Christoph Buchwald & Gregor Laschen (Hrsg.): Luchterhand Jahrbuch der Lyrik 1984

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Christoph Buchwald & Gregor Laschen (Hrsg.): Luchterhand Jahrbuch der Lyrik 1984

Buchwald & Laschen (Hrsg.)-Luchterhand Jahrbuch der Lyrik 1984

WAS WIR UNS
in Gedichten erzählen:
vom Tode was und das,
vom Tode immer überall.

Spielen wir fortan,
so in die Ferse gestochen,
mit dem schönen Planeten
vor dem hochaufgerichteten
Nichts?

Ernst Meister

 

 

 

Abschließende Notizen

I
Kontinuität und neuer Anfang: das Luchterhand Jahrbuch der Lyrik 1984 setzt die Reihe der von 1979 bis 1981 bei claassen in Düsseldorf erschienenen Lyrikjahrbücher fort. Beibehalten wurden die wechselnde Mitherausgeberschaft eines Lyrikers und die Konzeption, geändert haben sich Verlag, Ausstattung und Ladenpreis.
Die Mitherausgeberin des Jahrbuchs der Lyrik 1985 wird Ursula Krechel sein.

II
„Was halten Sie von Paul Celan“, fragt ein Lyriker, „Gehören Sie etwa auch zur Theobaldy-Linie“ ein zweiter, und „Nach welchen Kriterien wählt ihr überhaupt aus?“ ein dritter.
Der Dichter Ossip Mandelstam steht auf und sagt: „In der Poesie muß jedes Bild, jede Metapher ein Bündel von Bedeutungen enthalten.“

III
Das Kapitel „Retrospektive“ antwortet den Fragern mit Gedichten, die seit 1981 (dem letzten Lyrikjahrbuch) in Gedichtbänden, Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht wurden und, so glauben wir, als avancierteste Beispiele für die Sprachverfassung gegenwärtiger Lyrik gelesen werden können. Als Maßstäbe machen sie Positionen und Kriterien des Jahrbuchs sichtbar und Debatte und Kritik möglich.

IV
Die Auswahl 1984 enthält Gedichte, die wir den verlangt und unverlangt eingesandten Manuskripten entnommen haben. Wie immer haben uns wichtige Autoren mit triftigem Grund abgesagt, und wie immer haben wir Gedichte retournieren müssen, die allzu offensichtlich bei der Zusammenstellung des letzten Gedichtbandes „übriggeblieben“ waren.
Die „Frage nach dem Verbleib des politischen Gedichts“, die wir in den früheren Jahrbüchern angesichts der nicht endenwollenden Wehleidigkeiten gestellt haben, schien uns beim Lesen der für dieses Jahrbuch ausgewählten Gedichte anachronistisch: Geschichte und Gegenwart, Bewußtsein und Gefühl, Öffentliches und Privates sind im Gedicht wieder als dialektische Einheit vorstellbar. Die Perspektive ist verändert, der Aussichtspunkt höher, der Blick reicht weiter als nur bis zum nächsten Baum.

V
Neue Namen sind in diesem Jahrbuch wenige zu finden. Die „junge Lyrik“, die sich in „jungen“ Anthologien vorstellt, verblüfft durch Harmlosigkeit, Provinzialität und eine Art von Unbefangenheit, die alte Hüte als neue ausgibt. Es scheint, als ob die Anstrengung, „das Unsagbare sagbar zu machen“, zur Zeit von den Lyrikern der DDR unternommen würde und hierzulande von den „etablierten“ Autoren. Ausnahmen sind drei Lyriker, die im Kapitel „Neue Autoren“ vorgestellt werden.

VI
„Warum“, fragt der Lyriker und Mitherausgeber des ersten Lyrikjahrbuchs, Harald Hartung, „verwenden so wenige Lyriker Phantasie auf die Verwendung neuer Formen?“ Und warum, so könnte weiter gefragt werden, bleiben so viele Gedichte hinter dem, was möglich und erreicht ist, so weit zurück? Die große Mehrzahl der eingesandten Gedichte gibt dem Frager recht – nur: was fördern die Fragen zutage außer dem beipflichtenden Nicken der Kritiker, Leser, Anthologisten und Jahrbuch-Herausgeber? Wir fürchten, und die im Anhang der letzten Jahrbücher abgedruckten Wortmeldungen zeigen es: zu wenig. Der Konsens über die vielen schlechten Gedichte und Gedichtbände ist schnell hergestellt, führt aber in der Regel nur wieder zu erneutem heftigem Nicken.
Was aber führt weiter und über die allgemeine Bestandsaufnahme und das poetologische Statement hinaus? Sicherlich nur die Gedichte selbst, Gedichte, die beispielhaft Möglichkeiten eines anderen poetischen Sprechensvorführen, das Gegenwart, Erkenntnis und Widerspruch ins Wort setzt. Drei Beispiele (es wären auch andere möglich) aus diesem Buch: „Das innerste Afrika“ von Volker Braun schlägt dem politischen Gedicht eine weite Schneise; die Dialektik des Fortschritts ist in Michael Krügers „Naturforscher“ aus dem wissenschaftlichen Diskurs in laufende Bilder übersetzt und damit buchstäblich sichtbar gemacht; Oskar Pastiors „Antiphlox“ setzt Naturverhältnisse und -zustände ins richtige Licht, indem das Gedicht den Blick zurücklenkt auf den Leser. Die Antworten auf die Frage „Wie machen die das?“ brächten so viel über die Möglichkeiten des Gedichts ans Licht, daß darüber die modische Konfektionsware schnell in Vergessenheit geriete.

VII
Die nächsten Jahrbücher werden in einem gesonderten Kapitel Lyriker eines Nachbarlandes vorstellen, 1985 aus Holland. Alle, die mit Hinweis oder Übersetzung beitragen wollen, sind dazu nachdrücklich eingeladen.

VIII
Wer kauft eigentlich Anthologien? Ich möchte ganz grob, fragen: Sind sie eigentlich ein Geschäft? Ich frage nicht aus Neugierde, sondern weil die Antwort Einblicke in Stimmung und Wesen unseres zeitgenössischen Publikums brächte, das sich doch gegen den einzelnen Gedichtband reichlich ablehnend verhält. Werden sie verkauft oder sind sie idealistische und mäzenatische Investitionen der Verleger, gewissermaßen als Ausgleich für die vielen (sogenannten) epischen, politischen, geisteswissenschaftlichen Werke, dargeboten aus einer Art Trauer über das Schicksal der Dichter, zartfühlend und a fonds perdu?“ (Gottfried Benn)

Christoph Buchwald und Gregor Laschen, Nachwort, August 1984

 

Das Luchterhand Jahrbuch der Lyrik

will Entwicklungen und Tendenzen deutschsprachiger Gedichte zeigen, poetische Schreibweisen vorführen und zu Widerspruch und Dialog herausfordern, zugleich unterhaltsames Lese- und Blätterbuch und ein Arbeitsbuch der Poesie sein.
Gedichte aus dem Nachlaß von Ernst Meister leiten das Jahrbuch 1984 ein. Das Kapitel „Retrospektive“ versammelt Gedichte, die seit 1981 in Gedichtbänden, Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht wurden und als Beispiele für die Sprachverfassung gegenwärtiger Lyrik gelesen werden können. Als Maßstäbe machen sie Positionen und Kriterien des Jahrbuchs sichtbar und Debatte und Kritik möglich. Das Kapitel „Auswahl 1984“ enthält unveröffentlichte Gedichte, die die Herausgeber den verlangt und unverlangt eingesandten Manuskripten entnommen und thematisch so geordnet haben, daß sie miteinander reden, streiten und sich widersprechen können. Das Kapitel „Neue Autoren“ stellt Gedichte von jungen Autoren vor, die noch keinen eigenen Lyrik-Band veröffentlichen konnten.
Was aber führt über die allgemeine Bestandsaufnahme und das poetologische Statement hinaus? Vermutlich nur die Gedichte selbst, die beispielhaft Möglichkeiten eines anderen poetischen Sprechens vorführen, das Gegenwart, Erkenntnis und Widerspruch ins Wort setzt. Drei Beispiele: „Das innerste Afrika“ von Volker Braun schlägt dem politischen Gedicht eine weite Schneise; die Dialektik des Fortschritts ist in Michael Krügers „Naturforscher“ aus dem wissenschaftlichen Diskurs in laufende Bilder übersetzt und damit buchstäblich sichtbar gemacht; Oskar Pastiors „Antiphlox“ setzt Naturverhältnisse und –zustände ins richtige Licht, indem das Gedicht den Blick zurücklenkt auf den Leser.
Die Antworten auf die Frage „Wie machen die das?“ brächten so viel über die Möglichkeiten des Gedichts ans Licht, daß darüber die modische Konfektionsware schnell in Vergessenheit geriete.

Luchterhand Literaturverlag, Klappentext, 1984

 

„gedichtbau & normalzeit“

– Das Lyrik-Jahrbuch 1984. –

I.
Anthologien legen nahe, Blütenlese als Blätterzupfen zu betreiben: die lieb ich, den lieb ich nicht –, bis man schließlich dem Herausgeber den kahlen Stengel vor die Füße werfen oder ums Haupt winden kann.
Freilich kann man sie auch wie gesellschaftliche Ereignisse behandeln: Wer ist erschienen, wer wurde nicht gesehen? Was trugen die Damen, wieviel vertrugen die Herren?
Doch verschlägt in diesem Fall die Feststellung, daß viel Meer und Wasser, Kälte und Eis vorkommen, daß auffallend viele Engel in den Gedichten auffliegen, so wenig, wie die, daß weder Peter Schütt, noch Frau Allert-Wybranietz, weder Ulla Hahn, noch Peter Maiwald vertreten sind.
Andererseits – wenn man denn schon da war, was soll man anderes tun, als aufzuzählen und durchzuhecheln?

II.
Überhaupt ist erst einmal bemerkenswert, daß es dieses gesellschaftliche Ereignis (wieder) gibt. Das Jahrbuch soll nämlich die kurze Tradition des 1981 bei Claassen eingestellten fortsetzen.
Fangen wir also bei den Räumlichkeiten an: Vorab, nicht unprogrammatisch, drei Gedichte aus dem Nachlaß Ernst Meisters, dann eine „Retrospektive“ auf die beiden Jahre, in denen es kein Jahrbuch gab, beinhaltend: Kolleritsch, Haufs, Becker, Krüger, Enzensberger, Bächler, Erb, Pastior, Jandl und Erich Arendt, dessen Bedeutung jüngst anläßlich seines Todes die Feuilletons entdecken durften.
Damit ist zugleich auch ein großer Teil derjenigen genannt, die sich im Hauptteil „Auswahl 1984“ finden. Dazu gleich noch mehr. Zum Schluß folgen unter der Rubrik „Neue Autoren“, Jan Koneffke, Lioba Happel und Wolfgang Dietrich, sowie eine Nachbemerkung der Herausgeber nebst bio-bibliografischen Angaben.
Im nächsten Jahrbuch soll eine Sparte hinzukommen, in der Lyrik je eines anderen Landes vorgestellt wird. Zunächst, weil Gregor Laschen sich da auskennt, die Niederlande.
(Und wenn man einen Vorschlag anbringen darf: Es wäre nicht unzweckmäßig, die Abteilung „Retrospektive“ für Musterstücke der Vergangenheit beizubehalten.)

III.
Kommen wir zum Personal: So wenig man einsehen mag, warum gerade Michael Krüger ein Stipendium der Villa Massimo nötiger hat als irgendein „Nachwuchs“, so froh ist man hier, wenn man statt ,irgendwie Natur und alles‘ Krügers „Ein Naturforscher“ abgedruckt findet.
Man muß Jandl, Pastior oder Geissler nicht sonderlich mögen, darf Kolleritsch, Bächler und Haufs für besser halten, kann erleichtert sein, einmal nichts von Erich Fried lesen zu müssen und bedauern, daß Hans-Jürgen Heise fehlt – immer jedoch wird man, bei einiger Lektüre des lyrisch Gängigen, den Herausgebern nicht widersprechen wollen:

Die junge Lyrik verblüfft durch Harmlosigkeit, Provinzialität und eine Art von Unbefangenheit, die alte Hüte als neue ausgibt. Es scheint, als ob die Anstrengung, ,das Unsagbare sagbar zu machen‘, zur Zeit von den Lyrikern der DDR unternommen würde und hierzulande von den ,etablierten‘ Autoren.

Das bestimmt – glücklicherweise – die Zusammenstellung der Autoren. Es finden sich darunter ein paar wenige der Geburtsjahrgänge vor dem 1. Weltkrieg, Erich Arendt, Ernst Wilhelm Eschmann, Franz Tumler, Karl Krolow, dann ein paar mehr, die zur Zeit der Weimarer Republik geboren wurden, wie z.B. Bächler, Jandl oder Mayröcker.
Überwiegend ist jedoch die Zahl derer, die heute um die Fünfzig, knapp drunter oder darüber sind: Becker, Enzensberger, Geissler, Hartung, Pastior, Kunert, Wohmann und andere. Wieder weniger sind dann die Autoren der Kriegsende/Nachkriegsgeneration: Dittberner, Krechel, Loschütz, Plessen, Rosei, Theobaldy z.B. Und dann, als gelte es die Normalverteilungskurve einzuhalten, wieder ein paar wenige Jüngere und Jüngste: Morshäuser, Kolbe, van Düren und Behlert.
Vertreten ist das deutschsprachige Spektrum, von Manfred Peter Hein (Jg. 1931), der in Finnland lebt, bis Rolf Bossert (Jg. 1952) aus Bukarest. DDR-Autoren finden sich häufiger. Liest man die Gedichte von Braun, Endler, Mickel beispielsweise, oder von Kolbe und besonders Elke Erb, wird man den Herausgebern beipflichten.

IV.
Was so gesprochen wurde:

Meine Worte, wie springt ihr ins Feld,
Nackt, das ist die Wahrheit,
Liebesbisse oder Kainsmale,
Untreue Frauen, mit euch will ich gehn.

Diese „Poetik“ von Bernd Jentzsch findet nicht allzuviele Gedichte, die ihr folgen. Ebenso könnte man bedauern, daß die weiland Kraftmeierei so ganz und gar fehlt. Man hätte die Lücke, die Rolf Dieter Brinkmanns Tod gerissen hat, wenigstens durch Uli Becker kennzeichnen können. So muß man mit Ludwig Fels vorlieb nehmen. Seine längliche „Ode auf einen großen, alten, nackten Frauenarsch“ wird allerdings von einer einzigen Zeile des Gedichts „Frauenkirche, 2“ von Karl Mickel überflüssig gemacht:

Frauen von hinten sehn aus wie Pferde von oben…

Liebesgedichte, wo wir schon einmal beim Thema sind, gibt es zahlreiche – und selten muß man darin einen Satz wie diesen lesen: „Schon trinken sich unsere Augen.“ (Dem Autor bleibe die Nennung seines Namens erspart.)
Dank Alter und Versiertheit der Autoren fehlt so gänzlich, was landauf, landab als Seelenmüsli aus den Beziehungskisten grünt. Aber es fehlen nicht nur die Wunderkerzen, sondern – leider – auch die Neonlichter. Denn zwischen dem melancholiemüden Augentrost hätte ab und an ein kindlich-kalter Blick sich nicht schlecht gemacht.
„die götter haben eine harte helle hinterlassen / wenig verschwörung ist in den neonsalons“ – schreibt die neu vorgestellte Lioba Happel (Jg. 1957) unterm Titel „hölderlin aber“.
Das paßt zu einem Trend, der im Band nicht eben undeutlich ist: das Gymnasium kehrt wieder…
Michael Krüger:

Schau, den Weißdorn,
wie in unsterblichen Romanen

Damit soll hoffentlich nicht Lore, sondern Proust gemeint sein. Wie im Salon der Verdurins wird angespielt und zitiert, was aus der Welt der Guermantes zu stammen scheint: Lessing und (der junge) Goethe, Mörike und Lenau, aber auch Nietzsche mal, von ferne trapsend: „Wer jetzt kein Bild der Ruhe hat…“ (W. Schiffer), mal souverän die Hölderline gezogen:

Was bleibet, sind die Unannehmlichkeiten. (K. Mickel).

Dazu allerhand Antikes: Pegasus sattelt den „Ikaros“ und wieder wird nach Kythera eingeschifft. Phlox („Antiphlox“), Asphodelen und Tamarisken als Suppensträußchen sowieso…
Es ist, wie es in den Fünfziger Jahren war (als man es von früher her noch nicht lassen konnte) oder, feundlicher gewendet; wird gemacht, was die anderen im Ausland sowieso schon immer gemacht haben, das Spiel der Bezüglichkeiten. Schreiben am unendlichen Text. Warum auch nicht?
Daß das keine nostalgische Rückkehr oder gar das nachgeholte ,Wir sind wieder wer‘ ist, zeigt sich schnell an einem zentralen Thema der Sammlung: an Deutsch-Deutschland.
Die Gedichte dazu von Theobaldy, Schäfer, Braun, Treichel, Novak zum Beispiel, sind sensible Beobachtungen der Schnittstellen (von beiden Seiten, d.h. also: besonders in Berlin) – und ohne Larmoyanz, Sentimentalität, Trutz oder Aufgeregtheit.
Das Spektrum reicht von der kühlen Feststellung durch Yaak Karsunke (Berlin/West): „hingestreckt liegt das land / in flachem frieden // wollte hier einer / befreiend durchatmen – gingen / die minen schon hoch / (das kann keiner wollen)“, bis zu „Des Deutschen Fantasie Lateinamerika“ von Uwe Kolbe (Berlin/Ost):

Auf Schlinggewächsen dring ich nachher in die! Heimat,
Feire Einkehr in Europa. Stalins Kacheln löst der
Kuß, der weiche Segen, des siegreichen Wassers.

Das ist zentrierbar alles um den (Flucht-)Punkt, den Elke Erb nennt:

zurück an den
Heimat- und Horror-Punkt,
den vorn im Problemfeld treibenden Punkt, an dem ich weiß, was mir fehlt.

V.
Doch fehlt, der Vollständigkeit halber angemerkt, nicht nur an Vaterland, es fehlt auch der Vater (der kein Land mehr sieht). Ziemlich weit vorn in der Sammlung beklagt Bodo Morshäuser in einem kurzen Prosagedicht „Die Väter sind tot“. Zum Schluß aber darf einer der neuen Autoren, Wolfgang Dietrich, ellenlang, mit Goethes „Prometheus“ als Kothurn unfreiwillig komisch einherstolpernd, versuchen, Gott aus dem Tempel der Wechsler zu treiben („Gott, heb den hellen Himmelshelm vom Kopf“ und „Rede an Gott als ein fliegendes Schwein“). Ein Talent hat gleich im ersten Anrennen die offene Tür gefunden! (Aber vielleicht liegt es einfach am Alter: Morshäuser ist Jahrgang 1953, Dietrich erst Jahrgang 1956).
Um einen Überblick zu bieten, muß wenigstens von einem Thema noch gesprochen werden, vom Gespräch über Bäume.
Auch da ist wohltuend die Abwesenheit der Naturprodukte in toto und Umweltverschmutzung in litteris zu bemerken. Hier hat keiner irgendwie ein unheimliches Feeling für Weltall, Erde Mensch und echt Angst vor der Bombe und so – sondern schreibt Gedichte.
Zum Beleg zunächst den zweiten (besseren) Teil von „Schattenalge“, dem Gedicht des 1946 geborenen und in der DDR lebenden Richard Pietraß:

Mitglied keiner Nahrungskette, unverdaulich
herbizidresistent. Wäre sie verwertbar
die Menschheit wäre abermals gerettet.

So aber faßt sie Fuß, wo selbst die Bakterien
wenig Neigung zeigen, Kolonien zu gründen.
Im tickenden Schatten blattloser Eisenstämme

in Betonsilos, Meilen unter dem Meer.
Unbeirrbar sich vermehrend, wächst sie
vom Ende der Welt auf uns zu.

Schließlich der 1904 geborene im Tessin lebende Ernst Wilhelm Eschmann:

NATURPARK

Nicht wie das Kind träumt jagt
der Löwe
das Einhorn durch den Tann. Das
Gatter
zeigt den verständigsten Raum und
die Namen der Spender; dahinter
die Bäume, die anderswo sterben das
unzerfetzte
Moos und den freier
atmenden Stein, das Rascheln im
Laub
von Unbekannten. Gehemmte Zer-
setzung, möglicher Neubeginn.
Vielleicht war auch dies von Anfang an
gemeint
die menschgerettete Erde.

VI.
Zum Lob eines Jahrbuchs läßt sich ungefähr soviel sagen wie zum Lob eines bemühten Lesers – alles eine Frage der Ausdauer und Bedächtigkeit.
Um mit Rolf Haufs zu schließen:

Euch wünsche ich Gelingen. Milde Heiterkeit
Beim Lesen der Verse, von denen
Keiner ewig ist, denn diese Welt
Fliegt nur sekundenlang.

Erhard Schütz, Schreibheft, Heft 24, November 1984

Luchterhand Jahrbuch der Lyrik 1984

Von 1979–1981 konkurrierten die Lyrikjahrbücher bei Claassen und Athenäum mit neu vorgezeigten Gedichten. Nach zweijähriger Unterbrechung wagt die Sammlung Luchterhand in schlichterer Aufmachung ein neues Jahrbuch der Lyrik, eine Teil-Kontinuität des zuletzt gut strukturierten Claassen-Jahrbuchs.
Die Herausgeber meinen, daß nach der politischen Lyrik und nach der allseits registrierten „Neuen Subjektivitat“ … „Bewußtsein und Gefühl, öffentlich und privat im Gedicht wieder als dialektische Einheit vorstellbar“ sind. Das würde freilich nur heißen, daß die meisten Versautoren nicht im zeitmodischen Fahrwasser rudern – was von einem Autor, der selbst moralische Ansprüche stellt, verlangt werden darf.
Der Band ist dem 1979 verstorbenen Ernst Meister gewidmet. Am Anfang steht die „Retrospektive“. Das sind elf Gedichte von elf Autoren, die seit 1981 veröffentlicht worden sind und von den Herausgebern „als avancierteste Beispiele für Sprachverfassung gegenwärtiger Lyrik gelesen werden können“. Bis auf den Rendsburger Gerrit Bekker stammen alle Texte von lyrikbekannten Autoren: Alfred Kolleritsch, Rolf Haufs, Jürgen Becker, Michael Krüger, Hans M. Enzensberger, Wolfgang Bächler, Elke Erb, Erich Arendt, Oskar Pastior, Ernst Jandl. Unter den elf Autoren nur eine Frau, was weder der Bedeutung noch der Proportion schreibender Frauen entspricht. „Maßstäbe“ für „Positionen und Kriterien“ sind immer anfechtbar, zumal wenn die Herausgeber ihre eigene Subjektivität nicht bedenken und die Grenzen der ihnen bekannt gewordenen Texte nicht beurteilen können. Ich meine, man sollte mit „Maßstäben“ vorsichtiger umgehen.
Hans Magnus Enzensberger, einer der Anpassungswütigsten und Anpassungsfähigsten, mit den Jahren skeptischer gewordener Autor, hat seinem beschreibungs-philosophierenden New York-Gedicht – nach rund drei Jahrzehnten Enthaltsamkeit gegenüber dem Wort „Seele“ – just diese einst tabuisierte Vokabel ironisch eingebaut.1

Je größer die Perspektiven,
desto kleiner wird alles.
Vor den Ampeln warten die Seelen,
bewegen sich, leicht wie Fliegen,
warten. Das Gefühl der Gefühllosigkeit
auf dem Parkplatz, die unterwegs
abhandengekommenen Beweggründe und Begierden,
die Frage wo Ich geblieben ist,
und, abgesehen davon, die Erklärungen,
die hieb- und stichfest vorbeiziehen
wie über dem Wassertank auf dem Flachdach
des Instituts der Goodyear-Zeppelin
hoch über der Dreizehnten Straße.

Auf die Retrospektive folgt die „Auswahl 1984“. Sie stützt sich überwiegend auf bekannte Autoren. Die ältesten sind der in diesem Jahr in Wilhelmshorst/DDR verstorbene Erich Arendt (geb. 1903) und der in München lebende Ernst Wilhelm Eschmann (geb. 1904). Zu den jüngsten zählen der in Berlin lebende Bodo Morshäuser (geb. 1953) und der Ost-Berliner Uwe Kolbe (geb. 1957). Ohne Effekthascherei, in strenger Verssprache, nicht journalistisch aktuell, aber poetisch gegenwärtig, spricht Eschmanns Gedicht „Naturpark“:

Nicht wie das Kind träumt jagt der Löwe
das Einhorn durch den Tann. Das Gatter
zeigt den verständigsten Raum und die Namen der Spender; dahinter
die Bäume, die anderswo sterben, das unzerfetzte
Moos und den freier atmenden Stein, das Rascheln im Laub
von Unbekannten. Gehemmte Zersetzung, möglicher Neubeginn.
Vielleicht war auch dies von Anfang an gemeint
die menschgerettete Erde.

Für das politische Gedicht muß der Ost-Berliner Volker Braun einspringen. Anders als in den 60er Jahren Vietnam schlagen weder Kambodscha noch Afghanistan noch Südafrika noch eines der mittelamerikanischen Länder in dieser oder anderer Richtung lyrisch zu Buche. Die Lyriker sind politisch müde. Irgendwo versackt ist die ihre Verse stimulierende politische Szene.
Zuletzt werden neue junge Autoren vorgestellt. Der Berliner Jan Konnefke macht mit streng gefügten Versen und einer Widmung für Christoph Meckel auf sich aufmerksam. Die Berlinerin Lioba Happel teilt ihre Lektüre von Hölderlin und ihre Wahrnehmung von Kälte mit. Der Münchner Wolfgang Dietrich erkämpft sich einen Standort mit prometheischen Reden gegen den alten Gott.
Ein Jahrbuch für Lyrik ist für den Verlag und seine Herausgeber schwierig, verdienstvoll, riskant, für den Leser reizend und unbefriedigend in einem. Spektrum und Akzente setzen die Herausgeber. Der Leser dankt ihnen ihre Wahrnehmungsspanne und ihren Gliederungsversuch. Er weiß, daß auch ein anderes lyrisches Spektrum mit anderen Autoren zeigbar wäre. Sogar ein paar politische Gedichte könnte er finden zwischen Bern, Wien und Hamburg.

Paul Konrad Kurz, Bayerischer Rundfunk, 5.11.1984

 

 

Christoph Buchwald: Selbstgespräch, spät nachts. Über Gedichte, Lyrikjahrbuch, Grappa

Das Jahrbuch der Lyrik im 25. Jahr

Jahrbuch der Lyrik-Register aller Bände, Autoren und Gedichte 1979–2009

Fakten und Vermutungen zum Jahrbuch der Lyrik

 

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Nachrufe auf Gregor Laschen: Tagesspiegel ✝︎ Badische Zeitung

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