VI
Es ist Unsinn zu behaupten, die Erde rolle
aaaaaauf ein Ziel zu.
Sie hängt an einem Faden.
Ich habe mich gegen das Leben mit meiner
aaaaaFeder gestemmt, so gut es eben ging.
Habe es vor- und rückwärts durchbuchstabiert,
aaaaaes aber nicht zusammenreimen können.
Das Ende wird kommen, wenn der Faden
aaaaagerissen ist.
Wende sich, wer kann, an den, der über allen
aaaaaHimmeln das Unbegreifliche begreift
NAM TUUM SUNT REGNUM ET POTENTIA
aaaaaET GLORlA
Ich säubere meinen Sitzplatz von den Trümmern der Nacht und frage mich, was eigentlich ein Dichter ist. Ein Revolutionär, der auf allen Ebenen kämpfen muß, weil er sonst aufhören würde, ein Dichter zu sein (Peret), oder eher ein byzanthinischer Priester, eingeschlossen in den Himmel seiner Ikonen, einem Friedhof, dessen Rabatten seltsame Blumen entsteigen, dunkel wie die Rätsel der Pythia, die ein Sterblicher nicht zu lösen weiß.
Ich bin nicht zum Mittelpunkt der Erde hinabgestiegen und habe keine Vulkane umgestülpt. Wenn sie in die Luft fliegen, ist das nicht meine Schuld. Das Belcanto der Maschinengewehre geht mir auf die Nerven, auch der schlechte Geruch aus dem Mund der Kanonen. Dennoch ist es mir nicht gelungen, diese Kaltwasserkuren abzustellen und eine neue Blume gegen das Irresein zu erfinden, ein Manko, an das ich mich dereinst im Fegefeuer erinnern werde.
Habe das grüne Moos wachsen lassen und den Steinen zugesehen, die langsam älter werden, bin dem Tod begegnet, der jünger ist, als er aussieht, habe an einem Tisch gesessen mit Regen und Wind, die aus der Ferne gekommen sind, mich zu bewirten. Bin um Mitternacht, wenn der Traum bis an die Seele reicht, wach geblieben, einsam und verstört wie die versteinerten Engel in einer Kirche, in der es keinen Gott mehr gibt.
Mein abgewetzter Federkiel war einmal eine Kutsche mit vier Pferden und die Hoffnung kein müder Gaul. Selbst wenn der Tag der Diebe käme, sähe ich auch mit dem Fernrohr kein Licht, das ich stehlen könnte. Nur schwarze Tafeln und eine Bühne, auf der die Sonne schneller untergeht als in den Tropen.
Ich habe gehört, daß die Toten uns als ihresgleichen betrachten, Tote unter Toten. Doch sie täten besser daran, ein wenig über das Leben nachzusinnen. Etwas mehr Besonnenheit täte übrigens auch den Spiegeln gut, diesen unechten Lampen, die so schnell bei der Hand sind, uns ihre Bilder, mit denen wir nichts gemein haben, an den Kopf zu werfen.
Doch ich will nicht weiter in den Wind sprechen und rufe alle Apotheker auf, ein Pulver gegen die Lethargie zu erfinden, ein Mittel, das uns von allen Schlacken reinigt und nicht so hakt wie meine OLIVETTI, die mich nachzuahmen scheint, mein abgeklappertes Leben.
An mir ziehen Karawanen von Sonnen vorbei und die Schatten sind Futter und Besatz für mein Kleid. Möge es noch eine Weile halten, die kurze Zeit, die ich noch Gast auf dieser schönen, alten Erde bin.
Ob es Ihnen auch so ergeht, verwöhnter Leser? Ich wüßte gern, ob Ihre Tage Blumen auf dem Wasser sind, wie von selbst entstanden, und ob Sie die Schwermut kennen, gefesselt an einen Stern, der nicht untergeht.
Und nun hebe ich dies alles auf ein Stück Papier, auf dieses leere Blatt, das sogleich von den Rändern her zu züngeln beginnt, zu verkohlen mit jedem Satz. Am Ende der Reise wird nichts mehr zu lesen sein, nur der Schatten aller Schatten, das Wort NICHTS.
Und doch ist dieses Blatt, sein Weiß, das den Erdball zu umspannen scheint, ein Weg, der einzige, auf dem ich gehen kann.
Hören Sie mich überhaupt? Sie sind so fern. Oder bin ich es?
Christian Saalberg, Vorwort
Vom Tod und von Toten ist viel die Rede in einem Gedichtband, dem sein Autor, der Lyriker Christian Saalberg, den sinnträchtigen Titel Hier wohnt keiner gegeben hat. „Wer das Leben liebt, wird vom Tod geliebt“, heißt es da beispielsweise. Ein ganzer Abschnitt ist den „Toten von Camposanto“ gewidmet. Dann wieder „meidet“ der Autor „die Umgebung des Todes“. Er „studiert“ „Todesanzeigen“ und kommt am Ende zur Erkenntnis „So stehen Tote auf, fachen uns zu neuem Leben an“.
Nicht immer spricht diese poetische Thanatologie den Tod direkt an. Er wird auch lyrisch umschrieben, etwa als „Die zerrissene Rose, ihr aschgraues Herz, das lautlos zusammenbricht“. Aber selbst in den Liebesgedichten den schönsten dieses Bandes – darf er, und wenn auch nur als „Totenwagen“, nicht fehlen. Umhüllt sind die Vergänglichkeitsvisionen von Sprachranken, geflochten aus Historie, Landschaftsschilderungen, philosophischen und religiösen Gedankensplittern, persönlichen Befindlichkeiten. Sie schaffen eine paradoxe Welt irrealer Realität, indem mit einer unerschöpflichen Wortphantasie heterogene Elemente zusammengefügt sind, so, als arbeite im Hintergrund eine Wortmaschine, die unaufhörlich neue Metaphernkonglomerate auswirft um die Melancholie der Verse durch einen schönen Schein erträglicher zu machen. Dieser Poesie kultivierter Originalität hat Saalberg bereits mehr als zwanzig Bände vorausgeschickt. Seine Lyrik harrt noch immer der Entdeckung.
Walter Neumann, die horen, Heft 211, 3. Quartal 2003
– Sieben Essay-Fragmente zur Lyrik Christian Saalbergs. –
I.
Ist der Surrealismus verdächtig, irrationales Denken zu verbreiten? Lebt der Dichter, der sich surrealistischer Bilder und Metaphern bedient, in einem Luftschloß, von der Wirklichkeit abgehoben, abgeschottet, weltflüchtig in subjektive Innerlichkeit? Solche Fragen waren vor vierzig oder fünfzig Jahren berechtigt, als man unter dem Eindruck des Wahnsinns einer ganzen Nation stand.
Bereits auf der ersten Tagung des gesamtdeutschen Schriftstellerkongresses, im Oktober 1947 in Berlin, wurde eine Programmatik diskutiert, die um die Begriffe Realismus, Wahrheit und Illusionslosigkeit kreiste. Über die Aufgaben der Dichtung gelangte man zu einem Konsens, nicht jedoch über die Darstellungsweise der erlebten Realität; man lehnte ab, was man als Flucht ins Metaphysische, als puren Wohlklang und blassen Ästhetizismus empfand. Insbesondere am Surrealismus haftete die Aura des Unrealistischen und Irrationalen – eine Be- und Verurteilung, die allerdings nicht auf genauer Textkenntnis basierte. Von vornherein also besaß Literatur, deren Sprache nicht direkt und unmittelbar zugänglich, deren Stil nicht nüchtern und ernüchtert, die nicht primär selbstreflexiv und zudem antideskriptiv war, wenig Chancen in der literarischen Öffentlichkeit.
Mit dem Verblassen der Themen der „Trümmerliteratur“ verlor in den Fünfziger Jahren die Forderung nach notwendig realistischer Darstellung allmählich an Gewicht. Andere Formen der Wirklichkeitserfassung, andere Wirklichkeitsgenerierungen erweiterten das Spektrum dichterischer Möglichkeiten. Die sogenannte hermetische Lyrik, etwa eines Paul Celan oder einer Ingeborg Bachmann, traf dennoch der Vorwurf der Regression, der Dunkelheit, des Artifiziellen und Artistischen. Vor allem Texten, die sich an der französischen Moderne orientierten, unterstellte man Manierismus und gewollte Unverstehbarkeit, was der Forderung nach Weltbezug, nach unmittelbarer Wirkung und einer neuen, der Historie angepaßten Sprache widersprach.
Harsch und polemisch fielen die Urteile aus, nicht selten auf Seiten der Dichter selbst gefällt. Aber es gab auch jene – vergleichsweise wenigen – Autoren, die durch die Schule des französischen Surrealismus gegangen waren. Für manche, wie Franz Mon oder H.C. Artmann, blieb er bloß eine kurze Phase ihres Schaffens, in der sie die neuartigen stilistischen Errungenschaften aufgriffen; andere machten die surrealistische Bildlichkeit länger für ihre Dichtung fruchtbar, Max Hölzer, K.O. Götz, Ilse Schneider-Lengyel, Anneliese Hager, Johannes Hübner, Lothar Klünner, Gerd Henniger, Dieter Wyss und Richard Anders. Noch 1974 sprach Peter Rühmkorff treffend vom „kulturellen Outback“, in dem sich der literarische Surrealismus bewege. Daran hat sich, trotz zunehmenden Interesses an der surrealistischen Malerei und zahlreichen Retrospektiven, bis heute kaum etwas geändert.
II.
Was ist Surrealismus? Und vor allem: wie erkennt man ein surrealistisches Gedicht? Eine überzeugende Definition fehlt noch immer. Unschärfe an den Rändern zu anderen lyrischen Richtungen, lautet der Befund. Permeable Schubkästen. Deshalb ist allein schon angesichts der Vielfalt und der Entwicklung innerhalb der französischen Gruppe der Vorschlag gemacht worden, nicht von dem Surrealismus, von der surrealistischen Bewegung zu sprechen. Der kleinste gemeinsame Nenner liegt nicht, wie oft behauptet, in der Ideologie der Surrealisten – dem psychischen Automatismus, der Trauminspektion, dem politischen Aktionismus –, nicht in André Bretons Forderung nach der Schreibtechnik der Ecriture automatique, die von keiner Schreibpraxis verbindlich befolgt wurde, sondern in der Gestalt und Gestaltung der Werke selbst.
Die Vorstellung eines in allen Elementen aufeinander bezogenen Gedichts ist für den Surrealismus obsolet. Das Umfeld, der Mittext eines Bildes bzw. einer Metapher entscheidet jeweils, ob die Bildlichkeit eine außertextliche Wirklichkeit darstellt oder zwei voneinander getrennte Bereiche verschränkt und zu einem disparaten, von der Alltagserfahrung abweichenden Bildkomplex angeordnet werden. Das surrealistische Gedicht zeigt kein Bild der Wirklichkeit im mimetischen Sinn, es zeigt vielmehr das höchst subjektive und überraschungsreiche Bild, das sich der Autor von der Wirklichkeit macht. Diese Bildlichkeit beruht meist auf einem Metaphernensemble, der Reihenmetapher, deren Einzelglieder in keinem sofort erkennbaren Bezug stehen müssen. Demzufolge ist das Merkmal surrealistischer Lyrik nicht die isolierte Metapher – und ein Text nicht durch wenige, ihrer versteckten Referentialität wegen „kühn“ wirkende Metaphern bereits als surrealistisch zu klassifizieren: Diskontinuität als Strukturprinzip; der geschlossene Rahmen öffnet sich; die Bilder werden bewußt sperrig aneinander gefügt, sind auf viele Deutungsmöglichkeiten angelegt und bedürfen dafür der phantasievollen Mitarbeit des Lesers.
III.
Christian Saalberg, 1926 in Hirschberg im schlesischen Riesengebirge geboren, nimmt unter den Dichtern, die im Zeichen des surrealistischen Bildes schreiben, eine Außenseiterstellung ein. Vierundzwanzig Gedichtbände in dreiundvierzig Jahren, die meisten von ihnen ungefähr im Abstand von zwei Jahren erschienen: die Titel lassen aufhorchen, weil ihre Prägnanz bereits eine Art dichterisches Programm erhellt: DER TAG ALS VOYAGEUR, NACH DEM BESUCH DER SIRENEN, DER ABSCHIED DER VOGELMENSCHEN, DAS GEZWITSCHER DER TOTEN VÖGEL, VOM LEBEN BESIEGT oder zuletzt NAMENLOSES GEHÖLZ und HIER WOHNT KEINER.
In den spärlichen Anthologien zum deutschen Surrealismus sucht man ihn vergebens, aber auf den Querpfaden der Recherche begegnet man ihm schließlich doch, auch wenn viele seiner Bücher inzwischen Raritäten geworden sind, weil ein großer Teil der Auflagen bis 1987 einem Wasserschaden im Verlagslager zum Opfer fiel. Trug dieser Umstand vielleicht dazu bei, daß es vergleichsweise still um Christian Saalberg blieb, trotz verschiedener Auszeichnungen wie dem Lenau-Preis (1988), der Ehrengabe zum Andreas-Gryphius-Preis (1990) und dem Eichendorff-Preis (1992)? Im sogenannten Licht der lesenden Öffentlichkeit stand Saalberg jedenfalls nie, ein „Geheimtip“ unter Lyrikfreunden und -kennern.
Schnell, manchmal allzu schnell kommt einem dieses Wort über die Lippen, wenn man auf einen Autor hinweisen möchte, der unbedingt gelesen werden sollte. Im Fall Saalbergs muß in dem Wort noch etwas mitschwingen: Kritik an einem Literaturbetrieb, der sich bloß sehr sporadisch zu einer Erkundungstour abseits der bekannten Wege aufrafft. Der Grund für Saalbergs verborgene Dichterexistenz dürfte nicht allein in den zerstörten Auflagen und abgelegenen Publikationsorten zu sehen sein – vielmehr stellte sich wegen des selbst in der gegenwärtigen Stilpluralität eher ungeliebten surrealistischen Duktus der Empfang bei der Welt nicht ein.
IV.
Bevor Saalberg die Lesefrüchte des französischen Surrealismus im eigenen Garten kultivieren konnte, begann er mit einer Reihe von Sonetten und anderen traditionellen Strophenformen, dabei etliche Reminiszenzen nicht verleugnend. Doch in den fünf Jahren zwischen der ersten und zweiten Veröffentlichung erlangt sein Stil Sicherheit, Individualität, ist auf der Höhe der Zeit und zugleich von eigenartiger Verweigerung vordergründiger Aktualität. Die Gedichte greifen das Tagesgeschehen nicht unmittelbar auf, reagieren aber zwischen den Zeilen, anders als die engagierte Literatur es verlangt – sie beziehen ihre Initialzündung aus der Literatur, der Kunst, der Geschichte.
In Saalbergs Dichtung hallt ein Surrealismus nach, der auf kreative, eigenständige Weise weitergeführt wird und nicht im Epigonentum verharrt. Die Bilder und Metaphern sind weniger gekünstelt, manieriert, verrätselt als die der französischen Vorgänger; der Tonfall der Gedichte verzichtet auf „hohles Pathos“; Konkretes und Abstraktes wird überraschend, aber selten völlig entgegen der Logik kombiniert. Man spürt sofort: hier spricht einer, der spielerische Elemente verbannt, dem es ums Wesentliche geht. Aus der Melange von surrealistischer Reihenmetapher, romantischem Vokabular, zahlreichen Allusionen, Elementen eines alltagssprachlichen Parlando und einmontierten Zitaten, die keineswegs nackter Zierrat sind, entsteht die unverwechselbare Stimme der späten Gedichte Saalbergs. Sie besitzen eine Musikalität, die sich selbst noch in der permutativen Kombination von Bildern, wie im Zyklus ICH KÜSSE DIE AUGEN DER VÖGEL, mit starkem Sinngehalt auflädt.
Norddeutsche Landschaft und mediterrane Gefilde. In diesem literarischen Weltbürgertum bleiben Paris und Prag und Polen die zentralen Orte: Schlesien, die Landschaft der Jugend, durch die frühen Zyklen SAALBERGER SOMMER, ROHRLACH. POLNISCHE LIEBE und DAS JANNOWITZER JAHR in Erinnerung gerufen, heitere, unbeschwerte Eindrücke, später ein weiteres Mal Thema, unter literarischen Masken, in Zeitgenossenschaft von Johann Christian Günther und Andreas Gryphius, mit dem Vorzeichen des Verlustes. Paris, die Stadt der Dichter, die auf Befreiung des Geistes pochten, Stadt von Saalbergs REVOLUTIONS-ETÜDEN, Stadt des aktiven Einschreitens für die Freiheit – vielleicht hat in diesem Gedanken das zuweilen militaristische Vokabular Saalbergs ihren Ursprung? Prag, die von Jugend an vertraute Stadt, steingewordene Geschichte. Aus Beobachtung und Imagination amalgamiert der Dichter hier seine Wahlheimat. Die Bedeutung der beiden Städte unterstrich Saalberg, indem er zuvor verstreute Gedichte in eigene Sammlungen trug, die Pariser in dem Band VOR DER STATUE VON ÉTIENNE MARCEL, die Prager in DIE ALTEN NÄCHTE und SCHWIERIGE RUINEN.
Die Gelegenheit, Gedichte zu sammeln, birgt die Möglichkeit der Überarbeitung und ihnen, seit Mitte der 80er Jahre, einen unverwechselbaren Klang zu verleihen. Aus prosaähnlichen Gebilden werden Langzeilen ohne Interpunktion und mit abrupten Zeilenbrüchen, was die einzelnen Bilder schärfer gegeneinander konturiert; unversöhnlicher stehen die Gegensätze, der Surrealismus winkt mit gleißenden Fahnen herüber. Es ist nicht allein ökonomischer Umgang mit dem aus den Steinbrüchen der Sprache abgeschlagenen Material, weshalb Saalberg Zyklen sichtet, weshalb er Titel von Zyklen als Buchtitel noch einmal verwendet – oder auch umgekehrt –: geheime und offensichtliche Korrespondenzen innerhalb des Werkes machen dies im buchstäblichen Sinn zu einem Lebenswerk, tod- und trauergesättigt, voller Zweifel. Da heißt es:
Das Gezwitscher der toten Vögel in das immer tiefer der Abend versinkt einer im Urwald vergessenen
Lokomotive gleich die kein Kran und keine Trosse mehr hebt
und weiter unten:
Liegt es an meinen Augen oder ist es dieses unleserliche Sanskrit daß vieles so rätselhaft bleibt und der
Tag immer dunkler wird je weiter ich lese
Welch ein Unterschied zum TAG ALS VOYAGEUR! Gegenwart, in die das Restsignum des Vergangenen einsickert.
V.
Saalberg hat fast allen seinen Büchern Vorworte beigefügt, die Auskunft erteilen über seine Poetik. In der 1963 erschienenen SCHÖNEN GÄRTNERIN wird die Aufgabe der Dichtung hochtönend umrissen; der Dichter gehört zur Schar der mythischen fahrenden Sänger, er läßt sich vom Gelingen und Zufall der ihn umgebenden Welt leiten:
Aber er ist auch das Schiff mit den sieben Segeln, das vor dem Wind treibt, der von den Dingen weht. Wenn die Ankunft glückt, ist er der gute Zeuge, der die lautere Wahrheit sagt, nichts verschweigt und nichts hinzufügt und seine Aussage im Gedicht beschwört. Das Gedicht ist nichts anderes als das Logbuch dieser Fahrt, das Protokoll einer gelungenen Flucht.
Doch wie lange glücken Fahrt und Ankunft im Diesseits? Vierundzwanzig Jahre und elf Bücher später überwiegt ein nüchterner Klang, herrscht die Dringlichkeit des resignativen Trotzdem vor:
Der Autor ist geboren wie jeder andere und wird morgen sterben, wenn er dann noch lebt. Vielleicht rennt er nur deswegen hinter den Wörtern her, weil ihm die Trockenheit in den Adern brennt. Er schöpft aus ihnen das Blut. Und doch versinkt ihm das Leben schneller unter den Füßen als die Tinte braucht, um dieses Blatt zu queren.
Die Dichtung und der Akt des Schreibens – zu ergänzen wäre: des eigenen Geschriebenwerdens – bleiben die Versicherung gegen die Vergänglichkeit und den Verlust einer Welt, die sich zu entziehen droht:
Wie dem auch sei, ich werde also mein Leben wieder aufnehmen, dessen Pulsschlag die schwarzen Lettern sind, Satz für Satz, mit denen ich diese Seiten gefüllt, strauchelnd von Wort zu Wort, jedes Wort ein Wort zu wenig, jedes ein Wort zu viel. … Erfüllt von der Hoffnung des Meeres und umgeben von der unwiderstehlichen Kraft der Stille, die nichts verplaudert, weil alles ihr Geheimnis ist, vertraut der Dichter einer Sprache, die er nicht kennt, läßt sich in den Abgrund fallen, den Engeln gleich, die wissen, daß sie getragen werden. Es ist nicht der Dichter, das Wort spricht sich selbst.
Saalberg greift zwar die Metapher der Fahrt auf, jedoch ist aus dem Bericht des Gedichts jetzt eine Vision geworden, ein zu suchender Gegenentwurf:
Nur wenn ihr das Unvorhergesehene erblickt, das vor euch liegt wie das weite Meer, werden wir wieder über die große Ordnung reden können. (1989)
Vertrauen in eine dem Dichter nicht bekannte Sprache; eine Sprache, nach der der Dichter zwar fahnden und forschen muß, die sich zuletzt aber seinem Zugriff entzieht und eigentlich ihn trifft – doch man kann ihr vielleicht auf die Sprünge helfen, mit einem kraftvollen Akt:
Und ich werde dem Licht, wo ich es finden kann, einen Weg bahnen, wenn es sein muß mit dem Drillbohrer, damit eines Tages, vielleicht schon morgen, der Tag wie ein unbeflecktes Laken vom Himmel schwebt, wie ein übersonnter Traum. (1991)
Diese Selbstgewißheit ist natürlich von Zweifeln nicht frei:
Doch ich frage mich, ob wir mehr finden als sie [die Alchimisten], die wir in den Tiegeln stöbern auf der Suche nach dem falschen Gold, einer Sonne aus Blech, statt nach dem einen Wort, das, feuerfest und gemünzt auf die Elemente einer anderen Wirklichkeit, allein dieser Welt Paroli bieten kann. (1993)
Mit dieser anderen Wirklichkeit ist nicht die Überwirklichkeit der Surrealisten gemeint: Der Surrealismus, zumindest derjenige Bretonscher Ausprägung, will die gewöhnlichen Aspekte des Lebens und der Realität aufbrechen mittels einer Sprache, die Eigenständigkeit besitzt, weil sie sich im Unterbewußtsein des Menschen neu ordnet und mit Sinngehalt auflädt, die allerdings auch eine deutliche Tendenz zur Entgegenständlichung enthält. Saalbergs andere Wirklichkeit ist vielmehr das „Land nebenan“, von dem René Char gesprochen hat, jener utopische Bereich, der im Hier und Jetzt verortet ist.
Doch es gibt sie [die verklungene Sprache], begraben wie ein Pharao unter der toten Reglosigkeit der Erinnerung, deren Pyramide es Stein für Stein abzutragen gilt, bis auf dem Steingesicht in den Winkeln der Lippen ein roter Spritzer sichtbar wird. „KOMM HERAUS LEBEN / ICH WILL DICH SEHEN“ (1996).
In der Vorstellung Saalbergs sind die Dichtung, das Wort, das Leben untrennbar miteinander verbunden: Keines ohne das andere.
In den letzten Bänden dominiert die Trauer über das Leben in einer unentzifferbaren, verworrenen Welt:
Ich will mich nicht aus der Schlinge ziehen und dieses turbulente Leben, undurchschaubar wie die Wälder Siziliens, sinnlos verherrlichen. Die Sintflut ist vorbei. Nicht aber das Seufzen der Erde, die auf dem Abhang immer tiefer rutscht. … Wir heben einige Steine auf, in denen sich die untergehende Sonne noch einmal spiegelt. Das ist alles. Es ist nicht der Rede wert. (1997)
Nichts als der Abglanz der Sonne in den Bildern des Gedichts – aber schon zwei Jahre später finden wir in einem Vorwort diese Geste des Aufbegehrens:
Wenn alles zu Ende geht, spreche ich noch einmal das Wort ANFANG aus. (1999)
Das ist nicht der Zauber, womöglich der Zauberspruch, der jedem Anfang innewohnen soll, es ist das letzte Bollwerk der Worte.
Es ist der letzte Sand, den ich hiermit auf den Friedhof karre. Worte, nichts als Worte, ewig unfähig, das eigene Schicksal anzunehmen, ein Bündel, das ich aufhebe und gleich wieder fallenlasse. … Alles ist kostbar, jede Lichtung, jeder Nebelstreifen, jedes noch so namenlose Gehölz. (2001)
DAS NAMENLOSE GEHÖLZ, von dem es im gleichnamigen Band hieß, daß es „zu bestimmten Stunden die Sonne einfängt“, bedarf keiner Benennung mehr durch den Dichter. Es ist anwesend und wert, auch ohne in einem kreativen Akt einen Namen zu bekommen.
VI.
DAS WEITE SUCHEN ist neben den in der deutschen Literatur einzigartigen, raumgreifenden, prachtvollen Elegien der Sammlungen DAS GEZWITSCHER DER TOTEN VÖGEL (der Totenvögel?) und VOM LEBEN BESIEGT vielleicht Saalbergs melancholischster Band: Abschiedsgedichte, in denen zugleich eine unverbrüchliche Leidenschaft für das Leben aufflackert.
Die Irrfahrten enden dort, wo ein Spaten
die Toten begräbt. Hinter der steinernen
Fassade läßt ein schöner Wahn seine
Tropfen ins Vergessen fallen.
Nicht nihilistische Verzweiflung spricht aus solchen Zeilen, sondern das Bewußtsein, daß Schönheit im melancholischen Zustand liegt, vom Leben – nicht von Tod! – besiegt zu sein.
Südliche Stätten werden heraufbeschworen, fast wie Zitate, die auf eine kindliche Sehnsucht verweisen. Allgegenwärtig sind die Steine, die Ruinen, die Fassaden, die Statuen, deren Schweigen und Stille Symbole des Todes, aber auch Gedächtnisspeicher, Ablagen für die vergessenen Augenblicke sind. DAS WEITE SUCHEN meint einerseits: Flucht vor den Hadesschatten, die sich ins Leben hinein verlängern, meint aber auch: Suche nach jenem offenen Raum, in dem die Dinge sich klären und zur Ruhe kommen.
Herkules brauchte zwei Säulen,
um den Himmel zu stützen. Mir genügt
ein niedergebranntes Streichholz
und schon wird es Nacht.
Eine Finsternis, die mit beiden
Beinen fest auf der Erde steht.
Saalberg erfindet eine Transparenz, die den Schrecken der körperlichen Auslöschung in Bilder bannt und die verbliebene Schönheit aufhellt.
Viele Gedichte Saalbergs drehen sich um eine in den Zeitläuften entschwundene Heimat, aber Beheimatetsein ist etwas noch anderes, etwas, das in den Bereich des Metaphysischen fällt. Trauer weht aus jenem Bezirk herüber, den Schilder mit der Aufschrift HIER WOHNT KEINER versperren. In seltsam zurückhaltendem Gestus spricht man dort vom eigenen Werk, als dem einzigen, das nach dem physischen Verdämmern bleibt. Angesichts des Weltverlusts hat es wenig Gewicht, trotzdem, es ist ein Medium, das Zeugnis für die Anwesenheit ablegt. Vom offenen Konstruktionsprinzip des surrealistischen Gedichts bestimmt, gleichen diese Gedichte einem rhapsodischen Schwanengesang.
VII/1.
„Gepriesen seien die Schriftsteller, die nichts mehr zu sagen haben und deswegen schweigen“, lautet ein Motto aus HIER WOHNT KEINER, Saalbergs zweiundzwanzigstem Band. Doch der Lyriker hat durchaus noch etwas zu sagen und kann, ja darf deshalb nicht schweigen: Er steht in einer kontemplativen Distanz zur Welt, mit empfangsbereiten Sinnen, spricht: „Ich sehe zu, wie die Steine langsam älter werden und betaste den Wind“ (so der Wortlaut des Entwurfs), und setzt gegen die Lethargie und Todesfurcht das Schreiben:
Und doch ist dieses Blatt, sein Weiß, das den Erdball zu umspannen scheint, ein Weg, der einzige, auf dem ich gehen kann
Auf dieser Kriechspur der Worte, auf einem Papier, dessen Leere alle Möglichkeiten für die Fülle enthält, lassen sich die Dinge für kurze Zeit erkennen und benennen, um dann rasch wieder in Schlaglichter und Bruchstücke der Erinnerung zu verschwinden. Ein langes, langsames Abschiednehmen wird von einem letzten Buch zum nächsten zelebriert, ein traumtrauriger Blick streift die Erde, zieht Bilanz, schickt die Imagination aus, um Konkretes mit surrealistischen Bildketten zu verschmelzen. Man hat den Eindruck, durch ein Gemälde von Giorgio de Chirico oder René Magritte zu wandern und sie zu hören, diese „Geräusche und Séancen von einer anderen Seite der Welt, die wir im Jenseits vermissen / Werden“. Vorm inneren Auge säumt vorbei, was sich in zeitlicher und räumlicher Distanz befindet, südliche Stätten, das Meer, die Wolken, das Gedächtnis der Steine und Ruinen, um die Frage zu klären, „ob die Freuden der Welt wirklich nur Kehricht sind, wie die / Heilige meint und wie dem Propheten Amos zumute war“.
Wer DAS WEITE sucht, ist nicht auf der Flucht, sondern stellt sich den Dingen, den Gefahren. Mit dem Tod sollte man auf Kriegsfuß stehen, aber man muß ihn als ehrlichen Gegner akzeptieren. Es gilt also, möglichst ein paar „stille Tage in der Rue M.“ zu verbringen und „einen letzten Umzug [zu] überstehen“, wenn ringsum alles andere zunehmend zerfällt und in sich zusammensackt.
Meine Augen lesen mir aus der Zeitung einen Artikel vor, der vergiftet ist von Armeen auf
Unlinierten Zeilen.
Dabei wollte ich eine Rede über die Schönheit hören, der ich noch einmal die Hand küssen
Will.
Die militant aufrührerische Geste früherer Gedichte Saalbergs, die an radikale Äußerungen der Surrealisten erinnerte, ist einem resignativeren Tonfall gewichen, bei allem „eingefleischten Widerwillen gegen eine schnauzbärtige Gerechtigkeit“.
Je schneller der Sand aus den Uhren rinnt, desto hartnäckiger verfolgt der Dichter die Sprache. Seine Wörter brauchen die Form nicht mehr zu umbuhlen, sie passen sich dem bewährten Gefäß an, zuweilen mächtig gegen die Wände des magischen Kästchens pochend. Es bleibt die traumwandlerische Bewegung: Das Oszillieren des Wortes auf dem OFFENEN GEWÄSSER zwischen Schönheit und Schrecknis.
VII/2.
Uhren bleiben stehen. Warum also nicht auch Herzen? Worte sind Herztöne, die Buchseite ein Stethoskop. Meist hört man die Worte nach dem Tod noch lauter, noch eindringlicher schlagen. Die Stunden kippen erschreckend schnell in die Gruft, man kommt mit dem Zählen kaum nach, und mit den Freunden geht es einem nicht anders. Manch einer stirbt den Gedichten voraus, stranguliert sich mit dem Lasso, bevor er die Schönheit einfangen konnte. Ein anderer dagegen öffnet rechtzeitig die Tür und bewirtet den Tod, damit er sich möglichst lange bei ihm wohlfühlt, ehe sie gemeinsam in ihrem Allerweltskahn zum stygischen Ufer übersetzen. Doch zuvor ging ein letztes Mal die Reise von Odessa auf den Klippen des schwarzen Meeres nach Istanbul (wir fahren, versichert uns der Dichter, auf der AEOLUS, dem Paketboot der COMPAGNIE GOUDI FRERES) und weiter nach Prag, wo man Postkarten aus einer verlorenen Zeit schickt, Briefe eines Verstorbenen.
Unter all den Lektüren, die unter der Oberfläche schimmern und die Imagination wachhielten, könnte sich auch der Franziskaner befunden haben: LAUDATO SIA MIO SIGNORE PER SUOR NOSTRA MORTE CORPORALE: DE LA QUALE NULLO HOMO PUÒ SCAMPARE. Christian Saalberg sagte nicht: Entschuldigen Sie, ich bin mit Sterben beschäftigt, sondern: Gebt mir Stift und Papier.
Wenn das Gedicht eine Alchemistenküche ist, in der Wunderbares entsteht, sobald die verschiedenen Kolben und Destillate zusammengemischt werden, dann gehörte Christian Saalberg dieser Zaubererzunft an, diesem erlauchten Club der „Geheimschreiber“ (Andersch). In einer Zeit, in der die Zeilen mehr und mehr arbiträr werden, die Inhalte banaler, von Ironie künstlich aufgeputscht, hat er alles aufs erträgliche Menschenmaß zurechtgerückt, nie absolut vollkommen, immer ein wenig rauh, mit Kanten und Schrunden, aber dennoch geschliffen, mit einem heiteren Kopfschütteln überstäubt.
Jürgen Brôcan, 2004/2011, aus: Helwig Schmidt-Glintzer (Hrsg.): Inmitten meiner Bibliothek. Der Lyriker Christian Saalberg (1926–2006), Harrassowitz Verlag, 2011
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