Christine Lavant: Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Christine Lavant: Gedichte

Lavant-Gedichte

Daß ich dem Mond mein Gemüt überließ,
bringt mich der Lösung nicht näher.
Bis zum gläsernen Weckruf der Hähne
muß ich eingeholt haben
den Schlüssel zu allen Träumen.
Ich werde das Boot verlassen
und über die Wasser des Himmels gehn,
vorbei an den Inseln der Sterne
und der Einkehr der Engel.
Meine Flügel habe ich hingegeben
an die Löwin meiner Schwäche.
Sie wird mir die Wüste bewahren
und den Brunnen der Tänze,
bis ich wiederkehre mit meinem Schlüssel
und Warnung und Vorschriften weiß.
Noch haben die Hähne mein Herz nicht geweckt.
Wehe, wenn ihre gläsernen Rufe
das Lamm mir zerschneiden
vorzeitig und sinnlos!

 

 

 

Notiz

Dieses Buch dokumentiert die Chronologie der Christine Lavant, die bis zu ihrem Tod weder Ruhe noch Frieden gefunden hat und die in ihrer Existenz durch sich selbst gepeinigt und in ihrem christlich-katholischen Glauben zerstört und verraten war; es ist das elementare Zeugnis eines von allen guten Geistern mißbrauchten Menschen als große Dichtung, die in der Welt noch nicht so, wie sie es verdient, bekannt ist. Diese Auswahl folgt nur meinem Verstand, keinem andern.

Thomas Bernhard, Nachwort

 

Die aus dem Kärntner Lavanttal

stammende Christine Habernig (1915–1973) ist als Christine Lavant zu einer der großen Dichterinnen deutscher Sprache geworden. Thomas Bernhards Auswahl gilt dem elementaren „Zeugnis eines von allen guten Geistern mißbrauchten Menschen als große Dichtung, die in der Welt noch nicht so, wie sie es verdient, bekannt ist“.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1988

 

 

Briefwechsel Thomas Bernhard, Siegfried Unseld,

Elisabeth Borchers zum Buch

Thomas Bernhard an Elisabeth Borchers,1 3.3.1987

[…] Ich will die Lavantgedichte aussuchen und freue mich ganz und gar insgeheim auf den Schmalband für glückliche Trauertage im Herbst. […]2

 

Thomas Bernhard an Elisabeth Borchers, 13.4.1987

Unsere Dichterin [Christine Lavant] ist eine der wichtigsten und sie verdient, in der ganzen Welt bekannt gemacht zu werden.
Das melancholisch machende, geistlose und weltferne und -fremde Kärnten hat auf die beiden lyrischen Geschwister Bachmann und Lavant einen unseligen Andalusien-Effekt ausgeübt, das geisttötende, dumpf-machende Andalusien mit seiner menschenvernichtenden Natur hat auf die spanische Literatur genauso gewirkt, wie das ebenso geisttötende, dumpf-machende, menschenvernichtende Kärnten auf die deutsche.
Aus diesem fürchterlichen geistlosen Kärnten sind die Sehnsuchtsgedichte unserer beiden Lyrikerinnen entstanden.
Was die Lavant betrifft, so liegt zwischen absoluten Höhepunkten ihrer Erfindungen und also Höhepunkten der deutsche Lyrik, unglaublich viel Kitsch-Müll; Leerlauf-Gott und Massen-Mohn überschwemmen die Seiten der im Müller Verlag veröffentlichten Bücher. Die Gedichte in „Kunst wie meine…“3 sind fast alle abstoßend.
Die katholisch-verlogene Strickweise ist kaum auszuhalten. Nachdem ich die scheusslichen Briefe, die schauerlich infantile sentimentale Prosa, die mehr Heuchelei als Notwendigkeit sind, vergessen habe, das Volkstümelnde und das kindisch-religiös-Verlogene, entstand in diesen Tagen bei Schneetreiben und Regen am Ende doch das Buch einer ganz und gar bedeutenden, wie gesagt wird, grossen Dichterin.
Der liebe Gott möge mir verzeihen, dass ich ihn so viel als möglich aus den vier Büchern4 verjagt habe. Immerhin treibt er auch in meiner Auswahl noch sein Unwesen.
Die Lavant war eine völlig ungeistige, sehr gescheite, durchtriebene. Sie wohnte auf der Betondecke eines Supermarktes an einer Strassenkreuzung in Wolfsberg mit einer Riesentankstelle und tippte ihre Gedichte gleich in die Maschine. Das ist für mich grossartiger, als das verlogene Weltfremdmärchen mit katholischer Talschlussromantik, das gottbefohlene, das um sie bis heute immer verbreitet worden ist.
Ludwig von Ficker, der die horrende Wittgensteinsumme an Trakl, Rilke und Konsorten verteilt hat,5 verbreitete vor allem dieses lyrische Schauermärchen bis zu seinem Tod mit grösster sentimental  katholischer Vehemenz […]6

 

Thomas Bernhard an Elisabeth Borchers, 13.5.1987

ich kann die Lavantgedichte nicht herausgeben; nach wochenlanger intensiver Beschäftigung damit, spricht jetzt alles in mir dagegen und ich muss die Idee aufgeben. […]7

 

Siegfried Unseld an Thomas Bernhard, 13.5.1987

das waren keine guten Nachrichten […].
Auf Ihren Wunsch hin haben wir die Rechte eingeholt, sie wurden uns zuerst vom Verlag8 verweigert. Dann wandten wir uns an den Erben,9 der im Hinblick darauf, daß Sie diese Auswahl machen, seinen Verlag bestimmt hat, uns doch die Rechte zu geben. Danach haben wir einen Vertrag abgeschlossen, der uns zur Herausgabe verpflichtet. Sie haben die Auswahl ja schon getroffen, wie ich weiß. Wir können diese Auswahl drucken ohne Vermerk auf den Auswählenden. […]10

 

Thomas Bernhard an Siegfried Unseld, 18.5.1987

Ihr Brief vom 13. zwingt mich, nicht nur „In hora mortis“,11 sondern auch die Gedichte der Lavant herauszugeben. „In hora mortis“ wie geplant und die Lavantgedichte als „GEDICHTE, herausgegeben von Thomas Bernhard“. Ich habe nichts zu verbergen und zu verstecken. Ich schreibe nur kein Nach- oder Vorwort, denn es gibt ja auch in diesem Fall nichts zu erklären oder zu beweisen.
Mit gleicher Post schicke ich die 79 Lavantgedichte, die ich ausgesucht und in der Reihenfolge numeriert habe. Gesetzt werden sollten sie im Schriftgrad wie „In hora mortis“, das tut ihnen gut. […]
Auch will ich meine doch sehr starke Gefühlsbewegung nicht verschweigen, die ich in Frankfurt gehabt habe unter den Fürsorgeschwingen des Verlegers und seiner Getreuen. Ich glaubte an diesem Tag tatsächlich, in einem Paradies angekommen zu sein. Sie sehen an diesen Zeilen, wie weit hinein in christlich-katholisches Wortgefüge ich durch die Beschäftigung mit den Lavantversen schon gekommen bin. Wie gut, dass ich immer ein Meister im Entspringen aus jeder Haft gewesen bin. […]12

 

Thomas Bernhard an Elisabeth Borchers, 1.9.1987

die Freude über den Lavant-Umbruch war beim ersten Umblättern schon vorbei […].
Die Gedichte haben mit dem jetzigen kleinen Satz nicht die halbe Wirkung und wenn wir unserer Poetin den besten Start in die ,große‘ Welt geben wollen, müssen wir den Satz nocheinmal genau in der Größe von ,Einfach/Kompliziert‘13 setzen lassen.
Bei Gedichten ist ja die Grösse des Satzes entscheidend für die Wirkung auf den Leser. […]14

Aus Christine Lavant: Ich bin maßlos in allem. Biographisches, ausgewählt und kommentiert von Klaus Amann unter Mitarbeit von Brigitte Strasser, Wallstein Verlag, 2023

 

Beiträge zu diesem Buch:

André Schinkel: Des Nachbars Perlhuhn schreit wie eine Uhr
fixpoetry.com, 17.10.2012

Karin Fellner: Kopfschlachten, flackernd
signaturen-magazin.de, Oktober 2014

 

 

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Ein von @purpulan33 geteilter Beitrag

 

Das allgewusste Leid – die altbekannte Freud

„Dieses Buch dokumentiert die Chronologie der Christine Lavant, die bis zu ihrem Tod weder Ruhe noch Frieden gefunden hat und die in ihrer Existenz durch sich selbst gepeinigt und in ihrem christlich-katholischen Glauben zerstört und verraten war; es ist das elementare Zeugnis eines von allen guten Geistern missbrauchten Menschen als große Dichtung, die in der Welt noch nicht so, wie sie es verdient, bekannt ist. Diese Auswahl folgt nur meinem Verstand, keinem andern“, schreibt Thomas Bernhard in seinem sehr knappen Nachwort, das seine Auswahl von Lavant-Gedichten beschließt. Er stellt das Leiden in den Mittelpunkt.
In diesen wenigen Sätzen wird das Schaffen der Dichterin straff mit ihrem Leiden verknüpft. Das Tragische soll Sinn, Intensität, Ernst und Größe verbürgen. Der Idiot möchte ja gar nicht leugnen, dass Lavant ein schweres Leben hatte, aber es stört ihn, dass hier die besondere Bedeutung vor allen anderen Qualitäten über das Leid versichert wird – ein gerne gemachter melodramatischer Zugriff, der dem Leid eine größere Tiefe unterstellt als der Freude. Dabei soll nicht geleugnet werden, dass Tragisches sich vollzieht und im Leben von Lavant vollzogen hat.
Auch will der Idiot nicht behaupten, dass Trauer keinen Ort in der Dichtung habe, nein, nein, nein. Vielmehr bedauert er, dass man sich weithin auf eine Lesart der Lavant geeinigt hat, die das Leid, nicht aber die Freude, durchaus auch die Freude am Grotesken und Fatalen, und Lavants enorme Stärke des Machens, Umwandelns und Übersetzens von Affekten in poetische Formen in den Blick nimmt.
Die schöpferische Kraft ist die Kraft des Machens. Diese sagt nicht nur Ja, die sagt auch Nein zum Bestehenden. Vielleicht am stärksten dort, wo es dieser Kraft gelingt, selbst aus dem Leiden, aus der Traurigkeit etwas zu machen, das als Gemachtes nicht mehr alleine Leiden ist, sondern auch etwas anderes. Sie bringt natürlich auch Schwierigkeiten mit sich, Krisen, Enttäuschungen, Scham. Was soll man dazu sagen. Selbst den Schöpfer reute, kurz vor der Sintflut, dass er die Menschen gemacht hatte. Eine Sintflut zu schicken, so weit würde die Dichterin keineswegs gehen. Aber sie schickt uns etwas anderes: Sie schickt uns einen Segler! Und eine Mannschaft.

Trau der Mannschaft deines Seglers zu,
dass sie tüchtig aus der Trunkenheit
aufstehn könnte, jeder einzeln aufstehn,
jeder noch bis übers Kinn besoffen,
aber hingehn und das Seine tun!
Zwischen Sternen, die zum Teufel gingen,
ist es herrlich, selbst den Beelzebuben
so im Leib zu haben wie die Kerle
deines gottverdammten Leichenkastens.
Glaubst du denn, der Wind trägt dich dorthin,
wo du hinwillst? – jeder Wind ist herrlich
und verwandt mit aller Teufelei!
Ach, für ihn bist du ein Taschenmesser,
das er einsteckt, ohne es zu merken,
wenn du durch und durch voll Vorsicht bist.
Deine Mannschaft, die du bündeln willst,
und aus ihrem Rücken Riemen schneiden,
schnitzt für dich aus einer Erdnussschale
noch ein viel zu großes Rettungsboot.
Hau jetzt ab samt deiner Nüchternheit!
Dieses Schiff wird nie verständig werden –
melde oben bei dem Bootsverleiher,
dass wir brüllend und das Maul voll Suff
seine Sterne aus der Hölle holen.

Spüren Sie die ungeheure Kraft, die von diesem Gedicht ausgeht? Fast will man es packen und damit raufen. Der Idiot hat es vor einigen Wochen den versprengten übriggebliebenen Teilnehmern einer Romantikkonferenz in Frankfurt vorgelesen, das war in der U-Bahn, und was sich vorerst nur an die drei Bekannten richtete, wollte sogleich lauter werden und sich hinaus, an alle Passagiere wenden. Das Gedicht schien zudem, gerade im Rückblick auf die Frankfurter Konferenz zur deutschen Romantik, über eine allem anderen überlegene Direktheit zu verfügen, eine Nähe zu den eigenen Beweggründen, auch den eigenen Abgründen? Nun ja, nur dann, wenn das der Abgrund ist, wo der Motor steht.

Trau der Mannschaft deines Seglers zu,
dass sie tüchtig aus der Trunkenheit
aufstehn könnte, jeder einzeln aufstehn,
jeder noch bis übers Kinn besoffen,
aber hingehn und das Seine tun!

Aus einer Regression, der Vorherrschaft einer unkontrollierten Stimmung, einer Laune, einer Trübsal vielleicht auch, oder einfach des Rausches, wenn wir das Gedicht beim Wort nehmen wollen: steht die Mannschaft auf. Sie kann das – und zwar weil man es ihr zutraut. Die Mannschaft deines Seglers – das ist bereits eine Ermächtigung des Lesers: Sie haben eine Mannschaft, Sie haben einen Segler, und offenbar ist es Ihrer. Sie müssen ihm nur trauen. Das vollbringt Lavant bereits in der ersten Zeile. (Eine andere Lesart könnte behaupten, das Gedicht adressiere in der ersten Zeile Gott, aber warum müsste es dann in der letzten Zeile zur dritten Person überwechseln… Nein, der Idiot ist sich ziemlich sicher: Sie sind gemeint, er ist gemeint, wir sind gemeint.)
Welche Mannschaft steht hier auf? In den Seilen hingen die Matrosen. In Hängematten dämmerten sie schaukelnd im Dunklen. Nun erheben sie sich: Sind es die inneren Vermögen, die Geisteskräfte, die Intuition, der Wunsch zur Gedankenbildung, der Erfindungsreichtum, die List, die unbedingte Entschlossenheit, oder auch die Wut? Sie liegen in einer flüssigen Stimmung – sind fest und fluid.
Der Idiot denkt sich hier die Deutung als eine Art von Wasserwaage, die er dem Gedicht entgegenhält. Wie aber sähe das aus? Was würde geschehen, in dieser Schieflage – und wo ist oben? Wir wissen alle, wie eine Wasserwaage ausschaut, aber nun stellen Sie sich einmal vor: ein offenes Wasser, das sich selber wiegt, oder zwei ineinanderfließende Wassermassen, die sich im Gleichgewicht oder gar im Lot halten. Fluten, mit Hilfe derer Sie feststellen können, ob Sie im Begriff sind, das Bild gerade anzubringen. Ein gerade angebrachtes Bild – und dagegen die elementare Gewalt von Wassermassen als eine Art von Waage. Ein widersinniger Gedanke? Vielleicht. Aber das tüftelnde präzise Heranhalten und das Geflutetwerden sind beide gleichermaßen Teile des Gedichts.
Man nennt das Innenleben der Wasserwaage übrigens Libelle. Das erklärt sich so: Die Libelle ist der lateinische Begriff für kleine Waage. Die Libelle wurde also aufgrund ihres Waagrechtstehens mit einer technischen Vokabel der Messtechnik benannt, nicht umgekehrt. Und der Idiot vermutete eben noch ein mit blau schillerndem Leib so schrill wie still in der Luft stehendes Insekt in der Wasserwaage vorzufinden: Sag mir Libelle, ist alles gerade? Sag mir Libelle, steh ich im Lot? Sie sehen: Bereits auf der Ebene der Worte ist beides vereint. Der Idiot zitiert aus dem etymologischen Wörterbuch: „Das schön gefärbte, während des Fluges blitzschnell Richtung und Flughöhe ändernde Raubinsekt nennt Linné (18. Jh.) zoologisch-lateinisch LIBELLULA. Dieser Name ist eine gelehrte diminuierende Bildung zu lat. libella, seinerseits Deminutivum von lat. LIBRA (Blei- oder Wasser-) Waage, weil die Flügel während des Fluges waagrecht angespannt sind. Daraus neuhochdeutsch: Libelle.“ Eine doppelte Verkleinerung musste vorausgehen, bis die Waage in der Lage war, die Libelle zu benennen. Lassen Sie diese ruhig über den Süßwasserseen stehen, über den stillen schattigen Teichen im Wald, und wenden Sie sich bitte erneut der Mannschaft Ihres Seglers zu.
Oder nein, gestatten Sie noch eine kleine Abschweifung, es war ja so: Der Idiot las Lavant auf dem Weg zurück von Frankfurt nach Berlin, und wie das regnete an diesem Wochenende! Der Regen stürzte und riss an den Fenstern entlang und der Idiot raste mit dem ICE-Sprinter, der zwischen Frankfurt und Berlin nur ein einziges Mal hält, mit 300 Stundenkilometern durch die Landschaft und las Lavant. Der Idiot las Lavant auf einem rasenden Schalensitz und sauste durch die grünsten, tiefsten, nassen, von oben und unten grün durchnässten allergrünsten Wiesen – die Wiesen tranken, die Flüsse tranken, die Büsche und Bäume tranken, und das Laub trank. Alle trunken. Auch die Fußballfans übrigens, zwei Wagen weiter, aber das machte nichts. Es schauerte den Idioten schier vor Fülle. Und die Gedichte Lavants schienen alles noch zu beschleunigen und zu verstärken, der Idiot spürte auch die Gewalt, die die Geschwindigkeit dieses Zugs war, er spürte die durchtränkte grüne, in allen Grüntönen sich hingebende Fülle der umnebelten Landschaft viel stärker, indem er die Gedichte las und spürte die Gedichte so viel stärker, indem er durch diese satte Frühlingslandschaft raste. Diese nassen Frühlingstage, in denen die Luft vor duftender Sattheit fast die Farbe verändert, manchmal harzig vor Duft ist, die satten Wiesen, wieder der Duft und das Losbrüllen der Vögel. Ein Lebensgefühl, könnte er als Idiot sagen, wenn das Wort vom Gebrauch nicht so verhunzt wäre. Sagen Sie ihm zuliebe dennoch: ein Lebensgefühl.

Trau der Mannschaft deines Seglers zu,
dass sie tüchtig aus der Trunkenheit
aufstehn könnte, jeder einzeln aufstehn,
jeder noch bis übers Kinn besoffen,
aber hingehn und das Seine tun!
Zwischen Sternen, die zum Teufel gingen,
ist es herrlich, selbst den Beelzebuben
so im Leib zu haben wie die Kerle
deines gottverdammten Leichenkastens.

Die Sterne sind zum Teufel gegangen, freiwillig etwa? Können die dann oben noch leuchten? Vielleicht. Vielleicht blieb ihr Licht am Himmel stehen und es stürzten alleine die Sterne hinab, dies ist ein Sinnbild der Apokalypse. In der Offenbarung des Johannes heißt es:

Und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde wie die Winterfrüchte vom Feigenbaum, wenn er vom Sturmwind geschüttelt wird.

Sie kennen die stürzenden Sterne auch von der Dürer’schen Darstellung der Melancholie. Davor kauert brütend sie selbst und keine Hilfe sind ihr die allegorisch um sie her drapierten Wissenschaften, doch Flügel hat sie, das sollten Sie nicht vergessen. Einstweilen hat die Melancholie ihre Flügel nur, um nicht zu fliegen, doch irgendwann, irgendwann wird sie prüfend ihre Flügel entklappen und sich in die Lüfte erheben, um endlich durch den sternenlosen Himmel gleitend von oben zu sehen, wo sie sich einmal befand.
Doch wo befinden wir uns? Auf dem Meer? Rollen die Sterne nun in der Hölle herum, und der Idiot befände sich ebendort… zwischen den Sternen? Oder geht es um die Distanz – dann meinte das Wort zwischen die Spanne zwischen Firmament und Hölle und umfasste demnach alles, was zwischen den Sternen und der Hölle liegt. Das hieße, es gäbe sie nun bereits zweimal?
Nun ja, Sie werden sehen. Interessant ist hier ein Vergleich mit Badious Gedanken zu einem langen Piratengedicht von Pessoa (Alvaro de Campos), der „Meeresode“ – in einem Aufsatz, dem Badiou den Titel „Grausamkeiten“ gegeben hat, worin Selbstauflösung und Wildheit, melancholische Regression, die paradoxe Verbindung von leidendem und fühllosem Körper zur Sprache kommen.

Und da, (…) was zu verinnerlichen ist, das reine Mannigfaltige ist, jene „Summe aus Greueln, Schrecknissen, Schiffen, Menschen, Meer, Himmel, Wolken, Brise, Breitengrad, Längengrad, Stimmengewühl“. Am Ende erweist sich das Reale immer als Prüfung des Körpers.

Dem aber schlössen sich Vorstellungen an, die den Körper als ein unsterbliches Wir-Subjekt dachten, das fühllos, weil ewig sei. In der Grausamkeit komme der leidende und der fühllose Körper quasi christushaft zusammen. Bei Lavant aber ist es nicht das Bild des leidenden inkarnierten Gottes, sondern vielmehr der einverleibte Beelzebub.
Dass es herrlich sei, den Beelzebuben im Leib zu haben: Sie können annehmen, dass der Pirat womöglich vom Teufel besessen ist, aber weil hier das Adjektiv „herrlich“ bestimmt nicht unbedacht platziert worden ist, ist ebenso denkbar, dass Lavant auf gewisse theologische Konzepte anspielt, in denen der gewaltige, mächtige Gott auch noch den Teufel beinhaltet, ihn dominiert, indem er ihn in die eigene Omnipräsenz integriert. Aber es ist ja ein Vergleich:

herrlich, selbst den Beelzebuben
so im Leib zu haben
wie die Kerle
deines gottverdammten Leichenkastens

So wird nun wieder zu Ihnen gesprochen – es ist Ihr gottverdammter Leichenkasten. Ah. Weiter mit der Herrlichkeit, denn: Auch jeder Wind ist herrlich!

Glaubst du denn, der Wind trägt dich dorthin,
wo du hinwillst? – jeder Wind ist herrlich
und verwandt mit aller Teufelei!
Ach, für ihn bist du ein Taschenmesser,
das er einsteckt, ohne es zu merken,
wenn du durch und durch voll Vorsicht bist.

Und ja, im Wind sind göttliche und dämonische Anteile – und der Geist ist ebenso darin. So sagt es Jesus in einer nächtlichen Szene im Johannesevangelium. Nikodemus hat ernsthafte und drängende theologische Fragen, die ihn nicht zur Ruhe kommen lassen und die er hofft, mit Jesus zu besprechen. Sie betreffen zum Beispiel die Wiedergeburt durch Taufe: Wie kann denn ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Und Jesus antwortet, dito mütterliche Position übergehend: Ihr müsst von oben geboren werden. Und schließt dann an:

Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.

Eine dunkle und verrätselte Antwort, aber auch eine Antwort, die von der Willkür und Wendigkeit des Windes berichtet. Willkürlich wie der Wind, naturhaft und göttlich. In einigen Schichten setzt sich dies in der Bibel, stärker noch in den Ritualen des Volksglaubens fort. Denken Sie zum Beispiel an das Kirchlein zum Bösen Segen! In Südtirol, gleich nebenan in St. Hippolyte, an das Gewitterkirchlein. Die Willkür und Wendigkeit des Windes, ein Windstoß, der Gedanken bringt und nimmt, der zerstreut und inspiriert – man kennt das. Die gewohnte Konzentration wird schwer, aber es kommt eine andere Gewalt hinzu. Und die Haare flattern am Kopf, als seien sie selbst die Gedanken, die wegwollen.

Glaubst du denn, der Wind trägt dich dorthin,
wo du hinwillst? – jeder Wind ist herrlich
und verwandt mit aller Teufelei!
Ach, für ihn bist du ein Taschenmesser,
das er einsteckt, ohne es zu merken,
wenn du durch und durch voll Vorsicht bist.

Die Willkür des Windes muss bejaht werden. Und wenn wir hier lesen, er sei herrlich, dann spricht das auch für die Wahrscheinlichkeit der oben stehenden Deutung, dass das erste Auftreten des Adjektivs „herrlich“ von Lavant bewusst im Sinne der Herrlichkeit des Herrn gesetzt worden ist. Für ihn sind Sie ein Taschenmesser, mobil, praktisch, klein, ohne Ort, zum Mitnehmen, etwas, das sich vergessen lässt, am Ort der Jause, wenn man weiterziehen muss, das aber bisweilen unersetzlich ist. Hier ist es der Wind, der es mitnimmt. Aber nur dann, wenn man selbst so gar nichts mit dem Wind gemein hat. Ist man aber wie der Wind, trägt man Anteile des Windigen in sich, wird der Wind einen nicht so ohne Weiteres in die Tasche stecken können. Freilich, den Elementen ebenbürtig sein zu wollen, ist die reine Hybris – aber vielleicht kann man sie schon beeindrucken, mit einer tollkühnen und wie sinnlosen Tapferkeit, die eigene Schwäche vergessend und fast ausgerenkt vor Energie… Und ist das womöglich dort, wo auch die Tapferkeit und wilde Hybris der Dichterin hausen?
Rufen wir uns ins Gedächtnis, wie das Gedicht weitergeht:

Ach, für ihn bist du ein Taschenmesser,
das er einsteckt, ohne es zu merken,
wenn du durch und durch voll Vorsicht bist.
Deine Mannschaft, die du bündeln willst,
und aus ihrem Rücken Riemen schneiden,
schnitzt für dich aus einer Erdnussschale
noch ein viel zu großes Rettungsboot.

Deine Mannschaft, besser gesagt: Ihre Mannschaft ist Ihnen offenbar in vieler Hinsicht überlegen. Auf jeden Fall in Sachen Größe! Das Rettungsboot, das sie mir aus einer Erdnussschale schnitzen, man stelle sich das vor, ist immer noch viel zu groß für Sie! Wie klein müssen Sie dann sein! Und wie groß ist die Mannschaft, Ihres Seglers, der Sie trauen sollen:

Trau der Mannschaft deines Seglers zu,
dass sie tüchtig aus der Trunkenheit
aufstehn könnte, jeder einzeln aufstehn,
jeder noch bis übers Kinn besoffen,
aber hingehn und das Seine tun!

Man kann es nicht oft genug wiederholen. Irre Größenverhältnisse – und ein Gedicht, in dem all dies Platz hat, muss noch größer sein als das! Es ist enorm, wie dieses Gedicht die Elemente bergen kann – vielleicht weil es selbst so wie die Elemente ist. Gewiss. Gewiss.

Hau jetzt ab samt deiner Nüchternheit!
Dieses Schiff wird nie verständig werden –
melde oben bei dem Bootsverleiher,
dass wir brüllend und das Maul voll Suff
seine Sterne aus der Hölle holen.

Dieses Schiff wird nie verständig werden. Oh. Dieser Satz prägte sich dem Idioten beim ersten Lesen unwiderruflich ein – und er weiß immer noch nicht, ist der Satz unterlegt von wildem Trotz, ist er einfach Behauptung, ist er Versprechen oder Warnung? Bedauernd wird er gewiss nicht gesagt. Wehrt er sich? Verteidigt er sich? Ist es gar die Wut der Dichtung, die hier mitspricht? Gegen die allenthalben an sie herangetragenen Wünsche nach größerer Eingängigkeit? Ein Wunsch, dem bereits in der oben zitierten Passage aus dem Johannesevangelium der Garaus gemacht wird, wenn Nikodemus die Antwort erhält: Der Wind weht, wo er will… Heißt das nicht, Sie müssen die Willkür dessen, was größer und stärker ist als Sie, anerkennen, mehr noch, ihr vertrauen und mit ihr in See stechen: Trau der Mannschaft deines Seglers? Ganz gleich ob das Schiff verständig je werden wird.
Darauf folgt die schier atemnehmende Ankündigung:

melde oben bei dem Bootsverleiher,
dass wir brüllend und das Maul voll Suff
seine Sterne aus der Hölle holen.

Das heißt: Wir, Ihre Mannschaft und Sie, Sie machen die Apokalypse rückgängig. Das kann nur jemand machen, der das Leid erfahren, aber auch herausgefordert hat. Es ist ja durchaus eine gewisse Abenteuerlust zu hören in der ersten Zeile eines anderen sehr berühmten Lavant-Gedichtes:

Ich will vom Leiden endlich alles wissen.

Das bedeutet ja nicht, ich will jetzt endlich alles erleiden, sondern ich will es vollständig, vollkommen wissen.
Hier zeigt sich der Stolz und Triumph des Dichtens, vielleicht sogar der Dichterin! Der Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt weist am Ende seines Buches Wörterleuchten daraufhin, dass der Akt großartig selbstbewusster Prahlerei ein kostbares Element der abendländischen Lyrik sei. Stolz, angesichts überdauernder Wirkung, so die Überzeugung Horaz’, ihrer lebendigen Weitergabe von Erlebnis und Affekt, angesichts der dichterischen Geste Shakespeares, mit der die Geliebte dem Gedächtnis der Menschheit ewiglich anvertraut wird, wo sie nie zuschanden gehen wird. Dies sei nicht dichterische Eitelkeit, schreibt von Matt, sondern Einsicht in die Tatsache, dass die Menschheit nie ohne Verse gelebt habe und ohne Verse nie leben werde.
Hm, so ungebrochen können Sie dies heute vielleicht nicht mehr sehen – und sagen mit einer bereits anresignierten Hoffnung leise, zudem redensartlich routiniert: Nun ja, dein Wort in Gottes Ohr. Doch halt – haben wir Gott nicht gerade eben in seiner Tätigkeit als Bootsverleiher kennengelernt?

melde oben bei dem Bootsverleiher,
dass wir brüllend und das Maul voll Suff
seine Sterne aus der Hölle holen.

Das ist Lavants Wort in Gottes Ohr – und wir hören nach wie vor sein gewaltiges Echo. Und da die Sterne noch oder wieder am Himmel sind, wovon wir uns Nacht für Nacht bei klarem Himmel überzeugen können, bedeutet dies, dass es Lavant und der Mannschaft ihres Seglers, vielleicht sogar unterstützt von der Mannschaft meines Seglers, und auch der Mannschaft Ihres und eures Seglers, gelungen sein muss, die Sterne aus der Hölle zu holen! Und wie hat sie das, haben wir das gemacht: mithilfe eines Gedichts. Man muss sich um das Fortbestehen des Gedichtes keine Sorgen machen.

Monika Rinck, aus Monika Rinck: Risiko und Idiotie. Streitschriften, kookbooks, 2015

Die schwere, schwere Bürde der Welt

– Aus einem Gespräch mit Sibylle Lewitscharoff anlässlich ihrer Lesung am 1.11.2014 im Rathaushof in St. Veit a.d. Glan (Kärnten), wo Christine Lavant fast auf den Tag genau 64 Jahre zuvor bei den St. Veiter Kulturtagen zum ersten Mal als Schriftstellerin vor die Öffentlichkeit getreten war. –

Wilhelm Huber: Frau Lewitscharoff, teilen Sie die Meinung von Thomas Kling, der Christine Lavant als Lyrikerin höher schätzte als Ingeborg Bachmann?

Sibylle Lewitscharoff: Das würde ich mit einem dicken Rotstift gleich zehnfach unterstreichen. Für mich ist die Lavant die größte Dichterin überhaupt im zwanzigsten Jahrhundert unter den Frauen. Die Lavant ist einfach unglaublich. Schon allein auch die Person, aus welcher Not und aus welchem Druck heraus eine so irrwitzige Dichtung entstanden ist. Hemmungslos begeistert mich diese kleine knochige Faust, die man sie emporrecken sieht gegen Gott, wiewohl die Dichterin zugleich vollkommen im katholischen Gehäuse eingesperrt ist. Das ist die wahre Wut. Eine ungeheuer kraftvolle Lyrik, aber gleichzeitig eine von einer großen Melancholie. Die liebe ich heiß und innig.

Huber: Können Sie mit der Lesart etwas anfangen, dass ihr ,religiöses Sprechen‘ in den Gedichten häufig eine Form absolut erlebter Liebe mit dem Maler Werner Berg und absolut erlebter Liebestrennung von ihm sei. Mit anderen Worten, dass auch eine dezidiert erotische Lesart der Gedichte möglich wäre?

Lewitscharoff: Das würde ich auf jeden Fall annehmen können, auch wenn mir der biographische Hintergrund nicht ganz klar ist. Ich habe etwas über ihr Leben gelesen, aber alle Details sind mir nicht präsent. Ich halte es für gut möglich, dass die Gedichte eine doppelfädige Bedeutung haben. Das gibt es ja häufig: ein Versteckspiel mit scheinreligiösen Inhalten, wobei eigentlich ein sehr, sehr profanes Liebesgewitter dahintersteckt. Es gibt ja nichts Besseres, als es religiös zu camouflieren, das ist doch schön.

Huber: Sie haben auch Theologie studiert. Hat der religiös-transzendente Hintergrund ihrer Gedichte Sie angezogen?

Lewitscharoff: Eher der Gotteshader, es ist da ja nichts Süßliches, keine fromme Gebärde. Die Gedichte sind ungewöhnlich stark, übrigens auch sehr aggressiv. Keine lauen Wässerchen. Zugleich geht es aber in solcher Spannung nur, wenn einem die Religion etwas bedeutet. Das heißt, jemand, der von vornherein eine saloppe Abkehr von der Religion betreibt, der muss sich nicht aufregen, wozu denn, es bedeutet ihm ja viel zu wenig. Aber bei ihr ist mehr dahinter. Da steht natürlich auch der Druck der Tradition dahinter, der Druck dieser ganz anderen Verhältnisse, aus der Armut heraus, wo die Kirche einen starken Einfluss hatte. Ich finde, das spürt man schon.

Huber: Warum hat gerade das Sie berührt, wo Sie aus ganz anderen Zusammenhängen kommen?

Lewitscharoff: Zunächst einmal ist es nur die Qualität der Gedichte. Mir ist es letztlich egal, worüber jemand schreibt. Die Tatsache, dass jemand auch einen religiösen Hintergrund hat, verführt mich nicht per se dazu, das gut zu finden, da gibt es ja genügend absolut schwachsinnige Beispiele. Wenn ich an Luise Rinser denke, sträuben sich mir alle Haare einzeln.

Huber: Christine Lavant war Autodidaktin, nahezu ohne formale Schulbildung.

Lewitscharoff: Das macht ihr Schreiben ja gerade so großartig. Wenn jemand so über alle Hindernisse springt, und in ihrem Fall waren es gewaltige Hindernisse: die Herkunft, die Krankheiten, die Psychiatrie, die Umgebung, in der sie kaum Zugang zu geistigen Dingen und schon gar nicht zu feineren Formen der Lyrik hatte – und dann das so zu können, das ist doch ein staunenswertes Wunder, weil ihre Gedichte in sich von großer Komplexität sind, das ist nicht einfach hingeschrieben, auf die Art: jetzt probiere ich mal etwas in einem halbbäuerlichen Duktus. Das ist schon etwas ganz anderes.

Huber: Sie sind von Ihrer Herkunft, Ihrem Bildungsweg ja das absolute Gegenteil zu Christine Lavant.

Lewitscharoff: Ich sehe da keinen so großen Kontrast. Wer literaturhörig ist, der springt über diesen Graben, der hat die wissenschaftliche Bildungshürde nicht mehr vor sich. Die kann man haben, aber das spielt bei der Beurteilung von Lyrik keine große Rolle. Außerdem darf man eines nicht vergessen, und darauf beharre ich: dass besonders die Lyrik auch in einer ganz altertümlichen Weise das Herz ergreifen muss – oder es eben nicht tut. Entweder es packt Sie und hält Sie fest – ob wir das ,Herz‘ nennen müssen, das sei dahingestellt – oder es ist ein bisschen L’art pour l’art. Vielleicht interessant formuliert, aber nicht wesentlich. Bei der Lavant ist es ganz einfach der existenzielle Druck und auch die schwere, schwere Bürde der Welt, in die sie gestellt war. Dieser Druck ist eminent da, aber er ist gleichzeitig in einer verfeinerten Form vorhanden. Da ist nichts mehr primitiv. Das empfinde ich als ein Wunder.

Huber: Gefällt Ihnen die Gedichtauswahl, die Thomas Bernhard 1987 für die Bibliothek Suhrkamp zusammengestellt hat?

Lewitscharoff: Die gefällt mir sehr gut. Ich bin auf Lavant gekommen durch ihn. Vorher habe ich sie nicht gekannt. Es war Thomas Bernhard, durch den ich überhaupt erfuhr, dass es sie gibt. Das war das Initial. Ich lese Bernhard gern und wollte sehen, wen er da empfiehlt. Ich ging in eine Buchhandlung, schaute nach, und sie hat mir sofort gefallen.

Aus Klaus Amann, Fabjan Hafner und Doris Moser (Hrsg.): Drehe die Herzspindel weiter für mich, Wallstein Verlag, 2015

Unversöhnt

– Etwas über Christine Lavant. –

Unversöhnt heißt ein Film von Jean-Marie Straub, der mich schon seines Titels wegen anzog. Wenn ich das, was die Essenz von Christine Lavants lyrischem Werk ausmacht, auf den Punkt bringen und in ein einziges Wort fassen müsste, so könnte dieses nur unversöhnt lauten. Als mir 1956 Christine Lavants Gedichtband Die Bettlerschale unter die Augen kam, war ich neunzehn Jahre alt und hatte allen Grund, nicht versöhnlich in die Welt zu schauen. Christine Lavants Gedichte kamen da gerade recht, um meiner Unversöhnlichkeit Nahrung zu liefern. Ich las sie wie Beweise für mein, ja doch, tragisches Lebensgefühl, obwohl es solcher Beweise angesichts einer katastrophalen Kindheit und der jüngsten Geschichte nicht bedurft hätte. Ein Jahr später, 1957, entdeckte ich in einer Tübinger Buchhandlung Thomas Bernhards Gedichtband Auf der Erde und in der Hölle, in dem ich die Unversöhnlichkeit, die Christine Lavants Gedichte ausstrahlten, wiederfand, wenn auch Bernhards „Lästergebete“ – als „Lästergebete“ hatte Ludwig von Ficker die Lavant’sche Lyrik apostrophiert – weniger unerbittlich, weil gewollter, wirkten als jene der Christine Lavant. Ich schrieb damals eine hymnische Rezension des Bernhard’schen Gedichtbandes (für eine kommunistische Zeitschrift), die mit dem Satz begann:

seit Trakl hat Österreich, von Christine Lavant abgesehen, keinen so bedeutenden Lyriker erlebt wie Bernhard…

Auch schickte ich Auf der Erde und in der Hölle an Ingeborg Bachmann, um sie mit meiner Begeisterung anzustecken, doch deren Reaktion blieb relativ kühl:

Er – Bernhard – ist schon da, ganz in dem Trieb, die Gedichte zu schreiben, aber noch nicht in den Gedichten selber.

Bernhards Unversöhnlichkeit bedurfte der Hinwendung zur Prosa.
Apropos Ingeborg Bachmann: Noch ihre untröstlichsten Gedichte haben nichts Unversöhnliches, stets ist es die Natur – die Schöpfung –, die zuletzt Trost bietet, geradezu inbrünstig wird sie in ihren Gedichten gefeiert, während Christine Lavant als wütende Anklägerin der Schöpfung und ihres Schöpfers auf den Plan tritt, die sie ohnmächtig anklagt und auch verhöhnt. Beide, Ingeborg Bachmann und Christine Lavant, kamen aus einer Gegend, in der Gotteslob geradezu genetisch vererbt scheint. Auch Christine Lavant kann sich dieser Herkunft nicht entziehen, aber bei ihr vergiftet die Gottesfurcht regelmäßig das Gotteslob. Das klingt dann so:

Ich hör mein Herz die Gnade Gottes loben,
das dringt wie Bellen mir durch Mark und Bein

Nicht nur im gewaltigen Gedicht „Kreuzzertretung“ identifiziert sich Christine Lavant mit einer heulenden Hündin, die zur Anklägerin Gottes wird:

Kreuzzertretung! – Eine Hündin heult
sieben Laute, ohne zu vergeben,
abgestiegen in die Hundehölle
wird ihr Schatten noch den Wurf verwerfen.

Oben bleibt der Vorhang ohne Riß,
nichts zerreißt um einer Hündin willen,
und der Herr – er ließ sich stellvertreten –
sitzt versponnen bei den ganz Vertrauten.

Auch die Toten durften nicht herauf!
Vater, Mutter, – keines war am Hügel,
und die Sonne hat sich bloß verfinstert
In zwei aufgebrochnen Augensternen.

Von der Erde bebte kaum ein Staub,
nur ein wenig sank die Stelle tiefer,
wo der Balg, dem man das Kreuz zertreten,
sich noch einmal nach dem Himmel bäumte.

Der Kadaver – da ihn niemand barg –
kraft der Schande ist er auferstanden.
um sich selbst in das Gewölb zu schleppen,
wo Gottvater wie ein Werwolf haust.

Es war dieses Gedicht „Kreuzzertretung“, dessen Interpretation ich Marcel Reich-Ranicki vorschlug, als er mich in der Frühzeit der Frankfurter Anthologie, Ende der achtziger Jahre, um einen Beitrag für diese bat. Ich bin nicht sicher, ob ihm der Name Christine Lavant damals mehr als vom Hörensagen bekannt war, jedenfalls gefiel ihm das Gedicht nicht und er bat mich um einen anderen Vorschlag. Da ich auf Christine Lavant beharrte, akzeptierte er schließlich ihr Gedicht „Nur des Schlafes wilder Nebenzweig“:

Nur des Schlafes wilder Nebenzweig,
ein Bastard, von Drogen großgezogen,
nimmt sich manchmal meiner Seele an.
Zwei Missbrauchte dienen dann einander,
trösten das, was noch zu trösten ist,
und verbergen gütig, was sie wissen.
Halbe Träume stellen sie ins Leben,
wächserne und ohne Angesicht,
ohne Anspruch auf Geduld und Pflege,
schmelzend schon beim ersten Hahnenruf.
Aber dennoch sind es kleine Söhne,
notgetaufte, alle dem geweiht,
der dies Paar einander preisgegeben
wie zwei Sklaven oder Straßenköter,
während sich der gute Edelschlaf
nur zu hochgebornen Seelen legt.

Was ich dann unter dem Titel „Gott und der Schlaf“ zu diesem Lavant-Gedicht schrieb, gefiel Marcel Reich-Ranicki leider wieder nicht und er retournierte meinen Beitrag (kein Ausfallhonorar). Lange schien der Text unter dem Wust meiner Papiere verschwunden, erst unlängst fand ich ihn zufällig wieder. Wenn ich ihn hier trotz einiger Bedenken zur Besichtigung freigebe, ist vielleicht der Hinweis nötig, dass er für ein Publikum geschrieben wurde, das zum allergrößten Teil den Namen Christine Lavant noch nie vernommen haben dürfte.

*

Aber was in allen Reichen
Wär’ dem Schlummer zu vergleichen?
Was du hast und weißt und bist,
Zahlt nicht, was der Schlaf vergisst.

In Grillparzers „Ständchen“, lebendig durch Franz Schuberts zauberische Vertonung, wird die Geliebte nicht von einem rücksichtslosen Liebhaber aus dem Schlummer in die laute Welt zurückgerissen, sondern es wird ihr das Vergessen dieser Welt, mithin des Geliebten, gegönnt, schließlich sind es ihre Freundinnen, die ihr dieses stillste aller Ständchen darbringen.
Die Welt verdankt freilich jenen, derer sich kein Schlaf erbarmt – „selbst vom Tod erwarte ich keinen Schlaf“ heißt es in einem Gedicht von Fernando Pessoa –, ungleich mehr als den guten Schläfern, zumindest eine tiefere Erfahrung des Unglücks unserer Existenz. Wem der Schlaf nicht sein traumgewirktes Seil spannt über den Abgrund der Angst, die zutiefst immer Todesangst ist, dem bleibt keine tröstliche Illusion mehr über Welt und Leben. Wie arm wäre unsere Kunst- und Geistesgeschichte ohne die vielen Untröstlichen, zu Schlaflosigkeit Verdammten, von Pascal, Kierkegaard und Nietzsche bis zu Franz Kafka, Robert Walser, Simone Weil, Cioran oder Paul Celan! Eine Anthologie großer Gedichte, die vom Verlangen nach Schlaf und Vergessen erfüllt sind, hätte beträchtlichen Umfang und es müssten in ihr auch mindestens drei oder vier Gedichte jener österreichischen Dichterin enthalten sein, die sich nach dem Flussnamen des Kärntner Tales, in dem sie 1915 geboren wurde, Lavant nannte.
„Mein Schlaf ist ins Wasser gegangen“, so beginnt eines von Christine Lavants Gedichten, ein anderes:

Nie kommt das Schlafbrot bei mir an,
der Traumkelch geht an mir vorüber

Nur äußerst selten gibt es für diese Autorin, die so verzweifelt um „ein Hundertstel Schlaf“ fleht, einen „Findlingsschlaf“, der aber doch nicht mehr ist als „ein Viertel Schlaf, drei Viertel Angst“, eben nur „ein Bastard, von Drogen großgezogen“, wie im vorliegenden Gedicht. „Wir hätten nicht zur Welt kommen dürfen“, schrieb Christine Lavant einmal über sich und ihre acht Geschwister, Kinder eines frühinvaliden Bergmannes und einer lungenkranken Mutter, die zusammen in nur zwei Zimmern hausten. Sie selbst litt an Skrofulose, einer Wirbelverkrümmung, die ihr nicht erlaubte, länger zu liegen, auch an Asthma und Röntgenverbrennungen, einem Augen- und Ohrenleiden, permanentem Kopfweh und nicht zuletzt an einem dreißig Jahre älteren Mann, einem „Pflegefall“, den sie aus Mitleid geheiratet hatte. Achtzehnjährig war sie freiwillig in die Psychiatrie gegangen, um ihre körperliche Verwüstetheit einer noch furchtbareren auszusetzen. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie lange mit Spinnen und Stricken.
Fast zwangsläufig musste der Verzweiflungsvirtuose Thomas Bernhard auf sie stoßen, in dessen Auswahl von Lavant-Gedichten für die Bibliothek Suhrkamp unser Gedicht allerdings fehlt. Dabei zeigt sich auch in ihm, dass der Katholizismus Christine Lavants, den Thomas Bernhard als ihren eigentlichen Peiniger und Zerstörer bezeichnete, sie keineswegs zu einem willfährig alles Unglück akzeptierenden weiblichen Hiob machte, sondern dass sie heftig haderte mit einem Gott, der in ihren Gedichten nie als Erlöser erscheint, sondern zumeist als erbarmungsloser Herrscher, mehrmals sogar als „Werwolf“, den sie auffordert:

Trink gnädig meinen Schädel leer!

Auch noch wo es der Dichterin gelingt, ihr Martyrium nahezu ins Ironische zu wenden, und sie scheinbar Verständnis dafür aufbringt, dass „sich der gute Edelschlaf / nur zu hochgebornen Seelen legt“, ist der eigentliche Adressat oder Angeklagte ihres Gedichts ein tyrannischer Herrschergott, der die einen seiner Geschöpfe als schlaflose Sklaven und Straßenköter hält, den anderen aber alle Qualen erspart oder doch mit „Edelschlaf“ vergütet. Insofern müssten ihre mit Drogen erzwungenen „halben Träume“ des schlechten Schlafs, die sie diesem Gott weiht, ihn eigentlich an sich selbst verzweifeln lassen. Zu viel verlangt. Doch sollte, meint man nach der Lektüre dieses Gedichts, auch bei den „hochgebornen Seelen“ der „Edelschlaf“ etwas länger als sonst auf sich warten lassen. Aber vermutlich hüten sie sich zu lesen, gar Gedichte, Lesen gefährdet den Schlaf.

Peter Hamm, aus Peter Hamm: Die Welt verdient keinen Weltuntergang. Aufsätze und Kritiken, herausgegeben und mit einem Nachwort von Michael Krüger, Wallstein Verlag, 2021

 

Silke Andrea Schuemmer: „Die Vormundschaft des Todes“

 

 

Zum 100. Geburtstag der Autorin:

Franz Haas: Beten und das Kreuz zertreten
Neue Zürcher Zeitung, 4.7.2015

Carola Leitner: „Das verstümmelte Leben“
orf.at, 4.7.2015

Gisela Trahms: Thomas Bernhard fand sie gescheit und durchtrieben
Die Welt, 4.7.2015

Andreas Kohm: „Aber das Schreiben ist das Einzige, was ich habe“
Badische Zeitung, 3.7.2015

Gabriele Kögl: Christine Lavant: Der Sonnenapfel ist ein Lavanttaler
der Standart, 4.7.2015

Hubert Gaisbauer: Christine Lavant: „Gott, sag das nicht“
Die Furche, 2.7.2015

Arnold Mettnitzer: Zu Christine Lavant
ORF.at

 

 

Zum 50. Todestag der Autorin:

Victor Strauch: Schriftstellerin aus armen Verhältnissen schuf bedeutende Literatur
Neue Zeit,  6.6.2023

Michael Swersina im Gespräch mit Franz Bachhiesl über Christine Lavant: „Ich traf sie regelmäßig auf meinem Schulweg in St. Stefan“
Unterkärntner Nachrichten, 7.6.2023

 

 

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Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Bernharddistel“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Bernhard, der“.

 

 

Thomas Bernhard im Gespräch mit Janko von Musulin, 1967.

 

Ferry Radax: Thomas Bernhard / Drei Tage Hamburg 6. Juni 1970.

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