EINSEITIG
Wenn es wäre, als ob ich links blind sei, rechts taub,
und die Anpassung sei entkräftet, die mich
hindert, mit Auge-und-Ohr-Zuhalten
zu prüfen, welch ein Zustand das ist,
müßte, nachdem ich rechts sehe, links höre,
es prompt einen Ruck des Bilds zu mir hin
vom Hören aus geben, ruck des Geräuschs
vom Sehen aus vor meiner Nase
und so auch, als sei ich rechts blind und links taub.
Die Anpassung aber hockt hochmütig, wie
ein Kamelhöcker unerkannt
durch sein Kamelauge blickt, so daß
der Zustandsentwurf nicht zu prüfen ist,
mein Gedanke nicht.
Elke Erb
In einer kleinen Bildergeschichte erzählt Wilhelm Busch von jenem amüsanten Gezänk zwischen Silen, dem stets trunkenen Begleiter des Bacchus, und Amor, dem geflügelten Gott der Liebe, das als Modellfall für fruchtbaren Streit gelten darf. Sich revanchierend für den Pfeilschuß Amors in die Arschbacke seines Esels, der den Lüstling prompt abwirft, zupft Silen dem Schlingel zwei Federn aus den Flügeln und steckt sie sich triumphierend hinter die Ohren. Wilhelm Busch resümiert die Episode, indem er ihrem Geschehen die höheren Weihen der Poesie zuschreibt:
Heimwärts reitet Silen und spielt auf der lieblichen Flöte freilich verschiedenerlei, aber doch meistens düdellütt!
Busch erzählt seine Geschichte im klassischen Versmaß, das er, virtuos beherrschend, ebenso meisterhaft parodiert: Ein Musterbeispiel für jeden Musenalmanach! Hexameter und Pentameter: In zweizeiligen Distichen spricht der Dichter das Konflikthafte, das Zwiespältige, das Überraschende seiner Geschichte aus, doch erst die fehlende Senkung hinter der dritten und sechsten Hebung im Pentameter kehrt das Antithetische besonders wirksam hervor: „Freilich verschiedenerlei, aber doch meistens düdellütt!“ Jedermann hört es: Im Rhythmus der Wortbewegung, im Lautspiel des Sprachklangs teilt sich mit, was das Gedicht aussprechen will. Als wir einander aus den vielen Hunderten von Gedichten, die uns zur Auswahl für dieses Jahrbuch der Lyrik zugeschickt wurden, Aberdutzende von Beispielen laut vorlasen, spitzten wir mehr und mehr die Ohren: Nicht nur im klassischen Versmaß, sondern in allen heutzutage möglichen Formen haben junge und alte, unbekannte und bekannte Schriftstellerinnen und Schriftsteller die Auseinandersetzungen mit dem windigen Geist der Zeit zum Gegenstand ihrer Arbeiten gemacht. Jeder auf seine Weise, doch alle beschäftigen sich mit derselben Erscheinung, die ein alter Philosoph den „Riß durch die Welt“ genannt hat, jenen oft gar nicht wahrnehmbaren Sprung, der das Sein und den Schein so extrem voneinander scheidet. Doch in Erkenntnis von der Unlösbarkeit dieses Widerspruchs kehren die Dichter das Paradoxe bekenntnisfreudiger und lustvoller als ihre Kollegen aus der Vergangenheit hervor. In diesen hier versammelten Gedichten versteckt sich kein Held, der in tragischem Konflikt zu Tränen rührt; hervorkommt der Zeitgenosse, der in komischer Situation zum Lachen reizt. Bei einigen zeigt sich das Komische mit dionysischer Exaltiertheit wie bei den alten Griechen – auf dem fröhlichen Umzug, in der lärmenden Schar, bei burleskem Gegröle. Man achte auf die skurrilen Nachbarschaften, in denen sich die Gedichte befinden: Manche zwingen dem Vorder- oder Hintermann ihren Tritt auf, andere werden von jenen zum Schrittwechsel genötigt. Die Art und Weise, wie sie miteinander umspringen, fordert die Poesie heraus, den sonderbaren Zustand ihres Verhaltens beispielhaft in Worte zu fassen. Doch sie läßt sich nicht auf läppische Events der Spaßkultur ein; sie geht bis zum äußersten. Ihr höchster Ausdruck ist das Düdellütt des berauschten Silen, das bei Wilhelm Busch, sinnes- und sinnübergreifend lautmalerisch, zur reinen Poesie geworden ist.
Ludwig Harig, Nachwort
Das Lyrik-Jahrbuch erscheint im Jahr 2000 zum ersten Mal im größeren Format und im Hauptprogramm des Verlages – noble Geste des Verlegers Wolfgang Beck –, und das in Zeiten, wo man die Verlage, die noch freiwillig Gedichtbände publizieren, an zwei Händen abzählen kann. Dabei sind, höre ich von Verlagskollegen, die Verkaufszahlen von Gedichtbänden so furchtbar nicht, was ins Hochdeutsche übersetzt meint: In circa 89 Prozent der Fälle ist ein Gedichtband immer noch ein Zuschußgeschäft, aber jedenfalls ein überschaubares; da wird weit weniger Geld versenkt, als bei einem teuer eingekauften bestsellerverdächtigen Roman, der dann bei 12.000 Exemplaren hängen bleibt, statt bei den notwendigen 65.000. Wahr ist auch, daß Gedichte mehr denn je gehört werden, auf CDs, Kassetten, bei Lesungen. Oswald Egger z.B., nicht gerade ein Vertreter des derzeitigen Mainstream, sondern ein Autor, der eine Welt mit den Mitteln von Laut und Klang, Assonanz und Assoziation evoziert, hat bei seinen Lesungen stets volle Stuhlreihen. Das Kölner Lyrik-Festival kann über mangelnden Zulauf nicht klagen, das ZDF veranstaltet zur besten Sendezeit eine ganze Lyrik-Nacht, www.lyrikline.org hat in kürzester Zeit Zehntausende Besucher. Alles in Ordnung also im Lyrikland? Das wird, außer von ausgemachten Narren, wohl nie mit ja zu beantworten sein. Bleibt die Frage, warum die Lebendigkeit der Lyrikszene zunimmt, das Gedicht aber, anders als zum Beispiel in Rußland, von einer größeren Öffentlichkeit eher als „elitäre Gattung“ begriffen wird. Bleibt zweitens die Frage, warum eine – immer wieder neu zu führende – ästhetische Debatte über die Möglichkeiten des Gedichts in den letzten zehn Jahren nicht wieder in Gang gekommen ist. An sich voneinander abgrenzenden und von ganz verschiedenen Sprachkonzepten ausgehenden Richtungen und Schulen jedenfalls ist kein Mangel, die Leser werden sie auch in diesem Lyrik-Jahrbuch ausmachen, mit und ohne Düdellütt. Das Übersetzen von Gedichten ist bekanntermaßen ein heikles Geschäft, und niemand wird behaupten wollen, daß hierzulande auch nur ansatzweise die wichtigsten neuen Stimmen der internationalen Poesie bekannt sind. Grund genug, um im Lyrik-Jahrbuch immer wieder Autorinnen und Autoren zu drucken, die sich in ihren Sprachen einen Namen gemacht haben. Vorgestellt werden diesmal – wie immer komplementär zum jeweiligen Gastland der Buchmesse – jüngere Lyriker aus Polen, die Renate Schmidgall mit Umsicht und in genauer Kenntnis der polnischen Szene ausgewählt und übersetzt hat. Neu im Jahrbuch ist auch das Kapitel „Across the Atlantic“, eine Auswahl aus dem amerikanischen Pendant zu diesem Jahrbuch der Lyrik. The Best American Poetry arbeitet ebenfalls mit einem festen Herausgeber (David Lehman) und einem jährlich wechselnden Lyriker als Gastherausgeber. David Lehman hat aus den inzwischen zehn Jahrgangsbänden zehn Gedichte ausgewählt, sieben sind von Autoren, von denen in deutscher Übersetzung kein eigener Band vorliegt. Der große Poetry-Supporters-Award am Bande geht an Rebekka Göpfert und Dagmar Becker-Göthel vom Beck Verlag und an Carola Feist, die mit ordnender Hand und ausgetüftelten Computeroperationen System in die Datenfluten gebracht haben, sowie an Ludwig Harig, der mit hervorragenden Autorenkontakten und einem bemerkenswerten Hirschgulasch maßgeblich zu diesem Band beigetragen hat.
Christoph Buchwald, Nachwort
herausgegeben von seinem „Erfinder“ Christoph Buchwald und einem zeitgenössischen Lyriker als jährlich wechselndem Mitherausgeber. Jahr für Jahr versammelt es etwa 100 neue, bislang in Büchern unpublizierte Gedichte – als Querschnitt dessen, was in der deutschsprachigen Lyrikszene passiert. Es zeigt, in welchen Formen, in welcher Sprache Gedichte auf Zeit, Gegenwart, Epoche, auf Lebensgefühle und Stimmungen im Lande reagieren: vom freien Rhythmus bis zum strenggefügten Sonett, vom lockeren Prosagedicht bis zur konkreten Poesie, vom lapidaren Vierzeiler bis zum optischen Lautgedicht… Viele inzwischen namhafte Autoren debütierten im Lyrik-Jahrbuch, andere veröffentlichten regelmäßig darin, von Jürgen Becker bis zu Peter Rühmkorf, von Adolf Endler bis Raoul Schrott, von Robert Gernhardt bis Johannes Kühn und von Michael Krüger bis Durs Grünbein. Die Summe der Jahrbücher ist die Anthologie, die das deutschsprachige Gedicht der Gegenwart umfassend und angemessen repräsentiert und seine Entwicklung und seine Suchbewegungen lebendig dokumentiert.
C.H. Beck Verlag, Klappentext, 2000
Christoph Buchwald: Selbstgespräch, spät nachts. Über Gedichte, Lyrikjahrbuch, Grappa
Das Jahrbuch der Lyrik im 25. Jahr
Jahrbuch der Lyrik-Register aller Bände, Autoren und Gedichte 1979–2009
Ein Gespräch mit Literaturredakteur Ralph Schock
SR 2, 18.7.2017
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