ZKUNFTSSORGEN
Korf, den Ahnung leicht erschreckt,
sieht den Himmel schon bedeckt
von Ballonen jeder Größe
und verfertigt ganze Stöße
von Entwürfen zu Statuten
eines Klubs zur resoluten
Wahrung der gedachten Zone
vor der Willkür der Ballone.
Doch er ahnt schon, ach, beim Schreiben
seinen Klub im Rückstand bleiben:
Dämmrig, dünkt ihn, wird die Luft
und die Landschaft Grab und Gruft.
Er begibt sich drum der Feder,
steckt das Licht an (wie dann jeder),
tritt damit bei Palmström ein,
und so sitzen sie zu zwein.
Endlich, nach vier langen Stunden,
ist der Alpdruck überwunden.
Palmström bricht zuerst den Bann:
„Korf“, so spricht er, „sei ein Mann!
Du vergreifst dich im Jahrzehnt:
Noch wird all das erst ersehnt,
was, vom Geist dir vorgegaukelt,
heut dein Haupt schon überschaukelt.“
Korf entrafft sich dem Gesicht.
Niemand fliegt im goldnen Licht!
Er verlöscht die Kerze schweigend.
Doch dann, auf die Sonne zeigend,
spricht er: „Wenn nicht jetzt, so einst –
kommt es, daß du nicht mehr scheinst,
wenigstens nicht uns, den – grausend
sag ichs –: unteren Zehntausend!“…
Wieder sitzt v. Korf danach
stumm in seinem Schreibgemach
und entwirft Statuten eines
Klubs zum Schutz des Sonnenscheines.
Graphische Paraphrasen über das Thema Morgenstern – so könnte man die Radierungen und Zeichnungen Günter Horlbecks nennen. Gedacht wurde dabei freilich nicht an den seriösen Morgenstern, dessen Versuche, sich als „ernsthafter“ Lyriker durchzusetzen, kaum Spuren in unserer Zeit hinterlassen haben. Seine Galgenlieder jedoch, die er selbst als „Beiwerkchen“ und „Nebensachen“ einschätzte, haben nicht nur seine eigenen, dem lyrischen Zeitgeist allzusehr verpflichteten „Aufbruchs“-Verse überlebt, sondern auch die Gedichte mancher seiner Zeitgenossen.
1871 als Sohn eines Landschaftsmalers in München geboren, wurde er als Gymnasiast auf eine Offizierslaufbahn vorbereitet. Dieser Versuch scheiterte freilich ebenso wie der, Nationalökonomie oder Jurisprudenz zur Grundlage eines bürgerlichen Lebens zu machen…
Walter Benjamins Randbemerkung, bei Morgenstern sei „der Blödsinn nur die Kehrseite einer Flucht in die Theosophie“ gewesen, stimmt nachdenklich. Denn obwohl weit mehr als nur Sprach- und Formspielereien, blieben die Galgenlieder, die Gingganz-, Palma-Kunkel- und Palmström-Gedichte letztlich doch im Bannkreis der Einsicht, daß die Welt, wie sie der Dichter vorfand, nicht mehr so zu deuten war, daß die Dinge – wie es Rilke ausgedrückt hatte – ohne weiteres namhaft gemacht werden konnten.
Morgenstern und Rilke sind nicht von ungefähr – nur fünf Jahre trennen die Geburtsdaten beider Dichter – zwei Extreme einer Entwicklung, die für die deutschsprachige Lyrik nicht folgenlos geblieben ist. Aber weder die zahllosen Rilke-Epigonen noch die Morgenstern-Nachahmer haben Spuren hinterlassen, von denen zu reden wert wäre.
Obwohl Morgenstern mit seinen Galgenliedern einen Ton angeschlagen hatte, der fraglos ganz sein eigener war, mußte er sich gegenüber seinen Zeitgenossen gegen den Vorwurf der Parodie verteidigen. So schrieb er an Siegfried Jacobsohn:
Sie (die Galgenlieder) sind ganz abseits von allem literarischen Geist entstanden und haben nie auch nur im Traum eine Verspottung oder dergleichen zeitgenössischer Lyrik sein wollen.
Völlig jenseits von dem, was sich auf dem lyrischen Umfeld seiner Zeit ereignete, stehen diese Gedichte freilich nicht. Morgenstern selbst mag das gefühlt haben, als er sich gegenüber Jacobsohn verteidigte:
Mag sein, daß George, Dehmel und Hofmannsthal auf einzelne Stilwendungen oder Reime gelegentlich abgefärbt haben; dafür lebte ich mit ihnen zu gleicher Zeit, aber hatte ich sie und ihre Mitläufer auf diesen Blättern deshalb – parodiert?
Im Gegensatz zu vielen Versen der von Morgenstern genannten Dichter haben seine Galgenlieder auch für den heutigen Leser ihren „Gebrauchswert“ behalten, ein in der deutschen Lyrik seltener Fall, der seine Spuren auch in den Texten eines Kästner oder Erich Weinert nicht verleugnen kann. Arno Holz’ Dafnis-Parodien (1903/04) mögen in einer gewissen Verwandtschaft zu Morgensterns Galgendichtung gesehen werden können – aber Morgenstern dichtet vergleichsweise „ganz abseits“ einer Tradition, auf die sich Holz mit seinen Barock-Travestien berief, und den großen literarischen Strömungen seiner Zeit.
Dem Naturalismus vor allem als Kritiker und Übersetzer anfänglich verpflichtet, stand er dem Expressionismus, der sich zu der Zeit, als die Galgenlieder entstanden, anschickte, die literarische Szene zu betreten, ebenso fern wie dem nach der Jahrhundertwende einsetzenden Kult um Stephan George (1868–1933). Morgenstern fand einen Ausweg aus der eigenen Misere und der seiner Zeit, indem er die „unmöglichen Tatsachen“ humoristisch sublimierte und die Welt auf den Kopf stellte, um sie schließlich wieder auf die Beine zu stellen.
So, wie es Walter Benjamin möglicherweise gemeint hat, war die Theosophie, in der der zeit seines Lebens schwerkranke Dichter Trost fand, tatsächlich die Kehrseite und der Hintergrund einer Poesie, in der sich die Welt in seinen uns heute noch immer erheiternden und zum Nachdenken anregenden Gedichten durch einen hintersinnigen Humor vergeistigt. Morgensterns Suche nach einem spirituellen Grund seiner Existenz zog Konsequenzen nach sich, die uns in seinen seltsamen Figurationen überkommen sind. Zwischen seinem hintergründigen Humor – der auch vordergründiger Momente nicht entbehrt, die dem Dichter eine Lesergemeinde geschaffen haben, die der Wilhelm Buschs, einem Wahlverwandten Morgensterns, nicht nachsteht – und der Suche nach einem Sinn des Lebens, den er in der Lehre Steiners von der „Seelenwanderung“ fand, erstreckt sich der Raum jener Freiheit, die sich der Dichter nahm. Er sah die Welt, wie er in einer autobiographischen Notiz von 1913 bemerkte, „wie Fischgewimmel hinter der Glaswand eines großen Behälters“, und er ordnete sie in seinem Verständnis durchaus nicht mit dem Anspruch, den er in seinen frühen Jahren selbst an die Lyrik seiner Zeit gestellt hat:
Was wir brauchen, sind große Persönlichkeiten; in ihnen allein spricht Natur ihre tiefste Sprache, gärt Chaos, Urkraft, ewige Menschheitsjugend.
Die Gestalten, die er bleibend geschaffen hat, sind von durchaus anderer Art: zerbrechliche, hintersinnige Wesen, die uns noch heute ihre „Zukunftssorgen“ mitteilen.
Morgenstern starb am Vorabend des ersten Weltkrieges. Seine literarische Hinterlassenschaft gibt uns noch immer Anlaß, darüber nachzudenken, daß „menschliche Gesittung und Verstand“ durchaus nicht im Gewand der hehren Aufklärung und des prophetischen Bierernstes daherkommen müssen.
Heinz Czechowski, Nachwort
DIGITALE ZEIT
nach Christian Morgenstern
Palmström geht gern mit der Zeit,
ist online stets empfangsbereit.
Sein bester Freund von Korf stattdessen
hält nichts von Technikraffinessen.
Er erzählt von Sonnenwinden,
die den Weg zur Erde finden,
dabei Datenflüsse stören.
Palmström will davon nichts hören.
Er ist nicht so schnell geschockt.
Wenn er twittert, mailt und blogt,
fühlt er sich in allen Stunden
mit der ganzen Welt verbunden.
Als er dies bei Korf erwähnt,
lächelt dieser nur und gähnt.
Bei der ihm eigenen Noblesse
braucht er keine Mailadresse.
Der Freund ist individuell,
als Geist schon immer virtuell.
Christoph Kuhn
L&POE Journal 1 (2021) von Konstantin Ames zu Christian Morgenstern
Lyrik ist nicht schwyrik – Christian Morgenstern
Ralf Bülow: So bewies er, wie Sprache uns aufs Glatteis führt
Foucs, 4.4.2014
mau: Elegant und amüsant
Deutschlandfunk Kultur, 31.3.2014
Florian Ehrich: Spielbilder der Welt
Deutschlandfunk, 31.3.2014
Wilhelm Roth: Von Nachtigallen und Tagtigallen
evangelisch.de, 31.3.2014
Kristina Reymann: Poetische Sprachspiele
de.com, 7.4.2014
Matthias Haydn: Tief im Walde sitzt der Tod … und schnitzt an einem Segelboot
oe1.orf.at, 31.3.2014
Martina Scheffler: Christian Morgenstern : Münchens fast vergessener Dichter
Abendzeitung München, 6.5.2021
Janina Fleischer: Auf der Höhe der Zeichen: Christian Morgenstern zum 150.
Leipziger Volkszeitung, 6.5.2021
Klaus Walther: Der heitere Ernst
Freie Presse, 5.5.2021
Manfred Orlick: Galgenpoesie als ein Stück Weltanschauung
literaturkritik.de, 5.5.2021
Jens Bisky: Vom Nichts begleitet
Süddeutsche Zeitung, 7.2.2005
Beatrix Langner: Schreiben im eigenen Schatten
Neue Zürcher Zeitung, 7.2.2005
Hans-Dieter Schütt: Rückwende
Neues Deutschland, 7.2.2005
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