das ist auch das Grundmotiv der zyklischen Gedichte Ulrich Grasnicks. Das Dasein der Geliebten bedeutet ihm Ermutigung zu schöpferischem Tätigsein. Doch er weiß auch um die Scherben, die von einem Streit zurückbleiben können, vom „Vertrauen / schwer wie die Geburt / im Anfang der Zeiten“. Aus Selbstgesprächen — so erkennt er — werden Gespräche mit der Geliebten und mit den vielen Menschen um einen herum. Für den Dichter ist es eine selbstverständliche Erfahrung, im Flug schon zu spüren, „daß wir zurück zur Erde müssen“. Träume erheben sich aus alltäglichem Leben und kehren dorthin zurück.
In den Gedichten beider Autoren spielt auch das enge Verhältnis zur bildenden Kunst eine große Rolle. Besonders bei Ulrich Grasnick werden verschiedenste Variationen von Farben und Konturen zu Bauelementen der Gefühlsäußerung und des Gedichtes. So sind die Zeichnungen und Grafiken Wilhelm Lachnits (1899 bis 1962) — er war mit den Grasnicks befreundet — mehr als reizvolle optische Zutaten zu Sprachbildern. Auch in seiner Kunst kommt jene Erdenschwere und traumhafte Schwerelosigkeit zum Ausdruck, die für beide Autoren Liebe ausmachen.
Klaus-Dieter Schönewerk, Neues Deutschland, 13.8.1985
Marko Ferst: Inspiriert von Chagall
neues deutschland, 4.6.2018
Ulrich Grasnick und Steffen Marciniak lesen am 29.10.2020 beim 2. Wilmersdorfer Lesesalon im KunstRaum der Künstlerkolonie Berlin.
Hermosa poeia. sè que han sido traducidas al español por un poeta chileno.quiero saber si como encontrar “ME GUSTARIA VER UN POCO DE CIELO”
Gracias.