UM MITTERNACHT habe ich Sterne zerkaut,
es war bei der Rast an dem Milchstraßenrand,
die Mondtulpe blühte aus meinem Verstand,
doch eine Nonne hat höher geschaut
mit beiden Hälften der Sonne.
Ich grub nach dem Herzen der Nonne,
ich wollte es essen und fand einen Pfeil,
ließ ab von der Rast, doch der Aufstieg war steil
und belastet von Tulpe und Waffe.
Ich sagte zum Pfeil: „Nun beschaffe
aus meinem Blut dir den Bogen und flieg,
ich überlasse dort oben den Sieg
dir gänzlich allein, in der Mitte des Herrn,
nur diesen einen gar heilsamen Stern,
den abgesparten vom hungrigen Mund,
den nimm mit hinauf, doch erhalt ihn gesund,
du darfst ihn mir ja nicht durchbohren…“
Dann hab ich die Tulpe verloren
und die Milchstraße war wieder oben und fern.
Das Türkenstroh rauschte, ich schlief nimmer ein,
doch sah ich noch immer den dankbaren Schein
von dem heimgekommenen Stern.
Gerhard Fritsch: Christine Lavant: Spindel im Mond
Wort in der Zeit, Heft 9, 1959
Wieland Schmied: Heidnisch-mythische Welt. Christine Lavant: Spindel im Mond
Neue Deutsche Hefte, Heft 72, 1960
Dieter Arendt: Christine Lavants Lyrik
Welt und Wort, 1961
Kurt Ihlenfeld: Zeitgesicht. Erlebnisse eines Lesers
Witten, 1961
Paola Schulze Belli: Index zu Christine Lavants Dichtungen. (Die Bettlerschale – Spindel im Mond – Der Pfauenschrei)
Milano (Giuffrè) 1980
− Über Christine Lavant. −
(…)
2 Das Gedicht als Perchtenlauf
Das Gedicht kann grimmig sprechen, es kann Schaum vor dem Mund haben vor Wut, vor Außersichsein – wie das der berserkerhaften Christine Lavant. Die eben mehr ist als eine naive ungefickte Alleinstehende, in ihrer Dichtung bloß „aufbegehrende“ katholische Schmerzensfrau. Sie ist in Wahrheit eine im ideologielosen Perchtenlauf ihrer Sprache gezielt Randalierende in einer reaktionären Nachkriegszeit, deren in jeder Hinsicht unaufgeklärte (Gedicht-Lese-)Gesellschaft in die nekrophile Tradition des eigenen Körperhasses verliebt war. Die eine gebrechliche Sprach-Heilige, eine „barock“ in sich Verwesende gebraucht hat.
Das Gedicht der Lavant ein kathartischer Perchtenlauf? Ein lunatisches Nachtgeheul und wütiges Kettenrasseln mit dem Leid der eigenen, der Lust an der eigenen Sprachkörpersprache? Sie ist keine dorfexotische (= folkloristische) Opfer-Kuh, keine Reine, schon gar keine reine Katholikin, keine Schein-Stigmatisierte ist sie: Sie hat nur die sie umgebende und von ihr gesprochene vormoderne – Sprache genau wahrgenommen, genau gekannt, genau eingesetzt. Keine konfessionelle Dichterin: Lavant-Leser Thomas Bernhard sieht die Dichterin durch die haarige Nietzsche-Maske; in dem allerknappsten Nachwort zu seiner Lavant-Gedichtauswahl (erschienen in der Bibliothek Suhrkamp) erblickt er sie „in ihrer Existenz durch sich selbst gepeinigt und in ihrem christlich-katholischen Glauben zerstört und verraten“.
Und tatsächlich ist sie keine dichtende Therese von Konnersreuth, als welche die Kritik, gern von Lavants sogenanntem zweitem Gesicht flüsternd, zu ihrer Zeit sie gerne gesehen haben würde. Christine Lavant hat die Rolle der Zweifelnd-Zweifelhaften (Blick der Gesellschaft auf sie), der „Verzauberten“ (Selbsteinschätzung) akzeptiert, hat sie genutzt, fruchtbar gemacht in einem immensen Bilderreichtum. Lavants Außersichsein, ihre „Bilderkraft“, ihre lunatische Lust am Text beachtet, im Sinne Barthes, keine Ideologie.
Perchta:
Sie ist eine mythologische Frauengestalt, mal gut, mal böse konnotiert.
Nach Jacob Grimms Deutscher Mythologie führt sie „aufsicht über die spinnerinnen“. Er rechnet sie dem Umkreis der Weißen Frau zu, setzt sie, etymologisch argumentierend, sogar gleich, „den peraht, berht drückt aus glänzen, leuchtend, weiß.“ Die Perchtennacht ist Perchtas Fest – Dreikönig.
In einer Perchtabeschreibung, die der Sagenforscher Will-Erich Peuckert (Ostalpensagen) mitteilt, werden die Erscheinung der gebeugten Greisin und die elementare Bewegung – ihre geistige Beweglichkeit – in ihrer ganzen überraschenden Widersprüchlichkeit geschildert: „Sie hatschelt scheinbar langsam daher, und doch ist dies nur Täuschung, denn ihr Dahinwandeln geschieht eben so schnell, wie die Wolken am Himmel dahinziehen.“
„Hole von allen Gedächtnisstätten“ (Spindel im Mond). Diese eine ethnographische – Quelle ist eine mögliche Beschreibung von Dichtung als Wahrnehmungs-Bewegung; von Dichtung als Denkbewegung im Unberechenbaren – als Sprachkörpersprache. Hierin findet sich gleichermaßen das Problem des Hermetismus angerissen: das, aus welchen Gründen auch, als hermetisch Empfundene – die nichtlineare Kunst, das nichtlineare Leben – wird als Täuschung denunziert; als dissidente Attacke auf das Normative. Der Einsatz des Sinnesapparats aber kann bedeuten: Was verdunkelt erscheint, ist aufhellbar.
Die deutsche Sprachin selbdritt:
Lavant, Bachmann, Mayröcker
Das über weite Strecken Schlafwandlerisch-Wächserne, das bis auf wenige Ausnahmen – Celan oder Artmann oder Jandl- insgesamt Verdruckste der deutschsprachigen Nachkriegslyrik überwindet die Lavant auf scheinbar paradoxe Weise: Sie greift nach der ebenso vor- wie unmodernen Larve der aus dem Instinkt sicheren Selbst-Seherin und macht was draus – sich, die Dichterin Christine Lavant. Aggressive Sprach-Herrschaftsfreiheit: die Sprachkörpersprache ihres hochnervösen Gedichts. Der Nervosität als dichterischer Lebens-Treibsatz wird man später – heute – nur noch bei Friederike Mayröcker begegnen, dem Verständnis des Nervenkostüms als Nesselgewand; wobei gefragt werden kann: Mayröcker, eine Lavant-Leserin?
Wesentlich stärker und bildfrischer, unheimlicher und haltbarer sind Lavants Gedichte, als die der anderen Kärntnerin, Ingeborg Bachmann. Letztlich viel weniger im dumpfen Kokon der 50er Jahren verfangen, als Bachmann in ihrer artifiziellen Schneewittchenhaftigkeit dieser Jahre (aus der die Klagenfurterin sich mit der Prosa erst erlösen konnte).
„In Kärnten heißt es, daß sich die Toten darauf freuten, den Gräbern zu entsteigen und sich an den von ihren Angehörigen gedeckten Tisch setzen zu dürfen“ (nach Grabmayer).
3 „… so verkehrte närrische Zeichen“
Gute Gedichte sind immer Produkte des kontrollierten Außersichseins, nicht von innerlicher Schlafwandelei.
In ihnen werden Vanitas-Fragen gestellt; immer wieder Vanitas-Feststellungen getroffen, die auf genauer Beobachtung beruhen. Lavant: „… aber auch Wespen stechen vielleicht / so verkehrte närrische Zeichen / in unreifen Fraß.“ („Immer näher im Kreis“). Es ist eine Dichtung des Spitzigen, Scharfen, Selbst-Verletzenden, des werkzeughaft-phallisch Dornigen. Lavants Sprachkörpersprache umschließt, in loser Folge, die dem Band Der Pfauenschrei (1962) entnommen ist, folgende Sprachkörperworte: meine Glieder. Handgelenk. Scheitel. Mutterknie. Scheitelstein. Schläfenbein. Fingerglieder. Finger- und Fuß-Nägel. Überhaupt Nägel: ein Bettlersarg mit zwölf verbognen Nägeln – die das Ich fressen möchte, weil es sich nie mehr „vernageln“ lassen möchte. Vernagelte Ohren. Verriegelter Mund. Immer wieder die Nessel, stechend, (nässend?), bußbezogen – vernesselt. Brustkern-Öl. Rippenuhr. Rippenknoten-Ort. Kehlkopfriesig, kehlkopfgroßer Mond. Mundhauch. Immer wieder der Mohn, den ich auch unter die Sprachkörperworte der Lavant rechnen möchte. Das Kehlkopf Ei. Heilige. Engel. Engelsflügel und Lungenflügel. Der Tod. Ein Titel lautet: Dürre, verworfene Zungenwurzel. Dazu käme noch der Wespenkrug, wobei für mich nicht entschieden werden kann, ob diese stechende, brausende – also auch schallführende – Gefäßsymbolik sich auf den nicht abstellbaren Kopf oder etwa auf die Vagina bezieht. Wespen werden von Flüssigkeiten, der Fülle wie den Resten, angezogen.
4 „… vor meinem wilden / aufgebäumten Augenlicht“
entsteht der Lavanttalerin lunare Welt. Eigentlich die Single-Welt einer Verheirateten; gewiß eine nächtliche, in Schlaflosigkeit gelebte. Nacht und Mond, das sind ihre Koordinaten auch der Larvenritus der schreienden, lärmenden Perchten ist der Nacht zugehörig. Der Mond: die Sonne des Fuchses, wie es im Volksmund einer französischen Gegend heißt. Dies könnte auch ein Bild der Christine Lavant sein! Mond und Nacht. Die Koordinaten einer Ekstatikerin. Und die einer Asketin, tags, Ärmlichkeit des Brotberufs (Heimtextilien: Stricken). Die eine Sprach fülle – ihre sicherlich auch furchtsam beäugte Bilderkraft – aus sich erzeugt. Und trotzdem sparsam in ihren Gedichten zu wirtschaften weiß: Sie kommt mit knappen Mitteln aus, geballten allerdings, die hocheffizient eingesetzt werden, erzielt Wirkung.
5 Gedicht: ethnologisches Zeugnis
Ich lese diese Gedichte, wie schon angedeutet, als ethnologische Zeugnisse. Als Zeugnisse – eben: Sprachzeugnisse – einer kraß untergegangenen bäuerlich-vormodernen Gesellschaft. Einer, im Fall Lavant, deutsch und slowenisch beschilderten Gesellschaft, die ihre Codes des (Aber-)Glaubens innerhalb weniger Jahrzehnte weitgehend eingebüßt hat. Andere Feuer (Bildstöcke) glimmen seit langem in den Wohnungen; die Städter vermissen da möglicherweise weniger; ihre Verluste stammen aus dem 19. Jahrhundert.
Eine Dichtung der Evokation. Dem Bannspruch nahe Dichtung des elementaren Hervor- und Anrufens (der altrömischen Beschwörung der incantatio). Des Beistand-Erflehens: In Über zehnfach schwarzem Wasser werden im Zusammenhang mit Atembeschwerden zwei Heilige angerufen, die mit Wasser, mit Flüssigem, in Zusammenhang stehen, Nepomuk, der Prager Brückenheilige, und Sankt Christoffer, der mythische Christusträger – nicht etwa Blasius, der hier, für Atemwegerkrankungen, zuständig wäre. Irritierend. Die Lavant als provokante Person. Frage: Was soll übertragen werden?
Ethnologische Dichtung bedeutet immer bildkräftige, bildreiche Dichtung. Metaphern-Stürme. Bilder, bedrohlich wirbelnd wie die wilde Jagd. Bilder der zu bannenden Urängste (zusammengefaßt im Erz-Angstschrei) wechseln mit kniefälligen Andachtsattacken. In lebhafter Rest-Kommunikation befindet sich die Gesellschaft Lavants mit dem ganzen Personal und Inventar eines letztlich mittelalterlichen Kosmos und seiner voraufklärerischen Werte. Die Trinität regiert, der Teufel existiert, das Flugpersonal aus der Natur herausgesehenen Engelformen. Natürlich auch der Hexenglauben, die Hexereifurcht wird von der Dichterin fruchtbar gemacht. In Kärnten, wie anderenorts in Europa, man darf das nicht übersehen, gab es Analogiezauber, gab es Voodoo mit Lehmpuppen, den sogenannten pildln-Bildchen von Menschenkörpern, die vergraben wurden, um zu töten. Man hat die Hexenprozeßakten aus dem 15.Jahrhundert, die solches beschreiben. Das alles trug sich zwischen Marterhügel und Kreuzweg (Lavant-Worte) zu. „Die wird niemehr Schaden stiften“, heißt es einmal, eine äußerst lebendige, eine Todesdrohung, Selbstbedrohung. Etwas, das von der Gemeinschaft gesagt wird, wenn die Frau, die sogenannte Hexe, zum Schweigen gebracht wurde. Ein andermal heißt es: „Endlich ist sie abgestorben“. Die ganzen Begriffe des Glaubens, Glaubenzweifels, des Un- und Aberglaubens, die sich bei Lavant zu hauf finden – Zauberfurcht / Die Verzauberte / Zauberkundiges Wirbelhaar / Hexenblut / Bilderkraft / Teufelsfrühe / Was mich kreuzigt / Andachtsenge / Zeichen der Zigeuner / Die böseste Sieben −, das ist ihr bitterer Ernst.
Die Installation der kinderlosen Alleinstehenden, also der gesellschaftlichen Außenseiterin, ist stimmig. Ihre Konsequenz: Dichterinnenberuf. Gehörte zum nahtfaren (der nächtlichen, traumhaften Ausfahrt der Hexen) die Nacktheit (wie die Droge), so darf gefragt werden: gehört die Nacktheit, also das Benennen des eigenen Körpers, wie des Weltkörpers, zum Dichten? Wird diese Bewußtheit, diese Wahrnehmungsfähigkeit, diese Kontrolle des Außersichseins zur Sprachkörpersprache, zum wahren, zum aufbewahrenden Gedicht?
– Ja, Christine Lavant, ja.
Thomas Kling, aus: Thomas Kling: Botenstoffe, DuMont Buchverlag, 2001
– Die unerhörte Dichterin Christine Lavant. –
Das Lavanttal ist das einzige nach Süden ausgerichtete Tal Kärntens. Zwischen den Bergen ist hier das milde Klima der Adria noch zu spüren. Wenn aber ein Tief vom Mittelmeer kommt, kann es sein, daß das Tal im Schnee erstickt, während im sechzig Kilometer entfernten Klagenfurt noch keine Flocke fällt.
Das Lavanttal ist ein Apfeltal. Auf Streuobstwiesen wachsen krüppelig, grazil oder mächtig himmelgreifend Baumindividuen, wie es sie sonst kaum noch gibt. Sie tragen den gelbfleischigen Lavanttaler Bananenapfel, den Kronprinz Rudolf und den bräunlichen Lederapfel, die innen rötliche Ilzer Rose und die Schafsnase wie den Ponapfel, beides Winteräpfel, die gut bis ins späte Frühjahr halten. Während der Blüte sind die Lavanttaler Hänge weiß, weiß, wie es der Name des Flusses sagt: „albave“, weißschäumend. Oder sagt er „lavare“, waschen? Einst habe man im Tal nach Gold und Silber geschürft. In jüngerer Zeit wurde im Lavanttal Braunkohle abgebaut. Heute haben flache Industrieanlagen die Architektur des Bergbaus abgelöst. Aber ein alter Schacht heißt noch „Hölle“, und bis in die dreißiger Jahre hinein waren die Lavanttaler Grubenpferde ein schnaubendes memento mori.
Im Lavanttal gab es Bauern und Proletarier, arme Besitzende und ärmere Besitzlose. Menschen, die auf Höfen lebten, und Menschen, die in „Keuschen“ hausten: in winzigen, nur angemieteten Zimmern. Es gab Kinder, die mit Butterbroten in die Schule kamen, und Kinder, die hungerten. Und hier, in diesem extremen Tal, spielt die vielleicht merkwürdigste Geschichte der modernen deutschsprachigen Literatur.
Bernsteingelb ist das Geblüt der Erde,
Mohnsud tropft aus allen Freudenarten
in der Zeit, dem immergrünen Garten,
wächst der Apfel, den ich pflücken werde.
Muß zuvor aus überglasten Stunden
Weh- und Wermut in dein Herz verpflanzen,
während Sterne durch den Mittag tanzen,
die der Hunger in uns losgebunden.
Bei den Hornissen- und Wespennestern
stiehlt mein Denken ein paar wilde Waben,
um ein Brot für dich und mich zu haben,
und die Erde blutet gelb wie gestern.
Trink mit mir von allen Freudenarten!
Weh- und Wermut wachsen jetzt von selber,
auch der Apfel wird schon immer gelber,
wenn er reif ist, steht der Tod im Garten.
Oh, wir werden sie verzückt verzehren,
Tod und Apfel und die schwarzen Kerne –
doch das Feuer unsrer Hungersterne
wird das Erdblut röten und vermehren.
Am 4. Juli 1915 gebiert die 39jährige Flickschneiderin Anna Thonhauser in der Bäckl-Keusche in Groß Edling bei St. Stefan ihr neuntes und letztes Kind. Sie nennt es Christine. Ihr Mann, Georg Thonhauser, ein Grubenmaurer, ist im Krieg. Bereits zwei Kinder der Familie sind kein Jahr alt geworden, auch dieses neugeborene Mädchen scheint nicht lebensfähig zu sein. Das Kind erkrankt bereits mit sechs Wochen an Skrofulose, einer Mangelkrankheit, bei der sich auf dem ganzen Körper nässende Wunden bilden. Die Mutter bettet es sorgsam in eine Kommodenschublade; sie muß es geliebt haben wie etwas Letztes, das nur noch zu lieben blieb.
Mit drei Jahren bekommt das Kind zum ersten Mal, und von da an immer wieder, eine Lungenentzündung. Die Skrofulose hat sich auf die Augen geschlagen, so daß es fast erblindet. Mit vier wird es ins Krankenhaus eingewiesen, wo die Ärzte ihm keine Chance mehr geben. Die Mutter kommt und entführt das Bündel heimlich nach Hause.
Christine wird regulär eingeschult, sie kann aber den Unterricht kaum besuchen. Schwächlich, den Kopf bis übers Gesicht eingebunden, wird sie eine kleine Außenseiterin, das, was man in Kärnten ein „Zmutschgerle“ nennt, ein „Hascherl“, ein „Nesthockerle“. Die robusteren Klassenkameraden hänseln es, das Grundgefühl des Kindes wird Angst. Mit zwölf hat Christine Tuberkulose, und die Skrofulose verschlimmert sich. Der behandelnde Arzt glaubt, daß sie kein Jahr mehr überleben wird und daß deshalb nicht viel zu verlieren sei. Er riskiert eine radikale Röntgenbestrahlung und hat Erfolg. Christine überlebt, von Brandnarben am Gesicht und am Hals entstellt. Sie lebt nun fast ausschließlich im Kokon der Familie und schafft sich hier eine phantastische Welt der inneren Emigration. Ihre ältere Schwester Antonia erinnert sich später an die Atmosphäre, in der das kranke Nachzüglermädchen groß wurde:
Unser Vater hat noch einen sechsstündigen Fußweg zur Schule gehabt. Vielleicht im Hinblick auf das hielt die Mutter bei uns Kindern sehr auf alles, was mit Schulgehen zusammenhing. In der Bäckl-Keusche wurde trotz der allerbescheidensten Lebensführung viel gesungen, als wir Kinder daheim waren. Fünfstimmig, die Pepi, die Bini, die Marianne, ich, Hermann – er singt heut noch wia a Orgele. Unsere Mutter war christlich im richtigen, alten Sinn. Trotz ihrer vielen Arbeit und Sorgen ging sie jeden Sonntag zur Frühmesse und wich auf dem Heimweg, wenn sie nur konnte, allen Leuten aus. Sie wollte nicht in unwürdige Tratschereien verwickelt werden, so hoch achtete sie diesen Tag. Drei aus unserer Verwandtschaft sind Pfarrer geworden.
Neben der frühen musikalischen Prägung durch die singenden Geschwister und die Seelenbildung einer Mutter, die im „richtigen, alten Sinn“ religiös und zudem für eine Bauerntochter ungewöhnlich belesen war, scheint auch der Vater Impulse für jenes andere Ufer gegeben zu haben, an dem Christine Lavant dann bald zu Hause sein wird: die Dichtung.
Der Vater konnte unheimlich spannende Geschichten erzählen, vom Tod und vom Sterben, vom Gottsnamwutzl und von anderen Geistern.
Früh beginnt Christine, die mit andern Kindern kaum spielen konnte, sich alleine zu beschäftigen. Sie schreibt. Und vernichtet wieder, was sie geschrieben hat, so auch ihren Seelenwanderungsroman, der unter dem Eindruck der lebensgefährlichen Bestrahlung entstanden war. Die kleine Autorin arbeitet auf der Wäschekiste, meist aber an der Fensterbank, dem einzigen freien Platz im Zimmer der Familie. Die anderen Geschwister haben gelernt, daß nun der „Geist“ wieder zu ihr kommt, und sind dann etwas leiser.
ERINNERUNG AN DAS ABENDGEBET
Eine bräunliche Nacht, die das Zimmer erhellt,
weil die Mutter die Lampe so tief abgedreht,
daß nur eine Spur des Lichts auf die Arbeit ihr fällt
und ein Nachklang vom endlosen Abendgebet,
und alles Schwere von gestern.
Ob der Heilige Joseph wohl helfen kann,
daß die Schwester den Posten wird kriegen?
Und das mit der Stube: damit nimmermehr
der Bruder im Keller muß liegen.
Ob der liebe Gott bestimmt allmächtig ist?
Und ob er am Ende nicht doch vergißt,
daß die Mutter kein Geld für die Milch hat?
Ich will auch nicht weinen, wenn morgen beim Bad
die Wunden wieder so brennen,
und wenn die Augen verschwollen sind,
und wenn sie mich schimpfen: die Kröte ist blind,
die andern Kinder, und rennen.
Sie sollen auch nicht, wie ich gestern gesagt,
dafür in die Hölle dann kommen.
Wenn bloß unsre Mutter nicht mehr so verzagt,
und wenn wir die Stube bekommen!
Und mein Herz ist so klein.
Es darf niemand hinein.
Als du mein liebes Jesulein.
Der Vater wird früh Grubeninvalide; er geht auf Iltisjagd und versucht, die Felle zu verkaufen. Die Mutter näht Tag und Nacht. Die größeren Kinder kommen als Mägde oder Dienstboten unter. Die Familie lebt am Existenzminimum und dabei doch in einer eigenartigen Wärme und Geborgenheit, die die Not verschlimmert, weil sie empfindlich macht. Christine hat als Kind so viel seelische Geborgenheit und schmerzliche Liebe erfahren, daß sie auch späterhin Grund genug haben konnte, diese Intensität für sich einzufordern.
Die Innigkeit der gesungenen Kärntner Volkslieder, die gläubig vollzogenen rituellen Morgen-, Mittag- und Abendgebete, die geheimnisvollen Toten- und Geistererzählungen des Vaters und die lebhaften Augenzeugenberichte der Geschwister, die abends, wenn man dicht an dicht zusammenliegt, erzählen, wie es bei den Herrschaften war, werden zum Stoff, aus dem Christine sich Welt erschafft.
Christine erweist sich als intelligent, braucht aber sieben Jahre, um die dreiklassige Grundschule zu durchlaufen. Nach wenigen Monaten Hauptschule muß sie wegen Schwächlichkeit ihre Schulausbildung abbrechen. Von nun an ist sie Autodidaktin. In der Klagenfurter Augenklinik kann ihre Sehkraft verbessert werden. Der behandelnde Arzt, Dr. Adolf Purtscher, dem das ungewöhnliche Mädchen auffällt und der später einer ihrer entscheidenden Förderer werden soll, schenkt ihr zum Abschied eine Goetheausgabe. Christine, die kein Geld für die Rückfahrt nach St. Stefan hat, schleppt sie zu Fuß im Rucksack 60 Kilometer nach Hause.
Strickend trägt sie zu ihrem Lebensunterhalt bei. Sie ist geschickt und strickt bald „blind“, das heißt ohne hinzusehen. Das hat den unschätzbaren Vorteil, daß sie dabei lesen kann. Wie ihre Mutter es als junges Mädchen tat, geht auch sie in die Leihbücherei ins nahe gelegene Wolfsberg und nimmt dort mit, was sie nur bekommen kann.
Eine Mittelohrentzündung wird nicht erkannt, so ertaubt sie fünfzehnjährig auf einem Ohr. Damit wird der Kontakt zur Außenwelt für sie immer komplizierter. Da sie zudem lichtempfindlich ist, lebt sie bevorzugt in der Nacht. Nachdem alle Geschwister das Elternhaus verlassen haben, bleibt nur sie lebensuntüchtig zurück. Endgültig wird das Schreiben zur Wirklichkeit, in der sie verläßlicher zu Hause ist als in der gemeinsamen Welt. Mit Siebzehn schickt sie ein Romanmanuskript an einen Grazer Verlag. Der lehnt ab. Daraufhin vernichtet sie alles, was ihr an Manuskripten noch vorliegt. Nach einem Versuch, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen, bittet sie um Aufnahme in die Landes-Irrenanstalt in Klagenfurt und unterzieht sich dort einer Arsenkur. Die soll sich stärkend auf ihre Gesamtkonstitution auswirken. Sie schämt sich, daß ihre Heimatgemeinde den Aufenthalt für sie bezahlen muß.
In der Klinik fällt sie schnell auf als eine Patientin mit eigenwilligen Interessen. Mit einem leisen Staunen protokolliert die Krankengeschichte, sie habe sich „in letzter Zeit mit der ,Geisteswissenschaft‘ befaßt, mit Astrologie, Magie, Spiritismus, darüber viele Bücher gelesen, solange sie las, sei es ihr besser gegangen“. Sie ist jetzt 18 Jahre alt. Über die Anstaltswochen schreibt sie später Verse in einer sprachexplosiven Mischung aus Angst, Wut und unbedingter Rebellion:
Verflucht! Nun müssen wir schon wieder brüten
ob dieser Himmel draußen wirklich sei?
Wer rollt denn ewig dieses blaue Ei
in unsre Nähe, bis die meisten wüten
und ich vor Angst mir kaum noch helfen kann?
Christine Lavant verliert innerhalb eines halben Jahres ihre Eltern. Im August 1937 stirbt der Vater, die Mutter folgt ihm im Februar 1938 nach. Christine ist jetzt 23 Jahre alt. Kurzfristig kommt sie bei Geschwistern unter, dann nimmt sie sich ein winziges Dachzimmer über dem Kaufladen einer Verwandten. Seit einigen Wochen kennt sie einen Landschaftsmaler. Sie hat ihn am Lavantufer angesprochen, wo er gewöhnlich mit seiner Staffelei saß. Der Alte könnte fast ihr Großvater sein. Doch sie beschließt, ihn zu heiraten, ein Grund für die Geschwister, wieder von der Irrenanstalt zu sprechen. Josef Habernig, der Bräutigam, ist ein um 36 Jahre älterer verarmter Gutsherr, der sich mit ungebrochenem Selbstbewußtsein als erfolgloser Künstler durchschlägt. Auch er ein Grenzgänger. Er erlebte nicht mehr, wie gefragt seine Bilder in Kärnten bald werden sollten. Der mittellose Sechzigjährige zieht in die Dachkammer seiner jungen Frau.
Nach dem Krieg erinnert sich Christine Lavant in einem Brief an Paula Purtscher, die Ehefrau ihres Klagenfurter Gönners Adolf Purtscher, der ihr als Kind die Goetheausgabe schenkte:
Als wir heirateten, waren wir so arm, daß ich am 1. Tag nach unserer Hochzeit in die Lavantauen ging Wurzeln graben für eine ,Fruhlingssuppe‘, Natürlich erwischte ich giftige und wir wurden beide schwindlich. (…) Dann gab es einen Winter, da ist alles zusammengekommen. Der Kamin war so kaputt, daß wir nicht heizen konnten. Wenn unterhalb geheizt wurde, hatten wir so Rauch, daß wir stundenlang Fenster und Türe offen lassen mussten. Gekocht hab ich auf einem Petroleumkocher, und wenn wir gegessen hatten, mußten wir uns niederlegen oder fortgehen, um nicht zu erfrieren. Dann kam noch dazu, daß der Brunnen kaputt war und wir starke zehn Minuten um Wasser gehen mußten. In der Nacht ließen uns die Ratten nicht schlafen. Wie eine Irrsinnige bin ich oft stundenlang im Bett gesessen und hab mir den Kopf gehalten. Mein Mann stand dank seiner bitteren Notlage, die er als harte Schule hinter sich hatte, und nicht zuletzt dank seiner Kunst, die ihn zum großen Teil alles vergessen ließ, hoch über allem und trug das Ganze geradezu mit einer Würde, um die ihn jeder russische Ex-Großfürst hätte beneiden können.
Die Solidarität in der Not zwischen den Eheleuten wird auf harte Proben gestellt. Man lebt von dem, was die junge Frau für ihre Strickarbeiten bekommt. Schreiben ist ein luxuriöser Zeitvertreib und wird schnell zu einem Problem des Kerzenverbrauchs, das mit dem eifersüchtigen Ehemann verhandelt werden muß. Ihre Manuskripte heftet Christine Lavant mit Bindfaden. Sie überlebt die Kriegsjahre ohne Radio und Zeitung im absoluten Jenseits des Kärntner Tals. Über das Arztehepaar Purtscher findet sie Kontakt zu ihrem ersten Verleger Viktor Kubczak, der nach dem Krieg im neugegründeten Stuttgarter Brentano-Verlag die autobiographischen Erzählungen Das Kind (1948) und Das Krüglein (1949) herausbringt. Christine Habernig, geb. Thonhauser, möchte anonym bleiben und glaubt tatsächlich, das Pseudonym „Lavant“ könne sie schützen.
In diese Zeit – sie ist nun Anfang Dreißig – fällt ihr ein Band später Rilke-Gedichte in die Hände, ein Ereignis, mit dem sie die Wende ihres Schreibens ausmacht: Ihr sei gewesen, als „habe man einen Brunnen geschlagen“. Nach schnell hingeworfenen Versen in Rilkemanier, von denen sie später nichts mehr hält, findet sie ihren eigenen Ton.
Her mit dem Kelch, ich trinke, was ich muß,
und meine Rechte stützt sich auf die Linke,
das ist die Erde, der ich schnell noch winke,
auch sie erträgt von oben jeden Guß,
und ihre Steine halten doch zusammen.
Es ist nicht not, von Sternen abzustammen,
um aus dem Toben heil hervorzugehen.
Ich trink den Zorn und bohre meine Zehen
durchs linde Laub hinab zum scharfen Lauch.
Metallen lärmt im alten Haselstrauch
ein winterharter Vogel über mir.
Ich weiß, ich brenne, ohne je bei dir
auch nur in Form des Weihrauchs anzukommen.
Von allen Sinnen einer steigt benommen
durchs Herz der Hasel in die Vogelkehle,
und meine Rechte zittert in der Linken.
Ein wenig Gold scheint ins Metall zu sinken
Und läutet flüchtig für die arme Seele,
als stünde eine Wandlung ihr bevor.
Vom Himmelrand neigt sich das Halbmond-Ohr
Und täuscht mir Betenden Erhörung vor.
Sicher war das Spracherlebnis Rilke ein unerhörter literarischer Impuls für ihr weiteres Schreiben. Doch etwas anderes kam hinzu.
Während ihrer ersten öffentlichen Lesung bei den Kulturtagen in St. Veit lernt sie im November 1950 den Maler Werner Berg kennen. Er ist verheiratet und Vater von fünf Kindern. Die schmale Frau mit dem scharfkantig geschnittenen Gesicht und den dunklen Ikonenaugen muß den Maler schlagartig fasziniert haben. Lorenz Mack, der damalige Präsident des Kärntner Schriftstellerverbandes, erinnert sich an jenen legendären ersten Auftritt der unbekannten Dichterin aus dem Tal:
Im Jahre 1950 war der Name Christine Lavant nur einer Handvoll literarisch interessierter Menschen in Kärnten bekannt. Bekannt, mehr nicht! Zu dieser Zeit entschlossen sich Hermann Linhard und ich, die literarische Szene unseres Landes durch ,Kulturtage‘ in St. Veit an der Glan zu bereichern. Damals hatte das Wort ,Kulturtage‘ noch Gewicht. Nur zwei Städte in Österreich veranstalteten solche: Kapfenberg und St. Veit. Wir entschlossen uns, neben Leuten mit klingenden Namen aus Literatur und Musik auch noch unbekannte nach St. Veit einzuladen. Unter letzteren war Christine Lavant. Sie kam. Und wie sie kam! Mit Kopftuch, schwarzem ,Schlawangger‘, schwarzem Rock, ein zusammengeknotetes Tüchl in der Hand, in dem sich ihre Geldbörse und ein Kamm befanden. Sie trat zum ersten Mal an die Öffentlichkeit – und schlug alle in ihren Bann. So begann ihr Weg.
Ihr Entrée als Dichterin in die öffentliche Welt der Kultur war zugleich der Beginn einer ungeheuren Liebesgeschichte, die Leben und Werk von nun an prägen sollte. Es ist eine aufreibende Beziehung, voller Trennungen und Neuanfänge, die schließlich nach fast fünf Jahren durch den psychischen und physischen Zusammenbruch und einen Selbsttötungsversuch des Mannes enden mußte. Nach einem Briefwechsel mit der Ehefrau, die um Schonung bittet, gibt Christine Lavant auf. Damit hat sie alles verloren: den Liebhaber, den Adressaten ihrer Gedichte und schließlich den treuen Freund.
In ihrer Not hat sie die Gedichte dieser Zeit, die von nichts anderem handeln als von ihrer komplizierten Liebe, an einen Verleger geschickt. Nun macht sie sich deshalb hilflose Vorwürfe. Die Verse gehören dem Geliebten, aber ihm kann sie sie nicht mehr geben. So seien sie nun eben für die Welt, denn zu irgendjemandem muß sie sprechen. „Aber was soll ich denn mit den Gedichten tun?“, schreibt sie an die Ehefrau, „dem Werner darf ich keines mehr schicken, das darf nimmer sein, und man kann nicht schreiben, wenn man weiß, daß es nie gelesen wird, es ist so wie zu einer Mauer reden. Und wenn ich nie mehr schreiben kann, was soll ich dann tun? (…) Es ist alles zu verwickelt, – Freundschaft kommt aus solcher Liebe wie der meinen nie – nur Haß oder Verzicht und geheimes Weiterlieben. Haß bleibt aber nie, ist immer bloß ein Nebengeleise, das wieder in die Liebe einmündet. Aber die Liebe hat alle Stationen, geht durch alle Orte hindurch bis zum Sterben.“
Der resignierende Brief hat ein kühnes Pendant in Versen, die einer Fabel gleich von zwei komplementären Frauen handeln. Die eine, die „Gottesmagd“, ist die Herrin auf dem Hof und hält ihn hell und grün. Die andere, die „schwarze Dirn“, hat als niedrige Magd nur Schaden gebracht und muß sich am Ende bei den Hühnern verkriechen. Unschwer sind Ehefrau und Geliebte zu erkennen:
Die Gottesmagd darf alles tun,
die schwarze Dirn, das Teufelshuhn,
lebt jedermann zuleide.
Und dennoch schauen beide
sich manchmal wie Geschwister an,
weil keine für die Herrschaft kann,
in die sie eingeboren.
Die Schwarze hat geschworen:
„Ich geb dir alles schön zurück:
borg mir für eine Nacht das Glück,
in deiner Haut zu dienen!…“
Doch als der Herr erschienen,
war schon der Hof voll Dunkelheit,
auf Bäumen bräunte Bitterkeit,
Staub rann statt Regenwasser.
Da kam noch etwas blasser
die Fromme und verlangte schnell
den Dienst zurück, der Hof ward hell,
die Bäume wieder grüner.
Jetzt in der Schar der Hühner
hockt eine schwarz am Hollerbaum
und dient dem Herrn nur noch im Traum.
Nicht immer gelingt dieser bitter-demütige Ton. Die verlassene Liebende variiert ihren Schmerz unermüdlich in allen Tönen und Bildern, als könne ihre Sprache das aus den Fugen geratene Leben bannen. Schreiben ist, was es in der Kindheit bereits war, unmittelbares Lindern der Daseinsnot und damit ein blankes Überlebensmittel.
Ach schreien, schreien! – Eine Füchsin sein
und bellen dürfen, bis die Sterne zittern!
Doch lautlos, lautlos würge ich den bittern
Trank deines Abschieds, meinen Totenwein.
Und schleiche kriechend, schattenlos schon fast,
Geripp aus Martern in der Stirn metallen
durch Schlangenzweige, die vom Walde fallen,
darin du gestern mich verwunschen hast.
In deiner Spur verreckt das fromme Wild,
die roten Vögel unsrer Zärtlichkeiten,
der schwarze Jäger will nach Hause reiten,
sucht nach dem Krebs im trüben Himmelsbild.
Zurück will alles. Auch der Totenwein
in meiner Kehle würgt sich noch nach oben.
Ich hör mein Herz die Gnade Gottes loben,
das dringt wie Bellen mir durch Mark und Bein.
Der Maler Werner Berg kann genesen, Christine Lavant wird ihre komplizierte Liebe und das damit verbundene Leid bis zu ihrem Tod weitertragen. Es bleibt ein Stachel ihrer Kreativität. In ihrem Zimmer hängen die Holzschnitte, die er von ihr gemacht hat. Sie lebt mit ihnen wie mit emblematischen Tafeln einer religiösen Passion.
Die Germanistin Grete Lübbe-Grothues war eine der ersten, die in Deutschland auf die Lyrikerin Christine Lavant aufmerksam gemacht hat. Seit den späten sechziger Jahren, also gut zehn Jahre nach der biographischen Katastrophe, war sie mit der Dichterin wie mit dem Maler befreundet. Regelmäßig besuchte sie Christine Lavant in ihrem St. Stefaner Kämmerchen und auch in ihrem kurzfristigen Exil in einem Hochhaus in Klagenfurt. Im nachhinein zieht Lübbe-Grothues ein fast versöhnliches Resumée:
Für Werner Berg hatte die Kunst höchsten Wert. So zog er – meine ich – einen gewissen Trost aus dem Gedanken, daß die Lavant eine große Dichterin geworden war. Nicht die Liebe hatte sie dazu gemacht – dafür gibt es kein wirklich bedeutendes Zeugnis –, sondern Rebellion, Empörung, Verzweiflung über den Liebesverlust. Bei unserem letzten Zusammensein in Zürich hat Werner Berg offen über sich und Christine gesprochen; gute Erinnerungen belebten ihn. In mir hat sich aus dem Gespräch die Freude erhalten, daß Christine Lavant mehr Glück erlebt hat, als in ihre Gedichte eingegangen ist.
Bis vor wenigen Jahren war Christine Lavant, die zweifach mit dem Trakl-Preis und mit dem österreichischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet worden war, allein als Lyrikerin bekannt. Ihre drei großen Gedichtbände Die Bettlerschale (1956), Spindel im Mond (1959) und Der Pfauenschrei (1962) waren durchgehend im Otto Müller Verlag lieferbar. 1972, in Lavants vorletztem Lebensjahr, stellte Grete Lübbe-Grothues eine Auswahl für dtv zusammen. Christine Lavant starb am 7. Juni 1973; das Schicksal wollte es, daß dies der 130. Todestag Hölderlins war, eines Dichters, den sie las und verehrte. 1988 gab Thomas Bernhard im Suhrkamp Verlag seine schmale Lavant-Gedichtanthologie heraus. Die Prosa der Christine Lavant war – soweit Experten überhaupt von ihr wußten – vergriffen.
Als 1994 das Land Kärnten den Lavant-Nachlaß der Familie kaufte, tauchten zur Überraschung aller neben den knapp 600 bereits publizierten noch einmal fast 700 unbekannte Gedichte auf sowie über 700 Seiten Prosa. Damit hatte niemand gerechnet. Zudem stellte Christine Lavants letzter Arzt und Vertrauter, der Klagenfurter Psychiater Otto Scrinzi, seine Lavant-Texte zur Verfügung. Er hatte die kranke Dichterin von 1962 bis zu ihrem Tod betreut; oftmals hatte sie ihn mit Manuskripten bezahlt. Das Bild der Christine Lavant wird neu zu zeichnen sein.
1995 haben die beiden Literaturwissenschaftlerinnen Ursula A. Schneider und Annette Steinsiek mit einer Historisch-Kritischen Lavant-Ausgabe begonnen. Aus finanziellen Gründen ist sie ins Stocken gekommen. Im Vorfeld wurden seit 1998 einige frühe Prosatexte in Einzelbänden publiziert und von Schneider und Steinsiek minutiös kommentiert. Lavants Prosa gibt, was die hermetischen Gedichte so nicht leisten können, einen genauen soziologischen und mentalitätsgeschichtlichen Einblick in einen toten Winkel Österreichs und in die Kindheit und Jugend der Christine Thonhauser. Es sind ungewöhnlich detailgenaue Lebensstudien. Von dieser autobiographisch geprägten Prosa aus wird die ungeheure Genese zu jener Dichterin anschaulicher, die sich mit dem Pseudonym Lavant unter den Schutz des Flusses ihres Heimattals stellen wollte.
Die Neuauflage des ersten, 1948 im kleinen Stuttgarter Brentano-Verlag erschienenen Buchs Das Kind kommt heute einer Neuentdeckung gleich. Nicht nur war der Text fast 50 Jahre vergriffen, die Herausgeberinnen edierten ihn nun erstmals auf Grundlage der Handschrift. Sie machten die konventionellen Glättungen des damaligen Lektorats rückgängig, wahrten auch Kärntner Anklänge und Austriazismen, die für Lavant unverzichtbar sind.
Das Kind führt autobiographisch zurück zu dem Aufenthalt der Zwölfjährigen in der Klagenfurter Augenklinik bei Dr. Adolf Purtscher.
Da ist ein langer Gang. Und er hat weißgestrichene Türen rechts und links – viele weißgestrichene Türen. Oben, ganz hoch oben, wo vielleicht schon der Rand vom Himmel anfängt und wo man auch mit ganz weit aufgerissenen Augen nicht hinaufsieht, ist etwas Schwarzes. Was dieses Schwarze ist, wird man vielleicht einmal wissen, wenn man gestorben ist, weil, dann weiß man alles.
So denkt das Kind, das schwer kurzsichtig ist und von numerierten Türen nichts weiß. Eine richtige Türe, die wirklich bloß eine Türe ist – und auch diese hat noch genug Seltsames an sich! –, sieht so aus wie zu Hause die Stubentüre, die braun und gefleckt ist und immer so fremd wird, wenn sie die Mutter vor Weihnachten oder Ostern mit einem nassen Tuch abwäscht.
Der Text vermittelt die langsame Eroberung der fremden Anstaltswelt aus der Perspektive eines kurzsichtigen Dorfmädchens. Da sind überlange Flure, die die Ewigkeit versprechen, himmelsteigende weiße Türen, gar unverständliche Räume aus Glas. Das Kind lebt in ständiger Angst; jede Erscheinung stellt sein Wertgefüge in Frage. Allabendlich fallen Teppiche vom Himmel; denn es weiß nicht, was Vorhänge sind. Zum ersten Mal ißt es von einem eigenen Teller, was einem Ausgesetztsein gleichkommt. Vielleicht ist es gar Verrat:
Vor dem Essen hat das Kind immer Furcht. In der Früh beim Aufstehen und beim Essen ist immer wieder das Heimweh ganz groß und schwer da. Es ist so schrecklich fremd, allein aus einer Schüssel essen zu müssen und gar keine Angst mehr zu haben, daß man zu wenig bekommt.
Bedrohlich wie der fremde eigene Teller ist augenblickshaft die Erinnerung an die Schwester. Die hatte, als sie zu Hause vom Tisch aufstehen mußte, alle Geschwister schwören lassen, in ihrer Abwesenheit nicht weiterzuessen: „Und trotzdem sie alle nach der Reihe gesagt hatten ,Schwör bei Gott!‘ und das Totenkreuz gemacht hatten, daß keines weiteressen würde, bevor sie nicht zurückkommt, hat sie auf ihrer Seite hineingespuckt. Wie sie zurückgekommen ist, haben dann alle weitergegessen, bloß das Kind nicht. Und das liegt nun bei diesem fremden Essen wie etwas Schweres auf ihm.“ Das Gute und Angenehme kippt um in Schuld. Der Teller, der nun in Ruhe leerzuessen wäre, füllt sich mit einer bitteren Heimwehfrage :
Ist es vielleicht doch nicht recht, daß es einem graust, wenn die Schwester hineinspuckt? Hätte man doch weiteressen sollen?
Lavants frühe Prosatexte leben von einer schmerzhaften Wachheit. Es sind Milieustudien, die aufgeladen werden durch die scheinbar naive Unbehaustheit der Protagonisten. Lavants Heldinnen sehen in die Welt wie erschreckte Geheilte. Das Wunder geht an ihrer Seite wie ein streunender Hund.
Erstmals publiziert wurde 2001 der Spiegeltext zu Das Kind. Es sind die etwa ein Jahr später, im Herbst 1946, entstandenen Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus. Sie handeln tagebuchartig von dem Aufenthalt der Suizidalen in der Landes-Irrenanstalt Klagenfurt im Herbst 1935. Christine Lavant hatte aus Angst, ihre Geschwister mit dem Text zu irritieren, ihr Publikationsvorhaben wieder zurückgezogen. Die Aufzeichnungen fanden sich nun zufällig im Archiv ihrer englischen Übersetzerin.
In Mikroportraits der Patientinnen und Krankenschwestern erscheint die Welt als geschlossene Anstalt einer leidenschaftskranken Gesellschaft. Schon in Das Kind klang die Liebe zur Überfigur des Arztes an. Dieser „Primarius“ erscheint nun in der Fluchtlinie des Begehrens. Der göttlich überhöhte Mann enttäuscht am Ende lächerlich in einem schrecklichen Kuß, zu dem er sich die Schnupfenmaske reichen läßt. Mit unbarmherziger Offenheit konfrontiert Lavant die eigene Sehnsucht nach Erlösung mit ihrem unbestechlichen analytischen Sinn. Verrückt sind die Frauen, die von Visionen gemartert werden, denen keine Realia entsprechen. Verrückt ist die Ich-Erzählerin, die in ihrem Liebeswahn gefangen bleibt.
Christine Lavant war Symbiotikerin. Schreiben war auch Abarbeiten einer Sucht nach lebensrettender Geborgenheit in einem Du. Immer wieder hat sie intensive Briefkontakte gepflegt, die ihr ein Doppelbereich waren zwischen Literatur und Welt. „Ich brauche einen Menschen bis ich Gott habe“, wird sie an Ludwig von Ficker, den großen Literaturförderer, schreiben, den sie 1954 bei der Trakl-Preisverleihung kennengelernt hatte und mit dem sie nach der Trennung von Werner Berg 1955 etwa ein Jahr lang innig korrespondierte:
Ich muß Ihnen was sehr Ernstes schreiben: Es ist so, daß ich glaube, daß Sie mir sehr viel helfen könnten. Das nämlich, was ich am meisten brauche, ist eine Stelle im Menschlichen, welche Ehrfurcht und Vertrauen in mir auslöst. Für Geschöpfe meiner Art ist es sehr weit bis zum Herzen Gottes. Deshalb mangelt es ihnen dann so sehr, so am allermeisten, an der wichtigsten Nahrung des Gemüts – an Ehrfurcht und Vertrauen.
Sie wollte das große Gegenüber, damit es sie ihrer selbst versichere. Ihre Briefe sind Geschenke, Selbstpreisgaben, Gebete. Sie bauen an einer Kathedrale des ganz normalen, alltäglichen Daseins, das ihr selbst so schwergemacht wurde. Eine ihrer wichtigsten Briefpartnerinnen war die jüngere Schriftstellerin Ingeborg Teuffenbach, blond, gesund, Mutter von begabten Kindern, mit der sie, als einem Gegenbild zu sich selbst, seit dem Sommer 1948 bis zu ihrem Tod befreundet war:
Finden Sie nicht daß wir in dem Zutrauen zum Menschen (wenigstens in gewissen Fällen) auch das Zutrauen zu Engeln verlieren oder gewinnen? Wir befinden uns auf Erden, und zwar ganz und gar auf Erden, und alles was wir vom Himmel wollen, muß hier vor sich gehen. Deshalb ist jede Begegnung so wichtig, jedes Menschenwort so ausschlaggebend.
Ihre Dichtung war auch eigensinniger Dienst an einem abwesenden Gott, demgegenüber sie skeptisch blieb, den sie anklagte und verfluchte – und den sie durch ihr unbedingtes Wort doch zur Anteilnahme zwingen wollte. Wo ihr die selbstverständliche menschliche Kommunikation versagt blieb, leisteten Briefe die Kommunion mit einem imaginierten Du. Und über ihre Gedichte und Geschichten stand sie in ethischem Bezug mit dem ganzen Kosmos derer, die ihre Texte lasen.
Zu den beeindruckendsten Lavanttexten gehört die erst 1998 erschienene Erzählung „Das Wechselbälgchen“, ein erschütternder Text, der poetisch und mit reportagenhafter Genauigkeit in die innersten Zwangsbezirke dörflicher Provinz führt. Es ist ein subtiles Zeugnis von hilfloser Brutalität und instinktiver Zärtlichkeit. Der Text nimmt die Sprache der Knechte und der Kinder auf, die Welt der Kärntner Sagen und die doppelte Dorfwirklichkeit in den bäuerlichen Gesindestuben und den proletarischen Mietzimmern. Seine kleine Heldin ist eine soziale Randfigur, das behinderte Kind der einäugigen Magd Wrga. Wie alle vaterlosen Kinder bekommt es einen Strafnamen vom Pfarrer. Wäre es ein Junge gewesen, hätte es Napoleon geheißen; es ist ein Mädchen, so tauft er es Zitha, nach der „verräterischen Kaiserin“.
Wrga, die einäugige, hatte ein Wechselbälgchen. Aber sie tat so, als ob sie das nicht wüßte, und nannte das Bälgchen manchmal bei seinem schönen Namen. Ja, sie fand diesen Namen überaus schön, obgleich der Duldiger-Pfarrer gesagt hat, daß der Name eigentlich eine Strafe sei, weil die verräterische Königin so geheißen hat, und wenn es ein Bub wäre, müßte es nach dem verbrecherischen Kaiser „Napoleon“ heißen. Nein, er kannte kein Erbarmen, wo es um eine große Sünde ging, und ein Kind bekommen, zu dem man keinen Vater hat, ist eben eine große Sünde. Nein, er hatte auch bei Wrga keine Ausnahme gemacht, wenn sie auch ein gläsernes Auge hatte, das größer und viel schöner als das andere war. Er war gerecht, und wenn er mit seiner eigentümlichen schwarzen Kappe durch das Dorf ging, legte er immer die Hände auf den Rücken und verstrickte sie dort zu einem Knäuel, so daß er sie beim besten Willen nicht mehr von einander und nach vorne bringen konnte, wenn etwa Kinder daherkamen und ihm diese Hände hätten küssen wollen. Dorfkinder haben ab und zu noch solche unbegreiflichen Einfälle, nichtwahr, und vielleicht denken sie an bunte Bildchen dabei. Und wie leicht könnte es dann sein, daß unter diesen Kindern welche dabei sind, denen man es zuerst gar nicht anmerkt und die vielleicht gar nicht viel schmutziger und ungekämmter als die anderen sind und die zum Schluß dann doch ganz unschuldig sagen, daß sie Zitha oder Napoleon heißen. Davor hatten die Hände des Herrn Pfarrer Angst, und so wollten sie lieber ganz und gar ungeküßt bleiben, als solches auf sich nehmen.
Zitha ist das Ergebnis einer Vergewaltigung. Die auch während der Schwangerschaft hart arbeitende Wrga kaute als Schmerz- und Aufputschmittel Tabak; daher mag die Behinderung ihres Kindes rühren. Als ein neuer Knecht von hinter den „gläsernen Bergen“ an den Hof kommt, stört ihn das unnötigerweise durchgefütterte debile Mädchen, das „mit beiden Fäustchen die fetten Nudeln in den Mund schob“, und er redet der armen Magd überzeugend ein, das Kind sei gar nicht ihr eigenes, sondern ein „Wechselbalg“, das Geister gegen das leibliche am Brunnen eingetauscht hätten. Sie solle sich schnell seiner entledigen. Die verschüchterte Wrga aber liebt ihr Kleines und gerät in einen bösen, herzzerreißenden Hexenkessel von Katholizismus und Aberglauben. Ihr dummes „Bälgchen“ wächst wie ein bedrohtes Tier heran. Es ist freundlich und hat einen kreatürlichen Liebesinstinkt wie Bella, der blonde Hund. Die Keuschen-Kinder nehmen das Kleine zum Spielen mit und verhätscheln es in anarchischer Zuneigung. Unter ihnen lernt es heimlich einige schwerverständliche Lautkombinationen sprechen, die es später scheinbar als wirren Geisterbalg entlarven. Nur die Keuschen-Kinder aber wissen, daß „Ibillimutter“ eine Aufforderung zu einem bestimmten Spiel ist; denn das Wort heißt: Ich will die Mutter sein!
Und tatsächlich wird das uneheliche Mädchen Zitha, der vermeintliche „Wechselbalg“, unter dem Schrei „Ibillimutter“: „Ich will die Mutter sein“ sterben. Es verkehrt den schlimmen Plan des Knechtes, indem es ihn paradox erfüllt. Der Knecht nämlich, der mittlerweile Wrga geheiratet und von ihr ein eigenes Kind, ein „Engelchen“, bekommen hat, ist nun endgültig entschlossen, den unnützen Bastard loszuwerden. Er hängt Lieblingsspielzeug an Zweige über den Fluß und hofft, daß das Kind beim Versuch, seinen Schatz zu retten, ins Wasser fällt und ertrinkt. Der Knecht aber hat dabei das kleine Engelchen vergessen, das überraschend aufwacht, sich aus seinem Bettchen davonmacht und unbemerkt ans Wasser läuft. Es ist nun das Engelchen, das nach dem verlockenden, tanzenden Spielzeug greift und dabei schreiend ins Wasser fällt. Und es ist das Bälgchen, das ihm nachspringt und das Engelchen mit Hilfe des Hundes Bella wieder ans Ufer bringt – und dabei ertrinkt.
„Ibillimutter! Ibillimutter!“ schrie es am meisten und hielt das Engelchen, so fest es nur konnte, von dem Teufelsspielzug und den wirbelnden Wellen zurück, biß sich wie ein wildes Tierchen in hereinhängende Zweige und konnte so gar nichts mehr sagen, nur halten und halten. Zuerst kam Bella, der blonde Hund, und hatte den Tritt mit dem Holzschuh wohl längst in seinem Hundeherzen vergessen und vergeben und faßte nach dem Bälgchen, aber es wollte nicht und hielt ihm das Engelchen hin, womit er auch zufrieden war.
Die Erzählung klagt an und ist zugleich eine abgründige Elegie auf eine bittere Dorfgemeinschaft, in der „Wermut“ und „Wehmut“ gemeinsam wachsen, wie Lavant wortgläubig sagt. Der goldgierige Knecht Lenz erkennt, daß das Bälgchen sein Engelchen gerettet hat, und wird demütig, und die hilflos gütige Wrga kann vergeben, ohne daß sie sich selbst ganz versteht:
„Es hat sich geopfert, es hat sich direkt hingeopfert!“, sagte der Lenz immer wieder, und die dazugekommenen Keuschen-Kinder weinten wie Verzweifelte und sagten „Pflaumenkernchen“ und „Honighäfelein“ zu ihm und überschütteten es mit allen Zärtlichkeiten, die sie von ihrer Mutter her kannten. Aber das half ihm alles nichts mehr, und als Wrga, die Mutter, kam, war ihr Schneebittchen noch immer tot.
Sie streichelte es nicht und gab ihm auch keine süßen Namen, nur sah sie aus, als ob sie auf einmal zwei gläserne Augen hätte.
Lenz, der Schatzgräber, hätte nun wohl froh sein können über soviel Glas, aber er hatte mit seinem furchtbaren, schrillen Ruf sich wohl selbst verwandelt und dachte nicht mehr an Schätze und sagte demütig wie ein Knecht: „Werden es mitsammen dertragen und für seine Seelenruh beten, solang wir leben, gelt ja, Notburga?“
Und da sah sie ihn bloß an und vergab ihm damit mehr, als sie vielleicht bestimmt wußte.
„Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben“, schrieb Christine Lavant, als wolle sie sich entschuldigen, einmal an den Rechtsanwalt Gerhard Deesen, der sie jahrelang persönlich unterstützte und auch eine Spendensammlung ins Leben rief, an der sich viele Schriftsteller, darunter auch Heinrich Böll, beteiligten.
Kritiken lese ich nie, ist mir so sehr peinlich. Die guten fast mehr als die schlechten. Überhaupt ist mir das Dichten so peinlich. Es ist schamlos. Wäre ich gesund und hätte 6 Kinder, um für sie arbeiten zu können: das ist Leben! Kunst wie meine, ist nur verstümmeltes Leben, eine Sünde wider den Geist, unverzeihbar. Das Leben ist so heilig, vielleicht wissen Gesunde das nicht. Ich weiß es ganz. Deshalb werde ich mich vermutlich nie umbringen. Ich hab ja auch Zeiten, wo ich grundlos glücklich bin.
Sie hatte keinerlei literarische Ambitionen, auch wenn sie sich über ihren Erfolg freute und ihre Auftritte inszenierte: mit Kopftuch und einem geknoteten Tüchlein als Tasche, amerikanische Zigaretten, meist John Players, rauchend. Gerne hätte sie all ihre Texte hingegeben für das, was sie für ein normales Leben hielt: ein Leben als Ehefrau und Mutter möglichst vieler Kinder. Von der Literaturwissenschaft war sie unangenehm berührt; sie wolle sich schließlich nicht nackt zeigen. Mit der Vorstellung der Handwerklichkeit des Schreibens konnte die professionelle Strickerin nichts anfangen. Das Dichten kam über sie wie ein Zwang; ein Zwang, der ausbleiben konnte und in ihrem letzten Lebensjahrzehnt auch ausblieb.
Wenn sie schreiben mußte, tippte sie ihre Prosa direkt in die Maschine, eine schwarze „Mercedes Prima“ mit Buchstabenschälchen, und korrigierte kaum. Für die Gedichte machte sie handschriftliche Entwürfe, die aber weitgehend schon der endgültigen Form entsprachen. Sie besaß eine wache, eine wunde Anschauung und Aufmerksamkeit und entwickelte sich einen heimatlichen Vorrat an intimen Metaphern. Wie das sprachlose Bälgchen, das in der Not „Ibillimutter“ ruft, erschuf sie extreme Herzenschiffren, mit denen sie aus dem Kärtner Tal in die Weltliteratur der Moderne hineinsprach.
Des Nachbars Perlhuhn schreit wie eine Uhr
so unentwegt und immer in demselben
verrückten Abstand, während sich die gelben
Blätter der Weide lösen und als Schnur
im kleinen Dorfbach schaukelnd weitergleiten.
Der schwarze Hund hebt heftig an zu streiten
wider die Schreie, die er nicht verträgt.
Ein tauber Bettler, der durch Nägel sägt,
lächelt voll Hoffnung auf das Abendbrot.
Die letzten Hängenelken blühen rot,
und wenn der Wind will, duften sie herüber.
Sehr tief im Osten steigt ein dunstig-trüber
Herbstmond herauf und äugt uns alle an.
Das Perlhuhn schweigt, – ein rostig-brauner Hahn
Kommt ihm fast höflich durch die Nacht entgegen.
Der Bettler sitzt schon unterm Küchensegen,
und in der Hundehütte rauscht das Stroh.
Jetzt dürfte man vom Tage nichts mehr wissen!
Ich aber wende immerfort das Kissen;
Denn unter meinem Schädel irgendwo
verbarg das Perlhuhn seine schrillen Schreie.
Der Mond tritt langsam aus der Sternenreihe
und an mein Fenster als ein gelber Hahn.
Wie eine Uhr fang ich zu beten an.
Angelika Overath, der Text geht zurück auf eine Radiosendung im WDR Köln, 6.5.2003, aus Angelika Overath: Das halbe Brot der Vögel. Portraits und Passagen, Wallstein Verlag, 2004
MEINE LETZTE STIMME
(…)
lass mir meine schäbig
laufenden zeilen, ich hab sie
von seinen segnenden händen
zu einem knäuel meiner begierde
aufgerollt. den wollfaden habe
ich schon mehrmals verwendet
es ist ein aufgetrennter faden
ein gekräuseltes kellerkind.
so lass nach dieser arbeit
auch meinen lebensfaden
zu ende gestrickt sein.
es wird kein glattes muster
mehr geben nur eine holprige
fläche verkehrt gestrickt.
Evelyn Schlag
Silke Andrea Schuemmer: „Die Vormundschaft des Todes“
Franz Haas: Beten und das Kreuz zertreten
Neue Zürcher Zeitung, 4.7.2015
Carola Leitner: „Das verstümmelte Leben“
orf.at, 4.7.2015
Gisela Trahms: Thomas Bernhard fand sie gescheit und durchtrieben
Die Welt, 4.7.2015
Andreas Kohm: „Aber das Schreiben ist das Einzige, was ich habe“
Badische Zeitung, 3.7.2015
Gabriele Kögl: Christine Lavant: Der Sonnenapfel ist ein Lavanttaler
der Standart, 4.7.2015
Hubert Gaisbauer: Christine Lavant: „Gott, sag das nicht“
Die Furche, 2.7.2015
Arnold Mettnitzer: Zu Christine Lavant
ORF.at
Victor Strauch: Schriftstellerin aus armen Verhältnissen schuf bedeutende Literatur
Neue Zeit, 6.6.2023
Michael Swersina im Gespräch mit Franz Bachhiesl über Christine Lavant: „Ich traf sie regelmäßig auf meinem Schulweg in St. Stefan“
Unterkärntner Nachrichten, 7.6.2023
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