Gesteinigt hänge ich am Lebensrad,
mich wohl entsinnend, daß auch Sterne sinken.
Doch wer so dürstet, möchte nichts als trinken,
und vor dem Absturz krallt sich jede Hand
Haltung erhoffend in die nächste Härte.
Gott ist kein Nachbar. Auch die Menschenfährte
ist so verwischt, daß meine Augen brennen
und nicht ergründen können, wer hier ging.
Steigt, Sterne, steigt, das Licht ist so gering,
es läßt mich kaum die Todesnot erkennen.
Mein Herz pocht trotzdem solche Morsezeichen,
wie nur die letzte Angst sie einen lehrt.
Und noch im Fallen fühl’ ich unversehrt:
sie werden niemals dein Gehör erreichen.
Sie ist die letzte deutschsprachige Dichterin, die es mit Gott persönlich aufgenommen hat, im Vergleich zu ihr sind alle ,katholischen‘ und ,protestantischen‘ Dichter sanfte Sozialarbeiter… In diese pragmatisch gewordene Welt… ragen die naturmystischen Versenkungen der Christine Lavant wie unzeitgemäße Zaubersprüche.
Michael Krüger
Sie war körperlich unscheinbar, fühlte sich häßlich und litt darunter… Dieser kranke, gebrechliche und erbärmliche Leib war ihr Schicksal und der Kerker einer großen Seele, süchtig nach Schönheit.
Harald Weinrich
Diese Angst ist bei Christine Lavant wahre kreatürliche Panik. Sie hat ihren Grund in einer finsteren Verlassenheit, einem bodenlosen Alleinsein.
Heinz Piontek
In Christine Lavants Leben findet sich nichts Brauchbares für Normalmenschen, außer der Erfahrung, daß es hinter einer fortschreitenden Zerstörung das Unzerstörbare gibt; daß durch den Weg in die Tiefe ein Höhenweg angetreten werden kann.
Ingeborg Teuffenbach
Die Sprache der Christine Lavant erscheint unerschöpflich. Ihre Worte, Metaphern und Satzfügungen haben etwas Behexendes. Sie dichtet, wie man am Spinnrad sitzt. Die Spindel dreht sich, daran der Lebensfaden dünn Spule um Spule füllt. Worte drehen und verdrehen sich, ziehen sich zusammen und reißen.
Kerstin Hensel
MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2010
Als neuntes Kind eines Bergarbeiters im Schacht der Armut krankheitsgepeinigt aufgewachsen, suchte die scheue Kärntner Dichterin in hiobhafter Gottverlassenheit und animalischer Abhänglichkeit die Nähe guter Menschen. Ihre im Dialekt wurzelnden naturmagischen Gedichte eines kreatürlichen Ringens sind Leuchtfeuer von der Nachseite des Lebens.
MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2010
Elke Erb: Poetics 19 Christine Lavant
poetenladen.de, 4.1.2013
– Zur christlichen Dichtung Christine Lavants. –
Christine Lavants Gedichte stellen den in der deutschsprachigen Literatur der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, wenn nicht einzigartigen, so doch äußerst seltenen Fall eines lyrischen Werks dar, das ästhetisch zu überzeugen vermag, obwohl es durch das Christentum wesentlich bestimmt ist und sich häufig auf Christliches explizit bezieht. Die christliche Religion ist jedoch nur ein Moment der, um ihretwillen erstaunlichen, Überzeugungskraft jener Gedichte im zeitgenössischen Kontext. Ein anderes – und hier mag man eine untergründige Übereinstimmung mit dem Bezug auf das Christentum sehen – besteht in ihren für die Moderne so ungewöhnlichen poetischen Mitteln:
Weder der Sprachbehandlung noch dem Thema nach zeigen diese Gedichte dem ersten Blick zeitgenössisch vertraute Züge. Distanz, Parlando, Lakonismus, Ironie, literarische Allusion, syntaktische Experimente, Reduktion, Montage, Ausweitung des Vokabulars auf alle Textklassen – alle diese Stichworte der Moderne charakterisieren Christine Lavants Lyrik nicht.
Mittlerweile ist jene Fremdheit vielleicht geringer geworden, denn Reim und Metrum und manchmal auch – Lakonismus, Distanz und Ironie konterkarierend – Pathos oder gar das Erhabene sind in die Lyrik zurückgekehrt. Die zitierte Charakterisierung der Lavant’schen Gedichte selbst aber bleibt angemessen, wenn sich einem zweiten Blick auch zeigen mag, dass die Stichworte Reduktion, Ironie und Distanz sehr wohl auf ihre Lyrik zutreffen können. Denn Lavants Vokabular ist einigermaßen reduziert, insofern es elementar und einfach ist, ja manche Wörter und Wendungen in verschiedenen Gedichten und Zusammenhängen verwendet werden; und Ironie wie Distanz – ich werde es anhand eines Beispiels zu zeigen versuchen – scheinen mir doch wesentliche Aspekte der Gedichte zu sein, sosehr sie andererseits auch auf eine traditionelle Evokation des Pathetischen vertrauen mögen. Das Außergewöhnliche und Fremde der Lavant’schen Gedichte im zeitgenössischen Kontext und ihr dennoch ästhetisch Überzeugendes ist das eine Motiv für meine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Religion und Poesie in ihnen.
Das andere besteht darin, dass sich über die Jahre hin und durch mein eigenes Schreiben das Gefühl (ich wage nicht, von einer Einsicht zu sprechen) verstärkt hat, Religion und Poesie – zu beider Gedeihen oder beider Verderben – hätten wesentliche Eigenschaften gemeinsam, sodass diesen nachzuforschen für die Erkenntnis beider Bereiche fruchtbar sein könnte. Zunehmend will mir scheinen, dass Religion und Poesie selbst wie auch das Unverständnis und die Gleichgültigkeit beiden Bereichen gegenüber, ja der Widerwillen gegen beide (der allerdings im Fall der Poesie oft gar nicht eingestanden wird), auf eine ihnen gemeinsame Wurzel schließen lassen. Vielleicht trifft Paul Claudel einen Aspekt jener Gemeinsamkeit, wenn er schreibt:
Was Voltaire und seine […] modernen Nachfahren im Grunde stört, sind weniger die Wahrheiten, die in der Bibel aufgezeichnet sind, als die malerische Pracht der Geschichten, die dort erzählt sind, und die Sprache, in die sie gekleidet sind. Dante und Shakespeare verursachen ihnen keinen geringeren Schrecken, auch sie sind ,überspannte‘ und ,dunkle‘ Autoren.
Doch spricht manches auch für die gegenteilige Meinung. Arthur C. Danto etwa erwähnt das bekannte negative Urteil über die literarischen Qualitäten der Bibel und zitiert einen Apologeten aus dem zweiten Jahrhundert, der gerade die angeblichen literarischen Mängel der Heiligen Schrift als Garanten für ihre Wahrheit ansieht:
Als ich mit der größtmöglichen Ernsthaftigkeit nach der Wahrheit suchte, stieß ich zufällig auf gewisse barbarische Schriften […] und die Schlichtheit ihrer Sprache bewog mich, ihnen Glauben zu schenken.
Folgt man diesem ästhetischen Urteil, wäre es dann, wenn überhaupt etwas, nicht eher die Art des Wahrheitsanspruchs, die Religion und Poesie gemeinsam sein könnte? Und wie, wenn es die für einen Gutteil der modern-säkularen Weltanschauung so selbstverständliche prosaische Nüchternheit und die mit ihr einhergehende Dominanz des so genannten gesunden Menschenverstandes wären, die die Poesie wie auch die Religion in ein und dieselbe Distanz rückten, von der aus sowohl ihre Sprache als auch ihre Wahrheiten als Dunkles oder Überspanntes erscheinen, das Gleichgültigkeit, Widerwillen oder gar Schrecken erregt?
Gedichte sind gemalte Fensterscheiben!
Sieht man vom Markt in die Kirche hinein.
Da ist alles dunkel und düster,
Und so sieht’s auch der Herr Philister:
Der mag dann wohl verdrießlich sein
Und lebenslang verdrießlich bleiben.
Kommt aber nur einmal herein!
Begrüsst die heilige Kapelle;
Da ist’s auf einmal farbig helle,
Geschieht’ und Zierat glänzt in Schnelle,
Bedeutend wirkt ein edler Schein;
Dies wird euch Kindern Gottes taugen,
Erbaut euch und ergetzt die Augen!
Es ist wohl so, wie Goethe in diesem berühmten Gedicht – allerdings sehr hell und vernünftig und so ironisch wie doppelsinnig: von welcher Art von Schein ist hier die Rede? – zeigt und sagt, in dem Gedichte und die Religion einander entsprechen: Man muss – wörtlich oder bildlich verstanden – in der Kapelle sein, man muss an Religion und Dichtung teilnehmen, um etwas von ihnen zu begreifen; man muss sich ihrem schönen oder wahren Scheinen mit Haut und Haaren überlassen. Auch wenn das jenen Widerwillen oder gar Schrecken auslösen sollte, von welchen in Goethes Gedicht nichts zu spüren ist, umso mehr aber in den Gedichten Christine Lavants.
Gedichte Christine Lavants und das ihnen Vorgegebene
Bekanntlich ist das Christentum etwas Vielfältiges und Vieldeutiges, ja wohl auch etwas Widersprüchliches oder auch nur Heterogenes und jedenfalls nichts ein für alle Male Festgelegtes. Und das nicht nur insofern, als es verschiedene christliche Bekenntnisse gibt. Auch jedes einzelne dieser Bekenntnisse setzt sich aus Widersprüchlichem oder Verschiedenartigem zusammen, besteht doch ein jedes aus der Heiligen Schrift (in sich selbst widersprüchlich und heterogen; und nicht nur, was das Verhältnis von Altem zu Neuem Testament angeht), aus Theoretischem (die Geschichte der Theologie ist auch eine Geschichte widersprüchlicher Lehrmeinungen) und aus bestimmten religiösen Praktiken, sakralen Handlungen oder Ritualen (die sich verändern und auch verschiedenen Deutungen unterworfen sind).
Angesichts dieser geradezu babylonischen Lage sei das Christentum hier als das verstanden, was durch jene Glaubensinhalte bestimmt wird, die ihrerseits Bezugspunkte der Lavant’schen Dichtung sind. Nicht zufällig sind es einige der Glaubensinhalte, die häufig als für die meisten christlichen Bekenntnisse und Zeitalter zentral angesehen werden: Es gibt nur einen Gott und er ist allwissend, allmächtig und allliebend und Schöpfer des Himmels wie der Erde. Der Sündenfall (die Erbsünde oder Erbschuld) hat die Vertreibung aus dem Paradies verursacht und damit auch Leid und Sterblichkeit. Jede einzelne menschliche Seele aber ist unsterblich. Die Menschwerdung Gottes in Christus und der Opfertod Christi machen die Versöhnung der Menschen mit Gott möglich. Nicht nur der Himmel (als Ort ewiger Seligkeit) existiert, sondern auch die Hölle (die ewige Verdammnis). Die Menschen, die Christus nachfolgen und etwa Leid und Sterblichkeit – auch für andere oder anderes – auf sich nehmen, erlangen den Himmel, also ewige Seligkeit.
Der Vielfältigkeit und Vieldeutigkeit des Christentums, aber auch der Unbestimmtheit der Gedichte Lavants entsprechend, ist diese Aufzählung fragwürdig, und man könnte auch darüber streiten, welche jener Glaubensinhalte tatsächlich zentral sind und welche nicht. (Spezifisch katholische Glaubensinhalte, wie die unbefleckte Empfängnis Mariens oder die Realpräsenz Christi in der Eucharistie, ob man sie als für das Christentum im Allgemeinen zentral hält oder auch nicht, sie sind für die Lavant’sche Dichtung jedenfalls nicht von entscheidender Bedeutung.)
Ganz erblinden will ich, lieber Herr,
auch nichts hören und die Sonne nimmer
zu mir nehmen in den Zwielichtschimmer,
meine Lippen mögen dürr und leer
wie die Hälften einer Hülse klaffen.
Wehr den Fingern das Zusammenraffen
aller Nöte, um sie dir zu zeigen.
Keine war im Grunde je mein eigen,
seit ich flüchtig diesen Leib betrat.
Nur – es dauert mir schon etwas lange,
und so aufgeregt, wie eine Schlange
sich zur Zeit der Häutung wohl benimmt,
geh ich ruhlos, böse und verstimmt
auf und nieder in dem kleinen Raum.
Was hilft mir der Fink im Birnenbaum?
Sinnlos reift der Sonne Morgenrose.
Wenn ich jetzt Gebete zu dir stoße,
ist es bloß der Seele Ungeduld,
die den Leib als Irrtum oder Schuld
schon zu lange mit sich schleppen mußte.
War’s nicht, dass ich einen Ausweg wußte?
Gestern noch und fast bis Mitternacht.
Meine Freiheit schien mir schon vertraut.
Doch des Vogels schwacher Morgenlaut
hat mich wieder in die Haft gebracht.
Den Rahmen des Christlichen vorausgesetzt, scheint es zunächst nicht allzu schwierig, das Gedicht zu paraphrasieren und seinen Sinn zusammenzufassen: Da wird Gott von einem Ich angeredet, das eigentlich genug hätte von dieser Welt, von ihrem Schein, ihrem Sonnenschein und Vogelgesang, von dem Leiblichen, das mit dem Irrtum und mit der Schuld der Seele identifiziert wird. Doch so ungeduldig dieses Ich, diese Seele, ist, den Körper zu verlassen, es gelingt noch nicht. Der Ausweg, der in der Nacht (da das Licht der Sinne sozusagen ausgeschaltet ist) noch fühlbar war, die Freiheit, die schon vertraut schien, wird mit dem ersten, schwachen Morgenlaut eines Vogels wieder verloren. Mit dem Morgen erwachen auch die Sinne, der Leib, die Welt und die Natur mit ihren trügerischen Verlockungen, und die Seele wird wieder in Haft genommen. Deshalb betet das Ich darum, dass ihm die Sinne schwinden mögen und Gott es zu sich nehmen. So scheinen die christlichen Vorstellungen von der Hinfälligkeit, Vorläufigkeit und Schuldhaftigkeit der sinnlich wahrnehmbaren Welt bestätigt.
Doch sieht man das Gedicht genauer an, so ist es vor dem christlichen Hintergrund gar nicht so leicht zu begreifen.
Mag es auch in jenem – aus vielen Lavant’schen Gedichten vertrauten – leidensvoll abgründigen Ton anheben und mit der Geste einer demütigen und gebetsähnlichen Zwiesprache mit Gott – „Ganz erblinden will ich, lieber Herr / auch nichts hören“ –, so wird dieser Ton spätestens in der achten Zeile: „Keine [Not] war mir je zu eigen,/ seit ich flüchtig diesen Leib betrat“ – zweifelhaft und mit ihm die Form direkter, unmittelbarer und gebetsähnlicher Anrede. Eher wird hier erzählt und reflektiert – das Präsens wird vorübergehend durch das Präteritum ersetzt –, und der liebe Herr rückt ferner, ist nicht mehr unmittelbar präsent (oder wenigstens nicht mehr so stark fühlbar).
An dieser Stelle wird Distanz hörbar, und in Übereinstimmung damit nimmt die Redegestik etwas von einem Theatermonolog an, der von ferne an die Rhetorik der Schlegel-Tieck’schen Shakespeareübersetzungen erinnert. Da gibt es – „seit ich flüchtig diesen Leib betrat“ – eine seltsam kühle, rhetorisch untertreibende Beschreibung des Vorgangs der Geburt und eine – nimmt man an, das lyrische Ich wolle tatsächlich seinen Körper, seine Welt verlassen – ebenso untertreibende Einschränkung durch das Wort etwas:
es dauert mir schon etwas lange.
Auch wird da ein Füllwort gebraucht (sich zur Zeit der Häutung wohl benimmt), und gegen Ende des Gedichts steht die umständliche und gestelzte Selbstbefragung:
War’s nicht, dass ich einen Ausweg wußte?
Was als flehentliches und gebetsähnliches Anreden Gottes zu beginnen scheint, verwandelt sich in eine Art Theaterrede an Gott. Die zunächst demütig anmutende Anfangsgeste wird zur Vorführung eines, wie man meinen kann, im Anreden von Gott unangemessenen Selbstbewusstseins oder einer unangebrachten Souveränität. Es ist ein sich ironisch distanzierendes und rhetorischen Sprechen, das auch mehr und mehr begrifflich-argumentative Züge annimmt. Und dieser Veränderung entsprechend folgen auf die krassen und dicht getürmten Anfangsbilder – die Lippen mögen dürr sein, aber zugleich auch leer?; der kühne Vergleich, der sie wie die Hälften einer Hülse klaffen lässt; und kann man denn die Sonne in einen Zwielichtschimmer zu sich nehmen? – gemäßigtere, mildere und konventionellere und vor allem weniger dicht gefügte. (Der Ton beruhigt sich, und das gerade dann, als das Ich seine Aufregung schildert – „aufgeregt wie eine Schlange“ –, was die Beruhigung nur umso auffälliger und vielleicht anstößiger macht.)
Und die spöttische Ironie der Gedichtrede zeigt sich auch in der seltsamen Zwiespältigkeit des Schlangenbildes: Die Schlange ist bekanntlich schon in der Genesis, in der Erzählung vom Sündenfall Adams und Evas, das Symbol für die Verführung und das Böse. In dem Gedicht nun bezeichnet sich das lyrische Ich als so aufgeregt wie eine Schlange, die sich allzu ungeduldig häuten will, und auch als ruhlos, böse und verstimmt. Schlangenähnlich und böse ist also gerade jenes Ich, jene Seele, die es – in Übereinstimmung mit christlichen Vorstellungen, ja mit christlicher Sehnsucht nach Gott – eilig hat, den Leib und damit die Welt zu verlassen, und die darum sogar betet (Gebete zu Gott stößt). Dieser ironischen Umkehrung entspricht auch, dass es gerade ein Vogel (der Fink) ist – ansonsten nicht selten Sinnbild für die vom Körper befreite Seele – und sein so häufig als unschuldig und schwach gedachter Gesang, der die Seele verführt beziehungsweise wieder in Haft bringt. (Ein Gesang, der übrigens vielleicht auch ein wenig die Dichtung selbst ist.)
Wenn man diesen Bildern folgt, dem, was sie evozieren, dann wird die Natur dem lieben Herrn als so anziehend oder gar so heilig und wohl auch verehrungswürdig vorgeführt, wie, nach christlichen Begriffen, nur Gott, also der liebe Herr, selbst dargestellt werden sollte oder auch das christliche Jenseits. Das ungeduldig gottsuchende Ich vergleicht sich dagegen mit einer Schlange, obwohl es behauptet, die als sinnlos und als Haft bezeichnete Natur verlassen, nämlich zu Gott zu wollen. Was zu Gott will, stellt sich jetzt als so böse dar, wie es – nach christlicher Vorstellung – die Natur ist, sofern sie von Gott wegführt oder ihn verdunkelt, verschleiert.
Liest man das Gedicht in diesem unter- oder hintergründigen Sinn, dann besteht es aus Fragen und Behauptungen, die geradezu ihre eigene Negation bedeuten können: Womöglich will dann das Ich des Gedichts gar nicht erblinden und auch nicht nichts hören, und vielleicht will es sehr wohl die Sonne zu sich in den Zwielichtschimmer nehmen und vielleicht auch zu sich nehmen, und von Gott würde dann gar nicht erbeten, den Fingern zu wehren, alle Nöte zusammenzuraffen, um ihm diese zu zeigen. Denn diese wären dann – auf Gedeih und Verderb oder in Lust und Schmerz – sehr wohl das, was dem Ich im Grunde zu Eigen ist. Und dann würde jenem Ich das Leben im Leib gar nicht schon zu lange dauern. Und der Fink im Birnenbaum, die Schönheit, die sinnliche Pracht des Morgens hätten dann sehr wohl Sinn, die Morgenrose reifte gar nicht sinnlos. (Das würde dann gerade durch den sakralen Anklang gesagt.)
So führte das Ich seinem lieben Herrn nur etwas theatralisch und ironisch die Widersinnigkeit der (angeblich) christlichen Weltverachtung oder Weltflucht vor Augen und wollte ihm durch die Schönheit der Welt (und vielleicht auch ein wenig durch die Schönheit des Gedichts) zeigen, wie falsch, böse oder sinnlos das Verlangen macht, nicht an diesem Leib, dieser Welt, dieser Natur sein Genügen zu finden, sondern all das zu verlassen. Und die beiläufige untertreibende Beschreibung der eigenen Geburt (seit ich flüchtig diesen Leib betrat) führte dann dem christlichen Gott oder dem Christentum ironisch dessen Geringschätzung des Leibes vor. (Die ungeduldig gottsuchende Seele stellt sich, sehr durchtrieben, als Schlange dar, die dazu verführt, die schöne Welt als sinnlos zu betrachten und verlassen zu wollen. Sie stellt also unter der Hand den christlichen Gott als Schlange dar.)
Dennoch ist es ist nicht das letzte Wort des Gedichts, auf subtile Weise das Jenseitige und den jenseitigen christlichen Gott zu verspotten oder zu lästern (oder die christliche Vorstellung von Welt und ihrem Jenseits) und dagegen die Schönheit der Welt, des Sinnlichen ins Treffen zu führen. Denn für eine weitere Reflexion mögen die Bilder wieder gemäß einer durchaus rechtmäßigen christlichen Bedeutung lesbar sein: Man könnte dieses Verhalten des Ich, das sich in schlangenhafter Ungeduld, Ruhelosigkeit, Bösheit und Verstimmung äußert, sehr wohl auch als Irrtum oder Schuld im christlichen Sinn verstehen, als eine Versuchung durch die Schlange: Den Leib als Irrtum oder Schuld zu bezeichnen könnte doch – etwa eingedenk einer geforderten Liebe zur Schöpfung oder des Glaubens an die Auferstehung des Fleisches am Jüngsten Tag – selbst Irrtum und Schuld bedeuten. Und das lyrische Ich sagt auch selbst, dass die Gebete, die es zu Gott stößt, bloß der Seele Ungeduld sind, und so sind es wohl nicht Gott wohlgefällige Gebete. Es könnte sein, dass die Seele, die den Leib als Irrtum oder Schuld betrachtet und die sinnliche Schöpfung (der Sonne Morgenrose) als sinnlos und als Haft, sich noch einmal irrt, sich noch einmal schuldig macht, und dass gerade darin ihre Haft besteht und auch ihre Schlangenähnlichkeit. Als ob die Sehnsucht nach dem leiblosen Himmel auch das Böse sein könnte, sofern es die Verachtung der Welt, des Irdischen und des eigenen Leibes enthält.
Und wenn man die Deutung akzeptiert, in der das lyrische Ich seine Sehnsucht nach Gott damit bekunden will, dass es die sinnlich wahrnehmbare Welt als sinnlos darstellt, während man auch annimmt, gerade darin bestünden Schuld und Irrtum, dann würde die theatralische Form der Rede auf jenes Ich zurückfallen. Der Ton einer – christlich betrachtet – unangebrachten Vertraulichkeit mit Gott verriete dieses Ich, nämlich seine nur anscheinend christliche Absicht. Und auch die untergründige Heiligsprechung der Natur (die Sonne, die zu sich genommen wird, und die als Morgenrose reift) zeugte dann gegen das lyrische Ich, wäre unwillkürlich widersprüchliche Vergötzung der Natur, da das Ich als das, was sich allzu ungeduldig häuten will, dennoch nur den blindlings natürlichen Trieben folgte, also wiederum der Natur. So mag es, christlich gesehen, bezeichnend sein, dass jenes Ich, das durch die Natur oder seine eigenen Triebe beherrscht wird – gerade sofern es, ungeduldig, sich gedrängt fühlt, den Kreis ihrer Wirksamkeit zu verlassen –, sich in häretischer Selbstverstellung äußert, indem es die eigentlich verachtete Natur unversehens heilig spricht, während es, im Grunde gottlos, doch zu Gott zu beten glaubt.
Vielleicht also führt dieses seltsame Zwiegespräch die für das redende Ich selbst unwillkürliche oder unbewusste Selbst-Entblößung eines im christlichen Sinn sündhaften Verhaltens vor. Es könnte sein, dass sich in diesem Gedicht zeigt, wie ein Ich einer bestimmten subtilen Verführung durch die Schlange anheimfällt. Und der anmaßend vertrauliche, so kühle wie souveräne und zugleich hoffärtige Ton des Gedichts verriete dann, dass das halbe Eingeständnis dieser Schuld – im Bild des Ich als Schlange und explizit in dem Vers „Wenn ich jetzt Gebete zu dir stoße / ist es bloß der Seele Ungeduld“ die reinste Pose oder Koketterie ist und die Sünde keineswegs aufhebt, sondern, im Gegenteil, verdoppelt.
Das System und der Widerspruch
Angenommen, jene erwähnten Glaubensinhalte sind tatsächlich zentral, sind gleichsam die Grund-Sätze oder Axiome des Systems Christentum: Wäre dann vom Christentum nicht zu erwarten, dass jene Grundsätze nicht als mehrdeutig oder gar widersprüchlich gedeutet werden beziehungsweise zu keinen widersprüchlichen Konsequenzen führen können?
Das Christentum ist aber eine Religion, in der Mehrdeutigkeiten und, vielleicht als ihre Folge, Widersprüche oder Paradoxa nahe liegen.
Einige bekannte und einfache Beispiele dafür: Wenn Gott allwissend ist und also immer schon gewusst hat, dass Adam und Eva die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis essen würden, wie kann dann der freie Wille des Menschen behauptet werden? Oder: Wenn Gott allmächtig ist und allliebend, dann steht das doch im Widerspruch dazu, dass er auch das Böse geschaffen hat? Wenn er das Böse aber nicht geschaffen hat, dann ist er doch nicht allmächtig. Hat er aber auch das Böse geschaffen, dann ist er doch nicht allliebend. Oder: Wenn Gott allliebend ist, wie kann er dann das Leiden zulassen, etwa das Leiden von nach allen vernünftigen Maßstäben Unschuldigen, wie etwa jenes von Kindern (das ist die bekannte Frage des Ivan Karamasov).
Diese oder ähnliche Fragen – es gibt wohl eine unabsehbare Zahl von ihnen –, die unmittelbar zu Widersprüchen oder Paradoxa führen, sind gleichsam theoretisch, stellen Ergebnisse einer verstandesgemäßen Reflexion auf das Christentum dar. Es sind Fragen eines sich mit christlichen Glaubensinhalten befassenden Verstandes, der möglichst eindeutige und kohärente, also widerspruchsfreie Argumentation fordert; und es sind Fragen, die sich an der Heiligen Schrift und auch an ihrer theologischen Deutung entzünden, etwa an den kirchlichen Antwortversuchen auf die Heilige Schrift, die ja selbst vor allem Bericht und Erzählung, aber auch Weisheitsspruch, Predigt, Vision und auch Gedicht ist, und jedenfalls zum größten Teil keine Ähnlichkeit mit verstandesgemäßem Argumentieren hat, etwa mit einer theologischen Abhandlung. Dass jene Fragen zu Widersprüchen oder Paradoxa führen können, deutet auf die arationalen (nicht-verstandesgemäßen) Momente der sprachlichen Aspekte des Systems Christentum.
Wie immer unterschiedlich sich Poesie und Religion zum Auftreten von Mehrdeutigkeit und Widerspruch verhalten mögen: Schränkt man den Begriff des Widerspruchs nicht auf seine ratioiden (Robert Musil) Formen ein, begreift man Mehrdeutigkeit selbst als Voraussetzung oder als Folge von Widerspruch und nimmt man deshalb an, die Figur oder das Bild des Widerspruchs in einem nicht-rationalen, aber wörtlichen oder weiteren Sinn – also als Gegen-Spruch, als Widerrede, als Gegen-Satz oder, in einer Übertragung auf Nichtsprachliches, als Gegen-Teil – sei dazu geeignet, das Wirken gegenläufiger oder zunächst nicht sinnvoll aufeinander beziehbarer Kräfte und Mächte darzustellen, dann spielt der Widerspruch in jenem weiteren Sinn sowohl in der Poesie eine zentrale Rolle als auch in der christlichen Religion: in der Heiligen Schrift, sofern sie nicht Theologie ist, doch auch im religiösen Leben selbst, in den Gedanken und Taten der Gläubigen, im Verhältnis religiöser Erfahrungen Einzelner etwa zu den vorgegebenen christlichen Glaubensinhalten, aber auch in der Beziehung von Einzelnen zu ihrer kirchlichen Institution.
Eben weil das Widersprüchliche als Ausdruck gegenläufiger Kräfte und Mächte sowohl in der Poesie als auch in der christlichen Religion eine zentrale Rolle spielt, kommt diese der Poesie den halben Weg entgegen. So zeigen die Mehrdeutigkeiten, Widersprüche oder Gegenläufigkeiten innerhalb des zitierten Gedichtes auf diejenigen des religiösen Lebens, etwa religiöser Praktiken und sakraler Handlungen, aber auch auf jene innerhalb der religiösen Schriften wie der Heiligen Schrift und ihrer theologischen Auslegung, sie zeigen auf all das, was die Gedichte Lavants als Vorgegebenes voraussetzen, auf das von mir so genannte vorgegebene System Christentum.
Das Außerordentliche (und in der Literatur der Moderne so Seltene) an den Gedichten Lavants: Sie sind in hohem Maß das Austragen oder Darstellen jener Widersprüche oder Gegenläufigkeiten. Dass dieses Austragen oder Darstellen auch im Zeitalter ästhetischer Autonomie, das auch das Zeitalter ubiquitärer Säkularisation zu sein scheint, so überzeugend stattfinden kann, sollte das nicht dazu veranlassen, das Verhältnis von Poesie und vorgegebenem System und insbesonders das Verhältnis von Poesie und christlicher Religion als etwas noch keineswegs Abgeschlossenes oder Abgetanes zu denken? Denn wenn es so ist, dass der Bezug auf die christliche Religion als vorgegebenes System zu ästhetisch überzeugenden Werken führen kann, liegt dann nicht nahe, dass nicht nur die Poesie notwendig und (auf ihre eigene Weise) erkenntnisgemäß und wahrheitsfähig ist – was ohnehin häufig und leichtsinnigerweise als selbstverständlich vorausgesetzt wird –, sondern, allen zuwiderlaufenden Befunden zum Trotz, auch die christliche Religion, wenigstens in der Dichtung oder in den Künsten überhaupt? Legt also ein ästhetisch überzeugendes Werk wie jenes der Lavant nicht nahe, dass das Christentum – ich sage noch einmal: zum Gedeihen oder auch Verderben von Poesie und Religion – in viel höherem Maß bestimmende Kraft, wenigstens im Bereich der Poesie ist, als wir (da wir all jene Widersprüche, die sich in Lavants Gedichten entfalten, vorschnell als nicht mehr tragfähig, als grundlos abgetan haben) zumeist ahnen oder wissen wollen? Und sollte also nicht jene Auseinandersetzung zwischen Poesie und christlicher Religion – und dies nicht nur in der Poesie – immer wieder von Grund auf ausgetragen werden (wenn auch nicht notwendig so explizit-thematisch wie in Lavants Gedichten)?
Wie aber, wenn der gegenteilige Schluss gezogen würde? Wie, wenn man daraus, dass eine christlich so stark bestimmte Poesie wie die Christine Lavants ästhetisch überzeugend wirken kann – während das Christentum dennoch als kulturelle Kraft ihrerseits, wenn nicht als tot, so doch als periphär erfahren wird (als nicht erkenntnisgemäß oder wahrheitsfähig und ohne eigentliche kulturelle Notwendigkeit) –, schlösse, dass auch die Poesie, wie für Nietzsche Gott, gestorben oder wenigstens periphär geworden sei?
Mit diesen Fragen wird nur ein Horizont erahnbar, und der Versuch, sie begrifflich, das heißt: verstandesgemäß zu beantworten (und nicht etwa in Form von Kunstwerken), lässt vor allem Unbestimmtes, Wandelbares und Vieldeutiges fühlbar werden oder Widersprüche und Paradoxa entstehen, die dann zu Tage treten, wenn man das, was man Kultur nennt, als Ganzes zu denken versucht, also gleichsam von außen zu sehen, während man doch durch jenes Denken dazu verurteilt ist, an ihr teilzunehmen. Denn es gehört zum seltsam unbestimmten, vieldeutigen oder auch widersprüchlichen Begriff unserer Kultur, dass wir, an ihr teilnehmend (uns also gleichsam mitten in ihrer Kapelle befindend) dennoch herauszufinden suchen, wie oder was sie eigentlich ist, so als wäre sie etwas Anderes, ein Gegenstand unserer Erkenntnis, den wir objektiv, von außen, erkennen könnten. (Als wäre diese Kapelle so gebaut, dass man in ihr sein kann, wenn man sie von außen sieht, und außerhalb ihrer, wenn man sie von innen sieht.) Welche Kräfte also diese, unsere Kultur tatsächlich bestimmen, was ihr, um Robert Musils Wort zur lyrischen Dichtung zu zitieren, innerster Brunnen ist, ob sie eher – bildlich für die Poesie, wörtlich für die Religon – eine heilige Kapelle ist oder – wörtlich für die Poesie, bildlich für die Religion – eine Art Gedicht – etwas jedenfalls, in dem Poesie oder Christentum und Rationalität einander versöhnlich ergänzen und bestätigen –, oder ob sie das weltliche Haus ist, in dem das Verstandesgemäße und seine Anwendungen Poesie und Religion längst ihres fiktiven und illusionären Charakters überführt haben, das sei hier anheim gestellt.
Franz Josef Czernin, Neue Rundschau, Heft 3, 2002
Maja Haderlap: Vielleicht etwas Rettendes (Dankesrede zur Verleihung des Christine Lavant Preises 2021, Die Furche, 27.10.2021
Martin Oehlen: „Gedichte, mit denen man raufen will“: Monika Rinck spricht über Christine Lavant beim zweiten „Anderland“-Festival in Köln (1)
FÜR CHRISTINE LAVANT
✝︎ 7.6.1973
Das Wurzeltor
hat sich geöffnet
nach oben.
Aus nachtschwarzen Flüchen
entblößt sich der Stern
über den eitel gereckten Hälsen.
Der wird nicht
nach Münzen und Kränzen
gezählt.
Christine Busta
Silke Andrea Schuemmer: „Die Vormundschaft des Todes“
Franz Haas: Beten und das Kreuz zertreten
Neue Zürcher Zeitung, 4.7.2015
Carola Leitner: „Das verstümmelte Leben“
orf.at, 4.7.2015
Gisela Trahms: Thomas Bernhard fand sie gescheit und durchtrieben
Die Welt, 4.7.2015
Andreas Kohm: „Aber das Schreiben ist das Einzige, was ich habe“
Badische Zeitung, 3.7.2015
Gabriele Kögl: Christine Lavant: Der Sonnenapfel ist ein Lavanttaler
der Standart, 4.7.2015
Hubert Gaisbauer: Christine Lavant: „Gott, sag das nicht“
Die Furche, 2.7.2015
Arnold Mettnitzer: Zu Christine Lavant
ORF.at
Victor Strauch: Schriftstellerin aus armen Verhältnissen schuf bedeutende Literatur
Neue Zeit, 6.6.2023
Michael Swersina im Gespräch mit Franz Bachhiesl über Christine Lavant: „Ich traf sie regelmäßig auf meinem Schulweg in St. Stefan“
Unterkärntner Nachrichten, 7.6.2023
Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016
Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016
Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.
Schreibe einen Kommentar