ZWEI EPIGRAPHE / NACH POUND
aaa„Fu I, der die hohe Wolke geliebt und den
aaaaaBerghang;
bedauerlicherweise gestorben am Alkohol.“
aaaDie zweite Inschrift ist im ewigen Windhauch
aaaaazerbröckelt;
sie gilt „unserm wortgewandten ……………….“ – Mh, mh?
Adolf Endler
Der Einsendeschluß für die Gedichte des Jahrbuchs lag einige Tage vor dem 11. September 2001. Auf diese Weise – von einigen erbetenen Ausnahmen abgesehen – bildet die vorliegende Auswahl eine literarische Aufnahme der Situation, die dem Unglück vorausging. Wenn von „günstigen“ Umständen in einem solchen Zusammenhang überhaupt gesprochen werden kann: vielleicht war das nicht der schlechteste Umstand für diese Anthologie. In ihr erweist sich die seismographisehe Qualität des Gedichts – sein Gespür für Bedrohungen, seine Qualität als „Bewegungsmelder“; und staunen darf man über prophetisch anmutende Texte wie „Das Hochhaus“ von Johannes Kühn.
Damit steht das aktuelle Jahrbuch auch jenseits der Kontroverse darüber, wie Schriftsteller sich nach und zum 11. September zu verhalten gehabt hätten, obwohl sein Erscheinen in die Zeit dieser Auseinandersetzung fällt. „In glücklichen Fällen“, schreibt Peter Esterhazy, „hat uns der Schriftsteller nichts zu sagen, wohl aber sein Buch.“ Das der Katastrophe folgende Gefühl einer plötzlichen vollständigen Marginalisierung des einzelnen, das Gefühl, plötzlich bei den „Ausgeschalteten der großen Lebensleitung“ zu stehen, verlieh vielleicht auch den verzweifelt schnell folgenden Wortmeldungen zur Zerstörung des World Trade Center einen besonderen Antrieb. In Momenten, „in denen die Kunst wieder mal als läppischer Luxus entlarvt scheint, bemüht sie sich unwillkürlich rasch, ihren nahen und notwendigen Zusammenhang mit dem Leben zu zeigen…“ schrieb Rilke 1898 in einem Aufsatz zur Modernen Lyrik. In der Arbeit am literarischen Text und in der Sprache gibt es Probleme der Form, die auch inhaltlich zu einer je eigenen Lösung drängen. Damit kann der Autor anstehen gegen das Unvertrauen in den Eigenwert der Literatur, auch in Situationen, wie wir sie mit dem 11. September erlebt haben. Also lesen wir und lassen uns von den Büchern belehren, wie es Peter Esterhazy vorgeschlagen hat – das vorliegende Jahrbuch lohnt es, meine ich, in jedem Fall.
In Amsterdam an der Prinsengracht, wo dieses Buch zusammengestellt wurde, gibt es einen Platz namens Amstelveld. Auf diesem Platz wird Tag und Nacht Fußball gespielt. Es gibt dort Platanen, ein paar Bänke, Laternen, Fahrradständer und zwei Tore aus Stahlrohren zusammen geschweißt mit eisernen Netzen. Wer vorbeikommt und Lust hat, spielt mit – halb folgt die Aufstellung der Mannschaften diesem Zufall, halb den Tagesabläufen jener Amsterdamer, die regelmäßig vorbeikommen und damit zum Stammaufgebot zählen. Einer verborgenen Ordnung folgend bleiben dabei beide Seiten ausgeglichen besetzt, Tore fallen hüben wie drüben, Aus- und Einwechslungen geschehen fließend, fast unmerklich. Die Mannschaften sind grundsätzlich „gemischt“, und es gab Tage, an denen ich mehr Frauen als Männer auf dem Platz gesehen habe. Multinational ist man ohnehin, es dominieren die Hautfarben der ehemaligen Kolonien und dabei die Landsleute der legendären „Surinam-Fraktion“, die in der holländischen Nationalelf so erfolgreich gespielt hat.
Angesichts der großen Anzahl der zum Jahrbuch eingesandten Texte mochte man sich für die Präsentation einer literarischen Auswahl ähnliche Möglichkeiten einer fließenden Aufstellung mit laufenden Aus und Einwechslungen wünschen – andere Aufstellungen brächten in ihrem Zusammenspiel sicher ganz andere Qualitäten zum Vorschein. Eine Besonderheit hat das aktuelle Jahrbuch: in Kapitel IV („Im richtigen Augenblick“) erscheint eine Gedicht-Zusammenstellung von Autoren, die bisher nicht in diesem Periodikum vertreten waren. Dabei solche, die bereits eigene Gedichtbände vorgelegt haben, aber auch solche, die wir zu den Entdeckungen der Auswahl rechnen wie Alma Vallazza, Christoph Grobe oder Sebastian Unger.
Lutz Seiler, Nachwort
Wie, fragen immer wieder Einsender von Gedichten, funktioniert eigentlich das Auswahlsystem beim Jahrbuch?
Seitenbemerkung: Der Frage ist abzulesen, daß gottseidank immer wieder neue Stimmen in den Großen Gemischten Chor einstimmen, daß dies nun immerhin das zwanzigste Jahrbuch der Lyrik ist und daß viele der im vorliegenden Band abgedruckten Autorinnen und Autoren bei Erscheinen des ersten Bandes (Mitherausgeber: Harald Hartung, Düsseldorf, Claassen Verlag 1979) vielleicht noch im Kinderbuchlesealter waren. Mit anderen Worten: das Jahrbuch ist „eine Institution geworden“ und dankt (ein Jahrbuch der Lyrik kann das, natürlich) allen, die diese größte Anthologie der deutschsprachigen Gegenwartslyrik mit ihren Gedichten möglich gemacht haben, und den Verlegern für ihr nicht Tod noch Teufel scheuendes Engagement. Antwort auf die Eingangsfrage: Gedichte einsenden (an die Redaktion Jahrbuch der Lyrik beim Verlag C.H. Beck) kann jeder und jede, am besten zwischen drei und zehn Gedichten. Sie sollten unveröffentlicht oder allenfalls in Zeitschriften oder Zeitungen publiziert sein; Gedichte aus bereits publizierten Büchern, und seien sie fern von jeder Buchhandlung im Selbstverlag erschienen, können nicht berücksichtigt werden. Bei Gedichten, die zum Zeitpunkt des jeweiligen Redaktionsschlusses (30. August) unveröffentlicht sind, zum Erscheinen des Jahrbuchs (jeweils im März) aber in einem eigenen Band stehen, drücken wir gerne die Augen zu.
Autoren, die in den letzten Jahrbüchern mit Gedichten vertreten waren, erhalten, wenn der Adressenverwaltungscomputer nicht mit einem Virus zu kämpfen hat, eine schriftliche Einladung der Herausgeber.
Sämtliche bis Redaktionsschluß eingesandten Gedichte werden von tapferen Mitarbeitern des Verlages kopiert und an den Mitherausgeber geschickt, so daß der (oder die) unabhängig vom ständigen Herausgeber lesen und zuordnen kann: dem Stapel „auf jeden Fall aufnehmen“, dem Stapel „vielleicht aufnehmen“ oder dem Stapel „kommt leider nicht in Frage“. Die Übereinstimmung der Auswähler liegt erstaunlich hoch, im Mittel der zwanzig Jahrbuchausgaben bei ca. 95%. Lyrik ist zum allergrößten Teil eben keine Frage des Geschmacks, sondern vor allem eine des Handwerks. Die differierenden 5% sind dann bei der Schlußredaktion der Herausgeber der poetologisch und ästhetisch spannendste Part.
Eine Mitteilung, welche Gedichte aufgenommen wurden, geht den Autoren in Form der Korrekturfahne zu mit der Bitte um einen letzten genauen Blick. Autoren, die nicht berücksichtigt werden konnten, können nicht benachrichtigt werden, der Aufwand an Arbeitszeit und Portokosten ist keinem Verlag zuzumuten. Wer seinem Manuskript einen frankierten Rückumschlag beilegt, bekommt dieses selbstverständlich nach Erscheinen des Jahrbuchs zurück.
Die meisten Autoren ziehen der symbolischen Honorierung von 10 Euro per Gedicht und angefangener Seite zwei zusätzliche Belegexemplare vor, und das vereinfacht bei dem enormen Arbeitsaufwand, den das Jahrbuch einfordert, vieles. Wer dennoch die Bezahlung vorzieht, möge dies bei der Einsendung gesondert und mit Angabe der Bankverbindung vermerken.
Christoph Buchwald, Januar 2001, Nachwort
es erscheint seit 1979. In diesen gut zwanzig Jahren ist, Jahr um Jahr ergänzt, eine einzigartige Anthologie deutschsprachiger Gegenwartsliteratur entstanden, die alle wichtigen poetischen Entwicklungen sichtbar gemacht hat. Manchmal war sie sogar stilbildend. Das Jahrbuch der Lyrik hat in seiner Geschichte viele Autoren, die sich inzwischen einen Namen gemacht haben, entdeckt und zum ersten Mal gedruckt.
Der neueste Band, diesmal mit dem mit pech&blende berühmt gewordenen Lyriker Lutz Seiler als Mitherausgeber, stellt zahlreiche neue Stimmen vor und zeigt, daß der erfindungsreiche Umgang mit der Tradition, daß strenge Form, Reim und Rhythmus wieder Möglichkeiten sind, um Welt und Natur, Gefühle und Epoche jenseits des Klischees mit der sehr besonderen Möglichkeit des Gedichts zu fassen zu kriegen.
C.H. Beck Verlag, Klappentext, 2002
Christoph Buchwald: Selbstgespräch, spät nachts. Über Gedichte, Lyrikjahrbuch, Grappa
Das Jahrbuch der Lyrik im 25. Jahr
Jahrbuch der Lyrik-Register aller Bände, Autoren und Gedichte 1979–2009
Lutz Seiler zu Gast bei Erik Spiekermann in der Galerie P98A.
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