Christoph Buchwald & Adolf Endler (Hrsg.): Jahrbuch der Lyrik 2002

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Christoph Buchwald & Adolf Endler (Hrsg.): Jahrbuch der Lyrik 2002

Buchwald & Endler (Hrsg.)-Jahrbuch der Lyrik 2002

MUSPILLI SPEZIAL

für rex joswig,      der durch ausgefallenen wunsch
diese überarbeitung     anregte und erhielt
möge er daher     das seine dazutun

es naht der tag,     da der tod sich neigt
sobald sich die seele auf     die socken macht
und den leichnam     liegen läßt
kommt ein heer     vom himmel her
ein anderes aus dem pech,     sie bieten einander putz

sorgen muß sich die seele     bis die sühne ergeht
von welchem heer     sie geholt werde
wenn sie des satans     gesinde gewinnt
und sie gelüstet,     daß ihr leid geschieht
in feuer und finsternis,     erliegt sie der verführung

wenn sie jene holen,     die vom himmel kommen
und sie der engels brut     die enge stirn bietet
hirscht matt man sie     ins himmelsreich, umsonst
dort ist leben ohne tod,     blitz ohne donner
cruisen ohne sorge;     jedem das seine

aaaaamuspilli, ja war, jihad,     siemens-martin doom dub
aaaaader grund geht unter,     die gruft wird munter
aaaaamuspilli, jah war, jihad,     siemens-martin doom dub
aaaaadie kalte hand winkt ab     und sinkt zurück ins grab

wer im paradies     platz nimmt
haus im himmel,     hat hilfe genug
weh dem, der in dunkelhaft     seiner drangsal fristet
brennen in pech     ist nicht jedermanns sach
wer auf gott vertraut,     der hat auf geld gebaut
es wähnt sich in gnade     nur der wurm von einer seele

der himmlische gott     gedenkt niemandem
der hienieden konspirierte     in klammheimlichkeit
wenn der mächtige könig     die mahlzeit kredenzt
kommen prompt zu tisch     die kreter und pelasger
kein kavalier versäumt     des kräuters promille
träumend, nicht jeder     stünde zur disposition

vor der konfliktkommission     wird klein beigegeben
was man abgebissen     im laufe des beisammenseins
hörte ich wohl meinen     die weltrechtweisen
daß antichrist reitet     wider den europarat
der warg ist bewaffnet,     er wittert revolte
die kämpfer spannenlang,     die causa nudeldick

aaaaamuspilli, jah war, jihad,     siemens-martin doom dub
aaaaader grund geht unter,     die gruft wird munter
aaaaamuspilli, jah war, jihad,     siemens-martin doom dub
aaaaadie kalte hand winkt ab     und sinkt zurück ins grab

europa kämpft     für das kapital
will den rechthabenden     das reich festigen
daher wird ihm helfen,     der den IWF anführt
der antichrist     steht bei dem altfeind
steht bei surtrn,     der ihn versenken wird
auf die walstatt wird er     weidwund stürzen
sachsmatt dahinsinken     und sieglos fallen

es glaubt das gros     der geldesfürchtigen
daß europa durch weltkrieg     verwüstet werde
wenn das blut aus brüssel     auf berlin niederrieselt
brennt der prenzlauer berg,     kein baum bleibt stehn
im lande brandenburg     versiegen die borne
das moor verschlingt sich,     in lohe schmilzt, die bank
der mond fällt,     mitte brennt

kein stein bleibt stehn,     der staatszirkus kommt
mit feuer überzieht er     die fürwitzigen herren
niemand vermag dem anderen     zu helfen vor dem muspille
wenn die feuerwalze     nicht lange fackelt
und brunst und sturm     alles durchbraust
dann ist das land     in bestechlicher hand
und die mark     keinen deut mehr wert

aaaaamuspilli, jah war, jihad,     siemens-martin doom dub
aaaaader grund geht unter,     die gruft wird munter
aaaaamuspilli, jah war, jihad,     siemens-martin doom dub
aaaaadie kalte hand winkt ab     und sinkt zurück ins grab

wenn das hifthorn     heftig aufheult
macht sich der sühner     über die sünder her
es erhebt sich mit ihm     das größte der heere
so stark, daß ihn niemand     niederzuhalten vermag
dann fährt er zur richtstatt,     die dort reserviert ist
sühnung wird uns zuteil,     von der man erzählen wird

engel überfliegen     die übrige mark
im namen des volkes     pflügen sie die wolken
mensch sowohl als moloch     hebt sich aus dem moder
löst sich vom laptop des grauens     und ergattert seinen leib
gerechtigkeit wiederfährt ihm     und seinen gegenspielern
nach seinen taten     wird ihm urteil

denn niedergelassen     hat sich das gericht
und spricht recht     über recken und rabauken
im gedränge steht     der engel mengele
und gutmensch zuhauf,     die umhegung ist groß
es strömt zu gerichte     der restaurationen zulauf
kein hosenscheißer vermag     hafenbräu zu verheimlichen

aaaaamuspilli, jah war, jihad,     siemens-martin doom dub
aaaaader grund geht unter,     die gruft wird munter
aaaaamuspilli, jah war, jihad,     siemens-martin doom dub
aaaaadie kalte hand winkt ab     und sinkt zurück ins grab

die hand wird sprechen,     das haupt aussagen
mit allen gliedern,     bis zum grimmen finger
hat mannesgezücht     mordes gefrommt
sowohl bei unterrichtsfrei     als auch in unterwellenborn
als max wasser brauchte,     und als es dann kochte

so listig ist kein mann,     daß er hier lügen kann
daß er verbergen kann     eins seiner verbrechen
vorwitz wird der kripo     vorauseilend gehorsam kund
billig der sünder,     der bereits gebüßt
bevor er zitiert,     bricht sein blick

dann wird vorangetragen     der angetrunkene odin
den der heilige christ     im voraus gekupfert
er zeigt die wunden,     die er um geschlechtes willen empfing
die er um der liebe willen     in den wirren des untergangs zum
geschlechte erduldete,     und bedient sich des ausschanks

aaaaamuspilli, jah war, jihad,     siemens-martin doom dub
aaaaader grund geht unter,     die gruft wird munter
aaaaamuspilli, jah war, jihad,     siemens-martin doom dub
aaaaadie kalte hand winkt ab     und sinkt zurück ins grab

pix, nix, nox – pax!

Bert Papenfuß

 

Zu Bert Papenfußens „muspilli-spezial“

Die rätselhafte Muspilli ist mit Recht „das verzweifeltste Stück der althochdeutschen Literatur“ genannt worden. Entstanden ist es gegen 820 in Bayern, wohl Regensburg. Der Titel stammt vom ersten Herausgeber des Gedichts (Schmeller 1832) und bezieht sich auf die 57. Zeile: dar ni mac denne mak andremo helfan vora demo muspille; dieses Wort meint offensichtlich das durch Weltenbrand herbeigeführte Weltende.
Muspell wird einerseits als germanisches Wort gedeutet (mu– als Erde oder Volk oder Feuchtigkeit, spell als Schaden, Verderben), andererseits als christlicher Ausdruck (mu– als Mund oder mundus, spell als Rede). Die Bedeutung „Weltende durch Feuer“ reicht nach de Vries bis in die Völkerwanderungszeit zurück. Die üblichen Begriffsverschiebungen brachten dann Dunkel in die Sache, und Muspell wurde zur Mythologischen Person, die zu Rangnarök mehr schlecht als recht durchgreift.
Immer wieder gern gemachte Untersuchungen des Motivs des feurigen Weltuntergangs haben ergeben, daß als Ausgangspunkt der persische Manichäismus in Betracht kommt. Zur fixen Idee geworden, wanderte muspilli erst mal durch den Orient und dann donauaufwärts nach Deutschland, Frankreich und England; aber auch mit den Bogomilen vom Balkan nach Südrußland und infolge, mittlerweile zu Weltwissen mutiert, nach Moskau und Skandinavien – vollzog somit die Wanderungen der Asen und Vokuhilas nach und sitzt seither deren Nachfahren im Gemüt. Bei Arschkälte macht man sich warme Gedanken und züchtet in Seelenruhe Nackenspoiler.
Fehlende Zeilen wurden vernachlässigt, christlich moralisierender Unfug, der ohnehin nicht in den aus mindestens drei verschiedenen Gedichten bestehenden Originaltext gehört, wurde weggelassen. Die symbolhafte Stropheneinteilung des an sich recht strukturlosen Textes folgt einer Marotte von Cola Minis, der allerdings für eine Einheit des Muspilli eintritt. Der Refrain wurde aus popmusikalischen Gründen hinzugefügt, die Schlußzeile ist ein sogenannter Höllenschnörkel.
muspilli spezial ist Teil eines einstweilen RUMBALOTTE genannten Konvolutes und voraussichtlich formalen Schwankungen unterworfen.

(Quellen: Meltke, Simek, Mutwille)

 

 

 

Rand-Notizen

Auf dem Belveduto überm Trasimenischen See im Haus Ernst-Wilhelm Händlers – „feiner“ kann man schwerlich beginnen –, in den umbrischen Bergen also: Platz genug, die hunderte von Manuskripten und Konvoluten, die für das Jahrbuch der Lyrik zu sichten waren, im Raum (in den Räumen) zu verteilen, Zeit genug, in aller Ruhe zu entscheiden, welche Gedichte aufgenommen werden sollten, welche nicht – Platz und Zeit also für ein Verbrechen erster Güte!; in Assisi wurde um Vergebung gebeten beim Heiligen Franz, auch so’n Lyriker bekanntlich (siehe: „Sonnengesang“). Von Gedicht zu Gedicht, von Chiesa zu Chiesa, von Nebelschwade zu Nebelschwade, und wieder von Gedicht zu Gedicht… – Am Ende haben sich Christoph Buchwald und ich kurzerhand dafür entschieden, von keiner der Autorinnen, von keinem der Autoren mehr als zwei Gedichte auszuwählen; der größere Teil, auch sogenannte „wichtige Namen“ darunter, muß sich mit der Vorstellung nur eines einzigen Textes begnügen; nicht wenige, die Bekanntgabe verdient hätten, sucht der Kenner vergeblich. Andererseits fehlt es auch dieses Mal wieder nicht an z.T. gravierenden Neu- oder Wiederentdeckungen.
Herausgeschält haben sich fünf Hauptabteilungen – gewiß, man hätte auch nach anderen und diffizileren Gesichtspunkten sortieren können –, im wesentlichen aufgrund schlichter thematischer Bezüge zusammengestellt. Sie zu rechtfertigen oder gar zu erklären, kommt fast einer Beleidigung des nur ein wenig gründlicheren Lesers gleich. Trotzdem der knappe Hinweis, daß die erste Abteilung „Gleichung mit einer Unbekannten“ nach einem Gedichttitel Marcel Beyers zunächst „Feld der Ereignisse“ heißen sollte, was vielleicht als Erklärung schon ausreicht fürs Dies und Das des Kapitels Numero Eins, während die zweite Abteilung die unterschiedlichen zur Zeit bevorzugten poetischen Sprach-, Stammel- oder Schweige-Weisen einigermaßen provokant Revue passieren läßt. „Alles geht derzeit in der deutschsprachigen Literatur“, wir hätten das Zitat aus dem Freitag gerne bestätigt, wenn uns nicht doch noch aufgefallen wäre, daß rilkesche, bennsche oder auch brechtsche Artikulationen so gut wie überhaupt nicht mehr mitschwingen, „da muß etwas passiert sein“, sagt man sich als einer, der vor allem Brecht bis vor kurzem in immer neuen Gewandungen erlebt (bzw. erlitten) hat. Die dritte Abteilung bietet vorzüglich das, was man „Landschaftslyrik“ oder „Reisegedichte“ nennt – „Reisegedichte, ha!“, der große Paul Wühr, auch am Trasimenischen See tätig, wirft höhnisch und nicht ohne Grund die hämischen Hände in die Luft –, wie sie in der Tat ungemein häufig und nicht auf dem tiefsten Niveau geschrieben werden: Hat nicht inzwischen selbst die abgelegenste Wüsten-Oase ihren deutschsprachigen poetischen Verkünder gefunden? 4. Gedichte unter der etwas irritablen Überschrift „Du zu Dir“, den Poetessen und Poeten selber gewidmet, ihrem Leben und Weben, nicht zuletzt ihrem Sterben – mehrere Nachrufe hier –, Selbstvergewisserung wie Selbstverhöhnung der Lyrik-Sozietät, falls man es so ausdrücken darf. 5. Gedichte, die wir unter dem Titel „Einsendung an eine Zukunftswerkstatt“ zusammengefaßt haben, pendelnd zwischen Apokalypse und Internet-Welt, was ja vielleicht so ungefähr das gleiche ist.
Obwohl auch in diesem Jahrbuch wieder einige substantielle Stimmen wie die des älteren Jürgen Becker oder die des jungen, noch zu wenig beachteten Christian Lehnert ausgeblendet bleiben, hatten wir dieses Mal ernstlich Mühe, der gnadenlos vorgegebenen Seitenzahl einigermaßen gerecht zu werden. Ich habe es schon angedeutet: Die Qualität und Vielfalt des eingesandten „Materials“ hätten ein mindestens doppelt so dickes Buch legitimiert. Unsere Skrupel wurden nicht geringer bei der Besichtigung der Länge, der Über-Länge mancher Gedichte – ja, das Großgedicht scheint neben anderem wieder „auf dem Vormarsch“ zu sein –, nicht der schlechtesten in der Regel; wir mußten sie mehrheitlich bei Seite legen, wenn wir nicht… na ja! Auf jeden Fall scheint die Situation jetzt gänzlich anders zu sein als vor acht Jahren, als 1992, da der damalige Mitherausgeber Thomas Rosenlöcher in einem dem Buch einverleibten „Brief“ sich beklagt hat:

… Es gibt kaum noch ordentlichen Kitsch. Dafür aber stapelweise Sachen, die mich vollkommen ratlos zurücklassen. Weniger wegen ihrer Hermetik, sondern einfach, weil dieses Nicht-mehr-sagen-können-wollen mich weder anzieht noch abstößt und, schlimmer noch, vollkommen urteillos läßt, so daß ich dauernd nicht weiß, ob meine Schwierigkeiten an mir oder am jeweiligen Text liegen.

Unsere Probleme sind wahrlich anderer Art gewesen. – Es finden sich übrigens zwei Gedichte in diesem Büchlein, von denen der Herr Endler sich gerne per lautstarker Polemik distanziert hätte (man könnte auch sagen: über die er sich gelb geärgert hat wegen ihrer sogenannten „Aussage“); als Mitherausgeber zu wenigstens vorgetäuschter Neutralität verpflichtet, wird er nicht verraten, welche Stücke er meint: Der Leser möge raten! Das Lyrik-Jahrbuch als Ratespiel in diesem Jahr also auch?
Dank sagen muß ich für die Mitarbeit der Zauberin Brigitte Schreier-Endler.

Adolf Endler, Ende November 2000, Nachwort

Nachbemerkung zu den Rand-Notizen

Recht hat er, der Adolf Endler, „Qualität und Vielfalt des eingesandten ,Materials‘ hätten ein mindestens doppelt so dickes Buch legitimiert“ – oder ein nur 48 Seiten starkes, das nur the Best of the Best präsentiert. Einen vernünftigen Grund dafür, daß wir diesmal aus dem Vollen schöpfen konnten, können wir beim besten Willen nicht nennen, Die Fülle freilich hat uns in arge Bedrängnis gebracht: Soll das Jahrbuch zu einem vertretbaren Preis unter die Leser, darf der Umfang von 10 Bogen tunlichst nicht überschritten werden. Was soviel heißt wie: einige sehr beeindruckende Gedichte sind dem Salami-Messer zum Opfer gefallen, wir mußten halt so lange an der Wurst schneiden, bis sie die gewünschte Länge hatte.
David Lehman hat auch diesmal wieder eine Auswahl neuester amerikanischer Lyrik beigesteuert, diesmal zehn Gedichte aus dem Band The Best American Poetry 2000 (im letzten Jahrbuch waren es zehn Gedichte aus zehn Jahren). Es gilt immer noch: Ausländische Lyrik in Übersetzung und sogar in zweisprachigen Ausgaben wird kaum verlegt, ausländische Gegenwartslyriker noch weniger als kaum. Globalisierung hin oder her, in dieser Hinsicht sind wir Provinz. Schon deshalb ist es doppelt bedauerlich, daß dem nächsten Gastland der Frankfurter Buchmesse, nämlich Griechenland, kein Kapitel mit griechischer Gegenwartslyrik gewidmet ist, die Übersetzungen lagen bei Redaktionsschluß leider noch nicht vor.

Christoph Buchwald, Nachwort

 

Mittlerweile ist es eine Institution geworden,

auf die die zahlreichen Leser jedes Frühjahr sehnsüchtig warten: das neue Jahrbuch der Lyrik, das – ausgewählt vom seit mehr als zwanzig Jahren festen und bewährten Herausgeber Christoph Buchwald und dem von ihm in diesem Jahr eingeladenen Lyriker Adolf Endler – keinen Querschnitt, sondern eine ganz eigenwillige Mischung in sich versammelt, die die zahlreichen Facetten lyrischen Schaffens eines Jahres widerspiegelt.
Neben bekannten Namen trifft man immer wieder auf Neuentdeckungen, die, da kann man sich ziemlich sicher sein, Jahre später zum Kanon der deutschsprachigen Literatur zählen werden, wie Jürgen Becker, Raoul Schrott, Durs Grünbein und Marcel Beyer, um nur einige wenige Beispiele aus den vergangenen Jahren zu nennen.

C.H. Beck, Klappentext, 2001

 

Beitrag zu diesem Buch:

Karl Riha: Muspilli spezial
Frankfurter Rundschau, 31. 7. 2001

 

Zungenschlag

– Die Energie der Zeichen: Kling, Beil und andere. –

(…)
Auch im letztjährigen Jahrbuch der Lyrik ist keine Seite für ihn da gewesen. Und bei Adolf Endler in diesem Jahr? Seine ganze Familie, die nach langer Inkubationszeit mehr und mehr Ehren einfährt in der deutschsprachigen Lyrik, hat er mitgebracht. Elke Erb sowieso, Rosenlöcher, der mit seinem Charme ziemlich auf der neuromantischen Stelle tritt („Weil ich das Wort nicht fand, / das selbst in hundert Jahren noch / güldet“), auch zweimal; Czechowski ist natürlich da (klagend geht die Welt zu End’ und ab und an ein schöner weißer Vers); Papenfuß, bei dem die Welt offenbar ebenfalls mittlerweile in erster Linie zugrunde geht, wenn auch stilmaskiert; Peter Gosse ist dabei (politisch sehr korrekt, den Worten nach gottlob noch immer gar nicht); Koziol, der es mal wieder ziemlich weit treibt („Die Hyänenhaare / Einer Szenensonne trinken sein Kristallgebein“); Volker Braun trägt wieder gewaltig auf gegen die Zivilisation; Kurt Drawert steuert eine sehr schöne Fortsetzung zu Enzensbergers „Leichter als Luft“ bei; Kito Lorenc ist mit einem deftigen „Totenschmaus“ auf Mickel frischer als so mancher, der halb so alt ist; Thomas Böhme tagträumt unwiderstehlich von herrenlosen Klavieren auf Inseln, die, wenn es regnet, unter PVC-Planen schlüpfen und so „an traurige Kühe“ erinnern; Wilhelm Bartsch wünscht, einmal im „Cockpit eines Pottwals“ auf Pirsch zu gehen; Rainer Kirsch wünscht den „Zeitgeist“ zum Teufel in anderweitig gut bewahrter Sonettenart; Sarah returniert asketisch: „Immer werden Zigarren / Geschickt werden“. Alle sind sie da, Kirsten, Tragelehn, Lutz Seiler, Eberhard Häfner, Brigitte Struzyk und sie, die DDR-Gewächse, wären für sich genommen Beweis genug, wie vital das lyrische Leben hierzulande ist. Oder es wieder ist. Und sonst? Man lernt: Literaturprofessoren werden gedruckt, auch wenn ihnen nichts einfällt (Treichel); man kann die Namen aller hundert Medizinalien einer Drogerie am anderen Ende der Welt auf Zettel notieren, sie neu mischen, hie und da zum Kompositum aufrüsten, und siehe da, es ist ein Gedicht, oder jedenfalls eine unterhaltsame lyrische Hausapotheke (Oswald Egger); das 70er-WG-Pop-Alltagsgedicht ist wiederbelebungsfähig, vorausgesetzt, man heftet an „Kaffebecher mit dem Aufdruck / Autocentrum Rahlstedt“ und artverwandte Dinge (z.B. die Bettgenossin am anderen Ende des Kissens) im rechten Augenblick eine Pointe (Hellmuth Opitz) oder trägt seinen handwerklichen Dilettantismus zu Markte (Björn Kuhligk, Jg. 1975); auch nach vierzig Jahren Auf und Ab einer Literatenlaufbahn im zweiten Glied können Zeichen und poetische Wunder entstehen (Michael Buselmeier); es kann mehr als nur kurios sein, wenn ein in Horb-Dettingen ansässiger Poet seine Impressionen im „Bummelzug, Horb-Hausach“ zu Papier bringt (Walle Sayer); Ghaselen widersetzen sich naiven Erneuerungsversuchen (Steffen Jacobs); man kann eine nette Kindheitsgeschichte erzählen, sie in Dreiergrüppchen teilen und kommt ins Jahrbuch der Lyrik (Volker Sielaff); das beste Reisegedicht ist manchmal ein Nicht-Reisegedicht und der Dichter einer, den man nicht kennt (Michael Basse); Pastior, immer noch unübertrefflich („rülpsenzian“!); usw usf. Kurz und gut: Das Jahrbuch ist nach zwei Jahrzehnten lebendig wie nur je. Fundgrube für die einen, Fallgrube für die anderen, z.B. für einen Enzensberger, für den „Gedichte“ offenbar mittlerweile Feierabend-Randnotizen nach absolvierter Lektüre sind. Auch für den Leser: Alles sei möglich heutzutage, sagt Anthologist Endler, nur die Brecht-Nachfolge sei verschwunden, und niemand mehr eifere Rilke nach. Aber dann lässt er seine Kollektion beginnen mit: „Aus den Kronen der Bäume vor meinem Fenster / sinkt langsam das Gold in den See.“ Da sing(k)t gehörig die Jahrhundertwende mit, und zwar die vorletzte.
Natürlich sucht man, wie in allen Anthologien, zuerst nach denen, die skandalöserweise drinstehen, sodann nach denen, die skandalöserweise nicht drinstehen. Jürgen Becker schreibt nur noch Langes und bleibt der Kosten wegen draußen; Czernin, der ist wohl nicht jedermanns Liebling, Falkner auch nicht; für das Fehlen von Christian Lehnert entschuldigt sich Endler eigens, Ferdinand Schmatz, Henning Ahrens, Kurt Aebli, Dirk von Petersdorff, Brigitte Oleschinski, Peter Waterhouse und andere mögen ein paar schwächere Stunden gehabt haben; Urweider wird irgendwann sein Plätzchen kriegen – und Ulrich Johannes Beil?

Sebastian Kiefer, neue deutsche literatur, Heft 539, September/Oktober 2001

 

 

Christoph Buchwald: Selbstgespräch, spät nachts. Über Gedichte, Lyrikjahrbuch, Grappa

Das Jahrbuch der Lyrik im 25. Jahr

Jahrbuch der Lyrik-Register aller Bände, Autoren und Gedichte 1979–2009

Fakten und Vermutungen zum Jahrbuch der Lyrik

 

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Nachrufe auf Adolf Endler: FAZ ✝ FR ✝ Die Zeit ✝ Basler Zeitung ✝
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Focus ✝ Märkische Allgemeine ✝ Badische Allgemeine ✝
Die Welt ✝ Deutschlandradio ✝ Berliner Zeitung ✝ die horen ✝
SchreibheftPartisanen

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der A.endler“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Adolf Endler

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