PALMSTRÖM
Palmström steht an einem Teiche
und entfaltet groß ein rotes Taschentuch:
Auf dem Tuch ist eine Eiche
dargestellt sowie ein Mensch mit einem Buch.
Palmström wagt nicht sich hineinzuschneuzen.
Er gehört zu jenen Käuzen,
die oft unvermittelt-nackt
Ehrfurcht vor dem Schönen packt.
Zärtlich faltet er zusammen,
was er eben erst entbreitet.
Und kein Fühlender wird ihn verdammen,
weil er ungeschneuzt entschreitet.
Frühes Kranksein, langwierige Liegekuren verstärkten zwar seine grüblerische Sensibilität, schärften zugleich aber Blick und Sinn, selbst im alltäglichen Gleichmaß steriler Umgebung das phantastisch-groteske Dahinter zu entdecken. Im vieldimensionalen Spielraum seiner poetischen Welt verdichteten sich Zeitgeist und Ungeist, militanter Machtwahn und Kleinbürgerrausch, Lebensangst und Philistertum, oft zwischentönig spottend und immer mit hoher Wortkunst und Musikalität, zu bildkräftiger Symbolik. Morgenstern zielte kaum direkt, er spielte – und traf, Wahrscheinlichkeit des Zufalls voraussetzend: ins Schwarze, Doppelbödige, Untergründige, den Schatten der Dinge.
Jo Schulz, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1971
Christian Morgenstern war vieles: Er war Journalist und Verehrer Friedrich Nietzsches, er war Übersetzer Ibsens und Hamsuns, war Dramaturg, Lektor und Herausgeber der Zeitschrift Das Theater, war Anhänger der Anthroposophie Rudolf Steiners, und er war bereits seit Jugendjahren durch eine Krankheit gefährdet, die ihn 1914 trotz aller Aufenthalte in warmem Klima und Lungenheilstätten das Leben kosten sollte: 42jährig starb Christian Morgenstern in Meran Untermais. Vor allem aber war er ein Dichter, der auf zwei Schultern trug.
Das bezeugen bereits die Titel seiner Gedichtbände, die einerseits Spaßiges und Skurriles versprechen, andererseits hochseriöse Lyrik signalisieren: Dem Horatius Travestitus von 1897, den Galgenliedern von 1905, dem Palmström von 1910, der Palma Kunkel von 1916 und dem Ginganz von 1919 stehen gegenüber die Gedichtbände Auf vielen Wegen von 1897, Ich und die Welt von 1898, Einkehr von 1910, Ich und Du von 1911, Wir fanden einen Pfad von 1914 und Stufen von 1918.
Eine solche Zweigleisigkeit gibt zu denken, und über Morgenstern ist viel nachgedacht worden, auch und nicht zuletzt von Germanisten.
Richard Alewyn hat sie beide in gleicherweise ernst genommen, den grotesken und den gottsuchenden Morgenstern:
Auch die Kalauerpoesie Morgensterns war die Poesie sowohl eines Heiligen wie eines Dichters. Morgenstern war nicht nur Possenreißer, sondern auch ein Gottsucher. […] Und es geschieht, daß zwei Menschen, die sich nie zuvor im Leben begegnet sind, in einer gegebenen Situation wie auf Verabredung gleichzeitig in die Worte ausbrechen: „Weil – so schließt er messerscharf – nicht sein kann, was nicht sein darf.“ Kann ein Dichter sich etwas Höheres wünschen als dies: Als Zitatenborn fortzuleben und Tausenden den Alltag zu erheitern und zu erhellen? Gibt es ein sichereres Kennzeichen für das, was wir einen Klassiker nennen?
Alfred Liede, ein Schweizer Germanist, geht Mitte der 60er Jahre mit Morgenstern hart ins Gericht:
Wie die Aphorismen Lichtenbergs und Balls sind die Galgenlieder die Trümmer eines ungeschriebenen Werks. Jedes Galgenlied, das sein Motiv virtuos überspielt, steht anstelle eines ernsten lyrischen Gedichts, für das Morgenstern die dichterische Kraft fehlte. …
Was ist darauf zu erwidern? Vielleicht dies: Daß jedes komische Galgenlied für ein verfehltes ernstes Gedicht steht, ist so triftig wie die Behauptung, Hölderlin habe eigentlich ständig Limericks schreiben wollen, nur seien immer Hymnen herausgekommen.
Mal im Ernst: Wie haltlos Liedes Anwürfe sind, lehrt jeder Blick in den 320 Seiten starken Band Galgenlieder, erschienen im Jahre 2000 im Haffmans Verlag und zugleich ein historisches Dokument, wie das Impressum mitteilt:
Textfassung nach dem ersten Sammelband mit sämtlichen Galgenliedern, Palmström, Palma Kunkel und Der Gingganz von 1932 bei Bruno Cassirer in Berlin.
Wann habe ich diese Gedichte erstmals gelesen? Ich vermute Anfang der 50er. Wie lese ich sie heute?
Voller Freude, Überraschung und Hochachtung.
Freude darüber, daß der komische Geist der Verse dem Komikkiller Nummer Eins, dem Zahn der Zeit, glorreich getrotzt hat. Überraschung deswegen, weil mir vieles in dem Buch regelrecht neu, ja taufrisch vorkam. Und Hochachtung dafür, wie unbedenklich Morgenstern angefangen hatte und wie stilsicher er seinen Weg weitergegangen ist:
HIMMEL UND ERDE
Der Nachtwindhund weint wie ein Kind,
dieweil sein Fell von Regen rinnt.
Jetzt jagt er wild das Neumondweib,
das hinflieht mit gebognem Leib.
Tief unten geht, ein dunkler Punkt,
querüberfeld ein Forstadjunkt.
So lautet ein typisches „Galgenlied“, in welchem skurriles Personal in drei fast plakativ gereimten Zweizeilern seinem grotesken Tun nachgeht.
Feiner gebaut und sehr viel feiner gesponnen ist der folgende, fünf Jahre ältere Sechszeiler, in welchem uns Morgenstern in zwei Strophen Palmströms Freund von Korf und dessen herzwärmende Erfindung vorstellt.
KORF ERFINDET EINE ART VON WITZEN
Korf erfindet eine Art von Witzen,
die erst viele Stunden später wirken.
Jeder hört sie an mit langer Weile.
Doch als hätt’ ein Zunder still geglommen,
wird man nachts im Bette plötzlich munter,
selig lächelnd wie ein satter Säugling.
Ach, wer da mitlächeln könnte, mag nun manche denken und mancher meinen. Sie kann es! Er vermag es! Beide müssen lediglich Morgenstern lesen!
Robert Gernhardt, Vermutlich Hörfunksendung anläßlich des 130. Geburtstags von Christian Morgenstern am 6.5.2001. Erschienen in Robert Gernhardt: Was das Gedicht alles kann: Alles. Texte zur Poetik, S. Fischer Verlag, 2010
AUCH EIN NEKROLOG
für Christian Morgenstern
O Christian, wir glätten weinend unsre Bügelfalten:
auf Feuerleitern krochen wir mit dir in rhythmische Gerüste.
Mit dem Zement der Ironie ausfülltest du die Spalten
vermorschter Traditionen Mauer. O metaphysisches Gelüste.
O Huhn und Bahnhofshalle! Weit entfernte Latten!
Ihr Wiesel, Kiesel, mitten mang det Bachjeriesel!
Palmström, du ohngeschneuzter, den sie kastrieret hatten!
Genosse Korf, du nie banaler Wennschon — Stiesel!
(Verzeiht den Kitschton. Mich übermannte hier die Rührung:
Verzeih besonders du, Kollege Untermstriche:
schon hab ich in der harten Hand der Verse Führung
wieder; und komme mir auf meine Schliche.) —
Nun quäkt der Turmhahn geil auf Staackmanns Miste
sein Kikriki, und ist bald Ernst, bald Otto.
Verleger reißen sich die Haare aus, als ob das müßte,
und spielen mit der Perioden-Presse trotzdem Lotto.
O Christian: wie später Gotik wandgeklatschter Freske
(im spitzen Reigen härmender sebastianischer Figuren):
du paßtest nicht in unsren Krämerkram, du fleischgewordene Groteske;
nicht schmiegte sich dein edler Vollbart in die Schöße unsrer Huren!
Das Literatenleben, o du mein Christian, ist doch nicht besser
als das ärarische. (Sie dichten zur Musik von Walter Kollo!)
Wir tanzen zwischen Film und Feuilleton auf scharfem Messer…
Freu dich! Sei tot! Grüß mir, im Glanz geölter Locken, den Apollo!
Hans Leybold
L&POE Journal 1 (2021) von Konstantin Ames zu Christian Morgenstern
Lyrik ist nicht schwyrik – Christian Morgenstern
Klaus-Dieter Schönewerk: Poet und Schlitzohr
nd, 31.3.2000
Ralf Bülow: So bewies er, wie Sprache uns aufs Glatteis führt
Foucs, 4.4.2014
mau: Elegant und amüsant
Deutschlandfunk Kultur, 31.3.2014
Florian Ehrich: Spielbilder der Welt
Deutschlandfunk, 31.3.2014
Wilhelm Roth: Von Nachtigallen und Tagtigallen
evangelisch.de, 31.3.2014
Kristina Reymann: Poetische Sprachspiele
de.com, 7.4.2014
Matthias Haydn: Tief im Walde sitzt der Tod … und schnitzt an einem Segelboot
oe1.orf.at, 31.3.2014
Martina Scheffler: Christian Morgenstern : Münchens fast vergessener Dichter
Abendzeitung München, 6.5.2021
Janina Fleischer: Auf der Höhe der Zeichen: Christian Morgenstern zum 150.
Leipziger Volkszeitung, 6.5.2021
Klaus Walther: Der heitere Ernst
Freie Presse, 5.5.2021
Manfred Orlick: Galgenpoesie als ein Stück Weltanschauung
literaturkritik.de, 5.5.2021
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