WÖRTER UNTER AUFSICHT
wieviel seele meine liebe
kilogramm wiegst du wieviele
zentimeter im quadrat hoch drei
bist du groß – null sagt die seele
was sich ermessen lässt verwest
ich bin farblos formlos fließe
ohne ufer hin wenn ich sterbe
schreib meinen namen: au! i
am der schmerz der schreit der
wellengang trockne die klingen
die tränen die muster ich bin
das nichts der scheuerlappen
bin das verwischte was spricht
aus toten worten das wie
man die dinge ernennt
des 1945 in Saint-Brieuc geborenen Christian Prigent vereinen auf eigene und präzise Weise die Ansprüche avantgardistischen Schreibens mit einem profunden Interesse an der Neuinterpretation klassischer Autoren. In den sechziger Jahren trat der Dichter erstmals auf den Avantgarde-Bühnen mit öffentlichen Lesungen in Erscheinung. Durch provokative theoretische Schriften und die von ihm herausgegebene Zeitschrift TxT wurde er rasch zu einem der führenden Köpfe seiner Zeit, sein Essay „écriture au couteau“ erlangte den Status eines Manifest für eine ganze Autoren-Generation. Von Beginn an ging Prigents Poesie auf die Barrikaden gegen das „parler faux“ des Massenjargons und fühlte sich dem Prinzip des „trouver la langue“ im Sinne Rimbauds verpflichtet. Seit inzwischen fünfzig Jahren arbeitet der Dichter an einer poetischen Sprache, die – von allen und zugleich von niemandem gesprochen – sich aus der singulären Erfahrung speist, die ein sprechendes Wesen im Sprechen mit dem Realen, nämlich seinem eigenen Körper macht:
Was ich suche, ist eine lebendige Sprache, die meine Besonderheit artikuliert, gegen alle Kollektivierung der Erfahrungen, des Unbewussten, der Stile.
Der im Jahr 2000 erstmals erschienene Gedichtband L’âme bildet in Prigents Werk einen wichtigen Wende- und Knotenpunkt. Obsessiv, in poetische Formen verdichtet, entwirft Prigent die Autorschaft eines ôteur, also eines Autors, der sich selbst ebenso wie die Stereotype der ihn umgebenden sprachlichen Gegenwart durchlöchert. Eine Sprache, die vorgibt, Welt als konsumierbare Einheit zu entwerfen, ist für Prigent bloß Maskerade. In der Auseinandersetzung mit dem traditionsreichen, historisch stark vorgeprägten Konzept der Seele kettet und verkettet er Diskurse und eröffnet einen poetischen Echoraum, in dem die großen Stimmen vor allem Artauds, Baudelaires und Verlaines rekonstruiert und dekonstruiert werden. Zugleich ist das Buch eine Art seelischer Biographie, wobei die Seele stets eine Artikulation der Sprache selbst zu sein scheint: der Sprache dort, wo sie schweigt, aussteigt, sich nichtet, in die Krise gerät. Der narrative Verlauf des Buchs orientiert sich an dem Tagesablaufs eines Seelendoktors. In kühnen Enjambements, Lautverknotungen, Metaplasmen, Wortverschmelzungen und Metaphern setzt Prigent einen Sinnenschwarm frei, kreisend um eine löchrige Mitte, die vielleicht Seele heißen kann. Diese Gedichte sind Versuche, das Vakuum der Sprache in sich aufzunehmen:
Meine Arbeit bestand darin, das systematische Scheitern von verbaler Selektion zu provozieren, so einen Zugang zur Polysemantik zu finden, zum nicht-semantischen Rhythmus.
roughbook, Ankündigung
Walter Fabian Schmidt: Sprache essen Seele auf
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Jan Kuhlbrodt: Das Innerste
fixpoetry.com, 25.2.2015
– Ein Gespräch mit Christian Prigent. –
Renate Kühn: Friedrich Schlegel hat einmal aufgelistet, wie Bücher „Popularität“ erlangen, – u.a. durch „mäßige Unanständigkeit“. Von mäßiger Unanständigkeit kann man bei Ihnen eigentlich nicht sprechen…
Christian Prigent: Was für eine ,Rezeption‘ kann eine Arbeit erhoffen, die darin besteht, die linguistische Norm zu verwerfen und das, was sich daraus herleitet, intellektuellen Konformismus und formalen Akademismus? Ehrlich gesagt habe ich nie auf ein Publikum zu gearbeitet, sondern in einer Art Tête-á-Tête mit der Bibliothek (der Summe der Sprach-Fakten). Dabei weiß ich nicht, ob ich ein Schriftsteller bin (dieser korporatistische Begriff bezeichnet die antagonistischsten Praktiken). Was ich suche, ist eine lebende Sprache, die etwas über meine Besonderheit aussagt, gegen alle Kollektivierung der Erfahrungen, des Unbewußten, der Stile. Was dagegen ,Popularität‘ erzeugt, ist der Gebrauch einer toten – akademischen und uniformisierenden – Sprache. Die moderne Entwicklung eines ,internationalen Stils‘ (standardisierte Romane und linguistisch-freudianische ,Vulgata‘ für Tagungen) akzentuiert in zynischer Weise die von den großen Medien angestrebte Logik. Kleine stilistische Abweichungen (Manierismen), Skandälchen (schicke Erotik á la Mandiargues), Paradoxa für Fernsehdiskussionen (unsere ,Neuen Philosophen‘), – das ist heute die ,mäßige Unanständigkeit‘, ohne die es kein modernistisches Alibi gibt. Schreiben ist etwas anderes: die absolute Unanständigkeit, das, was unangemessen ist und brutale Ex-Zentrizität zu seinem Gesetz macht: um sich als lebendig zu erweisen, in der Einsamkeit einer Sprache und eines Denkens. Deshalb ist die Marginalität immer die Wahrheit der Schreib-Erfahrung.
Kühn: Einige Popularität – wenn auch nicht unbedingt im wörtlichen Sinn von Beliebtheit – hat Ihnen diese Haltung trotzdem eingetragen: Sie gelten in Frankreich als einer der „originellsten Schriftsteller“ Ihrer Generation. Ich nehme an, daß dieses Etikett Sie aufgrund Ihrer theoretischen Basis nicht gerade in Entzücken versetzt…
Prigent: Damit das Kultur-Spektakel plausibel wird, ist ein Extremismus, ein ,skandalöser‘ Rand vonnöten. Und da ich seit zehn Jahren eine ,Avantgarde‘-Zeitschrift herausgebe und neben meinen ,Fiktionen‘ auch im Bereich von Theorie und Kritik arbeite, bin ich also ein präsentabler Akteur für die Kultur-Show, eine Art ,Original‘.
Kühn: Ich wollte bei dem Stichwort ,Popularität‘ – was ja auch ,Volkstümlichkeit‘ heißen kann – noch auf etwas anderes hinaus: auf Ihre spezifischen poetischen Verfahrensweisen.
Prigent: In der Literatur ist ,Originalität‘ meistens nur eine krampfhafte Zuckung kleiner Auswirkungen von ,Talent‘, nämlich Mode. Meinerseits versuche ich, die ,Sprachen der Epoche‘ zu bearbeiten (die Dummheit der Werbesprüche, Sex als neue Religion, die Bedeutungslosigkeit der politischen Diskurse), um da gewissermaßen die Luft rauszulassen. Da ist kaum ,Originalität‘ drin: einerseits be- oder verarbeite ich Material, das ich nicht erfunden habe (Texte der andern, Zeitungsausschnitte), andererseits benutze ich Verfahrensweisen, die vor allem ,vulgär‘ sind (Kalauer, blöde Wortspiele, schlechte Reime und Rhythmen). Das ,Ich‘ drückt sich darin wenig aus. Es handelt, es ist eher ôteur als Autor, nämlich jemand, der etwas herauszieht, der die Stereotype der Zeit durchlöchert.
Kühn: Sie siedeln sich an in einer Tradition – oder Antitradition –, die durch Rabelais einerseits und das „Volksvermöqen“ im Rühmkorfschen Sinn andererseits abgesteckt werden könnte. Einmal haben Sie sogar behauptet, die Erfahrungen, die Sie mit der Sprache machen, könne jeder machen. Das tut aber offensichtlich kaum jemand…
Prigent: Vor einem Mondrian sagen die Leute: „das könnte ich auch“. Was beweist, daß die Wahrheit der Kunst nicht in den Formen ist, die sie produziert, sondern in der – irrationalen – Entscheidung, die dazu treibt, solche Formen zu produzieren. Auf diese Weise beteiligt man sich an einer Aktion gegen die Unterwerfung der Blicke, Gedanken und Sprechhandlungen unter stumme Definitionen, die die Individuen in Subjekte verwandeln, sie – im wörtlichen Sinn von subiecere – unterwerfen. Ich versuche, den pornographischen und komischen Bodensatz der Sprache nach oben zu holen. Jeder ,kann das tun‘. Auch hier keinerlei ,Originalität‘. Aber es ist der Entschluß, es zu tun, der das Schreiben als Geste der Freiheit begründet: ein Ruf nach Luft in der Undurchdringlichkeit der verbalen Gewohnheiten. Heute, wo der Totalitarismus der Massenmedien verwirklicht ist, kommt es, wahrscheinlich paradoxerweise, wieder der ,literarischen‘ Erfahrung zu, die Herausforderung anzunehmen, die im volkstümlichen Wortspiel (Abzählverse, nursery rimes etc.) enthalten war. Deshalb nehme ich die Tradition der mittelalterlichen Sotie in Anspruch (eine triviale und grausame Inszenierung der religiösen und politischen Macht) und die von Rabelais, die deren geniale Folge ist: die Grundlegung der lebenden Sprache, gegen die tote Sprache der Sorbonne. Was man davon zunächst zurückbehält, sind formale Wirkungen: eine possenhafte Sprache, in der der schlechte Geschmack herrscht und die sich von Wortspielen nährt. Aber das Wortspiel ist, wie Jarry sagte, ,kein Spiel‘; es ist eine Waffe.
Kühn: Diese Form von ,Kriegsmetaphorik‘ gefällt mir natürlich gar nicht, sollte aber auch nicht dazu verführen, von hier aus auf ein instrumentalistisches Sprachverständnis zu schließen. Alles was die Ebene des Ausdrucks, der Darstellung betrifft, hat Sie nie interessiert, und Sie selber haben ja auch kräftig an der ideologiekritischen Auseinandersetzung um diese Kategorien mitgewirkt, die in den 60er und frühen 70er Jahren vor allem im Umkreis der Gruppe TEL QUEL stattfand. Eine ganz andere Frage ist aber die nach dem Sinn, der beim Schreiben produziert wird. Den haben Sie ja offensichtlich trotz aller Deformationen des Laut- und Buchstabenmaterials nie aufgegeben.
Prigent: Die Theorie der 60er Jahre hat eine ganze Menge Plunder weggefegt: die postsartreschen Auseinandersetzungen um das ,Engagement‘, die Kometenschwänze des Surrealismus, den Formalismus des Nouveau Roman. Ich selber kam von der ,Poesie‘ her (daher meine Essays über Francis Ponge und Denis Roche) und mußte zunächst einmal die ,lyrische‘ Position aufgeben (die Herzensergüsse, die politisch-ethische Deklamation, das Schwelgen in Metaphern) wie auch den vagen Jungianismus (das Unbewußte als Reservoir pittoresker Bilder) der sog. ,modernen‘ Poesie. Und gleichzeitig aus einer instrumentellen Sprachkonzeption herauskommen (die Beherrschung der Sinn-Effekte: das etwas-sagen-Wollen und seine stilistische Realisierung). Wahrscheinlich habe ich von all dem hauptsächlich die – Lacansche – Idee zurückbehalten, daß der Akt – und zunächst der Sprachakt – insofern er verfehlt ist, als Signans funktioniert. Daher mein Interesse für den Lapsus, die Druckfehler und Metaplasmen, d.h. die Unfälle in der Kette der Signantien. Meine ,Arbeit‘ bestand darin, das systematische Scheitern der verbalen Selektion zu provozieren, um so einen Zugang zur Polysemie zu finden, zum nicht-semantischen Rhythmus. Ich behaupte, daß aus dieser Art, die Sprache in eine Krisensituation zu bringen, Sinn entsteht: etwas Unnennbares, das aus dem Unbewußten kommt; eine abstrakte Kraft, die – verdichtet, verschoben, gleitend – die diskursiven Strukturen deformiert. Um einen andern Gesang von Sprachen, von anderer Tragweite in Umlauf zu bringen, der fähig wäre, als Negativ die obszöne Rückseite des Gemeinschaftssprachgewebes zum Vorschein zu bringen. Aber Rabelais oder Jarry, – das ist eben auch genau das!
Kühn: Im Deutschen gibt es die Redewendung ,mit der Sprache ringen‘, die inzwischen völlig verblaßt ist und im Kontext einer instrumentalistischen Sprachkonzeption benutzt wird. Bei Ihnen hatte ich immer den Eindruck, daß Sie genau das tun, was die Metapher ursprünglich ins Bild setzt: mit der Sprache ringen wie mit einem wenn nicht realen, so zumindest halluzinierten Gegenüber.
Prigent: Ponge sagte von sich, er sei von einer ,Krankheit‘ befallen: der, die ,Sprache zu sehen‘. Ich höre demgegenüber eher, ihr Brodeln, ihre Polyphonie – vor allem Sinn. Das ist eine Halluzination, ja. Aber sie ist die Grundlegung des Schreibens. Denn das setzt eine Wahrnehmung der Materialität der Sprache voraus und das Bewußtsein der Fremdheit der Sprachen, einschließlich der ,Mutter‘sprache. Man denke hier nur an die Bemühungen von Joyce, sie alle zu schreiben, oder an die von Artaud, noch andere, noch barbarischere zu erfinden. Sozial gesehen ist das eine Absage an das Massengerede ohne Rhythmus, ohne Echo für die intime Erfahrung. Psychoanalytisch eine paranoide Projektion der Sprache als Feind: Material, das malträtiert und in einer namenlosen Geschwindigkeit freigesetzt werden muß. Die „Chinesisch-Stunde“ z.B. erzählt u.a. diese Beschleunigung: rhythmisiertes Ausstoßen des fremden Körpers der Sprache. Auch Oeuf-Glotte behandelt das: die Sprache als auszukotzender Pfropfen. Hier besteht eine Beziehung zur Angst: ich schreibe, um diesen Knoten zu lösen, durch den die gelernte Sprache, die der andern, mir die Kehle zusammendrückt, ich schreibe, um das Ei (oeuf) aus der Glottis herauszuschleudern.
Kühn: Sie haben einmal gesagt, daß Sie Ihre Mutter ständig kotzend erlebt haben.
Prigent: Ja. Als meine Mutter – unaufhörlich! – kotzte, kotzte sie nichts aus, d.h. alles: die Welt. Ich will so die Sprache auskotzen, in Richtung aufs leere, eine bewohnbare leere, bewohnbar, für – Rimbaud! – eine ,wissende Musik‘ des Körpers und des Denkens.
Kühn: Wenn ich Ihre Mutter ,ins Gespräch‘ gebracht habe, so war das kein unerlaubter Ausflug in die ,petite histoire‘. Etwas für Sie ganz Spezifisches ist ja, daß Sie den Begriff Muttersprache eben nicht nur symbolisch, sondern auch ganz konkret verstehen. Der letzte Teil von Oeuf-Glotte heißt bezeichnenderweise „Du côté de l’imagimère“. – eine Kombination aus Proust und einem typisch Prigentschen Metaplasmus für die ,imaginäre Mutter‘. In diesem Text benutzen Sie authentisches Material, z.B. ein Strandphoto, das Sie auf dem Rücken Ihrer Mutter reitend zeigt. Oder einen Ihrer Briefe, in dem der Satz steht: „Du sollst Gedichte schreiben, die Deine Mutter verstehen kann“. Damit exponieren Sie sich auf eine Weise – an in etwa Vergleichbarem fällt mir hier nur Leiris ein –, die vermutlich als mindestens so ,unmäßig unanständig‘ rezipiert wird wie Ihre Auseinandersetzung mit der ,Sex-Religion‘ in Voilà les sexes, Ihrem derzeit letzten Buch.
Prigent: Erinnern Sie sich an Hölderlins „Verzeihen Sie mir, sehr liebe Mutter, wenn es mir nicht gelingt, mich Ihnen ganz verständlich zu machen“. Man schreibt nicht ohne die Wut, aus diesem Eingeschlossensein in die Muttersprache und das uterine Schicksal der Art herauszukommen, ohne das besessene Monster sein zu wollen, das Tier oder der Engel, von denen Rimbaud spricht… Sade schrieb, daß die „Philosophie alles sagen muß“. Nun sagt sie nicht alles, solange sie nämlich nicht an die Sprachnorm rührt, die Wurzel des Glaubens (Nietzsche: „Wir glauben noch an Gott, weil wir an die Grammatik glauben“). Auch das Schreiben muß ,alles‘ sagen. Aber es genügt ein bißchen Sensibilität für das Chaos der Erfahrungen, das man ,Biographie‘ nennt; es genügt, das zu erfahren, was Lacan die fundamentale Inadäquanz der Sprache im Hinblick auf den Körper nennt, um zu erkennen, daß das ,alles-Sagen‘ keinerlei Chance hat, direkt ausgesprochen zu werden, im unberührten Bereich der Verbalketten. Für Leute wie Leiris habe ich viel Respekt, aber er nimmt ein Apriori der Erfahrung und die Zweitrangigkeit der Sprache an, die die ,Wahrheit‘ dieser Erfahrung aussagen soll: das ist Konfession. Was ich schreibe, nährt (?) sich von Kindheitserinnerungen. Aber ich versuche weder, sie in einer ästhetischen Modulation – im Sinn der nostalgischen Geste, die man für die ,Poesie‘ als essentiell voraussetzt – wieder auftauchen zu lassen, noch die romaneske Zeit zu reorganisieren, die von diesen Erinnerungen angetrieben wird (was Proust gemacht hat). Ich versuche, sie aufzulösen. Damit der Text kein romaneskes ,Stück Leben‘ ist, sondern das, was bleibt, wenn man das Stück herausgeschnitten hat: die Instabilität dessen, was in der ,normalen‘ Sprache weder Ort noch Namen hat, weil es eben aus dem Unbewußten kommt: als Wirkliches – oder im Lacanschen Sinn als Unmögliches –, nicht als Wahrheit. Die Photos, die ich veröffentliche, sind Zielscheiben, traumatisch (z.B. der Inzesttraum). Schreiben besteht dann 1) darin, diese Photos zu beschreiben; 2) die Beschreibung durch Anagramme, Kalauer, den provozierten Lapsus zu deformieren, um so 3) aus der visuellen Logik des Phantasmas herauszukommen – die ,Frontalität‘ einer imaginären Vorstellung, die von Auge und Sprache beherrscht wird –, um mich auf das zuzubewegen, was sich verflüchtigt und für das Ohr – Rimbauds ,idiotische Refrains und naive Rhythmen‘ – gesungen wird, für den ,Klang-Trieb‘, der das semantische Gewebe durchquert. Ich erwarte vom Schreiben diese Geste des Berstens, diese Geste des Vergessens, in Richtung auf den Grund-Ton – jenseits des Körpers –, der den Zusammenbruch der Bedeutungen überlebt.
Kühn: Im Vergleich dazu sehr ,körperlich‘ sind aber die Lesungen, die Sie seit einigen Jahren machen, – ein Phänomen, das es in Frankreich insgesamt erst seit einigen Jahren gibt und zu den ,Hoch-Zeiten‘ von TEL QUEL völlig undenkbar gewesen wäre. Man stelle sich nur mal einen strammen Derridianer vor, der abends aufs Podium geklettert wäre…
Prigent: Der Begriff des ,Schreibens‘ (schweigende und grundlegende Spur) hat in der Tat die theoretische TEL-QUEL-Landschaft dominiert. Und die Schriftsteller dieser Generation (z.B. Sollers) kamen vom Nouveau Roman: also Arbeit an den narrativen Strukturen etc. Nichts davon wies in die Richtung der oralen Performances, die damals in den USA von Ginsberg u.a. viel praktiziert wurden. Ich selber habe eine Arbeit an den Mikrostrukturen der Sprache (dem ,Laut-Knoten‘) und an den „Triebbasen der Phonation“ (Titel eines Aufsatzes von Y. Phonagy) entwickelt. Dieses Hervorbrechen des Lauts bzw. Tons konnte nur dazu führen, sich physisch auf die so herausgeschleuderten Rhythmen einzulassen. Daher die ,öffentlichen‘ Lesungen. Was ich dabei zunehmend gelernt habe, ist, aus mir eine Stimme herauszulassen, die dem sozial benennbaren und psychologisch definierbaren Individuum, das ich bin, fremd ist. So, als müßte ich jedesmal – durch den Mund – ein vokales Monster gebären, von dem der Hemmklotz der humanitären Diskurse und der sozialen Billigung weggenommen ist. Diese Monstrosität – die nicht wenige abstößt – scheint mir dem zu entsprechen, was in meinen Texten stilbildend ist, eine formale Exzentrizität bewirkt.
Kühn: Als ich die erste Kassette von Ihnen hörte, glaubte ich zunächst, mich vergriffen und eine Artaud-Kassette erwischt zu haben. Beim genauen Hören werden die Unterschiede schon deutlich, aber es ist doch wohl seine Tradition, in der Sie sich hier – wie auch anderweitig – situieren.
Prigent: Kein Zweifel, daß das von Artaud Geschriebene monströs ist unter dem Blick(winkel) der menschlichen, Sprache (die Diagnose des Wahnsinns folgt unmittelbar daraus!). Kein Zweifel auch, daß Artauds orale Performance in Pour en finir avec le jugement de Dieu mit ihren von der semantischen Logik abgekoppelten Akzenten, ihren Brüchen, ihrer gleichzeitig wissenden und animalischen Modulation ein vokales Monster im Hinblick auf die ,menschliche‘ Stimme darstellt. Das ist und ist nicht die Stimme ,Artauds‘. Dieses Bersten oder diese Verschiebung der Position des Subjekts interessiert mich. Wenn ich lese, versuche ich, diese ambige Monstrosität durchzulassen, die aus dem Grund des Körpers kommt und aus dem Grund der Sprachen. Das ist etwas, was Körper und nicht Körper ist, Sprache und nicht Sprache; was, Töne und Sinn vermischend, Körper und Sprache in ihrer geatmeten Konfrontation verknüpft. Das hat nichts mit dem Schauspieler-Sprecher zu tun: dessen Haltung ist sekundär, er moduliert psychologische Inhalte, Emotionen, Wirklichkeits-,Effekte‘. Anders gesagt, seine Logik ist die der Übereinstimmung zwischen stimmlichem Schein und Wirklichem, die zu beschreiben er gehalten ist. Ich will eher eine Art Opfer: die unmenschliche Stimme opfert die Stabilität der Bedeutungen einem wilden Davongetragenwerden; die menschliche (anatomische) Definition der Stimme und des Körpers zerbirst in der Gewalttätigkeit eines skandierten, atemlosen, litaneihaften Ausstoßes…
Kühn: Sie sagten zu Beginn, daß der Leser für Sie kaum eine Rolle spielt. Trotzdem muten Sie ihm Ungeheures zu und verlangen dafür auch noch das, was ich hier abkürzend einmal ,bedingungslose Liebe‘ nennen möchte. Der Hörer scheint mir dabei noch ,schlimmer‘ dran zu sein: über das funktionelle Hören werden Ihre Lesungen zu einer auch physisch äußerst strapaziösen Angelegenheit.
Prigent: Daß der Hörer einige Angst verspürt – oder noch schlimmer: ich habe Leute erlebt, die zwischendurch rausgingen, um sich zu übergeben oder die aggressiv wurden –, das sagt eigentlich die Wahrheit über dieses Vorgehen: traumatisches Auftauchen der Mauer des Symbolischen, des Hindernisses, wo sich die Gewalttätigkeit des Konflikts Körper/Sprache in aller Rohheit zeigt.
Kühn: Vor zehn Jahren war das ,gesprochene Wort‘ noch mit einem Tabu belegt, heute weiten sich die Performances immer mehr aus. Ergibt das ein neues ,Muß‘? Bestimmte Texte scheinen mir für Lesungen schlicht ungeeignet zu sein, – viele Ihrer Metaplasmen z.B. – der ôteur oder tROMA, das Trauma Rom – büßen beim Hören die ,Abweichung von der Norm‘ ja gerade wieder ein.
Prigent: In jedem Fall geht es nicht – darum, geschriebene Texte mündlich zu ,interpretieren‘, – vielmehr muß in der Stimme etwas produziert werden, das dem entspricht, was im Geschriebenen produziert wird. Wenn die Lesung ,Schreib‘-Effekte (graphische, typographische, metaplastische) auslöscht, erlangt sie sie dennoch im Rahmen ihrer eigenen Logik wieder: die be-deutende Instablität oder Ambiguität findet im Bereich der ,Mündlichkeit‘ z.B. Äquivalente auf der Ebene der Geschwindigkeit und des litaneihaften Stampfens. Aber es gibt keinerlei Gründe dafür, daß jeder geschriebene Text mündliche Wirkungen zeitigt, – das ist eine ganz andere Strategie.
Das Gespräch führte und übersetzte Renate Kühn
aus Schreibheft, Heft 22, November 1983
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10. Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung an Christian Filips am 24.8.2023 im Rahmen des 43. Erlanger Poetenfestes
Christian Filips | Der hohe Ton in der Poesie.
Christian Prigent liest „Fast alles“.
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