DER LETZTE GAST
Im Schatten der von mir gepflanzten Pinien
will ich den letzten Gast, den Tod, erwarten:
„Komm, tritt getrost in den betagten Garten,
ich kann es nur begrüßen, daß die Linien
sich unser beider Wege endlich schneiden.
Das Leben spielte mit gezinkten Karten.
Ein solcher Gegner lehrte selbst die Harten:
Erleben, das meint eigentlich Erleiden.“
Da sprach der Tod: „Ich wollt’ mich grad entfernen.
Du schienst so glücklich unter deinen Bäumen,
daß ich mir dachte: Laß ihn weiterleben.
Sonst nehm ich nur. Dem will ich etwas geben.
Dein Jammern riß mich jäh aus meinen Träumen.
Nun sollst du das Ersterben kennenlernen.“
Robert Gernhardt
Alle Jahre wieder ein Jahrbuch der Lyrik, aber nicht jedes Jahr wieder eine Anthologie mit den neuesten deutschsprachigen Gedichten. Wie das vorangegangene Jahrbuch (1995/96), das von Joachim Sartorius für die Zeitschrift Lettre International zusammengestellte Gedichte über das Gedichtschreiben, die Poetologie und die Poesie versammelte, so möchte auch dieser Band ein besonders eindrucksvolles Projekt vor der Furie des allzu schnellen Verschwindens bewahren: 42 Gedichte (überwiegend aus den siebziger und achtziger Jahren) die Michael Braun und Michael Buselmeier für die Wochenzeitung Freitag in einer von Ausgabe zu Ausgabe fortgesetzten Kolumne poetologisch argumentierend, interpretierend oder biographisch kommentiert haben. Zu schade, wenn diese Anthologie bekannter und unbekannter Autoren, ungewöhnlicher Funde, Denk- und Schreibweisen im Zeitungsaltpapier untergegangen wäre.
Das Jahrbuch der Lyrik wird immer wieder einmal solche für Poesieleser interessanten Unternehmungen abdrucken, um über die jährliche Auswahl unveröffentlichter neuer oder in Zeitungen und Zeitschriften gedruckter Gedichte hinaus über eigenwillige, besondere, ungewöhnliche Zugänge zum Gedicht zu informieren. Das Jahrbuch 1997/98 jedoch wird wieder in der gewohnten Form erscheinen: Mit neuesten Gedichten, die in Auswahl und Zusammenstellung eine Vorstellung vom „gegenwärtigen Stand des poetischen Handwerks“ geben wollen.
Christoph Buchwald, Nachwort
ist für die Aufgabe des Übertragens entscheidend, die „poetische Emotion“ des Originalmanuskripts in die andere Sprache hinüberzuretten. Damit ist gleichzeitig ein Wesensmerkmal der neueren argentinischen Lyrik gemeint, das sich durch Intensität und Vielstimmigkeit des poetischen Sprechens charakterisiert. Seit den achtziger Jahren steht diese Poesie im Zeichen der kontinentalen Demokratisierung, die in ganz Lateinamerika von einem faszinierenden Lyriktrend begleitet wird. Die Mehrzahl der hier vorgestellten dreizehn Lyrikerinnen und Lyriker hat an den neugegründeten Poesiefestivals im uruguayischen Montevideo, in Mexiko-Stadt, in Santiago de Chile, im peruanischen Lima, im kolumbianischen Medellín und Bogotá oder am jüngsten „III. Festival al Latinoamericano de Poesia“ zur Jahresmitte 1995 im argentinischen Rosario am Río Paraná teilgenommen. Die Auswahl ihrer Gedichte lädt zum ersten Kennenlernen einer europäisch-jüdisch-lateinamerikanisch geprägten Lyrikszene Argentiniens ein, die von Buenos Aires bis nach Mar del Plata am Südatlantik und Tucumán im andinen Norden des Landes reicht.
Tobias Burghardt, Vorwort zur Auswahl argentinischer LyrikerInnen im Jahrbuch der Lyrik.
„Der Dichtung eine Gasse“ – unter diesem Motto eröffnete Marcel Reich-Ranicki vor zwanzig Jahren in der FAZ seine „Frankfurter Anthologie“, ein – wie sich zeigen sollte – sehr erfolgreicher Versuch, neue Leser für Lyrik zu interessieren. Gedichte aus allen Epochen der deutschen Literaturgeschichte, vorrangig jedoch „Klassiker“, längst kanonisierte Texte, werden seither allwöchentlich in der FAZ vorgestellt und durch kundige Interpreten kommentiert. Was bislang fehlte, war ein kritisches Kompendium der Gegenwartslyrik, das der Dichtung der achtziger und neunziger Jahre den Weg bahnt.
Mit dem Jahrbuch der Lyrik 1996/97 liefern wir nun die aktuelle und zeitgemäße Gegenschrift zur „Frankfurter Anthologie“: Annäherungen an die jüngste deutschsprachige Dichtung, kritische Auseinandersetzungen mit den neuen Schreib- und Erlebnisweisen der Lyrik unserer Jahre. Wir präsentieren und kommentieren Beispiele lyrischer Geistesgegenwart und Zeitgenossenschaft – subjektiv und oft wie zufällig ausgewählt, gelegentlich auch auf Geburts- und Todestage reagierend, doch stets gegen den Strich: Gedichte z.B. von Friederike Mayröcker, Thomas Kling und Marcel Beyer, die nach ungewohnten, offenen Formen für ihre ästhetischen Erfahrungen suchen; Gedichte von Wulf Kirsten, Christoph Meckel und Gregor Laschen, die durch Anverwandlung alter Formen und Mythen gültige poetische Bilder zu finden vermögen; auch Gedichte von Poeten aus der Provinz, West wie Ost, die überregional nie beachtet wurden, Heinz G. Hahs oder Manfred Streubel; schließlich ein paar politische Gedichte (von F.C. Delius, Volker Braun, Peter Handke), die wie erratische Blöcke in die beruhigte Landschaft ragen.
Die 42 ausgesuchten Texte antworten wie die Glieder eines Kettengedichts aufeinander, manchmal freilich so leise, daß ohne unsere behutsam dechiffrierenden, oft biographisch orientierten Kommentare vieles unverständlich bliebe. Die Kommentare bieten Lesarten an und stellen einen Zusammenhang her, sie begründen die innere Logik der Anthologie. Fern jedem akademischen Gestus, verstehen sie sich als sympathetische Dialoge mit der zeitgenössischen Poesie. In diesen Dialogen wird nicht ,objektiv‘ analysiert, sondern das elementare Bewußtseinsereignis aufgezeichnet, das die Begegnung mit einem Gedicht noch immer darstellt.
Die hier versammelten Gedichte und Kommentare sind zwischen 1991 und 1995 in der Wochenzeitung Freitag sowie im Literaturprogramm des Saarländischen Rundfunks veröffentlicht worden. Diese beiden mutigen Institutionen waren als einzige bereit, der zeitgenössischen Lyrik eine Spalte einzuräumen. Für den Druck im Jahrbuch der Lyrik 1996/97 wurden die Kommentare leicht überarbeitet.
Michael Braun, Michael Buselmeier, Nachwort
– so der nobelpreisgekrönte Josep Brodsky – ist ein zuverlässigerer Gesprächspartner als ein Freund oder eine Geliebte. Freilich muß man ihm nicht nur sehr genau zuhören, man muß seine oft verschlüsselten Aussagen auch zu verstehen wissen. Kernstück des diesjährigen Lyrik-Jahrbuchs ist deshalb eine Serie von 42 zeitgenössischen Gedichten, deren „Lesarten“ in sympathetischen Kommentaren behutsam angedeutet werden: eine aktuelle Verlängerung der Frankfurter Anthologie bis in die Gegenwart, ein Lesebuch, das neue Wege zum Verständnis der allerjüngsten Dichtung eröffnet.
Wie üblich enthält der Band auch eine Auswahl unveröffentlichter Gedichte und – als „Blick zum Nachbarn“ – neue Poesie aus Argentinien.
C.H. Beck Verlag, Klappentext, 1996
Dichtung ist die Weihe nutzloser Definitionen, die nutzlos genutzt werden
Es ist billiger einen Dichter am Leben zu erhalten, als einen Computer auf Dichtung zu programmieren
Schlechte Zeiten für Lyrik, fürwahr. Der Poet als nutz- und funktionsloses Glied der Gesellschaft, Lyrik als Luxus, der nur deshalb noch nicht von Computern in Serie produziert wird, weil sich das (noch?) nicht rechnet. Doch der Grundton solcher Klage ist zu alt, um auf Dauer mehr zu sein als bloßes Kokettieren mit einem angeblichen Nischendasein, auf das man insgeheim mächtig stolz ist. Und zudem waren es wohl jedesmal eher Zeiten schlechter Lyrik, wenn die Poeten glaubten, mit ihren Produkten gesamtgesellschaftliche Aufgaben erfüllen oder den Leser mit lässigem Alltagsjargon umarmen zu müssen. Die Vertreter der „reinen Lehre“ unter den Agitprop-Lyrikern und den Neuen Subjektiven sind heute ganz zu Recht dem Vergessen anheimgefallen und allenfalls noch von literarhistorischem Interesse. Nein, um die Lyrik ist es bei weitem nicht so schlecht bestellt, wie uns manche Literaturkritiker und Autoren immer wieder gerne weismachen möchten. Im Gegenteil: Wohl noch nie waren zum Beispiel so viele ausländische Lyriker in zum großen Teil hervorragenden Übersetzungen auf dem deutschen Buchmarkt zu haben; man denke nur an Charles Simic, Derek Walcott, Les Murray, Tadeusz Rozewicz, John Ashbery, Inger Christensen… Und auch die beiden jeweils letzten Büchner- (Durs Grünbein. Sarah Kirsch) und Nobelpreise (Seamus Heaney, Wislawa Szymborska) waren wohl mehr als nur die Belohnung dafür, unverdrossen nutzlose Dinge zu fabrizieren.
Wie lebendig und vielfältig Lyrik heute – allen Unkenrufen zum Trotz – ist und sein kann, beweist jedes Jahr aufs neue das Jahrbuch der Lyrik. Zunächst bei claasen erschienen, dann ein Jahrzehnt als Luchterhands Jahrbuch der Lyrik eine feste Größe (die allerdings am Ende etwas müde wirkte), nun also seit 1995 in der ansonsten weniger literarisch ausgerichteten Beck’schen Reihe beheimatet. Neuer Verlag, neues Glück? Das Grundkonzept jedenfalls ist das gleiche geblieben. Christoph Buchwald, der Herausgeber, engagiert jeweils einen oder zwei Mitstreiter (meist selbst Lyriker), die aus der Fülle der lyrischen Produktion das ihnen wichtig und bedeutend Erscheinende zusammenstellen. Alle Jahre wieder und doch dieses Mal ganz anders. Hatte das Jahrbuch bisher aktuelle deutschsprachige Lyrik versammelt, so gehen die Jahrbücher 1995/96 und 1996/97 neue Wege.
(…)
Auch das jüngste Jahrbuch 1996/97 verläßt die ausgetretenen Pfade und präsentiert – neben einigen neuen deutschsprachigen Gedichten von Sabine Techel, Johannes Kühn und Rolf Haufs – junge argentinische Lyrik (leider nicht zweisprachig) und – den weitaus größten Raum einnehmend – eine Art „Gegenschrift“ zur berühmten Frankfurter Anthologie:
ein kritisches Kompendium der Gegenwartslyrik, das der Dichtung der achtziger und neunziger Jahre den Weg bahnt.
Das mag ein wenig hochgegriffen sein (vor allem da die weitaus meisten Texte aus den 70er und 80er Jahren stammen), aber die Gedichte, die Michael Braun (wohl einer der besten Kenner deutschsprachiger Gegenwartslyrik) und Michael Buselmeier zwischen 1991 und 1995 in der Wochenzeitung Freitag kommentierten, bieten gerade durch die einfühlsamen Anmerkungen wenn schon kein Kompendium, so doch nicht geringe Anreize, sich mit manch einem der vorgeführten Lyriker näher zu befassen. Bekannte Autoren (u.a. Enzensberger, Fried, Grünbein) stehen hier neben weitgehend unbekannten (etwa Heinz G. Hahs, Harald Gerlach oder Helmut Salzinger), immer aber finden die beiden Kommentatoren unaufdringliche, erhellende Worte, die sparsam interpretieren oder poetologische bzw. biographische Zusammenhänge herstellen. Selbst mittelmäßigen Gedichten (wie etwa denen von Sascha Michel oder Manfred Streubel) werden dabei noch interessante Aspekte und Hintergründe abgewonnen, die für so manche lyrische „Untat“ entschädigen. Am schönsten aber ist dieses Jahrbuch dort, wo Gedicht und Kommentar sich in ihrer Bescheidenheit und in ihrem leisen Ton einander annähern und ein beinahe unauflösliches Ineinander entsteht, das manchmal geradezu bewegend sein kann – etwa bei einem der schlichten Gedichte von Ernst Herbeck:
Ich habe nicht nur Heimweh,
sondern sogar mehr. Das Heimweh
ist eine Qual außerstande.
Man kann die Auswärtigkeit
nicht aushalten. Ich
möchte gerne heim.
Wer liest, was Michael Braun dazu zu sagen hat, dem wird dieses Gedicht nicht so schnell aus dem Kopf gehen.
Das nächste Jahrbuch soll übrigens wieder ein „normales“ werden. Schade eigentlich nach zwei solchen lyrischen Glanzlichtern. Aber wir wollen nicht unbescheiden sein. Und statt dessen aus dem Jahrbuch noch viele Jahre und möglichst wenige Verlagswechsel wünschen.
Andreas Wirthensohn, Deutsche Bücher, Heft 2, 1997
Christoph Buchwald: Selbstgespräch, spät nachts. Über Gedichte, Lyrikjahrbuch, Grappa
Das Jahrbuch der Lyrik im 25. Jahr
Jahrbuch der Lyrik-Register aller Bände, Autoren und Gedichte 1979-2009
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