Es regnet voller Zuversicht
wohl schon den neunten Tag,
die Mittagszeit hat kein Gesicht,
nur noch den Stundenschlag.
Die Sonne hängt vielleicht verkauft
in einer andern Welt,
wo sie sich wild die Strahlen rauft
und ihre Stirn zerschellt.
Die Teufelsschirme öffnen sich,
der Löwenzahn bleibt zu,
ein bißchen Gelb glänzt kümmerlich
im wilden Jungfernschuh.
Ich frag mein Herz, das Stundenglas,
wie lang die Welt noch steht,
es zittert wie ein Schmelchengras
und hat sich umgedreht.
Wer ist an diesem Unglück schuld?
Ich sag den Namen nicht.
Schon halbertränkt, doch voll Geduld
blühn die Vegißmeinnicht.
– Dieser Band erstaunlicher und erschütternder Gedichte erschien 1956 im Verlag Otto Müller in Salzburg. –
Man beginnt zu lesen und kann sich (wenigstens anfangs) der suggestiven Kraft dieser Gedichte kaum mehr entziehen, einer Kraft, die aus den Quellen: Angst, Enttäuschung, schwerer Krankheit, tiefer Verzweiflung und einer zwar echten, aber doch niemals erlösenden Religiosität gespeist sind. Zur Umwelt, zu einem Du kann oder will sie nicht sprechen; wir erleben nur das besessene Kreisen um ihre Person, um ihr Leid, und das in jedem der mehr als 150 Gedichte des Bandes, ihre Hilfeschreie, Auflehnung und Zornausbrüche von beängstigender Intensität und Monotonie. Aber diese Monomanie zeigt sich nicht zuchtlos, denn Christine Lavant beherrscht Vers und Reim meisterhaft – fast zu meisterhaft, wenn man bedenkt, daß es sich um ekstatische Ausbrüche eines gequälten Menschen handelt. Vermuten muß man ein forciertes Training in einer einlinig gehaltenen Selbstbeobachtung. Was und Wie sie trotz dieser Kontrolle erlebt, d.h. Echtheit und Intensität des Erlebens, stehen außer jedem Zweifel. Wir wünschen dem ungewöhnlichen Band viele Leser, empfehlen ihnen aber (wegen seiner berauschenden Giftwirkung) kritisch zu bleiben.
Elfriede Gerstl, Das jüdische Echo 4, 1958
Wieland Schmied: Christine Lavant. Die Bettlerschale
Wort in der Zeit, Heft 10, 1956
Rudolf Hartung: Die Feuerprobe
Neue Deutsche Hefte, Heft 29, 1956
H.G. Adler: Die Bettlerschale von Christine Lavant
Eckart, Heft 1, 1958
Kurt Ihlenfeld: Zeitgesicht. Erlebnisse eines Lesers
Witten, 1961
Kornelius Fleischmann: Mystisches und Magisches bei Christine Lavant. Versuch einer Deutung der Sammlung Die Bettlerschale
Literatur und Kritik, Heft 109, 1976
Paola Schulze Belli: Index zu Christine Lavants Dichtungen
Milano, 1980
Helga Meise: „… ein Herz soll es sein, ein einziges unter der Sonne!“ Zur Herzmetaphorik in Christine Lavants Bettlerschale (1956)
Günter Häntzschel, Sven Hanuschek, Ulrike Leuschner (Hrsg.): Zur Präsenz deutschsprachiger Autorinnen, 2010
Christine Lavant hatte durch zahlreiche Preise zum Teil hohe Anerkennung erfahren, und dennoch war das Verständnis für ihre Dichtung zu ihren Lebzeiten einer geringen Anzahl von Verehrern und Kennern vorbehalten. (Die Dichterin selbst hat aus Scheu vor der heute so praktizierten Offenlegung der Privatsphäre jedem Versuch geschickt widerstanden, das Geheimnis ihres Schöpfertums aufzudecken, indem sie es dem Rezensenten selbst überließ, das zu schreiben, was er sich selbst über sie zusammenzureimen imstande war.) An dieser Situation hat sich auch 5 Jahre nach ihrem Tode nichts geändert.
Die Gründe hierfür sind wohl in der persönlichen Eigenart der Dichterin, in der für die heutige Zeit unkonventionellen Form ihrer Darstellung des psychischen Seins des Menschen zu suchen. Zudem erfordern die dynamischen Sprachbilder religiöse Kenntnisse und Einfühlungsvermögen in die Symbolik verschiedener Religionen. Die im Zustand mystischer Versenkung erschauten magischen Sprachbilder haben ihre Wurzeln im traditionellen christlichen Gedankengut, welches die Dichterin in ihrer Jugend durch Elternhaus und eine religiös-patriarchalisch dominierte Gesellschaftsordnung vermittelt erhielt.
Christine L. hat von frühester Kindheit an die christlichen Lehren kennengelernt. Alles Geschehen im Dorf war verwoben mit der Vorstellung von der Urschuld des Menschen und seiner möglichen Erlösung von dem ihm drohenden Verderben. Vor dem Bösen bewahren und helfen konnte die Hierarchie der Heiligen und Helfer, die nahezu in jeder Situation des täglichen Lebens in den Gedanken der Menschen gegenwärtig waren.
Mit dieser Vorstellungswelt wuchs Chr. L. in dem entlegenen Dorfe Groß-Edling bei St. Stefan im Lavanttal auf, fernab von den sozialen, politischen, geistigen und religiösen Auseinandersetzungen der Zeit um den 1. Weltkrieg.
Religiöse Formeln, erstarrt und dennoch trostverheißend oder drohend, Heiligen-, Geister- und Teufelsgeschichten, mechanisierte Riten mußten – streng von der Umwelt überwacht – vollzogen werden, um das „Seelenleben zu retten“, uralte vererbte Ängste und Ungerechtigkeiten, Grausamkeiten zu Tieren, eine für uns kaum mehr vorstellbare Armut der Familie: so erlebte Chr. L. die dörfliche Umwelt ihrer Kinder- und Jugendzeit und fühlte sich als ein ständig allen Mächten in seiner Gesamtexistenz ausgeliefertes Wesen. Halt und Zuflucht vor der für sie so bedrohlichen Außenwelt war die Familie (acht Menschen in einem Raum wohnend), waren die Geschwister und war die von ihr in Gedichten verherrlichte Mutter, die trotz Armut und Hunger im Gedächtnis der Kinder die Erinnerung einer wunderbaren und glücklichen Kindheit hinterließ. Die mit dem Erwachsenwerden der Geschwister verbundene Auflösung der Familie und der Tod der Eltern zerstörte in Chr. L. das Gefühl einer auch nur vorstellbaren Geborgenheit für immer. Seit damals hatte sie ihr Leben lang Heimweh nach jener nahezu animalischen Geborgenheit der engen Stube ihrer Kinderzeit.
Ein scharfer Intellekt, großes persönliches Leid, verursacht durch Krankheiten seit frühester Kindheit, Vorsicht und Angst und eine außergewöhnliche Sensibilität führten die Dichterin ohne eine Bildung im traditionellen Sinne zwangsweise (wie sie selbst sagte) zur Auseinandersetzung mit allem, was sie in der Enge der unmittelbaren Umwelt sah, was sich im Zusammenleben der Menschen in der Schicksalsgemeinschaft des Dorfes ereignete und was ihre Existenz in Frage zu stellen drohte. Verstärkt durch Ängste, sah ihr skeptischer Verstand eine Bedrohung ihrer Person in den versteinerten Lebensformen dieser dörflichen Welt mit ihren religiös-ethischen Vorstellungen und Geboten, ihrer unheimlichen Auslegung von Gut und Böse und den für ein Zusammenleben oft absurd anmutenden Handlungen, wie sie täglich praktiziert wurden. Stand doch im Vordergrund immer die Sorge um die eigene Existenz. Mechanisch spulte sich das Leben der Dorfbewohner ab, getrieben von Vererbung und äußerlichen Zwängen. Schwere Arbeiten, Mühen, schlechte Ernährung und Bresthaftigkeit machten den Menschen hart und teilnahmslos für die Nöte des Nächsten. Unwissenheit und Hilflosigkeit bei Krankheiten und anderen Schicksalsschlägen zwangen zur Passivität. War dieses Leben der ständigen Auseinandersetzungen, das die Starken bevorzugte, zu Besitzenden machte und die Hilflosen der Armut auslieferte Wirklichkeit und Wahrheit? Krankheiten (Skrofeln, Lungentuberkulose, ein Augen- und Ohrenleiden) in ihrer Jugend, Schmerzempfinden als Dauerzustand, körperliche Unansehnlichkeit als junges Mädchen machten sie zeitweise völlig hilflos und kraftlos. Sie lebte in einem Zustand ständigen Ausgeliefertseins und sah für sich kaum noch eine Lebensmöglichkeit. Diese persönliche Ausweglosigkeit einer Schwachen, der Zweifel an der Wahrheit der zwischenmenschlichen Lebensformen und die Sinnlosigkeit religiöser Tradition mit ihren Trostformeln ließen Chr. L. an ihrer eigenen Lebensfähigkeit zweifeln und führten zu einer schweren persönlichen Krise, die beinahe in einer Katastrophe geendet hätte.
Diese Krise wurde durch eigene Initiative nach einem Aufenthalt in der Nervenheilanstalt in Klagenfurt überwunden. Sie hatte sich in die Anstalt einweisen lassen, um die Zustände der Geistesgestörten kennenzulernen. Nach sechs Wochen verließ sie die Heilanstalt mit dem Bewußtsein, daß sie selbst nicht geistesgestört war und auch nie dieser Krankheit verfallen würde. Seither wußte sie, daß ihre Depressionen eine ihr vom Leben auferlegte Bürde waren, die sie bis an ihr Lebensende tragen mußte.
In der Zeit nach ihrer schweren Krise reiften in Chr. L. jene Gedanken und Anschauungen, die sie später in der Erzählung „Baruscha“ (erschienen im Leykam Verlag 1952) niederschrieb. Ist es möglich, wahr zu leben, den Mitmenschen anzuerkennen, unabhängig von Geburt und Veranlagung, auf persönliche Vorteile zu verzichten, dem Nächsten zu helfen, falls er Hilfe benötigt, ihn in seiner Einsamkeit und Verlassenheit als einen „Mitleidenden“ zu lieben? Wäre ein solches Leben der Menschen nicht ihr natürlichstes Verhalten, welches die eigene Existenz rechtfertigt und durch das der Mensch die Angst um seine Existenz verlieren könnte? Durch das zwischenmenschliche Fehlverhalten, das Streben nach Macht und Reichtum, werden die Menschen voneinander getrennt, zur Einsamkeit, zur Existenz- und Todesangst verdammt. Welchen Platz hat in einer Welt der materiellen Kämpfe der körperlich Schwache oder der Sanftmütige mit seinen Sehnsüchten nach Harmonie und Frieden? Ist seine Existenz, wenn er nicht Leistung erbringt und somit keine sichtbare Erfüllung im Dasein findet, überhaupt gerechtfertigt? Welche „Werte“ außer denen des Leidens hat er für die „Weiterentwicklung“ des menschlichen Seins im Kosmos erbracht? Hat das Leiden absolute Bedeutung für eine transzendente Existenz des Menschen oder ist es die Auswirkung einer Fehlentwicklung des menschlichen Daseins im kosmischen Geschehen? Das Leben der Seele nach dem Tode – ist es Realität oder religiöser Trost für die Pflichterfüllung der Glücklosen im irdischen Leben?
Zweifel und in seiner Gefolgschaft Angst und Hilflosigkeit führten zu einem Gefühl des AusgeIiefertseins an die Umwelt bei Tag und in durchwachten, einsamen Nächten zu den Angstzuständen des Ausgesetztseins im Kosmos. Chr. L. hatte Angst vor allen Neuerungen und unverhofften Ereignissen. Sie konnte nur in der ihr von Kindheit an vertrauten Umgebung leben. Nur einmal versuchte sie, ein neues Zuhause in Klagenfurt zu finden, hielt es aber dort nicht aus und kehrte in ihren Geburtsort St. Stefan zurück.
„… Richtig erwachsen werde ich ja doch nie sein, auch wenn ich in mancher Hinsicht uralt bin. Immer werde ich Schutz und Hilfe not haben…“ (Brief an Deesen, 10.4.1962).
Den gegenwärtigen Zustand religiöser Indifferenz des europäischen Menschen, den unsere Gesellschaft mit ihrer positivistisch-fortschrittlichen Geisteshaltung im Gefühl ihrer Aktivität und Wandlungsfähigkeit selbstbewußt als eine Phase der Suche nach neuen Werten und Sinnvorstellungen menschlichen Seins ansieht, den empfand Chr. L. passiv als religiöses und seelisches Chaos, exemplarisch für die existentielle Krise der Gesellschaft im 20. Jahrhundert. Sie sah im Verhalten des heutigen Menschen die Zeichen geistig-seelischer Irrgänge, die zu einer katastrophalen Ausweglosigkeit seines Innenlebens führen, und stellte diese Seelenzustände in ihren Sprachbildern symbolisch als Existenzangst unserer fortschrittlich gesinnten Epoche dar.
Sie lebte ständig in einem inneren Zwiespalt, hervorgerufen durch zwei divergierende Kräfte: einerseits von der kindlichen und ängstlichen Seite ihrer Seele mit der Sehnsucht nach Hilfe und Tröstungen, wie sie die alte Religion anzubieten hatte, andererseits vom nüchternen Verstand, der dieses Verlangen nach Trost in der Religion zynisch beobachtete.
Trotz mangelnder Schulbildung fand sie durch Beschäftigung mit religiöser und philosophischer Literatur und durch Beobachtung ihrer Umwelt zu einer sehr persönlichen Daseinsvorstellung. Sie erkannte, daß die Vorstellung von der menschlichen Seele, wie sie sich im Bewußtsein des europäischen Menschen durch den historisch-kulturellen religiösen Prozeß entwickelt hatte, als die Verbindung zwischen menschlicher und göttlicher Person, nur ein amorphes Gefüge war, dessen Zusammenbruch sie nun miterleben und miterleiden mußte. Chr. L. war trotzdem geistig tief in der Tradition der abendländischen Seelenvorstellung verwurzelt: Christliche mystische Literatur, aber vor allem die Bibel war das Geisteswerk, das sie beeindruckte; sie hielt sie für Dichtung wie jede andere. Das Alte Testament mit seiner Gottesvorstellung vom harten, rächenden und auch vergebenden Gott, die Lebenswahrheiten darin, die den Menschen in Höhen und Tiefen seines Wesens schildern, waren maßgeblich für ihr frühes Weltverständnis, während sie das Johannesevangelium des Neuen Testamentes (nach persönlicher Aussage) als nahezu kitschig empfand. Ihr war die Vaterfigur des neutestamentlichen Gottes immer etwas suspekt.
Chr. L. konnte sich der Realität um das „Seelenleben“ des modernen Menschen und dem Geist der Zeit nicht verschließen. Erlebte sie doch unmittelbar die Auflösung der dörflichen Welt und ihrer Tradition, beobachtete an ihren Geschwistern, die in die Städte gezogen waren, den neuen daseinsorientierten Geist und die freien Anschauungen über Religion und Sitten. Verzichtete sogar die eigene, zeit ihres Lebens fromme Mutter in ihrer Sterbestunde auf das sie all die Jahre zuvor so tröstende Gebet, indem sie nach einer Aufforderung zu einem letzten gemeinsamen Gebet mit einer müden Handbewegung sagte: „Betets nur ihr.“
Das Bild von Gott als Vater, Erlöser und Herrscher im Himmel ist für den heutigen Menschen verloren, wird auch durch die Lehren der Wissenschaft fragwürdig und durch eine Kosmosvorstellung ersetzt, in welcher der Mensch seine Position und Bedeutung darin noch nicht erkannt hat. Der Mensch hat durch den Verlust der Idee seiner unsterblichen Seele als Ganzheit seinen Bezugspunkt zum Vatergott und damit zum Ewigen verloren. Er erkennt sich als „Ich“ in grenzenloser Einsamkeit, ein Ich, das aber durch den Tod sein ihm bekanntes Sein (Bewußtsein) verliert. So sucht es sich einen neuen Bezugspunkt im Irdischen, in der Gesellschaft, an der es sich selbst erkennt und in der es aufgehen kann. Es sucht sich in der Gesellschaft seinen Ersatz-Gott. Dadurch verliert Gott seine Bedeutung für das Seelenleben des heutigen Menschen. Die Gesellschaft mit ihrer Entwicklungsmöglichkeit ist jetzt Garant für das bleibende Sicherheitsbedürfnis. Der Mensch verfällt der Dämonie des Materiellen. Durch den Verlust der Gottesbeziehung der Seele des Menschen zerfällt auch ihre menschlich-göttliche Einheit und verliert damit ihre ursprüngliche Bedeutung. Sie wird durch moderne psychologische Interpretation versachlicht in eine Vielzahl „seelenkundlicher Begriffe“, wie Gefühle, Triebe, Aggressionen, Depressionen, Schmerzen, Lust und Unlust, ja Instinkte (Bezug zum Tierischen) aufgelöst, und in der Erkenntnis, die Vielschichtigkeit des menschlichen Wesens nicht bestimmen zu können, zum Unbewußten, Undurchschaubaren umfunktioniert. Der Ersatz der alten Lehre, die besagt, daß der Mensch von Gott erschaffen wurde und nach seinem Erdenleben wiederum zu Gott in den Himmel eingehen könne, durch die neuen Erkenntnisse von der Entwicklung des Menschen aus einer Urzelle zum historisch-gewachsenen Menschen führt zur Existenzfrage des modernen Ich im Kosmos. „Seit dem Neujahrtag stecke ich in einer unauslöschbaren Seelenangst…“ (Brief an L. v. Ficker vom 20.2.63).
Das einsame „Ich“ sucht mit seinem gequälten Bewußtsein das verloren gegangene „Du“. Die Lyrik Chr. L. ist die Suche nach dem Du und die Anrede dieses Du, das überall und alles sein kann. Diese Suche ist Haupttriebkraft ihres dichterischen Schöpfertums und die Unauffindbarkeit des Du Ursache für das Leiden des Ich. Chr. L. sah in der Zerstörung des „Heiligen“ an der menschlichen Seele – für sie war der Mensch eine seelisch-körperlich heilige Ganzheit (persönliche Aussage) – und dem damit verbundenen Verlust des Glaubens und ebenso der Hingabe an das Ewige, die Erniedrigung und große Tragik des, Menschen unserer Zeit. (Freud war für Chr. L. der böse Dämon, der Verursacher dieser Entwicklung. Seine Preisgabe der Ganzheit der Seele verurteilte sie – laut eigener Aussage.)
Die aus dieser innerlichen Leere des Menschen entstehende „Urangst“ versuchte Chr. L. in ihren Gedichten noch einmal durch die Heraufbeschwörung alter „bewährter“ christlicher, aber auch anderer religiöser Symbole zu verdrängen. Die einstigen Trostgestalten sind jedoch mit ihren Funktionen schon so weit vom Menschen der Gegenwart entfernt und unbeteiligt, daß sie ihm keinen Trost mehr bieten können.
…
und Jesu treibt in einem Kahn
sehr weit am andern Rand der Welt,
dort, wo die Helfer alle sind,
und meine letzte Hoffnung bellt
am Ufer durch den Gegenwind.
(„Bettlerschale“)
Die Seele des Menschen scheint in einer chaotischen Dynamik begriffen zu sein: Schmerz, Leid, Freude und Verzweiflung haben sich verselbständigt.
Wie pünktlich die Verzweiflung ist!
Zur selben Stunde Tag für Tag
erscheint sie ohne jede List
und züchtigt mich mit einem Schlag.
(Ebda)
Die im chaotischen Zustand existierende Seele hat ihren Bezug zum Kosmischen verloren. Das Ich stürzt in absolute Verlassenheit. Diesem Zustand kann es nur durch die Vorstellung der Einheit von Mensch und Natur entgehen. Dadurch wird es selbst Teil der materiellen Welt, unempfindsam und vom Leid erlöst.
…
Ich spür dann, daß mich niemand hört,
und sammle still die Funken ein,
mein Herz – das knisternd mich beschwört −
wird nach und nach zum Feuerstein.
(Ebda)
In dem Gefühl der Verlassenheit und dem Bewußtsein, daß Gott als Ziel der Verehrung (als Hort der Ordnung) dem Menschen entschwunden ist, sucht Chr. L. den nächsten mitleidenden Menschen als unmittelbaren Bruder und Tröster. Der Mensch kann dem Unheil entgehen, wenn er Erfüllung in der Liebe zum Nächsten und in der Teilnahme am Leid des Nächsten findet. Nur die Liebe und das Mitleid ermöglichen das Miteinander und können so den Tod überdauern und ein Weiterbestehen seiner Existenz im Kosmos gewährleisten. Dieses Mitleid wurde von Chr. L. auch im Privatleben geübt. Sie konnte kaum einen Wunsch abschlagen, den zu erfüllen sie in der Lage war: Ihre Hilfsbereitschaft – vor allem gegen die Bedürftigen ihrer Verwandtschaft – ging bis an die Grenze ihrer Möglichkeiten.
1939 hatte sie aus Mitleid den um 30 Jahre älteren, geschiedenen Kunstmaler J.B. Habernig, einen verarmten Gutsbesitzer, geheiratet. Auf das Drängen ihrer Geschwister, doch den zweiten, jüngeren Bewerber zu heiraten, sagte sie: „Ich kann nur Habernig heiraten!“ Sie wußte, daß dadurch ihr Leben noch schwieriger werden würde. Im Dorfe wurde sie wegen der Heirat mit dem geschiedenen Manne angefeindet, und es wurde ihr nahegelegt, nicht mehr in die Kirche zu gehen.
…
Nur meine Liebe, Tod, die bring ich mit!
Für die mußt du, wenn du mein Obdach bist,
den besten Winkel meiner Hütte richten
und, wenn es sein kann, baue auch ein Fenster,
damit der Stern, der gute, den ich meine,
ihr dort zu Diensten geht mit allem Trost,
den ich ihr hier niemals hab’ geben können.
(„Bettlerschale“)
In ihrer eigenen Leiderfahrung kann Trost nur im Erbarmen mit dem Nächsten gefunden werden. „Wenn Sie meiner gedenken, dann bitte in diesem Sinne, daß ich nie aufhören möge, Erbarmen zu empfinden, reines – von keinem Vorwand maskiertes – Erbarmen“ (Brief an L.v. Ficker vom 25.4.1956).
Die Sehnsucht nach Geborgenheit, das Bedürfnis nach Ehrfurcht und die Vorstellung eines hohen Wesens (Gott), an dem sich alles Leben orientieren kann, beherrschten Chr. L. seit ihrer Kindheit und wurden für sie ein immer stärker werdendes Element ihres Bewußtseins. „Schon als Kind hatte ich die größte Sehnsucht nach Ehrfurcht und Vertrauen“ (Brief an L.v. Ficker, Juli 1955). Sie empfand jedoch, wie sehr sie selbst vom Glauben an das Höchste durch ihre Verzweiflung entfernt war. „Für Geschöpfe meiner Art ist es sehr weit bis zum Herzen Gottes. Deshalb mangelt es ihnen dann so sehr, so am allermeisten, an der wichtigsten Nahrung des Gemütes – an Ehrfurcht und Vertrauen“ (ebenda).
Die Urschuld für sein Ausgesetztsein liegt beim Menschen selbst, in seinem Unverstand und seiner Selbsterhöhung, die durch bewußte Verkomplizierung des Denkens vom einfachen Empfinden ablenkt zu geistigem Hochmut, zum Zweifel und zur Vernichtung des Glaubens führt. Sie schrieb über sich selbst dazu in einem Brief an L.v. Ficker (Nov. 1956): „Kompliziert ist bei mir gar nichts – trotz meiner Durchtriebenheit, nein, gerade deswegen, glaub ich – denn um durchtrieben sein zu können, muß man zuvor dumm und einfach sein.“ Obwohl sie sich dumm und einfach fühlte, war sie voll Zweifel. Wie stellte sich Chr. L. den Erkenntnisweg zum Göttlichen vor? „Immer mehr komme ich darauf, daß alles, was auf Gott und den Glauben Bezug hat, den Worten nach kaum je trocken und nüchtern genug gesagt werden kann… Das übersentimentale dürfte hierin schon viel Schaden angerichtet haben. Gerade dort, wo es oft nur um ein Haar geht“ (Brief an Erentraud Müller, 13.6.1959).
Um die Bewußtseinssituation der Glaubens- und Gottlosigkeit ertragen zu können, wird der Mensch als Leidensgefährte zum einzig ansprechbaren Du im Kosmos und damit auch zum einzig möglichen Trost des Ich in seiner Einsamkeit: „Ich brauche einen Menschen bis ich Gott habe“ (Brief an L.v. Ficker, Juli 1955).
Chr. L. war von Kindheit an gewohnt – durch ihre „niedrige“ Geburt und Armut – als Bittende und durch ihre körperlichen Leiden und depressive Veranlagung als Hilfebedürftige aufzutreten. (Generationen von Vorfahren waren ebenso zum Bitten und zum Dulden ausersehen). So wurden ihre Gedichte zum Teil Bitten und Gebete; von L.v. Ficker „Lästergebete“ genannt.
Sie kannte auch ihr zweites Gesicht, das dämonische – mit seinem Wissen um die neue Seele, das „Unbewußte“ mit seinen Triebkräften – jene andere Seite ihres Wesens, mitgeformt durch ihren kritischen Verstand, der das ausweglose Leiden als Sinnlosigkeit verdammte: „Gott hat mir jeden leichten Ausweg verschlossen. Von den beiden, die mir offen blieben, habe ich den dämonischen gewählt – damals…“ (Brief an L.v. Ficker, August 1955).
Eine ihr trotz körperlicher Schwäche innewohnende Vitalität konnte ihr Bewußtsein im Zustand schwerster Depressionen mit ungeheurer innerer Spannkraft bis zur Verfluchung ihres Schicksals treiben. Dabei durchlebte sie Stadien größten Elends, in denen sie in Momenten höchster Verzweiflung, aber im Bewußtsein der Kraft des eigenen Ich, ihr wahnsinniges Gelächter allem entgegenschallen ließ: Gott, den Heiligen, dem gesamten Kosmos mit höhnischem Selbstbewußtsein und dem masochistischen Gefühl totaler Selbstvernichtung und ewiger Verdammnis.
Die Demut ist ein dürres Pferd,
Verzicht ein schlechter Wagen,
doch wer voll Mut zur Hölle fährt,
kann Roß und Kutsche tragen.
…
Nicht rosenrot, nicht himmelblau,
ich bin für schwefelfarben! −
Adieu! – und bringt der lieben Frau
hier meine Sündengarben.
(„Höllenfahrt“)
Wer Chr. L. näher kannte, weiß um ihre schillernde, viele Facetten des menschlichen Wesens beherrschende Persönlichkeit Bescheid; in Perioden großer Aktivität sprühte sie in Gesprächen von Geist und Witz und strahlte eine Überlegenheit aus, die alle Anwesenden faszinierte und in ihren Bann zog. Sie wurde deswegen auch einige Male der Scharlatanerie bezichtigt. Die Perioden von höchster Aktivität am Höhepunkt ihrer Schaffenskraft waren jedoch für sie, wie sie selbst meinte, fragwürdige Glanzpunkte ihres Lebens, welche die ihr gegebenen Lebenskräfte so sehr beanspruchten, daß sie sich davon wie von einem ausschweifenden Lebensabschnitt nie mehr erholte.
Eine Analyse der Gedichte Chr. L. würde ein Nachschlagwerk für menschliche Gefühls- und Vorstellungsinhalte ergeben mit einer Empfindungsskala, die Höhen und Tiefen der menschlichen Seele auszuloten vermag: Von hündischer Ergebenheit bis zur Gottverfluchung, von höchstem Glücksempfinden bis zu tödlicher Verzweiflung, von Haß bis zur sich selbst vergessenden Liebe, vom erhabenen Selbstgefühl bis zum totalen Zusammenbruch. Chr. L. schien dazu ausersehen durch eine außergewöhnliche Sensibilität, eine ungeheure Phantasie und eine Veranlagung, welche das Leiden überall aufspüren mußte und es wie ein Medium auch von anderen als Bürde übertragen erhielt. Ihre bewußt gewählte Einsamkeit war für sie eine Existenznotwendigkeit.
Die Wege dieses für unsere Zeit einzigartigen Leiderfahrens Chr. Lavants führten in der dichterischen Aussage zu Stationen geistiger Auseinandersetzung mit verschiedenen religiösen Lehren und Traditionen, in die sich die Dichterin versenkte, und mit denen sie sich in sehr persönlicher Art ohne Kenntnis wissenschaftlicher Traditionen befaßte. Hauptstationen auf der Suche nach Leiderlösung waren für sie: das Alte und Neue Testament, mystische Literatur (Meister Eckehart), das östliche Geistesgut über die Wiedergeburt des Menschen und Seelenwanderung, Yoga (sie selbst saß zu Hause und auch in Gesellschaft gerne im Lotossitz), das Tibetanische Totenbuch, Literatur des Okkulten, Mythen, die neueren westlichen Religionslehren (Theosophie) sowie die modernen psychologisierenden, religionsauflösenden Lebens- und Seinsvorstellungen des „heutigen“ Menschen.
Jeder solchen religiösen oder philosophischen Seinsvorstellung des Menschen liegt auch eine eigene Leiderfahrung und Leiderklärung zugrunde, und jede Geistesrichtung hat spezifische Vorstellungswelten des Leidens, aber auch Trost- und Erlösungswege entwickelt. Keine dieser Weltanschauungen kann jedoch dem modernen kritischen und psychologisierenden Menschen mit seiner logisch-wissenschaftlichen Weltvorstellung ohne „naive“ Glaubenskraft Erlösung bringen. Es erhebt sich die Frage, ob wir zu diesen Vorstellungen noch fähig sind und ob wir überhaupt noch die Vorstellung von Erlösung im alten Sinne benötigen. Auch die Frage findet man in den späten Gedichten oder in dem Essay „Die Stille als Eingang des Geistigen“.
Die Ausweglosigkeit der modernen „menschlichen Seele der Jetztzeit“ beherrscht als Grundthema die Sprachbilder der Lyrik Chr. L. Von dem ihr vom Schicksal auferlegten körperlichen und seelischen Leid suchte die Dichterin durch Beschäftigung mit religiösen und philosophischen Lehren und durch Erkenntnis Erlösung zu finden, durchwanderte die diesen Religionen innewohnenden Leidensarten, versuchte sich in den aufgezeigten Erlösungswegen und wurde so zu neuen Metaphern angeregt. Aus dieser Vielfalt der Erkenntnisbilder entstand die persönliche dichterische Ikonographie der Chr. L., ihre Geisteswelt der Sprachbilder, durch deren Niederschrift und Sichtbarmachung sich die Dichterin Erkenntnis und damit Befreiung von den Zuständen der Ungewißheit und der Ausweglosigkeit erhoffte. Diese Sprachbilder mit ihrer religiösen Metaphorik formen sich um die Lebewesen und Dinge (Tiere, Pflanzen, Mond) der natürlichen Umwelt.
Die dichterische Schilderung ihres Erlebens und Leidens um die Existenz des „modernen Ich“ ist ihr künstlerisches Vermächtnis für diejenigen, die leiden müssen, die zu leiden imstande sind, die den Sinn des Leidens in der Haltung des Duldens sehen, eines bewußten Duldens, welches das Leben als Gnade erkennt, die dem Menschen nur einmal zuteil wird. In ihrer Einsamkeit erlebte die Dichterin diese sie umgebende Welt mit ihren Erscheinungen im Gefühl der Verbrüderung, der Angst oder Feindschaft. Hier fühlte sie sich als eigener geistiger Mikrokosmos in einem transzendenten Kosmos. Sie lebte abseits jener primär daseinsorientierten aktuellen literarischen Welt mit ihren Auseinandersetzungen um eine neue dichterische Sprache, die den sozialen und politischen Themen der Massengesellschaft und der neuen materiellen Wirklichkeit entsprechen wollte. Es mag sein, daß das Generalthema der Dichtung Chr. L. im lauten Trubel der modernen Massengesellschaft mit ihrer Produktion von Waren und Massenliteratur in Massenmedien und mit ihren absatz- und gewinnorientierten Verteilungssystemen nicht entspricht. Derzeit scheint die Angst des menschlichen Ich um einen Platz im Kosmos „nachher“ wegen des herrschenden materiellen Überflusses vielleicht weniger aktuell zu sein, und es besteht daher scheinbar auch ein geringer „Bedarf“ an Lyrik wie jener Chr. L.
Ein weiteres Phänomen, das sich bei Betrachtung des Standortes ihrer Lyrik zeigt, ist, daß auch die dichterische Eigenständigkeit Chr. L. zu wenig erkannt und gewürdigt wurde. In literarischen Kreisen haftet ihr noch immer der Makel der Epigonalität an. Sie wird als später Ausläufer der romantisch-klassischen und expressionistischen Dichtung angesehen, als ein später Nachfahre, der die sprachlichen Methoden Rilkes und Trakls aufnahm und eine Art Nebenerscheinung dieser literarischen Richtung darstellt. Formal gibt es Parallelen vor allem in Teilen der frühen Werke, aber nicht in der Thematik und im Inhalt der Hauptwerke dieser Dichtung. Rilke war für Chr. L. der große Lehrmeister im Formalen, er lehrte sie schauen, zeigte ihr eine neue Art der lyrischen Schilderung, vermittelte ihr die Kunst der Metaphorik.
Es ist kaum vorstellbar, aber Chr. L. hatte bis zum Jahre 1945 keinen Kontakt zur modernen Literatur der Jahre vor dem 2. Weltkrieg. Durch Rilke wurde ihr ein Tor zu einer neuen Welt der Sprache aufgestoßen, einer Welt, die sie bisher nicht kannte, die ihrer latenten schöpferischen Bereitschaft nun ermöglichte, das zu schildern, was sich in ihrem Geist und Gemüt an Leiden und Erkenntnissen in Jahren davor angesammelt hatte. „Ich war wie ein Brunnen, den man geschlagen hatte“. (Nach der Rilke-Lektüre 1945. Ausspruch in der Fernsehsendung Zu Gast bei Chr. L.) Mit einer nahezu unheimlichen Produktivität, aber auch formalen Perfektion und einer plötzlich fertigen eigenen Sprache wurde alles ausgeströmt und in Sprachbilder und Gedichte formuliert – Gedanken, Zustände −, die sich bisher nicht so hatten formen lassen, wie es die Dichterin in ihrer Selbstkritik und den ihr selbst auferlegten und als richtig empfundenen ästhetischen Maßstäben von sich gefordert hatte („ich habe Hunderte von Gedichten vernichtet“).
Rilke hatte Chr. L. die dichterische Sprache gelehrt, sie hat in ihrer neuen dichterischen Frühzeit seine Sprache gesprochen und hat sich seiner lyrischen Kraft hingegeben. Dies kommt im ersten veröffentlichten Gedichtband Die unvollendete Liebe zum Ausdruck (Brentano Verlag 1949). über diesen Gedichtband hat sie sich später sehr selbstkritisch geäußert.
Persönlichkeit und Existenzproblematik, die gesellschaftliche Stellung, die Impulse für ihre dichterische Aussage, die Vorstellung über die Aufgabe der Dichtung auf Grund des persönlichen Lebensweges und ihrer Erfahrungen sind von denen Rilkes so verschieden, daß für den kritischen Leser auch in frühen Gedichten bereits die Anzeichen der späteren Eigenständigkeit Chr. L. deutlich werden. Mit der Trilogie Bettlerschale, Spindel im Mond und Pfauenschrei erreichte Chr. L. ihren dichterischen Höhepunkt in kurzer Zeit. Sie spricht darin ihre unverkennbare eigene Sprache über das ihr auferlegte Thema.
Eines hat Chr. L. mit Rilke sicher gemein: auch ihre Lyrik ist Weltanschauung, Seinsvorstellung und Seinserklärung in Gedichtform. Nur so ist Lavants Werk zu verstehen. Der geistige Inhalt eines Gedichtes kann nur voll erschlossen werden durch eine Vers für Vers analysierende Interpretation, diese wiederum ist zum Teil nur möglich, wenn der Leser die Symbole jener Religionen, Weltanschauungen und Mythen kennt, die Quellen für die Bilder ihrer Dichtung sind. Den Unterschied zwischen den Persönlichkeiten Rilkes und Lavants veranschaulichen die Selbstzeugnisse der beiden Persönlichkeiten über ihre Dichtung. Die folgenden Zitate zeigen, wie verschiedenartig ihre Stellung zum Lebendigen und Seienden sich darstellt, und welche Konsequenz jeder aus seiner Erkenntnis für sich gezogen hat.
Rilke: (1921)
Oh sage, Dichter, was du tust?
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa− Ich rühme.
Aber das Tödliche und Ungestüme,
wie hältst du’s aus, wie nimmst du’s hin?
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa− Ich rühme.
Aber das Namenlose, Anonyme,
wie rufst du’s Dichter, dennoch an?
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa− Ich rühme
Woher dein Recht, in jeglichem Kostüme,
in jeder Maske wahr zu sein?
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa− Ich rühme
Und daß das Steile und das Ungestüme
wie Stern und Sturm dich kennen?
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa− weil ich rühme.
Rilke empfindet sich bewußt als Dichter, der als Außenseiter dieses Leben als einen Teil des Seins trotz all seiner Unzulänglichkeiten und Leiden ob dessen Kraft rühmt und durch die dichterische Sprache zu verwandeln sucht. Der Dichter ist Seher und steht als Auserwählter, Wissender und dadurch als ein zu größerem Leid Ausersehener dem Leben gegenüber. Er ist imstande, das irdische und jenseitige Sein in seiner Größe zu erahnen. Rilke hat bis an sein Lebensende geschrieben. Um zur Ganzheit des Lebens zu kommen, muß der Mensch die Schwelle des Todes überschreiten. Der Tod ist die von uns abgekehrte Seite des Lebens. Die persönliche Überwindung von Leben und Tod findet Rilke für sich selbst mit der Symbolgestalt des Orpheus, in einer sowohl das Leben als auch den Tod bejahenden Geisteshaltung, durch Orpheus, der das Leben besingt und doch durch Eurydike die Verbindung zur Welt des Todes findet.
Dieses Gesamtsein „zu rühmen“, darin fand Rilke seine dichterische Erfüllung.
Christine Lavant hat in ihrer Dichtung keine endgültige Erfüllung gefunden und sich später teilweise sogar von ihr distanziert; sie verzichtete in den letzten Jahren ihres Lebens bewußt auf die Dichtung als Daseinshilfe. Ihre geistige Aussage ist nur vollkommen verständlich, wenn man ihr bewußtes Schweigen in den letzten Jahren vor ihrem Tode als eine Fortsetzung ihres geschriebenen Lebenswerkes betrachtet.
Christine Lavant (Brief an Erentraud Müller, 27.8.57):
… Es wird mir auch das immer unheimlicher und unverständlicher, wieso ich zu der „Kunst“ geraten bin…
… die „Kunst“ hat vielleicht immer u. überhaupt etwas Zerstörendes, nur in verschiedener Art u. verschiedenen Graden. Manchmal richtet sich das Zerstörende schon gegen den, der sie „macht“, und kommt dann entweder abreagierter oder auch gereinigter zu den anderen, manchmal geschieht dem, der sie „macht“, nicht viel und dafür alles den anderen, und manchmal geschieht niemandem was, weil überhaupt nichts dahinter ist oder aber weil es schon nimmer bloß Kunst, sondern erhöhte Natur ist.
… (Ansicht der Theo- und Anthroposophen: Kunst = luziferisch) Meine zunehmende Furcht vor der „Kunst“ hat natürl. mit Luzifer nichts zu tun, sondern nur mit dem unfaßbaren Zwiespalt, der in mir durch das Dichten entstanden ist. Nur ein Heimweh ist da in mir nach der Zeit vorher. Aber wahrscheinlich stimmt das alles, was ich da zusammengeschrieben habe, bloß für mich. Sicher gibt es auch heile und unschädliche Kunst…
(Aus dem Brief an Deesen, 27.3.1962):
… Überhaupt ist mir das Dichten so peinlich. Es ist schamlos
… wäre ich gesund und hätte 6 Kinder, um für sie arbeiten zu können: das ist Leben! Kunst wie meine, ist nur verstümmeltes Leben, eine Sünde wider den Geist.
Die Frage nach der Ursache des Leides war für Chr. L. im realen Leben nicht mehr zu beantworten, es gab für sie letztlich keine Erlösung im irdischen Dasein durch dichterische Erkenntnis. Bis zu ihrem natürlichen Tode führte sie um das eigene Leben einen Kampf mit sich selbst, einen Kampf mit jenen äußeren und inneren Kräften, die ihr zur Selbstvernichtung rieten. Dabei wurden ihr zu Gefährten und Brüdern, Zeichen der Hoffnung oder der Verzweiflung: Tiere, Pflanzen, Steine, Mond und Gestirne, mit denen sie sich zu einer mythischen Einheit verwoben sah, die auch auf die Gefühlszustände und die Existenz des Ich einwirken konnten. Diese Verbrüderung mit der toten und lebendigen Natur scheint eine Entsprechung in der modernen wissenschaftlichen Deutung des Lebens und seiner Entstehung aus einer Ur-Materie zu finden. Dieses ihr vom Schicksal auferlegte dämonische Ahnen um die Existenz des menschlichen Seins mit seinem Leidenszwang, aber auch um die Sinnlosigkeit einer dichterischen Klage darüber, verstärkte in Chr. L. jene Sehnsucht nach dem einfachen kreatürlichen Leben, von dem sie durch ihr Schicksal ausgeschlossen wurde: das Leben des unkomplizierten, tatkräftigen und natürlichen Menschen, ein Leben nahezu in Selbstvergessenheit durch bewußte Selbstbescheidung und Selbstaufgabe, um in Harmonie mit Erde und Kosmos zu leben, zu zeugen und damit Anteil am Ewigen zu haben. Diese Vorstellung vom Sein und Sinn des menschlichen Lebens war mit Ursache zum persönlichen Verzicht auf weiteres Schöpfertum und dichterische Aussage.
In Erkenntnis ihres Außenseitertums wußte sie, daß der künstlerischen Darstellung ihrer persönlichen Leiderfahrung und deren öffentlicher Preisgabe Grenzen gesetzt waren. Ihre Bewußtseinszustände in Zeiten der Depressionen erreichten einen Schmerzensgrad, der für sie mit dem Maß der Kunst wahrscheinlich nicht mehr zu messen war, den zu erfassen und preiszugeben Unrecht dem Leben gegenüber gewesen wäre. Die Depressionen nahmen in den letzten Jahren zu, noch verstärkt durch den Tod dreier Schwestern; an dem Tod der einen Schwester fühlte sich Lavant zum Teil mitschuldig, da sie nicht fähig gewesen war, tatkräftig zu helfen. Nahezu zwei Jahrzehnte lang hatte sie an Schlaf- und Appetitlosigkeit gelitten. Auch verstärkten sich ihre körperlichen Leiden zusehends. Eine vorübergehende Linderung ihrer Zustände konnte sie nur durch die Einnahme von Drogen erreichen. Mehrere Krankenheimaufenthalte waren für eine kurze Zeit der Kräftigung erforderlich geworden. Sie lebte zuletzt ohne künstlerische Überhöhung und Anmaßung in völliger Zurückgezogenheit und hielt ihr Leben mit dem ihr auferlegten Maß an Schmerz und Verzweiflung im bewußten Verzicht auf die Kunst durch.
Vier Monate vor ihrem Tode schrieb sie an ihren Arzt und Freund, Dr. Scrinzi (29.1.1973): „Ich werde mir nichts antun – was nicht schon vom Kosmischen her mir angetan worden ist und abläuft wie eine Uhr. Teilhard de Chardin hat das Wort vom ,kosmischen Ur-Teil‘ geprägt. Ein hartes Wort. Aber ist nicht alles Weise u. Gesetzmäßige hart?… Und doch muß es dazwischenhineingewebt einen zarten Faden aus Gnade geben, sonst hätte ich Sie nicht kennen gelernt.“
Armin Wigotschnig, aus: Christine Lavant: Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben, Otto Müller Verlag Salzburg, 1978
Ich weiß nicht, habe ich zuerst Fotos von ihr gesehen oder Gedichte gelesen? Der Eindruck: eine Nonne, eine verschmitzte Närrin, eine Zauberin, eine Sprachalchimistin, eine Ketzerin, ein hohlwangig-großäugiges Hutzelwesen, eine Frau mit siebtem Sinn, eine Verrückte der begnadeten Art. Ob ich ihr hätte begegnen wollen? Dann hätte es gegolten, ihrem Blick standzuhalten, ihre strickenden Hände lieb zugewinnen, ihre herbe Entschiedenheit zu parieren. Einfach bewundern – no way. Auch wenn vieles in ihrem Leben und Werk wundersam erscheint.
Wundersamerweise hat sie die Skrofulose, zig Lungenentzündungen und eine Lungentuberkulose überlebt, überlebt hat sie auch einen Selbstmordversuch und schwere Depressionsschübe, eine Amour fou und bittere Armut. Das Schreiben hat geholfen, eine Zeitlang. Doch als der Preissegen kam, war sie über das Schreiben hinaus. Abgetan, abgehakt, die Worthörigkeit. Als wäre sie mit den Worten ihrer Herkunft und Bestimmung untreu geworden. Und hat es doch geschafft, in die Weltliteratur einzugehen.
Klug wird man aus Christine Lavant nicht. Ein Bauernweib oder eine Mystikerin? Ein Naturtalent oder eine berechnende Spielerin? Eine Körperfetischistin oder eine Asketin? Ein Genie der Selbstinszenierung oder Medium? Wahrscheinlich alles, in dialektischer Widersprüchlichkeit. Da fällt mir Thomas Bernhards Bemerkung (in einem Brief an Elisabeth Borchers) ein, die Lavant habe „auf der Betondecke eines Supermarktes an einer Straßenkreuzung in Wolfsberg“ gewohnt und „ihre Gedichte gleich in die Maschine“ getippt, was großartiger sei „als das verlogene Weltfremdmärchen mit katholischer Talschlussromantik“.
Ach ja, der kärntnerische Katholizismus. Hat Lavant ihn mit ihrer persönlichen religiösen Metaphorik ausgehebelt? Gilt ihr ekstatischer Wortschatz menschlicher Liebe statt dem Allerhöchsten? („Gewiss bin ich nimmer ein Gottesgeschöpf. / Du hast mich aus seinen Fingern gerissen / und gänzlich verändert mit deinem Atem / und später am Heimweg verloren.“)
Sterne, Mond, Hunger und Durst machen die Runde, Wölfe und Lämmer, Winde und die Sonne (als Rad, Netz, Brot, Stirne, Nuss, Spiegel, Rose). Doch die Welt ist nicht ein vom Ich abgetrenntes Außen: „Elstern und Krähen nisten im Baum meiner Seele“, „winzige Schwalbe in meinem Gemüt“. Märchenhaft gebärdet sich die Kreatur, umgeben von Engeln und Dreifaltigkeiten, während sich das liebestolle Ich wünscht, „in den Büschen der Schwermut“ verloren zu gehen. Aber schon rappelt es sich wieder auf, brennt lichterloh, verspricht dem geliebten Du, „aus dem Zement eine Blume“ herauszustampfen und „in die Mitte der geheimen Kraft“ zurückzukehren.
Die größtenteils an den Kärntner Maler Werner Berg adressierten Gedichte der Bände Die Bettlerschale und Spindel im Mond oszillieren atmosphärisch zwischen Stärke und Schwäche, verbinden Archaik und Emphase, verstörend direkt und in schmerzlichen Bildern, etwa wenn wilde Wölfe „ums Beinhaus jeder Liebe jaulen“, „Täuschernamen in den Trommelfellen“ nisten und die Finger „verkreuzt, gesternt, auch oft verknotet im Angstschweiß liegen“. Es gibt ein gerüttelt Maß Expressivität, doch nichts Klischeehaftes. Biblisch-religiöser Wortschatz, Märchenton, Klage gehen aparte Verbindungen ein, während Zahlen und Formelemente ihre eigene Stringenz entfalten.
Zwiespältig steigt der Hahnenschrei
am eingefleischten Tod vorbei,
ich muß den Apfel schälen.
Fünf kranke Bettler zählen
die Bissen meinem Munde vor,
der sechste schläft im Brauentor,
läßt sich durch nichts erwecken.
Mein Herr legt weite Strecken
auf seinem Sieben-Stern zurück
und gibt nicht acht, versucht das Glück
neunäugig zu erzwingen.
Mein Blut fängt an zu singen
wie Wasser, das durch Feuer muß,
der Hahnschrei knackt die Sonnennuß
und läßt das Taube fallen.
Das sammle ich für meinen Herrn
rund um den letzten Apfelkern
und schleudere den Ballen
ins Feuer, das nach oben leckt
und endlich auch den Schläfer weckt –
einäugig hält er Wache…
Er stellt das wilde blinde Glück,
der Tod weicht Schritt für Schritt zurück,
still fliegt der Hahn vom Dache.
Schon die ersten drei Verse rufen ein leichtes Schaudern hervor: der zwiespältige Hahnenschrei, der „eingefleischte Tod“ (eine seltsame Kontamination, die an Jesu Tod und das „incarnatus est“ denken lässt, aber einen ganz neuen Klang erzeugt), und das prosaisch-alltägliche „Ich muß den Apfel schälen“ (nur nach einigem Überlegen denkt man an Evas Paradiesapfel). Dann plötzlich die fünf, nein sechs Bettler. Wir befinden uns in einem Zahlenreigen. Im ersten Vers hatten wir die Zwei (zwiespältig), nun sind wir – die Drei und Vier überspringend – bei fünf und sechs. Die symbolträchtige Sieben folgt im „Sieben-Stern“, einem Planeten der Träume des geliebten „Herrn“, während sich die Acht schillernd in „gibt acht“ versteckt, begleitet von „neunäugig“, der Zahl geballter Macht. Hier, fast in der Mitte des Gedichts, unternimmt das Ich – leidenschaftlich und kämpferisch – den Versuch, das lebensgefährdende Feuer zu löschen beziehungsweise den Schlafenden zu wecken, der „einäugig“ (voilà die Eins) Wache hält. Mit dem „wilden, blinden Glück“, das der Wachgewordene bereithält, ist der Tod abgewendet.
Diese Beschwörung der Liebe zur Vertreibung des Todes operiert mit dem Bild des Feuers, des Hahnenschreis und der Schlafenden (letztere Motive erinnern an die biblische Ölbergszene). Viel Dramatik, wobei sie durch die Zahlen und die formale Organisation des Gedichts gleichsam gebannt scheint: wir haben acht Paarreime und vier Kreuzreime, die 24 Verse sind klanglich streng gebunden. Als ob Passion und „wildes, blindes Glück“ der Kontrolle bedürften, um dem Tod zu entgehen.
Paradox ist die Liebe, und immer wieder paradox sind Lavants um die Liebe kreisende Gedichte. Auch dieses:
Ich lerne das A und das O.
Und am Mondkelch verbiegt sich der Rand,
meine Fußsohlen atmen im Sand,
im Kornfeld verneigt sich das Stroh.
Was ich schaue, verschiebt mir die Welt
um dreimal drei Schmerzen zurück,
deinem Namen entfällt jetzt ein Stück,
das dem O seinen Umgang verstellt.
Dies richtet den Mond wieder ein,
vorbei geht der Kelch und der Trank
und das Korn steht im Wickengerank
viel steiler und glänzt wie Gebein.
Meine Sohlen ersticken im Sand
und die Handflächen falten sich zu,
an der Wurzel von meinem Verstand
nagt ein fremdes gefräßiges Du.
Befremdung, ausgelöst vor allem durch die Schlusszeilen. Wer nagt da am Verstand, das nimmersatte Du des Geliebten? Gut möglich in einer Amour fou, die den Kopf benebelt und das Herz Wechselbädern aussetzt.
Das vierstrophige, kreuzweise gereimte Gedicht in meist dreihebigem daktylischen Versmaß beginnt mit dem ruhigen Satz:
Ich lerne das A und das O.
Geht es um das Alphabet der Liebe? Etwas Bedeutendes muss es schon sein, da sich der Mondkelch verbiegt und das Kornfeld verneigt. Doch nicht nur die Natur gebärdet sich außergewöhnlich, auch das lyrische Ich nimmt neu wahr, erlebt die Welt „um dreimal drei Schmerzen“ zurück verschoben, also in einem fundamental heilen – oder unheilen? – Zustand. Nun folgen zwei seltsame Zeilen:
deinem Namen entfällt jetzt ein Stück,
das dem O seinen Umgang verstellt.
Ein verlorener Buchstabe stellt sich in die Quere, doch wie genau, wird nicht klar. Klar ist nur, dass der Mond dadurch wieder ,ein-‘ oder aufgerichtet wird, dass er, der im zweiten Vers als „Mondkelch“ mit verbogenem Rand bezeichnet wurde, jetzt intakt ist, während „Kelch und Trank“ an ihm vorbeigehen (im Ohr klingt der Bibelvers aus der Ölbergszene: „Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber!“ und jener andere: „Mein Vater, wenn dieser Kelch nicht an mir vorübergehen kann, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe Dein Wille!“) Klar wird auch, dass das eben noch geneigte Korn nun steiler steht, wobei es unheimlich „glänzt wie Gebein“. Kein gutes Omen. Das wird bestätigt durch die letzte Strophe. Im Sand erstickende Sohlen, sich faltende Hände – und der Verstand Opfer eines gefräßigen Du.
Auch das nicht restlos Erklärbare, nicht vollends Auslotbare gehört zu Lavants poetischer Rede. Zwar scheinen die Bilder und Klänge gewissen Gesetzen zu folgen, doch fehlt es nicht an Bruchstellen, Rätseln, Widersprüchen. Widersprüche tun sich auch zwischen den Gedichten auf, vor allem dort, wo es um die Wunder und Wunden der Liebe geht. Als hätte sich Lavant der Devise verschrieben: Bloß nicht glätten, explizieren, banalisieren. Gedankensprünge, Stimmungswechsel und Bildrisse in Kauf nehmen, auch mal den Faden verlieren, „Nägel und Nelken“ nicht scheiden, sondern zusammen betten. Und keine Anfänge scheuen, die wild und verrückt sind.
Lavants Anfangszeilen haben es in sich: „Kämme mich schnell mit dem Hahnenkamm“, „Dem grünen zornigen Apfel / werde ich später gewachsen sein“, „Sei heute, aber für immer“, „O du getigerter Mond!“, „Mein Schicksal ist übrig geblieben“, „Ich danke dir für dieses Gift“, „Wach dann nicht auf, schick jeden Alptraum her!“, „Wenn es die Amsel nicht war, war es die Agelaster“, „Ich will vom Leiden endlich alles wissen!“, „Stein, wann gehst du zum Abendmahl?“, „Kauf uns ein Körnchen Wirklichkeit!“ Das sind elektrisierende Anfänge, denen man nicht widerstehen kann und deren Fortsetzung oft unerhört und provokativ ist:
Kauf uns ein Körnchen Wirklichkeit!
Wir könnten doch endlich auch Schwarzbrot essen
statt eingezuckerte Engel.
Das Gedicht über Hunger und Durst endet dann so:
Ich mag nicht mehr durstig schlafen gehen,
ich mag auch die fluchende Kehle nimmer
mit Essig ans Beten gewöhnen.
Eine große Ketzerin war sie, diese Christine Lavant. Eine große Dichterin von existenzieller Verve. Ihre Worte zergehen nicht wie Zucker, man muss sie kauen wie Schwarzbrot. Und wenn sie bitter schmecken, nähren sie noch besser.
Ilma Rakusa, aus Klaus Amann, Fabjan Hafner und Doris Moser (Hrsg.): Drehe die Herzspindel weiter für mich, Wallstein Verlag, 2015
– Einige Überlegungen zur religiösen Bilderschrift Christine Lavants. –
Das Messer des Mondes
Wer in einem modernen Gedicht nach dem Mann im Mond fragt, gerät unweigerlich in den Verdacht der Gestrigkeit. Vor einem halben Jahrhundert hat man einer Dichterin gerade noch die Anrufung eines Sternbildes, nämlich des Großen Bären gestattet. Aber die Frage nach dem Mann im Mond? Christine Lavant hat sie 1956 noch gestellt, in einem Gedicht des Bandes Die Bettlerschale, und zwar unter Abwesenheit jeder Ironie. Wer in die lunatische Nachtwelt ihrer Poesie eintritt, dem eröffnen sich ständig beunruhigende Zeichen am Himmel, fatale Gestirne, mythische Menetekel.
Seine traditionelle Menschenfreundlichkeit hat der Mond, dem die Dichterin – wie sie an einer Stelle bekennt – „ihr Gemüt überlassen“ hat, in den Gedichten jedoch eingebüßt. Viele Jahrhunderte hindurch hat die Poesie den Mond als verlässlichsten Himmelskörper mit den höchsten Sympathiewerten gefeiert: als auratische Erscheinung, begütigendes Gestirn und trostbereiten Hausgenossen. Die romantische Lyrik kennt die Mondnachtschwärmer, die stets darauf gestimmt sind, sich von seiner sanften Gegenwart und begütigenden Physiognomie faszinieren zu lassen. „Niemand“, so behauptet denn auch der Philosoph Hans Blumenberg in seinem kosmonautischen Werk Die Vollzähligkeit der Sterne, „hat je unter ihm (dem Mond) gelitten, niemand sich zur Sinnlosigkeit entschlossen, gegen die keine Drohung mit vorzeitigen Toden aufgekommen wäre… wir sind weit davon entfernt, uns in einem Schuldverhältnis zu sehen.“ Dass dieser so emphatisch gefeierte Mond zwar leuchtet, aber nicht wärmt, hätte Blumenberg zur Skepsis mahnen müssen.
Bei der Lektüre Christine Lavants erkennt man, dass bei der Beschwörung des Mondes auch andere Kräfte, Affekte und poetische Energien wirksam sein können als eben nur lyrisch begütigende. Der Mond steht zwar auch bei ihr im Zentrum eines poetischen Kultes: So ist er im Gedichtband Spindel im Mond allgegenwärtig, ein mythisches Objekt, das in unterschiedlichster allegorischer Gestalt seine Sogkräfte zu entfalten vermag. Selten präsentiert er sich aber als ein verheißungsvoller, viel häufiger als ein bedrohlicher Trabant, der das Ich, das seine beschwörenden Formeln an ihn adressiert, in seinen Grundfesten erschüttert. Und von nichts spricht diese mondsüchtige Dichtung häufiger als von jenen metaphysischen „Schuldverhältnissen“, deren Ende Blumenberg in seiner Mond-Analyse konstatierte.
Schon auf dem Umschlagbild des Gedichtbandes Spindel im Mond, das nach einem Holzschnitt des Malers Werner Berg entstanden ist, fällt die Verlassenheit und Unwirtlichkeit der nächtlichen Szenerie auf, die der Mond beleuchtet. Das Licht fällt hier auf eine eigentümliche Menschenleere, in der die Sehnsuchtsperspektive eines romantischen Subjekts abgewiesen wird. In den Gedichten selbst ist eben nicht nur die titelgebende „Spindel“ präsent, die im Mond „verborgen“ die Lebensfäden der schicksalhaft an den Himmelskörper gebundenen Menschenwesen knüpft. Hier zeigt der Mond auch besitzergreifenden Ehrgeiz, indem er diktatorisch die ihm Unterworfenen auf Wege „schleift“, die ihnen zugedacht sind. Es kann den Figuren auch blühen, von einem „Mondgeweih“ durchbohrt zu werden – ein etwas inkonsistentes Bild. Oder aber es startet ein „Mondhuhn“ seinen Flug über die Dächer und in der Natur beginnt es zu brodeln. Auch die christliche Motivik ist den mondsüchtigen Gedichten der Lavant unmittelbar eingewebt: Das lyrische Ich bekundet im Schlussvers eines Gedichts die Absicht, der Nacht „das Mondkreuz“ tragen zu wollen. Und schließlich verwandelt sich der Mond in eine Waffe: „das Messer des Mondes“ trennt die „Bildschrift“ der Natur. Vom Mond der Christine Lavant können wir also nicht unbedingt aufklärerische Erleuchtung erwarten, sondern müssen damit rechnen, dass er uns in der nächtlichen Szenerie in seine Gewalt bringen will, oder dass er als schrecklicher Engel zum Todesboten wird:
Neunzig Monde dem Tod entlang!
In diesem Zusammenhang kann es kaum noch verwundern, dass Christine Lavant die säkulare Entzauberung des Mondes im Juli 1969 heftig beklagt hat. Als der amerikanische Astronaut Neil Armstrong seinen Fuß auf den Erdtrabanten setzte, reagierte sie mit Empörung auf die Entweihung ihres Himmelskörpers.
Die Vormundschaft des Todes
Es ist klar, dass man mit solchen Mond-Sehnsüchten bereits 1959, im Erscheinungsjahr des Spindel-Bandes, nicht mehr die Zuneigung der lyrischen Avantgarde wecken konnte. In seinem bewundernswert eloquenten Totalverriss der deutschsprachigen Nachkriegslyrik aus dem Jahr 1962 hat zum Beispiel Peter Rühmkorf das Spiel mit den alten schweren Zauberzeichen und Sehnsuchts-Symboliken für obsolet erklärt. „Einsiedler, Pilger, Eremiten und andere seltsame Heilige“, so spottete Rühmkorf, und verwies implizit auch auf die Dichtung der Lavant, „deuteten den Vogelflug, lasen die Schattenspur, wiesen die Fährte… zu Örtern einer exquisiten Einsamkeit“. In seinem Katalog an lyrischen Modernitätsbeweisen lassen sich die Gedichte der Lavant jedenfalls nicht unterbringen:
Absage an tragische Entsagungsmuster und sauertöpfische Heroität, Ablösung des Klagegesangs durch die Groteske, Verstellung von Pathos und Ironie.
Die Lyrik-Debatte der sechziger Jahre hat sich durch solche Anweisungen nachweislich einschüchtern lassen. Rühmkorf selbst übrigens hat 1958/59, in einem seiner kunstvollsten Gedichte demonstriert, welche moderne Verwendung des Mond-Bildes er noch für relevant hält. Dabei hat er eine berühmte sarkastische Zeile erfunden, die später zum Lieblingsvers des Dramatikers Heiner Müller avancierte:
Schön ist der Mond über Polen,
einen Genickschuß lang.
Groteske statt Klagegesang, Ironie statt Pathos: Christine Lavant ist dieser Gebrauchsanweisung nicht gefolgt. Und doch ergreift uns die Bilderschrift ihrer mondsüchtigen und visionär illuminierten Halbschlaf- und Albträume heute noch mehr als die zahllosen ironischen Gegengesänge der ernüchterungswilligen Moderne und Postmoderne.
Woher kommt das? Gewiss gibt es Zweifel an mancher naiven Fügung, gewiss haben wir heute die Skepsis erlernt gegenüber der religiösen Innigkeit und gegenüber den naturmagischen Zeichen, die in die Dichtung der Lavant eingeschrieben sind. Aber ihre Transformation des Schmerzes und der Gottverlassenheit in Dichtung kann uns in seiner existenziellen Inständigkeit noch mehr berühren als das wohlfeile Kunsthandwerk der ironisch durchtrainierten Dichter, die alle Transzendenzfragen lässig abgeschüttelt haben.
Die Dichterin, die das Aufgehen des Mondes stets mit der Präsenz des Göttlichen und des Todes verbindet, hat ja selbst ein Leben geführt, das ein einziges Exerzitium des Leidens und der Schwäche war. Die Grunderfahrung der von Kindheit an von Lungentuberkulose, Skrofulose, Schmerzdelirien und Depressionen zermürbten Dichterin war die Todesnähe, sie stand in ihrer lunatischen Welt immer – so eine Formel aus einem frühen Gedicht – unter der „Vormundschaft des Todes“. Eine von Christine Lavants Interpretinnen, die Dichterin und Romanautorin Kerstin Hensel, hat es so pointiert:
Sie starb mehr, als sie lebte.
Das neunte Kind der katholischen Bergarbeiterfamilie Thonhauer hat in ihrer Kindheit und Jugend ein grausames Martyrium erlebt, das sich später in ihre Gedichte einschrieb. Unter der Knute des fortdauernden Schmerzes kann aber allenfalls ein Hiob seinen Glauben bewahren. Christine Lavant schlug einen anderen Weg ein: Die von ihr erfahrene Abwesenheit Gottes benannte sie in flucherfüllten „Lästergebeten“ (Ludwig von Ficker), in verzweifelt blasphemischen Beschwörungen eines Allmächtigen, der seinen Geschöpfen jedwede „Gnade“ verweigert.
Hundsstern und Wundklee
„Ich brauche einen Menschen“, so schrieb sie an ihren Förderer Ludwig von Ficker, „bis ich Gott habe“. Aber sie bekam – trotz inniger Liebesversuche – weder das eine noch das andere. Aber sie fand ein Überlebensmittel, das ihr mitten in der Heillosigkeit Orientierung gab: die Dichtung. Sie begann in den frühen vierziger Jahren als Rilke-Epigonin, bevor sie dann von 1945 bis 1950 in eine fieberhafte Produktivität verfiel, der wir ihre wichtigsten Gedichtbände Die Bettlerschale, Spindel im Mond und Der Pfauenschrei verdanken. Die in diesen drei Bänden aufgenommenen Gedichte sind in zeitlich sehr dichter Folge entstanden. Veränderungen im Motivbestand, in der Metaphorik und in den formalen Mitteln sind nur punktuell zu beobachten. So artikuliert sich die Anrufung des schmerzlich vermissten Christus in der Bettlerschale noch direkter und in unmittelbarer Anrufung des Gottesnamens, in Spindel im Mond ist dagegen die Klage der unerlösten Beterin in eine komplexere Bildlichkeit überführt, die von unterschiedlichsten religiösen Metaphoriken zehrt. Hier finden wir auch einige der ergreifendsten lyrischen Manifestationen von Lavants negativer Theologie, die sich doch relativ weit von der Vorstellungswelt christlich-katholischer Topoi entfernt. Nicht mehr der in der Bettlerschale noch pathetisch evozierte „Heiland“ und „Christus“ streben in das metaphorische Kraftzentrum der Gedichte, sondern eben Naturmächte: der Mond, der Hundsstern, die Sonne, der Stein, das braune Pferd. Diesen Naturmächten gibt Lavant auch gerne eine konkrete botanische Gestalt – als reale oder imaginäre Pflanze: das Knabenkraut, die Fluchtwurzel, das Senfkorn, das Hungergras, der Wundklee.
Ein eher untypisches Lavant-Poem, das zur Anrufung der „wildfremden Sonne“ anhebt, kommt z.B. als fast klassisches Naturgedicht daher, das einen unversehrten „locus amoenus“ aufzusuchen scheint. In der Schluss-Strophe wird dann ein vegetabilisches Detail aufgerufen, das auch für ganz anders geartete Dichter wie Reiner Kunze und dem tschechischen Dichter Jan Skácel ein Zauberwort zu sein scheint: der „Wundklee“. Bei Lavant wie bei Jan Skácel hat dieser Wundklee magische, weil heilende Funktion. Wegen seiner adstringenten, also zusammenziehenden Wirkung, so berichtet der Skácel-Übersetzer Reiner Kunze, hat man diese Art Klee früher auf Wunden aufgelegt. Für die von eitrigen Ausschlägen gequälte Lavant, der erst im Alter von achtzehn Jahren zum ersten Mal die Wundverbände abgenommen wurden, scheint diese Art Klee nicht nur ein poetisches Zaubermittel zu sein.
Die existenziellen Wunden der Christine Lavant konnten nicht verheilen. Ihre Welt der Schmerzen blieb in den Gedichten stets eine heilige Welt, in der „Botschaften des Elends“ verkündet wurden. Um dieses Elend zu ermessen, musste die christliche Demut aufgekündigt werden. Wer wie das lyrische Ich in einem Gedicht „vom Leiden endlich alles wissen will“, muss zunächst einmal seinen Destruktionswünschen freien Lauf lassen. Das realisiert die Dichterin, indem sie offene Aggressionen gegen die Fundamente des Christenglaubens mobilisiert. Das Ich bekennt sich zur „Hoffart“, eine der sieben Todsünden. Aber selbst die heftigste „Kreuzzertretung“ der Lavant bleibt im Bann ihrer tiefen Frömmigkeit. Und so schlägt die Aggression um in fast masochistische Ekstase. Der „Glassturz der Ergebenheit“ ist zwar zerschlagen, aber am Ende kündigt das lyrische Ich einen Opfergang an:
Ich will mein Herz jetzt mit den Hunden jagen
und es zerreißen lassen, um dem Tod
ein widerliches Handwerk zu ersparen.
Traurige Erleuchtung
Ein weiteres drastisches Exempel dieser negativen Theologie steht ziemlich am Anfang des Bandes Spindel im Mond. Hier werden die Ingredienzien der christlichen Weltzugewandtheit und der katholischen Liturgie mit negativen Attributen belegt. Ein Engel des Schrecklichen kommt herab, der eine „heillose Messe“ zelebriert und dem lyrischen Ich ein fatales Glaubensbekenntnis abpresst, nämlich die „Botschaft des Elends“. Er ist offenbar nicht für die Wünsche und Nöte der Lebenden zuständig, sondern nur für die schon im Leben Dahingeschiedenen, die „Lebendig-Toten“. Von dieser Diktatur der Transzendenz, die zur Herrschsucht neigt, ist keinerlei Erlösung zu erwarten. Mit dem „klirrenden Brot“, das in diesem Gedicht gereicht wird, wird kein leiblicher Hunger gestillt, und auch kein metaphysischer.
Wenn es in dieser Dichtung, nach mystischer Manier, noch Erleuchtungen gibt, dann sind es sehr „traurige Erleuchtungen“. Illuminationen, die oft auch eine synästhetische Komponente haben, die in wunderlichsten Farben schimmern, wie in der Selbsterkundung des Erleuchtung-Gedichts. Auch hier geht die Reise nach innen, in die Zonen des Leidens, auch hier findet sich in den Körperbildern ein masochistisches Motiv:
So also geht Erleuchtung vor?
Man lernt die Atemzüge zählen,
schaut starr dir zu beim Apfelschälen
und rollt dir selbst das Herz durchs Tor
zu allen Essenszeiten.
Schon steigt aus meinem zweiten
Aug-Brunnen auch ein Hungerstern,
blüht grün, stirbt rot und fällt als Kern
schwarz zu den Unkrautsamen.
Durch meine fast schon lahmen
gekreuzten Beine sticht ein Dorn,
die Zunge schmeckt nach Mutterkorn
und stillt nicht Durst noch Hunger.
Dann freilich steigt ein junger
halmschmaler Mond im Hirn empor-
so traurig geht Erleuchtung vor.
Die Kunst verstümmeltes Leben
Und wie hat diese blasphemische Beterin selbst ihre Dichtung beschrieben? Dezidiert poetologische Statements der Lavant sind rar. Es gibt in den Briefen an Gerhard Dreesen die vielzitierte Passage, da sie von der Peinlichkeit und Sündhaftigkeit ihres Dichtens spricht:
Kunst wie meine, ist nur verstümmeltes Leben, eine Sünde wider den Geist, unverzeihbar.
Diese selbstquälerische Klage wird aber konterkariert durch andere Stellen, da sie ganz profan auf die eigene „Durchtriebenheit“ verweist oder – wie Kerstin Hensel nachweist – mit der eigenen Misere kokettiert. In einem Statement für eine Anthologie bemüht die Lavant den Topos der unwillentlich von einer übermächtigen Inspiration gelenkten Schöpferin: „Das Schreiben-Können“, heißt es da, „kommt nur als Zustand über mich und führt dann aus, was weder in meinem Gehirn noch in meinem Gemüt je wissentlich geplant worden ist. Wenn ein Plan zu solchen Dingen überhaupt besteht, so liegt er entweder außerhalb von mir oder an einer Stelle (in mir), die meiner Vernunft bisher verborgen geblieben ist. Sobald der besagte Zustand nachlässt, verfalle ich einer unschöpferischen Schwermut, die nichts mehr will als den Tod.“ Man mag Christine Lavant soweit folgen, insofern sie als existenzielle Alternative für sich Schwermut oder Poesie ausweist. Aber man sollte misstrauisch bleiben gegenüber der poetologischen Selbstverkleinerung einer Dichterin, die ihren Rilke, ihren Trakl und ihren Hölderlin sehr genau gelesen hat. Auch die Gedichte der Christine Lavant folgen konstruktivistischen Konzepten und strömen nicht durch geisterhafte Intuition aufs Papier.
Einmal berichtet die Lavant an Hilde Domin, die einzige verlässliche Dichterfreundin, von einem Traum elender Abgeschiedenheit. In einem hölzernen Verschlag, einem armseligen Klosett, sieht sich die Dichterin eingeschlossen, in der Enge um sie herum nur ein Eimer voller Glut und ein eiserner Rechen. Da ist also elementare Materie, Feuer und Eisen, und ein empfindsamer Leib, der in der klaustrophobischen Enge kaum mehr Platz findet und Atemnot fürchtet. In dieser Eingeschlossenheit und dichten Nachbarschaft mit Materie glaubte Christine Lavant ein Sinnbild ihres Lebens und Schreibens zu erkennen. Die „mönchische Zurückgezogenheit“, die sie Hilde Domin zuschreibt, reklamiert sie ebenso für sich. Und all diese Bilder der visionären Klausur, der innigen meditativen Introspektion, der halluzinatorischen Mystikerin, der mönchischen Dulderin und Beterin hat die Lavant-Rezeption ja auf die Autorin angewandt.
Lunatisches Nachtgeheul
Zu Lebzeiten der Autorin und bis in die neunziger Jahre hinein sind diese Facetten ihrer dichterischen Existenz in einem sehr christlichen Sinn ausgedeutet worden. Die meisten Rezipienten und Rezensenten folgten einem Topos des Schriftstellers H.G. Adler, der in der Verfasserin der Bettlerschale nur eine „fromme, naive Naturdichterin“ erkennen wollte. Auch die Differenzierungen so kundiger Interpreten wie Beda Allemann, die im Blick auf den Spindel-Band vor einer Rubrizierung der Lavant als „christlicher Lyrikerin“ gewarnt haben, vermochten diese katholische Lesart kaum zu korrigieren. Die Etikettierung als christliche Dichterin hatte prompt zur Folge, dass die sich als unfehlbar-aufgeklärt dünkende Generation der politisierten Dichter nach 1968 sich ermächtigt fühlte, das Werk der Lavant als obsolet beiseite zu legen. Der Lyriker Andreas Okopenko fühlte sich noch 1973, im Todesjahr der Dichterin, dazu herausgefordert, in seinem Spottgedicht „Christine Selzthal-Bischofshofen“ die Lavant als harmlose, verwirrte und formal biedere Wortsetzerin zwischen Naturfrömmigkeit und geistlicher Dichtung zu blamieren. Diese Lavant-Parodie verdankt sich allerdings keinem Gehässigkeits-Furor, der speziell die Lavant träfe, sondern steht in einem Kontext mehr oder weniger boshafter Nachstellungen zu den kleinen und großen Geistern der österreichischen Literatur. Der Sündenfall der notorischen Lavant-Überschätzung ist vor allem eine deutsche Untat, eine Unterlassung der deutschen Lavant-Rezeption. Es bedurfte erst der späten Wiederentdeckung verschollen geglaubter Lavant-Texte, etwa der 2001 edierten „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“, damit die deutschen Leser aus ihrem Rezeptions-Tiefschlaf erwachten.
Die poetologische Selbstbesinnung und Selbstkorrektur setzte erst mit den großen Lavant-Symposien der neunziger Jahre ein. Es ist hier vor allem den Dichtern aus der sprachreflektierenden Tradition, Autoren wie Franz Josef Czernin, Thomas Kling oder Silke Andrea Schuemmer zu verdanken, dass die ihnen poetisch so fern liegende Christine Lavant wiederentdeckt und neu dechiffriert worden ist. Franz Josef Czernin hat 1999 in einem schönen Interpretationsspiel die Mehrdeutigkeiten und Gegenläufigkeiten in Lavants christlicher Bilderwelt bloßgelegt und die enge Affinität von Religion und Poesie plausibel gemacht. Eine radikalere Deutung unternahm 2001 Thomas Kling, der die Lavant als eine „gezielt randalierende Sprach-Heilige“ sieht, die sich mit ihrem „lunatischen Nachtgeheul“ und der „Sprachkörpersprache ihres hochnervösen Gedichts“ von jedweder Ideologie und Konfession entfernt habe. Besonders erschreckt hat sich die Literaturwelt über Klings schroffen Vergleich zwischen Christine Lavant und Ingeborg Bachmann, der – Sie ahnen es schon – deutlich zuungunsten der berühmten Klagenfurterin ausfällt:
Wesentlich stärker und bildfrischer, unheimlicher und haltbarer sind Lavants Gedichte, als die der anderen Kärntnerin, Ingeborg Bachmann. Letztlich viel weniger im dumpfen Kokon der 50er Jahre verfangen, als Bachmann in ihrer artifiziellen Schneewittchenhaftigkeit dieser Jahre…
Dieser polemische Vergleich vollzieht eine Umwertung der gewohnten literaturhistorischen Hierarchie. So fragwürdig es ist, diese zwei Dichterinnen gegeneinander auszuspielen – so notwendig erscheint mir es doch, einige literaturgeschichtliche Linien neu zu ziehen. Linien, die Christine Lavant nicht mehr als graue Kirchenmaus unter der Nonnenhaube oder als Kräuterfrau vom Lande konturieren werden, sondern als artistische Sprachverwandlerin, die von den Topologien des Aber- und Hexenglaubens und den katholischen Heiligen- und Märtyrerlegenden besessen war. Noch einmal Thomas Kling:
Wird diese Bewusstheit, diese Wahrnehmungsfähigkeit, diese Kontrolle des Außersichseins zur Sprachkörpersprache, zum wahren, zum aufbewahrenden Gedicht? – Ja, Christine Lavant, ja.
Michael Braun, Ostragehege, Heft 42, 2006
Silke Andrea Schuemmer: „Die Vormundschaft des Todes“
Zu den eigenwilligsten österreichischen Lyrikerinnen unserer Zeit gehört die Kärntner Bäuerin Christine Lavant (1915 bis 1973). Man könnte ihre Texte, vorwiegend Gedichte, als religiös bezeichnen, aber sie sprengen die herkömmliche Vorstellung einer geistlichen Dichtung, weil sie in erster Linie Fluchgebete und nicht Trostgebete sind. Alles treibt hier dem Extrem entgegen: der schrankenlosen Wüste, der totalen Verzweiflung, dem zügellosen Hadern mit Gott. Beatrice Eichmann-Leutenegger zeichnet in der Mosaik-Sendung vom 14. November, 14.05 Uhr, ein Porträt dieser 1973 verstorbenen Dichterin, „die ihre Stimme aus der Hölle geholt hat“ (DRS-Programmhinweise).
Christine Thonhauser wurde am 4. Juli 1915 in Gross-Edling bei St-Stefan im Lavanttal (Kärnten) als neuntes und letztes Kind eines Bergmanns geboren. Sie besuchte die Volksschule und eine Klasse Hauptschule und bildete sich fortan autodidaktisch weiter. Durch viele Jahre musste sie sich mit Strickereiarbeiten erhalten und lebte, seit 1939 mit dem Kunstmaler B. Habernig verheiratet, in bescheidenen Verhältnissen in St. Stefan, zuletzt halb erblindet und taub. Ihre Werke erschienen unter dem Pseudonym Lavant, dem Namen des Flusses ihres Heimattales. Ihre wichtigsten Werke: Die unvollendete Liebe, 1947; Die Bettlerschale, 1956; Spindel im Mond, 1959; Der Pfauenschrei, 1962; Hälfte des Herzens, 1967; Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben, Nachlass, 1978. Neben anderen Auszeichnungen erhielt sie 1970 den Grossen Österreichischen Staatspreis.
Das Schreiben kommt über mich und führt dann aus, was weder in meinem Gehirn noch in meinem Gemüt je wissentlich geplant gewesen ist. Wenn ein Plan zu solchen Dingen überhaupt besteht, so liegt er entweder ausserhalb von mir oder an einer Stelle, die meiner Vernunft bisher verborgen geblieben ist. Wenn besagter Zustand nachlässt, verfalle ich in eine unschöpferische Schwermut, die nichts mehr will als den Tod. (Christine Lavant)
Es wurde ihr das „zweite Gesicht“ nachgesagt. Ihr Schreiben war ein Ringen um Gnade, das keine Gnade kennt. In starken Bildern und Allegorien aus Natur und Kosmos, Landschaft, Pflanzen und Getier, in eigenwilligen Wortschöpfungen, überraschenden Parallelen schrieb sie sich die Not ihrer Existenz von der Seele. Ihre Dichtung war Klage, Aufschrei, Beschwörung der Gewalten, die an ihr zerrten. Ihre Gedichtbände bilden einen 20 Jahre lang angebeteten und abgebüssten Rosenkranz von Todesanrufungen und Flüchen, unterbrochen von somnambulen Liebesgeständnissen und Hilfeschreien, die immer bedrängter, immer belagernder an Gott gerichtet sind und sich bis in eine Beschwörungsekstase hineinsteigerten:
Alter Schlaf, wo hast du deine Söhne?
Junge, starke Söhne sollst zu haben,
solche Kerle, die noch mehr vermögen
als bloss kommen und die Lampe löschen.
Einer soll zu meiner Angst sich legen,
einer sich auf meine Sehnsucht knien,
feste Fäuste müssen beide haben,
dass die Nachbarn keine Schreie hören. (…)
Christine Lavant dichtete nichts als sich selbst, das Ich ihrer Leiden, ihrer Verzweiflung, ihrer Wahnsinns- und Todesangst – ein weiblicher Hiob.
AUS DEM GARTEN, ZU CHRISTINE LAVANT
zuerst die rede, hoch bedacht,
dann euch palaver, der ballast;
voll schammoral am selben zweig
hier sägen. bald hängt der segen schief
und schwer ist mir das zeug gemacht,
doch uns sag weder ja noch amen.
denn immer sind im ab-, dem apfelfall
und ohne halt: selbst bin vom ast und tief
gefallen und nicht weit vom stamm,
auf unsern futterwegen und im kotpalast.
als uns beim eignen namen rief,
sind längst im loch, nein schon im krater.
ich bin vater-, mutterseelenallein,
doch gehorsam wär erst mein kadaver.
Franz Josef Czernin
Silke Andrea Schuemmer: „Die Vormundschaft des Todes“
Franz Haas: Beten und das Kreuz zertreten
Neue Zürcher Zeitung, 4.7.2015
Carola Leitner: „Das verstümmelte Leben“
orf.at, 4.7.2015
Gisela Trahms: Thomas Bernhard fand sie gescheit und durchtrieben
Die Welt, 4.7.2015
Andreas Kohm: „Aber das Schreiben ist das Einzige, was ich habe“
Badische Zeitung, 3.7.2015
Gabriele Kögl: Christine Lavant: Der Sonnenapfel ist ein Lavanttaler
der Standart, 4.7.2015
Hubert Gaisbauer: Christine Lavant: „Gott, sag das nicht“
Die Furche, 2.7.2015
Arnold Mettnitzer: Zu Christine Lavant
ORF.at
Victor Strauch: Schriftstellerin aus armen Verhältnissen schuf bedeutende Literatur
Neue Zeit, 6.6.2023
Michael Swersina im Gespräch mit Franz Bachhiesl über Christine Lavant: „Ich traf sie regelmäßig auf meinem Schulweg in St. Stefan“
Unterkärntner Nachrichten, 7.6.2023
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